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Code Geass: Fügung

Von missglückten Plänen und zweiten Chancen
von

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Lancelot

„Du isst nicht sehr viel“, stellte Clovis fest, als er am Morgen nach ihrer sonderbaren Unterhaltung neben Lelouch auf der Bettkante Platz nahm. Seine Stimme war bar jedweden Nachdrucks, aber er wirkte nicht länger zögerlich.

„Ich habe keinen Hunger.“ Mit einem Achselzucken klappte Lelouch seinen Rechner zu.

Clovis neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn neugierig. „Weshalb nicht?“, fragte er. Und fügte dann besorgt hinzu: „Ist dir nicht gut?“

„Nein.“ Beiläufig schob Lelouch den Laptop beiseite. „Ich schätze, ich gehöre zu den Menschen, die sich lieber von Koffein ernähren als von Nahrungsmitteln.“

Sein Bruder blinzelte. „Du möchtest Kaffee? Wenn du willst, bringe ich dir welchen.“

„Nicht nötig“, entgegnete Lelouch. „Ich habe hier ohnehin nicht viel Besseres zu tun, als zu schlafen.“ Clovis zuckte zusammen, und Lelouch gestattete sich ein kleines Lächeln. „Das war kein Vorwurf. Auch wenn ich mich frage, ob du vorhast, mich ewig in diesem Zimmer einzusperren.“

„Lelouch...“

Lelouch hob die Schultern. „Es ist in Ordnung - mir ist klar, dass du deine Gründe hast. Immerhin habe ich versucht, dich zu töten.“ Er bemerkte, dass sein Bruder sich bei diesen Worten förmlich unter seinem Blick zu winden begann, und lächelte. „Es ist eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme“, gab er zu und glättete mit einer Hand seine Bettdecke.

Für einen langen Moment schwieg Clovis - offenbar unschlüssig, ob Lelouch ihm tatsächlich keinen Vorwurf machte oder ob er zwischen den Zeilen lesen musste. Schließlich sagte er mit so viel Aufrichtigkeit in der Stimme, dass Lelouch sie nicht einmal hätte leugnen können, wenn er gewollt hätte: „Ich will dir nicht schaden, Lelouch.“

„Ich weiß.“ Lelouch lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Gibt es irgendetwas Bestimmtes, was du wolltest? Ich glaube nämlich, mein Kopf wäre mir dankbar, wenn ich mich noch einmal hinlegen würde.“

Clovis zögerte einen Augenblick - Lelouch vermutete, dass er erwog, ob er das Thema wirklich so einfach fallen lassen sollte. Aber er kam wohl zu dem Schluss, dass es unnötig war, sich noch einmal zu wiederholen, denn was er letzten Endes sagte, war: „Es ist nichts Wichtiges. Ich habe es nicht geschafft, die Veranstaltung abzusagen, die für heute geplant war, also werden wir uns wohl vor Mitternacht nicht noch einmal sehen.“

Lelouch öffnete die Augen wieder. „Veranstaltung?“

Clovis winkte ab. „Nur eine der üblichen Partys. Ab und an waren sie ein netter Zeitvertreib, aber vor allem sind sie ein nützliches Publicity-Mittel.“ Er zuckte die Achseln. „Normalerweise halte ich sie nicht so kurz hintereinander ab, aber das kommt dabei heraus, wenn man seine Terminplanung den falschen Leuten überlässt. Ich habe gestern davon erfahren, und ich habe selten weniger Gefallen an der Vorstellung finden, mich für die Hälfte des Tages mit Reportern herumschlagen zu müssen, die schon seit Jahren vergeblich auf einen Skandal warten, der gerade groß genug ist, um Aufsehen zu erregen, aber sie nicht gleich den Kopf kosten wird.“ Clovis' Gesichtsausdruck stand seinem Tonfall in Sachen Desinteresse in nichts nach. „Ich nehme an, eine noch ausführlichere Zusammenfassung würde dich ebenso sehr langweilen wie mich selbst?“

„Das wäre durchaus möglich.“

„Dann werde ich dich jetzt alleine lassen. Brauchst du noch etwas?“

„Nein.“ Lelouch schloss die Lider. „Trotzdem danke.“
 

~
 

„Eigentlich haben wir zu Beginn der Woche nicht genügend Zeit, um an Festlichkeiten teilzunehmen - aber da Ihr der Gastgeber seid, wollten wir uns diese Veranstaltung nicht entgehen lassen.“

„Es freut mich, dass Ihr so eine hohe Meinung von mir habt“, sagte Clovis und setzte ein kleines, aber einnehmendes Lächeln auf. Er hatte keine Ahnung, weshalb er sich mit einem Baron unterhielt – um ihn herum wimmelte es nur so von Grafen und anderen höhergestellten Adligen, aber irgendwie war er bei seinem Versuch, subtil einen besonders wichtigtuerischen Marquis abzuschütteln, bei einem Emporkömmling gelandet, der gerade einmal genug Beziehungen hatte, um sich noch zu den Gästen zählen zu können. Der Mann war schmal und unscheinbar, sodass Clovis niemals von ihm Notiz genommen hätte, wäre nicht seine wesentlich charmantere Gattin gewesen, die ihm mit ihrem langen schwarzen Haar und den smaragdgrünen Augen den idealen Vorwand geliefert hatte, einen wesentlich bedeutenderen Adligen einfach stehen zu lassen und nur wenige Schritte von ihm entfernt eine neue Konversation zu beginnen.

„Aber selbstverständlich haben wir das, Euer Hoheit! Es ist erstaunlich, wie Ihr es schafft, dieses Gebiet so friedlich zu halten, wenn man bedenkt... nun, versteht mich nicht falsch, ich finde es bewundernswert, wie ihr versucht, die Elfer miteinzubeziehen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass diese Leute zur Gewalt neigen. Es ist eine Schande, dass sie Eure Bemühungen nicht zu schätzen wissen – schließlich tut Ihr alles, um Konflikte zu vermeiden, und diese Menschen danken es Euch, indem sie Gebiet Elf zu dem Gebiet mit den auffälligsten terroristischen Aktivitäten machen.“

„Es ist in der Tat ärgerlich“, stimmte Clovis dem hageren Mann zu, während er bei sich dachte, dass er nie mehr für irgendjemandem in diesem Land getan hatte, als in die Kamera zu lächeln. „Aber ich bin sicher, mit der Zeit werden auch diejenigen, die sich im Augenblick noch gegen unser System wehren, erkennen, was sie Britannien zu verdanken haben.“

„Ihr seid wahrhaft großherzig“, sagte der Baron und schaffte es dabei irgendwie, nicht so zu klingen, als würde er ihm nur schmeicheln wollen – eine Gabe, die sich erstaunlich selten in britischen Adligen finden ließ. „Und wenn man bedenkt... erst neulich, dieser Vorfall in Shinjuku...“

„Es war eine unglückliche Angelegenheit.“

„Es war entsetzlich“, schaltete die dunkelhaarige Gemahlin des Barons sich ein. Auch ihr gelang es, aufrichtig zu wirken, aber das überraschte Clovis nicht. Er hatte den Eindruck bekommen, dass die zierliche Frau in dem eleganten schwarzen Kleid der Grund war, weshalb ihr Gemahl es trotz seines bescheidenen Vermögens und Auftretens überhaupt zu irgendeiner Art von Ansehen gebracht hatte – und das nicht nur wegen ihres zweifelsohne angenehmen Äußeren „Und dann hieß es auch noch, der Kontakt zur Kommandozentrale sei zwischendurch abgebrochen. Als man die letzten Tage nichts von Euch gehört hat, gab es Gerüchte, Ihr wäret verletzt worden.“

„Ah, Ihr wisst, wie die Leute sind - sie neigen dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. Wie Ihr sehen könnt, geht es mir ausgezeichnet.“

„In der Tat. Und Ihr wisst gar nicht, wie erleichtert ich bin.“ Die Baronin schüttelte den Kopf, und ihr langes schwarzes Haar, das nur zum Teil hochgesteckt war, folgte der Bewegung. „Diese Terroristen sind so blutrünstig. Sie wollten ein Giftgas stehlen, hieß es in den Nachrichten? Nun, Gott sei Dank ist ihnen dieser Versuch missglückt! Nicht auszudenken, was sie damit angefangen hätten, wenn sie es tatsächlich in die Finger bekommen hätten.“

„Zu wahr, zu wahr...“, stimmte ihr Gatte ihr zu.

„Ich kann Euch nicht sagen, wie glücklich mich Eure Anteilnahme macht, Milady.“ Galant nahm Clovis die behandschuhte Hand der jungen Frau in die seine und senkte die Lippen darauf. „Schließlich will ich mir nicht die Feindschaft Eures Gemahls zuziehen“, fügte er mit einem verwegenen Lächeln und einem kurzen Blick in die Richtung des besagten Mannes hinzu, als er sich wieder aufrichtete. „Wenn Ihr mich entschuldigen würdet?“

Die Baronin kicherte verhalten und zog ihren bleichen Arm zurück. „Natürlich“, sagte sie. „Es war überaus reizend, Eure Bekanntschaft zu machen, Euer Hoheit.“

Clovis neigte den Kopf. „Die Freude ist ganz meinerseits“, versicherte er und wandte sich dem Gemahl der jungen Frau zu.

„Es war uns eine Ehre, Euer Hoheit“, beteuerte dieser. Am Rande registrierte Clovis, dass der Baron stets den Plural verwendete und niemals nur von sich selbst sprach, wenn er eine solche Aussage machte.

Mit einem höflichen Nicken wandte er sich ab.
 

Es war bereits später Nachmittag, aber die Feierlichkeiten waren noch immer in vollem Gange. Überall standen kleine Gruppen von Gästen herum, die sich angeregt unterhielten und von Zeit zu Zeit an eleganten Weingläsern nippten. Hier und da war ein überspitztes Lachen zu hören.

So unauffällig wie möglich bahnte Clovis sich seinen Weg durch die Menschenmassen und ignorierte dabei alle Köpfe, die sich nach ihm wandten. Um Schmeichlern wie dem aufdringlichen Marquis von zuvor keine Gelegenheit zu geben, zu bemerken, dass er nicht länger in Gesellschaft einer Dame und somit praktisch Freiwild war, hielt er direkt auf eine Ansammlung junger Frauen zu, die er für den Rest des Abends zu unterhalten gedachte. Es war keine unangenehme Methode, die Zeit totzuschlagen, und am Anfang des Tages hatte er es sogar ungewöhnlich unterhaltsam gefunden, der ein oder anderen hübschen Dame ein charmantes Lächeln und anerkennende Worte zu schenken. Inzwischen jedoch war die Aufmerksamkeit, die er seinen Gesprächspartnern schenkte, noch oberflächlicher als gewöhnlich, und seine Gedanken drehten sich um gänzlich andere Dinge.

Wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Leute noch immer über Shinjuku redeten. Es war taktisch nicht besonders klug gewesen, sich ausgerechnet nach diesem Vorfall für beinahe eine halbe Woche aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen – allerdings neigten seine Strategien ohnehin dazu, nicht besonders ausgereift zu sein, und in diesem Fall hatte er gute Gründe gehabt, seine Pflichten als Gouverneur zu vernachlässigen. Einmal ganz abgesehen davon, dass sein jüngerer Bruder gänzlich unvermittelt von den Toten auferstanden war und er alleine schon deshalb wenig Interesse daran hatte, sich mit den üblichen Trivialitäten herumzuschlagen, hatte er auch noch seinem Vater glaubhaft versichern müssen, dass sein abrupter Abbruch der Säuberungsaktion eine genau einkalkulierte Entscheidung zur Steigerung seiner Beliebtheit und seines Einflusses gewesen war, und nichts damit zu tun hatte, dass er zu weich gewesen wäre, die Sache tatsächlich zu Ende zu bringen. Es war eine Halbwahrheit – Clovis hätte diese Menschen ausgelöscht, ohne zu zögern; aber an Publicity hatte er ausnahmsweise nicht für eine Sekunde gedacht, als er die Aktion abgebrochen und auch später nicht fortgesetzt hatte.

Die ganze Angelegenheit hatte einen sonderbaren Nachgeschmack bei ihm hinterlassen, doch auch damit hatte er sich bisher nicht weiter beschäftigt, und er könnte sich selbst dafür auf die Schulter klopfen, wie überzeugend er gewesen war – obwohl Clovis' psychische Verfassung am Morgen nach dem Vorfall in Shinjuku einiges zu wünschen übrig gelassen hatte, war es ihm gelungen, den Kaiser davon abzuhalten, ihn zu enterben oder auch nur seines Postens als Gouverneur von Gebiet Elf zu entheben. Möglicherweise lag es daran, dass es unter seinen in Britannien verbliebenen Geschwistern niemanden gab, der sowohl nennenswert geeigneter für diese Aufgabe als auch interessiert und bei Hofe entbehrlich war, aber das kümmerte Clovis nicht sonderlich. Sein Vater hatte die Sache bereits nach wenigen Minuten mit einem Desinteresse abgetan, das größer kaum hätte sein können, und auch wenn Clovis nicht sehr viel Wert darauf legte, behandelt zu werden wie eine lästige Fliege, die es möglichst beiläufig zu verscheuchen galt, hatte er sich sich niemals etwas Besseres erhofft. Vierundzwanzig Jahre waren mehr als genug Zeit, um zu begreifen, dass Charles di Britannia kein Vater war, wie er im Buche stand.

Dennoch störte Clovis sich noch gelegentlich an dieser Tatsache, und offenbar war er da nicht der Einzige.

Er dachte daran, wie Lelouch auf die bloße Erwähnung des Kaisers reagiert hatte, und schauderte leicht. Diesen Mann hatte sein Bruder gesagt, und niemals zuvor hatte Clovis jemanden so viel Hass in zwei solch unscheinbare Worte legen hören.

Er mochte nicht die geringste Ahnung haben, was zwischen Lelouch und ihrem Vater vorgefallen war, aber es konnte nicht sehr schön mitanzusehen gewesen zu sein – Clovis hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, eine Rückkehr nach Britannien seinem Bruder gegenüber überhaupt erwähnt zu haben. Vermutlich hätte er Lelouch sagen können, dass er seine Exekution für den nächsten Morgen angesetzt hatte, und er hätte es nicht schlechter aufgenommen.

Die Vorstellung, dass Lelouch ernsthaft geglaubt hatte, er würde ihn für seine Forschungen benutzen – dass sein eigener Bruder der Überzeugung gewesen war, er müsste ihm einen solchen Vorschlag machen, damit er nichts tat, was Lelouch so offensichtlich zuwider war... von dem er, vielleicht ohne es zu merken, zugegeben hatte, dass es die eine Sache war, die er fürchtete... bis zu diesem Zeitpunkt hatte Clovis lediglich gemerkt, wie sehr Lelouchs Worte ihn verletzten, und er hatte die Angelegenheit nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Dabei wusste er nicht einmal, was er danach getan hätte; nach allem, was geschehen war, hätte er kaum einfach so weitermachen können, als wäre nichts gewesen.

Es ist mir egal, was du mit mir machst. Aber ich schwöre dir, Clovis...

Clovis hatte die Drohung in den Worten nicht überhört, aber er hatte sie als das erkannt, was sie war. Möglicherweise hätte Lelouch eines Tages einen Weg gefunden, es ihm heimzuzahlen – in der Tat hatte Clovis keinen Zweifel daran, dass sein Bruder früher oder später sein Ziel erreicht hätte, hätte er eine persönliche Vendetta aus dem Vorfall gemacht -, aber in diesem Augenblick waren seine Worte nichts weiter als ein leeres Versprechen gewesen. Ein verzweifelter Versuch, ihn lange genug zum Zögern zu bringen, um sich ein besseres Argument einfallen lassen zu können.

Und dann hatte sein Bruder sich ihm als Versuchsobjekt zur Verfügung stellen wollen, um sich sein Schweigen zu erkaufen, und diese Erkenntnis hatte denselben Effekt auf Clovis gehabt wie ein Eimer eiskalten Wassers, der sich plötzlich über seinem Kopf entleerte. Lelouch hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als ihm seinen Körper anzubieten – nicht im traditionellen Sinne, aber das spielte keine Rolle. Clovis bezweifelte, dass sein Entsetzen hätte größer sein können.

Das war der Moment gewesen, in dem er nicht länger Clovis la Britannia, Dritter Prinz des Heiligen Britischen Reiches und gleichmütiger Gouverneur von Gebiet Elf gewesen war, sondern einfach nur noch nur noch Clovis - ein bestenfalls mittelmäßiger Stratege, der sich angewöhnt hatte, schnell das Handtuch zu werfen, wenn die Dinge nicht nach Plan verliefen und er sich mit der Situation überfordert glaubte, der aber in diesem Fall zu sehr besorgter großer Bruder gewesen war, um sich sonderlich darum zu scheren.

Er hatte niemals aufgehört, Lelouch zu lieben. Und auch wenn sein Bruder sich dessen nicht bewusst gewesen war und vermutlich nach wie vor keine Schwierigkeiten hätte, ihn mit einem Achselzucken abzutun, änderte das nichts an seinen Gefühlen. Es erstaunte ihn bereits, dass Lelouch sich seit ihrer Unterhaltung am Vortag wesentlich weniger kühl ihm gegenüber zeigte; und zu wissen, dass er ihn zumindest nicht hasste...

Clovis hatte sich gesagt, dass es keine Rolle spielte, wenn sein Bruder ihn verabscheute, aber ihm war von vorne herein klar gewesen, dass das eine armselige Lüge war. Dennoch überraschte es ihn ein wenig, wie viel diese Worte ihm tatsächlich bedeutet hatten. Was auch immer folgen mochte... falls er jemals Zweifel daran gehabt hatte, dass es die Sache wert wäre, dann waren sie nun verflogen.

Aneue hatte Recht, dachte er mit einem kleinen, sardonischen Lächeln. Ich bin wirklich sentimental.
 

~
 

„Wie war dein Tag?“, stellte Lelouch seinem Bruder dieselbe Frage, mit der dieser ihn auch am Vortag begrüßt hatte. Es war bereits nach Mitternacht, aber da Lelouch den halben Tag über geschlafen und ohnehin schon immer dazu geneigt hatte, des Nachts weitaus länger aufzubleiben, als es eigentlich vernünftig war, war er noch nicht einmal ansatzweise müde.

„Erträglich.“ Clovis blieb wenige Meter von ihm entfernt stehen und musterte ihn kurz. „Sind deine Kopfschmerzen weg?“

„Aa. Das Fieber ebenfalls - ich schätze, die Tabletten haben geholfen.“

„Heißt das, du vergibst mir für die Sache mit Graf Asplund?“, fragte Clovis hoffnungsvoll.

Lelouchs Antwort kam ohne jegliche Verzögerung. „Nein“, sagte er bestimmt. Dann jedoch zuckte er die Schultern. „Aber solange er nicht meine Identität errät und herumerzählt, werde ich darüber hinwegsehen.“

Clovis lächelte erfreut. „Wird er nicht.“

Lelouch hob die Brauen. „Weshalb bist du dir so sicher?“

„Ich habe ihm das Einzige gegeben, was ihn interessiert“, erwiderte Clovis unbekümmert. „Lloyd liebt seine Maschinen über alles. Jetzt, da er die Möglichkeit hat, sein neues Spielzeug nach Herzenslust zu testen, wird er es nicht riskieren, in Ungnade zu fallen – sofern er überhaupt noch an etwas anderes denkt. Ich wäre nicht überrascht, wenn er dich längst vergessen hat.“

„Sein Spielzeug?“

„Aa... ein neuer Knightmare-Prototyp. Er nennt es Lancelot.“ Clovis hielt inne und beäugte Lelouch für einen Moment seltsam. Dann fuhr er im selben unbekümmerten Tonfall wie zuvor fort: „Da ich schätze, dass du derjenige warst, der den Terroristen geholfen hat, mir das Leben schwer zu machen, solltest du bereits Bekanntschaft damit gemacht haben.“

„Der weiße Knightmare?“ Clovis nickte, und Lelouch hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Graf Asplund hatte dieses Ding entworfen? Hätte er das vorher gewusst, hätte sein Bruder noch wesentlich mehr Schwierigkeiten gehabt, ihn davon zu überzeugen, den Mann in seine Nähe zu lassen – diese Maschine hätte ihn um ein Haar den Sieg gekostet, und ihren Erbauer machte er dafür beinahe ebenso sehr verantwortlich wie den Piloten. „Lancelot, hu?“, murmelte er.

„Immerhin ist es ein einfallsreicher Name.“ Beiläufig ließ Clovis den Blick durch den Raum schweifen und richtete seine Aufmerksamkeit schließlich auf etwas zur linken Seite von Lelouchs Bett. Er durchquerte den Raum, und Lelouch folgte ihm mit den Augen. „Hat es einen bestimmten Grund, dass du die Vorhänge geschlossen lässt?“, fragte sein Bruder, als er bei seinem Ziel angekommen war, und warf einen Blick über die Schulter. „Du wirst dich nicht in Asche verwandeln, wenn ich sie öffne, oder?“

„Es ist Nacht.“

„Soll mich das beruhigen?“ Clovis schob die Vorhänge auf und wandte sich dann wieder zu ihm um. Eine Weile musterte er ihn eindringlich. „Weißt du“, begann er schließlich, „jetzt, wo du es sagst, wundert es mich, dass ich nicht früher darauf gekommen bin. War da nicht auch irgendetwas mit einer Knoblauchallergie...?“

Lelouch bedachte seinen Halbbruder mit einem düsteren Blick. „Nein.“

„Oh. Nun ja, ich nehme an, du kannst nicht jedes Klischee erfüllen.“ Clovis lächelte, und Lelouch verspürte den unerklärlichen Drang, etwas nach ihm zu werfen.

„Bist du dir sicher, dass du nicht ein Glas Wein zu viel getrunken hast?“

„Ziemlich sicher. Es sei denn, ich hätte ganz auf Alkohol verzichten sollen.“ Clovis hob die Schultern. „In diesem Fall wirst du wohl mit meiner guten Laune leben müssen.“

Lelouch schnaubte.

„Ah“, sagte sein Bruder und bewegte sich wieder auf die andere Seite des Bettes. „Lass mich dir noch etwas zu essen holen, bevor wir uns weiter unterhalten. Irgendeinen bestimmten Wunsch?“ Er hielt kurz inne, und im nächsten Moment umspielte ein vielsagendes Lächeln seine Mundwinkel. „Tomatensaft? Blutwurst?“

Lelouchs erster Reflex war es, den blonden Gouverneur darauf hinzuweisen, dass er seinen Scherz nicht annähernd so unterhaltsam fand, wie dieser selbst es offenbar tat - aber dann überlegte er es sich spontan anders. „Keine Sorge, Clovis“, erwiderte er und lächelte hintersinnig zurück. „Sollte mich das Verlangen überkommen, werde ich mich bedienen. Welche Blutgruppe hattest du noch gleich?“

Clovis blinzelte – anscheinend noch verdutzter von diese Erwiderung als Lelouch selbst. Dann jedoch legte sich ein erfreutes Lächeln auf seine Lippen. „Das, mein lieber kleiner Bruder“, sagte er, „behalte ich besser für mich.“
 

„Was genau weißt du über das Geass?“, erkundigte Lelouch sich, nachdem er fertiggegessen und den Teller beiseiteschoben hatte. Es war eine beiläufige Frage, gestellt in einem unverbindlichen Tonfall und ebenso sehr aus Neugierde heraus wie aus Berechnung.

Clovis, der schon seit geraumer Zeit am Fenster gestanden und nach draußen geblickt hatte, drehte sich zu ihm um – es war offensichtlich, dass die Frage ihn überraschte. Doch schon nach wenigen Augenblicken verschwand die Verwunderung von seinen Zügen, und seine Miene wurde neutral. „Nicht viel“, gab er zu und trat ein paar Schritte näher. „Ich kannte das Symbol, und ich weiß, dass es sich um eine beeindruckende Fähigkeit handelt – aber das war es beinahe auch schon wieder. Ich war mir nicht einmal sicher, was genau das Mädchen damit zu tun hat. Wir haben sie durch Zufall entdeckt und festgestellt, dass sie kein Mensch ist. Sie ist... war... wesentlich älter, als sie aussah.“ Clovis hielt einen Augenblick lang inne, aber er schien eher nachdenklich als zögerlich, und es erstaunte Lelouch, wie bereitwillig er ihm diese Informationen gab. „Die Macht des Königs... das war es, was in den Aufzeichnungen stand. Ich habe mich über zwei Jahre lang damit beschäftigt, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich wohl nicht viel mehr als du.“

Lelouch nickte leicht, als Zeichen, dass er diese Antwort akzeptierte. „Und was ist mit Graf Asplund? Du sagtest, du hättest ihm die Möglichkeit gegeben, den Lancelot zu testen. Aber würdest du nicht ohnehin Gebrauch von einer so nützlichen Waffe machen?“

„Oh, das“, sagte Clovis und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Nun, vermutlich hätte ich früher oder später darauf zurückgreifen müssen; aber Lloyd weiß, dass ich mich nicht sonderlich für Knightmares interessiere. Solange es keinen Notfall gegeben hätte, wäre ich auch gut mit nur den älteren Modellen ausgekommen.“ Clovis hob nachlässig die Schultern. „Und dann hat sich inzwischen noch herausgestellt, dass der Pilot ein Elfer ist - die Puristen werden nicht sonderlich begeistert sein.“

Das ließ Lelouch aufhorchen. „Ein Elfer?“, fragte er verwundert. Weshalb sollte ausgerechnet ein Japaner sich dazu bereiterklären, Britannien einen solch entscheidenden Vorteil zu verschaffen?

„Nun ja, ein Ehrenbrite, wenn man es genau nimmt“, räumte Clovis ein. „Aber das macht es nicht weniger unkonventionell.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Und das ist noch nicht einmal alles. Nachdem Graf Asplund es nach seinem Besuch hier wohl endlich als angebracht empfunden hat, mich über dieses kleine Detail zu informieren, habe ich mir die Freiheit genommen, einen Blick in die Akte des Piloten zu werfen. Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, aber offenbar handelt es sich um den Sohn des ehemaligen japanischen Premierministers.“

Es dauerte einige Sekunden, bis der letzte Teil der Aussage wirklich bei Lelouch ankam. Dann erstarrte er. „Suzaku?“, platzte es aus ihm heraus, bevor er es verhindern konnte.

Perplex sah Clovis ihn an. „Du kennst ihn?“

Lelouch hätte einen lautlosen Fluch ausgestoßen, wäre er nicht zu überrumpelt gewesen, um sich angemessen über seinen Ausrutscher zu ärgern. „Wir sind damals bei der Kururugi-Familie aufgenommen worden“, sagte er nahezu automatisch, war sich jedoch bewusst, dass dieser Umstand mehr oder weniger offiziell gemacht worden war, und dass auch Clovis sich dessen jeden Moment wieder bewusst geworden wäre. Die Überraschung seines Bruders rührte nicht daher, dass er Suzaku kannte - viel mehr war sie auf seine heftige Reaktion zurückzuführen.

Ein Ausdruck des Begreifens huschte über Clovis' Gesicht, aber er beobachtete ihn noch immer aufmerksam, und für die Dauer eines Herzschlags erwog Lelouch, wie viel er sagen sollte, bevor er sich damit abfand, dass sein Tonfall und die Art, wie sich seine Augen geweitet hatten, bereits zu viel verraten hatten. „Er ist... ein Freund“, sagte er.

Abermals reagierte Clovis mit unverhohlenem Erstaunen. Aber anstatt sich offen darüber zu wundern, was Lelouch mit einem 'Elfer' zu schaffen hatte, oder gar eine geringschätzige Bemerkung zu machen, fragte er nur: „Weshalb warst du dann so überrascht?“

Weil die weiße Maschine um ein Haar alle meine Pläne durchkreuzt hätte, dachte Lelouch. Weil Suzaku keinen Grund hat, Britannien gegenüber mehr Sympathie zu verspüren als ich selbst. Weil der Suzaku, den ich kannte, sich niemals gegen seine eigenen Leute gestellt hätte. Was er letztes Endes jedoch sagte, war: „Weil er vor meinen Augen erschossen worden ist.“

Clovis starrte ihn an. „In Shinjuku?“ Offenbar hatte er auch über den Tod des grünhaarigen Mädchens nicht vergessen, was Lelouch ihm sonst noch bezüglich dieses Vorfalls erzählt hatte, und dass er von mehr als einer Person gesprochen hatte.

„Ja.“ Konnte es wirklich sein? Hatte Suzaku nicht nur überlebt, sondern so geringen Schaden davongetragen, dass er sich sogleich wieder in den Kampf hatte stürzen können? Es wäre weitaus weniger unwahrscheinlich gewesen, wenn er nicht so eindeutig in die ungeschützte Seite getroffen worden wäre.

Andererseits hatte Suzaku schon immer außergewöhnliche physische Fähigkeiten und Reflexe besessen, und der rücksichtslose Kampfstil des Lancelot würde beunruhigend gut zu ihm passen. Es erschien ihm absurd, aber...

„Ist er dir wichtig?“, riss Clovis ihn aus seinen Gedanken. Lelouch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Bruder und stellte überrascht fest, dass Clovis' Blick nicht weniger sanft war als sein Tonfall.

Er zögerte noch einen Moment, sah aber ein, dass er ohnehin schon zu viel gesagt hatte und längst nicht mehr glaubwürdig verneinen könnte. „Ja“, gab er daher schon nach wenigen Herzschlägen zu, die Stimme nur kaum merklich gedämpft. „Das ist er.“

Clovis betrachtete ihn eine Weile lang schweigend, abschätzend. Lelouch fragte sich bereits, ober einen Fehler gemacht hatte, als sein Bruder plötzlich sagte: „Möchtest du ihn sehen?“

Beinahe glaubte Lelouch, sich verhört zu haben. „Was?“

„Er ist dein Freund, nicht wahr?“ Clovis' Tonfalls war so milde, als bemerkte er Lelouchs ungläubigen Blick gar nicht. „Ich bin sicher, du langweilst dich. Wenn du versprichst, ihn nicht zu benutzen, um von hier zu entkommen, werde ich sehen, ob Graf Asplund ihn für eine Weile entbehren kann.“

„Und du würdest mir vertrauen?“ Lelouch fragte sich, ob sein Bruder irgendetwas plante, oder ob er einfach nur den Verstand verloren hatte.

Clovis hob die Schultern. „Du hast Recht - ich kann dich nicht ewig hier festhalten. Wenn dir meine Gesellschaft wirklich so sehr zuwider ist, werde ich mich wohl damit abfinden müssen. Früher oder später würdest du einen Weg finden, mich zu übertrumpfen.“ Er sprach in einem nachgerade leichtherzigen Tonfall – nur sein Blick war verräterisch weich. „Aber ich würde dir niemals absichtlich schaden, Lelouch. Es gibt keinen Grund für dich, zu versuchen, diesen Ort auf dem kürzesten Weg zu verlassen, und ich wünschte, du würdest mir vertrauen.“

Lelouch starrte seinen Bruder an, und eine kurze, sonderbar anmutende Stille trat ein.

Schließlich nickte er. „In Ordnung.“

Clovis blinzelte. „Was?“, fragte er perplex.

„Ich werde Suzaku nicht dazu benutzen, etwaige Fluchtpläne in die Tat umzusetzen“, erklärte Lelouch und lehnte sich zurück. „Du hast mein Wort.“

Er beobachtete die Gesichtszüge seines Bruders sehr genau; doch obwohl Clovis zu zögern schien, zeigte sich auf seiner Miene nicht annähernd so viel Argwohn, wie angebracht gewesen wäre. Und dann glitt sogar ein dankbares Lächeln auf seine Lippen.

Lelouch fand, dass es töricht von seinem Bruder war, ihm so einfach Glauben zu schenken. Vermutlich würde er sein Wort tatsächlich halten – weil er niemals sein Geass an Suzaku einsetzen könnte, und weil er seinen besten Freund bereits um einen anderen, mindestens ebenso wichtigen Gefallen bitten würde, sobald er sich Klarheit über einige Dinge verschafft hatte -, und vielleicht hatte Clovis ihn inzwischen sogar schon so weit, dass er nicht mehr in der Lage wäre, den Abzug drücken, wenn er die Gelegenheit hätte; nicht, solange es Alternativen gab. Dennoch war es ein großes Risiko, das sein Bruder einging, und je nachdem, was für Vorsichtsmaßnahmen er treffen würde, würde Lelouch ihn entweder für unglaublich leichtsinnig oder für vollkommen verrückt erklären.

Was ihn im Augenblick jedoch noch um einiges mehr beschäftigte, war Suzaku.

Lelouch schauderte leicht. Wenn sein Freund tatsächlich am Leben war...

Der Gedanke löste eine ganze Reihe von Emotionen in ihm aus, von denen er die meisten nur schwer hätte in Worte fassen können. Es war, als hätte er Stück seiner Vergangenheit zurückerhalten, das er – ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein - verloren geglaubt hatte. Gleichzeitig jedoch sah er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass Suzaku sich Britannien angeschlossen hatte und bereits sein Gegner gewesen war. Er glaubte nicht, dass sein erster und bester Freund inzwischen zu seinem Feind geworden war, aber dennoch...

Lelouch konnte nur darüber spekulieren, wie diese Sache sich entwickeln würde.
 


 


 


 

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Nach langer Zeit ist es mir also endlich gelungen, ein neues Kapitel hochzuladen. Andere Projekte und vor allem das RL wollten mich nicht schneller arbeiten lassen. Ich hoffe, das Warten hat sich gelohnt!

An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich für die netten Kommentare bedanken. Es freut mich, dass mein Schreibstil gefällt und die Charaktere IC wirken. Ja, zwischen den Brüdern ist sicher noch nicht alles geklärt, aber sie kommen voran. Wie es dabei in Zukunft mit Lelouchs Bewegungsfreiheit aussehen wird... ah, das muss sich zeigen. ;P

Ehrlich gesagt finde ich es gar nicht so schwer, Clovis als liebenden Bruder zu schreiben; immerhin hat spätestens das entsprechende Sound-Drama eine unabstreitbare Tatsache aus seiner Zuneigung für Lelouch gemacht. Was allerdings schon etwas komplizierter ist, ist glaubhaft eine wechselseitige brüderliche Beziehung aus diesem Umstand zu machen, und ich hoffe, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Vielen Dank für die Rückmeldungen bisher - und ich hoffe, auch dieses Kapitel hat gefallen!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Orientalo
2009-11-08T16:54:52+00:00 08.11.2009 17:54
ooooh bin schon richtig gespannt was jetzt passiert! Oh mannnn mach bitte bald weiter^^ super kap! lg


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