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How can heaven love me

von

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Anfang 1

Die Welt ein Tor

Zu tausend Wüsten stumm und kalt

wer das verlor, was du verlorst

Macht nirgends halt
 


 

Die letzten Schritte zum Schulgebäude fielen ihr schwer. Hinter ihr brauten sich einer apokalyptischen Vorahnung gleich schwarze Regenwolken zusammen und die schwüle Luft schien sie zu erdrücken.
 

Ihr Atem ging schneller.
 

Der Griff um die Riemen ihres Rucksacks wurde fester, der Kunststoff so fest zusammen gedrückt, dass ihre kurzen Fingernägel sich in die Handinnenflächen pressten und blutverlassene Abdrücke hinterließen.
 

Es schien ihr, als hätten die anderen von ihrem Traum, ihrem Erlebnis erfahren.
 

Sie war nie beliebt gewesen, hatte nie im Mittelpunkt gestanden, doch sie hatte ihre Freunde gehabt, wurde von den Klassenkameraden akzeptiert und sei es nur als unbedeutendes Anhängsel. Aber nun, wann immer sie den Raum betrat, tuschelten und kicherten ihre Klassenameraden. In den letzten zwei Wochen wurde sie immer weiter gemieden. Selbst von ihren Freunden.
 

Es schien, als wüssten sie Bescheid.
 

Sie stand verunsichert, ängstlich, vor der großen Glastür und starrte diese an, war dabei, einen Schritt nach hinten zu treten, als sie einen Klaps auf der Schulter spürte. Überrascht fuhr sie herum, entdeckte Paris, die mit einem breiten Lächeln hinter ihr stand.
 

Paris war ein Spitzname.
 

In Wirklichkeit hieß sie Antje.
 

Sie wurde Paris genannt, weil sie Paris Hilton so sehr verachtete, was allgemein bekannt war. Anfangs war es nur ein Scherz gewesen, den Bibby gemacht hatte, doch der Name wurde schnell inner- und außerhalb der Klasse adaptiert. Selbst einige Lehrer nannten sie so.
 

Paris war der Meinung, dass es schlimmere Spitznamen gab.
 

Damals in der Grundschule zum Beispiel hatte man sie „fette Kuh“ und „Miss Piggy“ genannt. Als sie dann in der fünften Klasse aufs Gymnasium ging, musste sich Paris Sprüche wie „Deutsche Panzer rollen wieder“ anhören. Einige Jungs machten sich auch einen Spaß daraus, sich „Platz da“ rufend fest gegen die Wand zu drücken, wenn sie kam. Manchmal, wenn sie sich hinsetzte, simulierten sie auch ein Erdbeben nach. Alle fanden das witzig, hatte Paris ihr erzählt.
 

In der sechsten Klasse hatte es einen Jungen gegeben, den sie gemocht hatte. Es war nicht unbemerkt an ihren damaligen Klassenkameraden vorbei gegangen und der Junge, ein Freund ihres Bruders, wurde daraufhin Kermit genannt. Er hatte sie wohl noch nie leiden können und war immer einer der ersten gewesen, die sich gegen die Wand drückten, doch aufgrund seines neu gewonnen ungeliebten Spitznamens wurde er nur noch gemeiner, bis es nicht nur bei verbalen Angriffe geblieben war.
 

Anderthalb Jahre hatte sie diese Schikane über sich ergehen lassen.
 

Dann zur Realschule gewechselt.
 

Hier war sie der Streber gewesen.
 

Auf dem Gymnasium passables Mittelmaß, schrieb sie auf der Realschule nur Einsen, und hinter ihrem Rücken wurde sie als Schleimer bezeichnet, weil sie Klassenbuchdienst freiwillig übernahm und jeden Morgen pflichtbewusst die Lehrer grüßte. Paris hatte davon nichts mitbekommen, sie hatte sich gefreut, dass niemand sich über sie und ihr Übergewicht lustig machte. Zwei Wochen in die siebte Klasse hatte Kristal, ein hübsches aber vergeblich dummes Mädchen Probleme mit ihren Matheaufgaben und Paris bot ihr ihre Hilfe an.
 

Von da an kam jeder zu Paris, der Hilfe brauchte.
 

Sie war nicht mehr Miss Piggy oder Streber. Mädchen wollten mit ihr befreundet sein, aber nicht so gut, dass man sich außerhalb der Schule traf. Jungs dagegen wollten sie als Kumpel, aber nie als Freundin. Sie war nun „Intelligenzbestie“ oder „Genie“, das hilfsbereite nette Mädchen, von der man die Hausaufgaben abschreiben konnte und die jederzeit bereit war, länger in der Schule zu bleiben, wenn man Hilfe brauchte und sei es beim Ausfegen des Klassenraumes oder beim Abkratzen von Kaugummis, weil man dabei erwischt wurde, wie man selbst einen auf den Boden gespuckt hatte.
 

„Fette Sau“ und „deutscher Panzer“ und „Miss Piggy“ war ein anderes Mädchen.
 

Elke, die im Gegensatz zu Paris die Beleidigungen nicht stumm herunterschluckte, sondern verbal ausfällig wurde, was die anderen nur noch mehr anfeuerte. Desto wütender die „fette Kuh“ wurde, desto besser.
 

Dabei war sie nicht unbedingt dick, nicht so dick wie Paris. Sie musste nur unter dem Lied der Ärzte leiden. Elke... fette Elke... Wir haben uns getroffen allein bei ihr Zuhaus’. Sie sah noch viel, viel dicker als auf dem Foto aus. Ich schloss sie in die Arme. Das heißt, ich hab’s versucht. Ich stürzte in ihr Fettgewebe wie in eine Schlucht. Sie ist ein echter Brocken, drei Meter in Kubik. Sie sieht so aus wie Putenbrust mit Gurke in Aspik. Es war nicht so, dass die Klassenkameraden es witzig fanden, sie zu beleidigen, sie fanden nur ihre Reaktion auf die Beleidigungen unterhaltsam.
 

Würde sie den Mund halten, hätte man sie vermutlich schon lange in Ruhe gelassen.
 

So wie Silvia.
 

Ein unscheinbares Mädchen, das hinter Paris saß, das bei der letzten ärztlichen Untersuchung 90 Kilo auf die Waage gebracht hatte und dies bei einer Größe von 1.60. Cindy hatte das erzählt, denn sie hatte sich heimlich die Unterlagen ihrer Mutter angesehen, eine Allgemeinmedizinerin, die die jährliche Untersuchung an der Schule durchführte.
 

Aber Cindy durfte nicht lästern.
 

Sie war zwar schlank, hatte aber eine Zahnspange, wegen der sie immer lispelte. Außerdem hatte sie unzählige Sommersprossen und schlimme Akne.
 

Ihrer Meinung nach, hatten nur gutaussehende Mädchen das Recht über andere zu lästern.
 

Mädchen wie Bianca, eine zierliche Brünette, mit kurzen Haaren, die nach der Meinung der Jungs besser den Mund halten und hübsch aussehen sollte. Denn wenn sie den Mund öffnete, kamen nur obszöne Flüche, krude Schimpfwörter und fiese Beleidigungen heraus.
 

Oder Sabrina, ein zurückhaltendes, schüchternes Püppchen mit langen schwarzen Korkenzierlocken. Sie versteckte sich zumeist hinter ihren Freunden, wurde schnell rot und brachte bei Fremden selten ein Wort heraus. Im Unterricht, wenn ein Lehrer sie etwas fragte, sprach sie so leise, dass man sie kaum hörte.
 

Die Jungs fanden das reizend.
 

Wen sie noch reizend, oder eher erregend fanden, war Viagra.
 

Viagra war natürlich nur ein Spitzname. Eine falsche Blondine, mit falschen Locken, aber echtem Busen, die sehr wohl von ihrem heimlichen Spitznamen wusste.
 

Viagra brüstete sich damit, ihre Jungfräulichkeit mit zwölf an einen damals Achtzehnjährigen verloren zu haben. Mittlerweile war er Zwanzig und brachte sie jeden Tag zur Schule, holte sie von dort ab und chauffierte sie, wohin auch immer sie wollte.
 

Paris wusste, dass der Zwanzigjährige Viagras Halbbruder war.
 

Sollte Viagra die Wahrheit sagen, würde es wohl einige Familienprobleme zu klären geben, hatte Paris gemeint.
 

Und die gab es vermutlich wirklich, denn sie bezweifelte, dass Viagras Geschichte gelogen war.
 

Sie hatte die beiden einmal zusammen im Kino gesehen, doch mehr gehört. Sie hatten direkt hinter ihr gesessen.
 

Wenigstens war es nicht ihr richtiger Bruder, hatte sie damals gedacht, war aufgestanden und hatte beschämt das Kino verlassen.
 

Der Mann war nicht einmal gutaussehend. Er hatte Pockennarben im Gesicht, war blass und schmächtig, hatte schiefstehende Zähne und eine zu große Nase. Das einzig Positive musste sein Auto gewesen sein, weshalb sonst hätte Viagra sich mit ihrem Halbbruder eingelassen, wenn nicht, um einen Sklaven zu haben, den sie herumkommandieren konnte?
 

Stephanie mit ph war auch ganz hübsch. Mit dem Zusatz ph, weil es noch eine Steffanie mit Doppel-f und eine Stefanie mit einem f gab. Stephanie mit ph schien Paris einzig wahre Freundin zu sein, denn sie trafen sich auch außerhalb der Schule. Und einmal, als Paris Geburtstag auf den ersten Schultag nach den Sommerferien im Jahr als sie in die achte Klasse kamen fiel, hatte sie zur Überraschung einen Kuchen gebacken und ihn mit vierzehn Kerzen zur Schule gebracht. Sie hatte sogar die Erlaubnis der Lehrer eingeholt, die Kerzen anzünden zu dürfen.
 

Wie es der Zufall wollte, sollten sie an diesem Tag auch einen neuen Mitschüler bekommen.
 

Kermit war Paris, anderthalb Jahr später, unfreiwillig nicht nur zur gleichen Schule, sondern auch in die gleiche Klasse gefolgt.
 

Er betrat gerade den Raum als Paris, umringt von sämtlichen Klassenkameraden und auch Freunden aus anderen Klassen ein unstimmig grausiges Happy Birthday gesungen bekam und dann aufgefordert wurde, die Kerzen auszupusten.
 

Während er diesen Moment beobachtete, ihm die Worte fette Kuh und Fettkloß auf der Zunge lagen und er sie noch gerade herunterschlucken konnte, hatte sich Viagra an ihm vorbeigedrückt und laut Paris gerufen, um die Aufmerksamkeit des Geburtstagskindes auf sich zu ziehen. Kermit hatte unverhohlen auf ihr weit ausgeschnittenes Dekolleté gestarrt. Später wurde Viagra wegen des freizügigen Oberteils zum ekelhaften Feldmann gerufen. Sie hatte erzählt, dass er ihr, während er ihr eine Predigt wegen Kleiderordnung gehalten hatte, die ganze Zeit auf den Busen gestarrt und schon zu sabbern begonnen hätte.
 

Sie hätte ihn schon längst wegen sexueller Belästigung angezeigt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er impotent war. Das hatte Lars herausgefunden, denn sein Vater arbeitete in der Apotheke in der Kleinstadt, in der der Feldmann wohnte. Lars’ Vater hatte nicht gewusst, dass der Herr, über den er sich vor seinem Sohn, der unter der Woche in der Apotheke aushalf, mokiert hatte, dessen Lehrer war. Hätte er es gewusst, hätte er sich vermutlich einen Kommentar verkniffen.
 

Als Paris den Jungen entdeckte, der die Brüste ihrer Freundin gierig angaffte, legte sich ein Grinsen auf ihre Lippen und sie grüßte ihn mit den Worten „Schön dich wiederzusehen, Kermit!“
 

Dies war natürlich ein gefundenes Fressen für die Klasse, denn zu einer Miss Piggy gehörte ein Kermit der Frosch. Zufälligerweise befand Kermit sich auch noch im Stimmbruch, sodass Paris den Spitznamen nicht erklären brauchte und so unweigerlich auf ihre Vergangenheit auf dem Gymnasium hätte zu sprechen kommen müssen.
 

So durfte Kermit, der, nachdem er das Gymnasium verlassen, gehofft hatte, den verhassten Namen loszuwerden, diesen doch noch ein paar Jahre länger behalten. Nur war seine Miss Piggy dieses Mal die Fette Elke.
 


 

Dann gab es da noch Barbie.
 

Barbie war schon lange keine Barbie mehr. Seit ihre Mutter sich nach der Scheidung der Backkunst verschrieben hatte und sich den Tag über als Krisenbewältigung und helfende Therapie voll und ganz dem Backen von Kuchen hingab. Aber damals hatte Barbie wirklich wie eine Barbie ausgesehen, schlanke Taille, lange echte blonde Haare – nicht wie Viagra –, blaue Augen.
 

Sie war ein bisschen dicker geworden, lag aber vermutlich noch immer im Normalgewicht, dass sie verbissen trotz der Mästversuche ihrer Mutter versuchte zu halten. Den Kuchen, der ihr statt Schwarzbrot und Tomaten, mit zur Schule gegeben wurde, verteilte sie an ihre Klassenkameraden und nach der Schule besuchte sie unter dem Mantel einer Literatur AG, die jedes neue Schuljahr zufällig immer auf den gleichen Tag wie der Sportunterricht fiel, den Fitness Club neben der Schule.
 

Grund dafür war ein gedankenloser Kommentar ihrer Lehrerin, als sie sich im Umkleideraum für den Sportunterricht umgezogen hatten. Die Lehrerin hatte einen kritischen Blick auf Barbies verschwundenen Waschbrettbauch geworfen und etwas wie „Ganz schön zugenommen“ gemurmelt.
 

Daraufhin hatte Barbie sich weinend auf dem Mädchenklo eingesperrt und die Klasse sich geweigert, am Sportunterricht teilzunehmen.
 

Die Kollegialität der Klasse war vermutlich nicht auf die Kulanz und Loyalität der Klassenkameraden untereinander und in Bezug auf Barbie zurückzuführen, sondern eher auf die Tatsache, dass sie an diesem Tag im 4000m Lauf auf Zensur getestet werden sollten. Dies war selbst für Hobby-Athleten bei einer Temperatur von 26 Grad im Schatten bei Windstille – denn Hitzefrei gab es erst ab 30 Grad im Schatten – reinste Folter. So war das respektlose Verhalten der Sportlehrerin ein willkommener Streikgrund und Barbie, die sich nach zehn Minuten eigentlich schon wieder beruhigt und wieder hatte rauskommen wollen, wurde nahegelegt, doch erst eine persönliche Entschuldigung der Lehrerin abzuwarten, schließlich war ihr Kommentar gemein und beleidigend gewesen.
 

Aber trotz oder vielleicht auch wegen der wenigen Kilos, die Barbie zugenommen hatte, war sie eines der hübschesten Mädchen in der Klasse.
 

Am beliebtesten war dennoch Agniezka; Fab - Nicht Faab, sondern Fäb - genannt. Ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren, und aufgeweckten blauen Augen, die vermutlich mehr ein Junge als ein Mädchen war und anscheinend deshalb bei den einen als auch den anderen überaus beliebt war.
 

Sie war ein liebenswürdiger Wildfang, der für jeden Spaß zu haben war.
 

Allerdings wusste man mehr über ihre Mutter als über das Mädchen selbst. Zum Beispiel welchen Typ Mann die Frau bevorzugte. Dass sie lieber zur Ostsee fuhr, als ihre in der brütenden Sonne wartende Tochter von der Schule abzuholen. Oder auch ihrer im Regen nach Hause gehende Tochter mit dem Auto entgegen zu kommen. Sie schien schlichtweg zu vergessen, dass Fab fünfzehn Kilometer nach Hause gehen musste, weil das Kaff, in dem sie wohnten, keine anständig Busverbindung hatte.
 

Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie auf dem Spielplatz des Hortes gesessen und Fabs Mutter im Auto von ständig wechselnden Männern gesehen hatten. Fab hatte nie etwas dazu gesagt, einfach zurück gewunken, wenn ihre Mutter sie im Vorbeifahren grüßte. Im Sommer ließ sie die Tochter so lange wie möglich im Hort und vergnügte sich am Ostseestrand. Im Winter war sie verschwunden – sie hatten die Rechnungen des Mittagslieferanten nicht bezahlt, auch den Hort nicht.
 

Zwei Jahre später kam sie als neue Schülerin in die Klasse.
 

Die, die sie erkannten, begrüßten sie erfreut, weil sie sie endlich wiedersehen konnten.
 

Die anderen machten einfach mal mit, weil die anderen sich freuten.
 

An dem Verhalten ihrer Mutter hatte sich nichts verändert. Wie Andreas es einmal an Fab gewandte sagte: „Die Männer, mit denen deine Mutter sich trifft, werden nur älter.“
 

„Meine Mutter wird auch älter.“
 

„Er meint damit“, erklärte Louise besserwisserisch, „dass der Altersunterschied immer größer wird.“
 

„Sie mag sie eben alt und passiv. Damit sie sie reiten kann“, hatte Fab erwidert. Andreas hatte daraufhin die Augen gerollt und Louise verkniff sich einen Kommentar in Richtung „Schlampe“. Schließlich redete man nicht so über die Mutter einer Freundin.
 

Fab hatte es vermutlich ihrem liebenswürdig quirligen Wesen zu verdanken, dass sie ob des ungezügelten Verhaltens ihrer Mutter nicht von allen Seiten gehänselt und drangsaliert wurde. Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, dass sie, obwohl sie nicht besonders groß war, ziemlich hart zuschlagen konnte.
 

Andreas konnte das bezeugen. Er hatte den Fehler begangen, Louise mit einem Schneeball zu bewerfen, in denen Steine waren. Dass das nicht einmal mit Absicht gewesen war, war unerheblich.
 

Für Fab war vieles unerheblich, wenn sie wütend war.
 


 

Die Jungen hätten Grund zum Lästern.
 

Hatten sie die gut aussehenden erwischt. Zumindest Laut der Mädchen aus der Parallelklasse, die des Öfteren vorbeischauten und das bestimmt nicht, um ihre Freundinnen zu begrüßen.
 

Sie kamen wegen Jungs wie Lars. Ein vorlauter, blond gelockter, fröhlicher und etwas schusseliger Junge. Er war immer einer der ersten in der Schule und war, wenn die restlichen Schüler eintrafen, bereits wieder mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Wann genau er zur Schule kam wusste keiner, aber sie wussten, dass das Gebäude um sechs aufgeschlossen wurde.
 

Unterricht begann um acht.
 

Dann war da noch Max.
 

Kam stets zu spät, vergaß ständig seine Hausaufgaben, hatte vermutlich öfter nachsitzen müssen als alle anderen Schüler zusammen, stürmte ständig in den falschen Raum und störte dabei irgendeine andere Klasse.
 

Deshalb nahmen die Mädchen ihn immer liebend gern an die Hand.
 

Sie vermutete Vorsatz.
 

Falko, ein hochgewachsener dunkelhaariger Junge mit leichten O-Bein-Ansatz, war schüchtern und unbeholfen, weckte allerdings mit diesem Verhalten ungewollt den Mutterinstinkt der Mädchen, die ihm alles aufhoben, was ihm runter fiel und ihm Geld liehen, wenn er nicht genug zum Mittagessen dabei hatte.
 

Er zahlte es immer am nächsten Tag zurück, was ihn nur noch liebenswerter machte.
 

Zwar vergaß er alles, aber nie, sich für die Freundlichkeit anderer zu revanchieren oder zu bedanken. Er war einer dieser fast ausgestorbenen Samariter, die alten Omas über die Straße halfen, umgekippte Fahrräder wieder aufstellte oder im Park Abfälle einsammelten.
 

Wenn er jemanden entdeckte, der absichtlich Papier oder Zigaretten auf den Boden fallen ließ, forderte er sie konsequent auf, dieses aufzuheben und in den Papierkorb zu werfen – so ziemlich der einzige Moment, in dem er vergaß, dass er eigentlich schüchtern war. Dass dies noch nie zu körperlichen Verletzungen führte, lag hauptsächlich daran, dass oftmals die Klasse hinter ihm stand und ihn, wenn auch relativ unfreiwillig unterstützte. Keinen interessierte es, ob da irgendjemand seinen Müll fallen ließ, aber keiner wollte, dass Falko wegen seines umweltfreundlichen Denkens im Krankenhaus landete.
 

Wer sich mit Falko anlegte, hatte es mit der gesamten Klasse zu tun.
 

Auch mit der fetten Elke.
 

Aber die war heimlich in Falko verliebt.
 

Und der war offiziell mit Fab zusammen.
 

Leon dagegen fiel unter die Kategorie „Große Klappe und nichts dahinter“. Eigentlich hübsch anzusehen, versuchte er sein feminines Äußeres mit allem zu verschandeln, was verhinderte, dass man ihn Mädchen ohne Brüste nannte. Kurz rasierte Haare, Sportsonnenbrille, die er trug, selbst wenn es im tiefsten Winter dicke Schneeflocken aus grauen Wolken schneite, umgedreht aufgesetztes Basecap, marinenblaue Jogginghose. Im allgemeinen sah er jeden Tag so aus, als würde er jeden Moment zum Sportunterricht gehen wollen.
 

Dennoch war er ungemein beliebt, auch wenn er vor dem Unterricht mit der Finke darüber lästerte, wie unfair und ungerecht die wäre und dass sie ihn an seinem jungfräulichen Hintern lecken könnte, aber bei ihrem Eintreten mit einem höflichen „Guten Tag“ grüßte. Die Klasse hatte sich daran gewöhnt, auch dass das Händchenhalten mit Markus, bei dem man sie ab und an erwischte, mittlerweile kein Scherz mehr war, auch wenn beide das weiterhin standhaft behaupteten.
 

Die Klasse tat einfach so, als würden sie von nichts wissen.
 

War ihnen doch egal, wenn Markus das kleidungstechnisch verunstaltete Mädchen ohne Brüste daten wollte.
 

Jeden das Seine, wie jemand mit schwarzem wasserfesten Stift oberhalb der Tafel in Großbuchstaben geschrieben hatte. Paris hatte irgendwann aus dem „n“ in Jeden ein „m“ gemacht. Wenn schon vandaliert werden musste, dann doch wenigstens grammatisch richtig. So einen Fehler konnte eigentlich nur Lol machen.
 

Ein Mädchen mit hüftlangen, braunen Haaren, die sie nach eigenen Angaben mindestens eine Stunde kämen musste, damit diese ordentlich lagen und glänzten und die unglaublich nervende Angewohnheit hatte, nach jedem Kichern das Chatroom-Kürzel LOL anzufügen.
 

Es muss ihr sehr schwer gefallen sein, hinter dem grammatisch falschen Satz Jeden das Seine kein LOL dahinter zu schreiben.
 

Erst kürzlich hatte sie auch sämtliche Klassenkameraden darauf hingewiesen, dass sie von nun an ihre Sätze abkürzen würde und sie gab einen Einführungskurs in Chatroomsprache, was wirklich niemanden interessiert hatte.
 

„IMHO“, hatte sie damals gesagt, „spart das Zeit. ROFL.“
 

Was auch immer IMHO oder ROFL bedeutete. Was auch immer BRB bedeutete, wenn sie einen Raum verließ oder RE, wenn sie wieder kam. Mit CU konnten sie dank Englischunterricht und des Nichtwissens, dass das CU, das sie zum Abschied benutzte, tatsächlich eine Abkürzung war, etwas anfangen.
 

See you.
 

Das kannte sogar Phillip.
 

Dummer, quirliger, kleiner, aber cleverer Phillip, mit blonden Haaren. Hatte sich den passenden Namen Zappelphillip eingefangen und würde ihn vermutlich die nächsten Jahre nicht wieder loswerden.
 

Die Mädchen fanden ihn niedlich.
 

Er war klein. Kleiner als sie, lief immer mit kurzen Jeans-Hosen und Sneakers herum, trug ein T-Shirt mit kurzer Jeans-Weste und war immer auf dem Fußballplatz zu finden, wenn er über das Spielen das Klingelzeichen nicht bemerkt hatte und jemand losgeschickt wurde, ihn für den Unterricht abzuholen. Meistens war das Stefanies mit ie Aufgabe. Schließlich war er ihr Bruder.
 

Innerhalb der Klasse verglich man Phillip heimlich mit einem jungen Welpen.
 

Cindy schenkte ihm sogar einen zum Geburtstag. Ihre Hündin Cleo hatte geworfen und Phillip hatte schon immer einen Hund haben wollen. Wenn auch keinen Spitz. Aber es hatte sich schnell herausgestellt, dass Cleo ein kleines Flittchen war – wie Cindy selbst sagte – denn die Welpen waren nicht wie durch geplante Deckung mit einem männlichen Subjekt dieser Spezies angestrebt reine Spitze. Anscheinend hatte ein örtlicher Schäferhund zuerst seine Gene weitergeben dürfen.
 

Phillip hatte seinen Spaß an dem seltsamen Schäferhund-Spitz Mischling und nahm den Hund zum Tollen mit auf das Fußballfeld, wo das clevere Tier tatsächlich lernte, den Ball mit dem Kopf voran treibend in das Tor zu schieben.
 

Phillip und Puke – der Name des Hundes – waren bald ungeschlagen auf dem Fußballfeld. Zumindest bei einem Spiel eins zu zwei.
 


 

Und es gab Michael.
 

Ein Sitzenbleiber, der eine Vorliebe für klassische Bücher a la Goethe und Schiller hatte, aus dem Stehgreif mindestens zehn Zitate aus Romeo und Julia rezitieren konnte und eine riesige mentale Bibliothek besaß. Er konnte alle Bücher aufzählen, die er je gelesen hatte, samt Autor und Veröffentlichungsjahr.
 

Was er nicht konnte, war Mathematikaufgaben lösen und physikalische Prozesse nachempfinden, sowie chemische Experimente durchführen und protokollieren. Oxidationsketten waren eine unüberwindbare Hürde, aber nicht sämtliche historische Daten beginnend der Bronzezeit bis zum Mauerfall in richtiger Reihenfolge herunter zu rasseln.
 

Michael war seltsam.
 

Sie mochte Michael.
 

Doch auch der konnte sie wohl nicht mehr ansehen, musste sie betrübt feststellen, als sie mit Paris das Klassenzimmer betrat, während er dieses gerade verließ und, den Blick stur geradeaus, nur Paris grüßte. Von dem hintersten Fensterplatz konnte sie leises Kichern hören und die umklammerten Riemen ihres Rucksacks schnürten ihren Fingern die Blutzufuhr ab.
 

Vor einer Woche hatte sie einen Liebesbrief von Michael bekommen.
 

Angeblich.
 

Für einen kurzen Moment, als sie die Nachricht mit dem Heinrich Heine Zitat auf dem Zettel, der ihr im Matheunterricht zugeworfen wurde, mit den Augen überflogen hatte, war für einen flüchtigen Augenblick etwas wie Hoffnung in ihr aufgeflackert. Bis aus dem Augenwinkel Cindys wissendes Lächeln bemerkt hatte, das ihr verriet, dass der Brief nicht von Michael gewesen war.
 

Deshalb zeriss sie den Zettel in kleine Fetzen, die sie in ihre Federtasche warf und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu.
 

Sie kannte diesen Trick.
 

Hätte sie darauf geantwortet, hätte Cindy die Nachricht laut vor der Klasse vorgelesen.
 

Das hatten sie schon mit der fetten Kuh gemacht.
 


 

~~Fortsetzung folgt
 

Ich weiß, dass diese Geschichte nicht jedem gefallen wird, aber ich würde gern wissen, was ihr drüber denkt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Knoblauchgurke
2009-07-18T15:38:41+00:00 18.07.2009 17:38
Mir gefällt, wie ausführlich du auf die einzelnen Personen in der Klasse eingegeangen bist, auch wenn ich mir bei weitem nicht alles merken konnte. Trotz der vielen Informationen ist das Kapitel interessant zu lesen und ich bin gespannt, wie es weitergeht und was genau geschehen ist.
Von:  l-Lyla-l
2009-07-09T22:45:06+00:00 10.07.2009 00:45
Altha, ALTHA! O__O
So schön ;__;
Da möchte ich noch mehr wieder zurück in die Schule.
Zu der Schmach, dem Schmerz und dem Spaß |DD'
[Das ist die Uhrzeit, schwöre @_@ |DD]

Ich muss sagen, dass ich mit den vielen Charakteren lustigerweise keine Probleme hatte.
Zumindest während des Lesens.
Frag mich in 10 Minuten und ich kann mich sicher nicht mehr an alle erinnern |DD'

Es ist echt schön zu sehen, mit wie viel Liebe und Detailtreue du an deine Geschichten gehst.
Du hauchst den Wörtern und Sätzen wirklich Leben ein.

An einigen Stellen konnte ich Sachen aus meinem ehemaligen Alltag wiederfinden, aber das geht sicher vielen so...
Hachja ♥ |DD
___

"Wenn schon vandaliert werden musste, dann doch wenigstens grammatisch richtig. So einen Fehler konnte eigentlich nur Lol machen.

[...]

Es muss ihr sehr schwer gefallen sein, hinter dem grammatisch falschen Satz Jeden das Seine kein LOL dahinter zu schreiben."

An der Stelle hab ich fast Tränen gelacht xD
___

Schreib bitte bald weiter.
Mich interessiert sehr, was noch passieren wird bzw. was bereits passiert ist ^___~

Lg,
Lyla


Von:  Staubsauger
2009-06-30T11:56:05+00:00 30.06.2009 13:56
soo, da mein internet erst jetzt wieder funzt, kann ich erst drei tage, nachdem ich die story gelesen habe, kommentieren. hoffentlich habe ich nichts vergessen, ich bin immer noch erkältet ^^''
also mir gefällt das erste kapitel total. im grunde ist es ja nur eine personenvorstellung, wenn man es ganz eng sieht. aber sie kommt nicht wirklich wie eine rüber, aber man bekommt trotzdem einen einblick in die geschichten der charaktere. das finde ich gut.
jedoch war ich manchmal im zweifel, ob bei 'sie' die hauptperson oder paris gemeint war. manchmal war das nicht so ganz klar. deshalb denke ich, wäre so eine geschichte, wo der name der hauptperson lange nicht genannt wird, besser in der first person POV geschrieben ^^''
freu mich schon aufs nächste kapitel =D
Staubi♥
Von:  mangacrack
2009-06-20T15:25:01+00:00 20.06.2009 17:25
Da ist erst einmal Verarbeitung nötig.
Realitiv viele Informationen und wenn es nicht so gut geschrieben wäre, dann wäre es gründlich daneben gegangen eine Geschichte so zu beginnen. Derart viele Charaktere ... bis ich die alle drauf habe, muss ich das Kapitel noch mindestens zwei weitere Male lesen.

Schön ist, dass man jetzt absulut nicht weiß, was passieren wird.

mangacrack
Von:  Jitzu
2009-06-20T14:58:50+00:00 20.06.2009 16:58
Wow oo
Das ist mal was anderes. Gefällt mir aber sehr gut^^
Allein die Mühe mit der du jeden einzelnen Mitschüler ausgearbeitet hast verdient Respekt.
Sehr angenehm zu lesen und auf jedenfall interessant :3 Leider weiß man ja immernoch nicht genau was eigentlich mit der Hauptperson passiert ist, aber das steigert ja nur die Spannung auf das nächste Kapitel xD

Ich hoffe das lässt nicht so lange auf sich warten ^.~

LG

Jitzu


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