Die erste Erinnerung
Es war kurz nach dem „Sieg“ über die Volturi.
Wir hatten beschlossen Renesmee eine Freude zu bereiten und Weihnachten, welches wir ja aufgrund der Vorbereitungen auf den Kampf getrennt verbringen mussten, mit allem Pipapo zu feiern.
Um die Dekoration kümmerte sich natürlich ich!
Immerhin hatte keiner aus unserer Familie einen größeren Sinn für Schönheit und Ästhetik als ich.
Den Christbaum allerdings durften ausnahmsweise Bella und Renesmee schmücken.
Mit ausnahmsweise meinte ich natürlich Bella:
Trotz ihres jungen Alters wirkte aller Schmuck, den Nessie aufhängte, viel stimmiger, als alles, was Bella an diesem –armen- Baum „platzierte“.
Ich entschied mir diesen Anblick des Grauens nicht weiter anzutun, schüttelte sachte den Kopf und befestigte eine weitere goldene Seidenschleife am Treppengeländer.
„Ja, Jasper. Du kannst mir gerne helfen. Nämlich indem du einfach gar nichts machst.“, sagte ich leicht bissig, nachdem ich vor ein paar Minuten eine Vision von ihm und vielen demolierten Lichterketten hatte.
„Nichts gegen dich, aber du bist manchmal einfach zu…“, ich suchte nach den richtigen Worten, um seine, manchmal doch recht barsche Umgangsform zu beschreiben…
„Grob!“, zischte er durch einen kleinen Spalt seiner Vorderzähne und spannte den Kiefer an.
„Nein, so schlimm ist es doch gar nicht.“, ich fasste ihm beschwichtigend an den Schultern, „aber Feinarbeiten liegen dir halt einfach nicht…“
„Ist schon gut… dann gehe ich raus zu Emmett – den kann man wenigstens nicht kaputt machen“, sagte er leicht gekränkt und huschte davon, ohne mich nochmals anzusehen.
Ich machte mir keine weiteren Gedanken. Immerhin wusste ich, dass er mir nicht wirklich böse war: Es hatte halt seine Vorteile, wenn man in die Zukunft blicken konnte ;)
Ich war gerade dabei die nächste Schleife festzubinden, als es mir Schwarz vor Augen wurde.
Es dauerte nicht mal den Bruchteil einer Sekunde und ich war nicht mehr in meinem vertrauten Heim.
Dort wo ich nun war, roch es nach nassem Moos und ein kalter Windhauch streifte meine nackte Haut…
War es… kalt?
Seitdem ich ein Vampir war, hatte ich nicht mehr Kälte spüren können und nun ließ sie mir einen Schauer über den Rücken fahren.
Ich schaute mich um und erschrak, als ich realisierte, dass ich inmitten einer Gruppe von Menschen stand. Ich erstarrte.
Ich hatte schon viele Visionen gehabt, aber so wie diese war noch keine gewesen.
Noch nie war ich Teil einer Vision gewesen.
Normalerweise war es wie ein Film, der sich vor meinem geistigen Auge abspielte.
Nur in meinem Kopf vorhanden. Distanziert.
Aber nun kam es mir vor, als würde ich, wortwörtlich, mitten darin stehen!
Als sei die Szenerie, die mich umgab, haptisch erfassbar!
Als ich näher hinsah, erkannte ich, dass all die Gestalten Frauen waren.
Frauen mit langem, dunklem Haar; Alle eine Art graues Nachthemd tragend.
Sie kauerten sich im ganzen Raum verteilt, sitzend, in kleinen Grüppchen zusammen; 'Wahrscheinlich um der klirrenden Kälte zu entkommen', dachte ich.
Ihr leises Wimmern und Wispern war markerschütternd.
Einige von ihnen schienen sogar Selbstgespräche zu führen.
Doch wo war der Grund meiner Anwesenheit?
Was wollte mir „meine Gabe“ sagen?
Ich schaute mich ein weiteres Mal um; da erblickte ich ihn.
Alles was ich sah, war nur der Umriss eines Mädchens, das seine Arme um seine Beine geschlungen und seinen schwarzen Kopf in seinem Schoß versunken hatte.
Fast hypnotisch wippte sie ihren Körper vor und zurück.
Irgendetwas an ihrer Statur kam mir bekannt vor und nahm mich gefangen.
Ohne den Befehl meines Hirns abzuwarten, fingen meine Beine an einen Schritt vor den anderen zu setzen und brachten mich somit dem mysteriösen Mädchen immer näher.
Circa einen Meter vor ihr blieb ich stehen, als ich bemerkte, dass sie etwas zu Summen schien.
Ich versuchte alle Hintergrundgeräusche einzudämmen und konzentrierte mich allein auf ihre Stimme.
Der Klang dieser schien mir irgendwie vertraut.
Der Ursprung dieses Gedankens war für mich noch nicht greifbar, aber es schien mir plötzlich, als wären meine Ohren die ganze Zeit mit einer dicken Schicht Watte verschlossen gewesen, die ich nun versuchte herauszuzupfen.
Das abrupte Aufstöhnen des Mädchens riss mich aus meinen Gedanken und ich blickte in das schmerzverzerrte Gesicht der Schwarzhaarigen, die nun bewegungslos durch mich hindurch, der Tür entgegen, starrte.
Und da wusste ich wer sie war.
Ich erkannte ihre bernsteinfarbenen Rehaugen, die leer und trübe vom Weinen waren, aber gleichzeitig den blanken Horror widerspiegelten, und zusätzlich noch von dicken Augenringen untermalt wurden.
Ich erkannte ihre Stupsnase, die nun ganz rot vom Abwischen war.
Und ihre ungleich vollen Lippen, die trocken und spröde, ihre doch recht gerade gewachsenen Zähne entblößten.
Wenn mein Herz nicht schon seit circa einem Jahrhundert nicht mehr schlüge, wäre es nun sicherlich stehen geblieben.
Das Geräusch von stählernen Schuhsohlen, die auf steinigen Boden trafen, ließ mich aufhorchen und ein Raunen ging durch die Menge.
Alle Frauen wimmerten und stöhnten nun noch lauter.
Die Schritte kamen immer näher und ich konnte mit Leichtigkeit heraushören,
dass es zwei Paar waren.
"Was braucht Ihr? Vor kurzem haben wir ein paar wunderschöne Blondinen-“
"Nein, ich brauche Schwarzhaarige!“, unterbrach eine zweite Stimme die erste.
Sie war rau und bestimmend und anscheinend der Grund für den Stimmungsumschwung der Frauen.
Ein paar Sekunden später hörte ich, wie jemand die große Stahltür öffnete und ich drehte mich unweigerlich um.
Zwei Männer standen in der Tür: Der linke recht groß gewachsen, von hagerer Gestalt und einen weißen Kittel tragend. Der andere ein ganzes Stück kleiner, stattlich gekleidet, sein schulterlanges Haar penibel nach hinten gekämmt.
Zweiter musterte die Frauen langsam und genau, welche, von Angst erfüllt, vor seinen Blicken zurückzuckten.
Was ging hier vor? Ich konnte es nicht recht erfassen, bis ich die große, schwere Schere in der Hand des „Mediziners“ erblickte.
Deshalb wirkte ihr Haar zum Rest ihrer Körper so gepflegt: Der Mann in der Tür war ein Perückenmacher, welcher sich nun das passende Haar für seine nächste Arbeit heraussuchte…
"Diese dort!“, zischte der Mann und seine Lippen kräuselten sich vor Entzückung.
Er betrat den Raum, dicht gefolgt auf den Mann im Kittel, der erst die Tür schloss und dann den Frauen drohend die Schere entgegen streckte, die davor stöhnend zurückwichen.
Sie gingen direkt auf mich zu und da wusste ich…
Sie hatte es kommen sehen…