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Challenge bei Durchgeknallte FF-Autoren
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A Christmas murder
 

„Gewonnen. Du gehst.“ Sie grinst mich an, während sich „Game Over“ in großen flammenden Lettern über den Bildschirm entrollt. Theresa, meine Freundin, hat mich wie so oft in diesen Tagen vernichtend geschlagen, nur mit dem Unterschied, dass diesmal – aber auch nicht zum ersten Mal - auf dem Spiel stand, wer den Nachschub an Cola aus der Küche herantragen muss.

„Sofort, grausame Meisterin“, murmele ich und lasse den Controller auf den Boden vor mir sinken, erhebe mich mit halb eingeschlafenen Füßen aus dem übergroßen Sitzkissen und sammele auf dem Weg zur Tür leere Flaschen ein, während sie sich auf dem Bett genüsslich auf den Rücken rollt und streckt. Die ganze Nacht seinen Freund in jedem erdenklichen Videogame zu schlagen ist wirklich anstrengende Schwerstarbeit.

„Ja, beeile er sich und bringe er Chips mit“, kommandiert sie schelmisch hinterher und zwinkert – ich sehe einen Moment ihren nackten Bauch, als sie sich in den Decken räkelt, dann ziehe ich die Tür leise ins Schloss.

Auf dem Gang ist es dunkel und sicher ist es schon weit nach Mitternacht. Ich denke mit einem leichten Schaudern an die Strapazen des morgigen Weihnachtsabends, doch ich weiß selbst, dass ich diese durchwachten Nächte in der Schwebe viel zu sehr genieße, um mich wirklich zu ärgern. Mittlerweile kenne ich das Haus der Familie meiner Freundin auch bei Dunkelheit fast auswendig – nicht zuletzt geschult durch zahlreiche nächtige Versorgungsgänge in die Küche. So gehe ich ohne den Lichterschalter zu suchen die wenigen Schritte den Flur entlang bis zur engen Treppe, die ins Erdgeschoss hinunter führt. Ich kenne die zwölf breiten Stufen mit ihren jeweils individuellen knarrenden, ächzenden, quietschenden und atmenden Klängen, die ich nicht vermeiden kann so leise ich auch versuche aufzutreten. Mich stören solche Details, Unfeinheiten, die ich nicht bewältigen kann. Ich bin nicht paranoid oder fühle mich dadurch entblößt, aber ich würde es lieber vermeiden können. Am Fuß der Treppe, an der Haustür vorbei, trete ich in den kurzen Flur, der sich ohne Tür zur Küche hin öffnet, an welche sich wiederum das große Wohnzimmer anschließt – ebenfalls nur durch einen schmaleren Durchgang statt einer Tür. Auf halbem Weg zweigt ein Gästezimmer vom Flur ab, in welchem ich mittlerweile nicht mehr schlafen muss. Ich empfinde nach der Woche Ferien, die ich in ihrem Zuhause verbracht habe, bereits eine angenehme Vertrautheit, die mir sonst für fremde Häuser eher … nun ja … eben fremd ist.

Einen Moment halte ich inne und werfe einen Blick durch das runde Fenster, welches auf Kopfhöhe in die Haustür eingelassen ist. Halbiertes Mondlicht scheint durch das Glasauge – halbiert durch die Schneegrenze, die sich bis in die Hälfte des Fensters auftürmt. Theresa hatte mich schon als wir vor einigen Monaten planten Weihnachten zusammen bei ihr zu verbringen vorgewarnt, dass ihr ganzes Dorf wahrscheinlich vom Schneefall eingeschlossen sein würde. Es war hier in höherer Lage nicht ungewöhnlich, somit waren sie und ihre Familie darauf eingestellt: Man kauft einige Tage vor dem schlimmsten Schneefall das Haus bis unters Dach voll mit Vorräten und verbringt lange sorglose Tage abgeschnitten von der Zivilisation – ohne auf Komfort wie Strom und Wasser verzichten zu müssen. Streng genommen war es bis zum nächsten Haus oder dem Supermarkt keine fünf Minuten zu laufen, jedoch machte der mannshohe Schnee das ganze zu einer ebenso anstrengenden wie überflüssigen Prozedur. Jedes Mal, wenn ich – wie so oft des Nachts – auf meinen Botengängen am Türfenster vorbeikomme, stelle ich mir das Haus als Schiff vor, das in einem Eismeer treibt und betrachte durch dieses Bullauge – halb unter Wasser – die Dächer der anderen Schiffe am nächtlichen Horizont. Als Großstadtkind empfinde ich ein Gefühl von Frieden in diesem Tagen bei Theresa, das ich schwer in Worte fassen kann.

Doch gerade jetzt wird mein friedvoller Schneeozeanmoment gestört – laute Stimme aus dem Wohnzimmer. Da ich mit ihrem Ursprung und ihren Gründen eigentlich nicht in Berührung kommen will, es mich aber bei meinem Leben nicht wagen würde ohne erbeutete Nahrungsmittel zu meiner Kapitänin oben in ihre Koje zurückzukehren, schleiche ich auf leisesten Füßen Richtung Küche. Ich weiß, dass ich den Kühlschrank erreichen kann, ohne aus dem Wohnzimmer gesehen zu werden, und hoffe eben darauf.

„ … glaubst wohl, dass deine Faulheit eine Rechtfertigung dafür ist dir eine Sonderbehandlung zu verdienen. Ich habe nicht mein Leben im Griff, nur damit du es dir herausnehmen kannst …“

Theresas Vater, Arthur, ganz unverkennbar. Und auch schon der Satzfetzen hilft mir dabei erraten zu können, wer gerade noch im Raum ist – genau deshalb will ich gar nicht erst weiter zu hören. Arthur ist einer von jenen ehrlich und schwer arbeitenden, herzlichen Familienvätern, die dazu prädestiniert sind einen rumtreiberischen Lebenskünstler von jüngerem Bruder zu haben, der alle Jahre gerne den Kreis der Familie aufsucht, wenn seine Finanzplanung mal wieder nicht ganz so aufgegangen ist, wie er es sich gedacht hat – falls er es sich jemals gedacht hat. Weil das Schicksal solche Stereotypen liebt wie die Fliegen das Obst, hat sich Percy, eben jener Bruder, zur Angewohnheit gemacht die Weihnachtstage stets im Hause und am Tisch seines großen Bruders zu verbringen. Abgesehen von der guten kostenlosen Verköstigung, so erzählt es mir Theresa immer, nutzt er die Tatsache, dass Arthur ihn einfach nicht rauswerfen kann, ohne ihn dem Schneetod zu übereignen, und ist aus seinem Harmoniebedürfnis heraus auch nicht gewillt die unabänderliche Nähe in ständigem Streit zu verbringen. Hinzukommt – das will ich nicht unter den Tisch kehren – dass Percy, abgesehen von seinen chronischen Geldsorgen und der Orientierungslosigkeit auf der Straße Richtung 30, ein wirklich sympathischer und unterhaltsamer Kerl ist. Doch die Unterhaltung und der Burgfriede enden – so wie jetzt – immer dann, wenn Arthur von seinem jüngeren Bruder auf das Thema Geld gedrängt wird. Gerade wenn es so wie in diesem Winter um das Erbe geht.

Ich schüttele den Kopf und besinne mich auf den Grund meiner Anwesenheit und weshalb ich überhaupt peinlicherweise dieser Situation lauschen muss. Mit einem zaghaften Blick in die Dunkelheit bewege ich mich durch die zum Glück leere Küche auf den Kühlschrank zu, doch ein sich bewegender Schatten scheucht meine Aufmerksamkeit auf, während im Wohnzimmer die lamentierende Stimme Percys gegen seinen erzürnten Bruder einsetzt.

„Eric!“, meldet sich der Schatten neben dem Kühlschrank halblaut und eine kleine Gestalt wuselt auf mich zu.

„Cassy! Was machst du denn um die Zeit hier unten?“, flüstere ich zurück, als ich Theresas kleine Schwester Cassandra erkenne. Wie immer erstarrt mein Gehirn trotz der Situation für einen Lidschlag in Erstaunen ob der Namenwahl dieser Familie. Das kleine Geschöpf aus Nachthemd und wallend langem Haar reicht mir kaum über die Hüfte und schaut mich mit großen, schüchternen Augen an.

„Ich wollte im Wohnzimmer auf den Weihnachtsmann warten, aber dann hab’ ich bemerkt, dass Pa und Onkel Percy noch da sind, und dann haben die beiden irgendwann angefangen Phoenix Wright nachzuspielen, und dann hab’ ich hier in der Küche gewartet und mich versteckt, weil ich nicht wollte, dass Pa mit mich bemerkt und böse wird, dass ich noch wach bin, und dann haben die Beiden weiter gespielt, und dann …“, wispert das kleine Mädchen wie ein Wasserfall in einem verschwörerischen Tonfall herunter.

„Schon verstanden“, unterbreche ich sie und tätschele ihr den Kopf, während ich mich frage, ob es gut war, dass Theresa und ich mit ihr zusammen mehrere Fälle besagten Anwalts-Games gespielt hatten, wenn sie jetzt schon den Streit ihrer Verwandten als eine Rechtsdebatte vor Gericht identifizierte. „Aber wenn wir leise sind, schaffen wir es nach oben, ohne dass dein Pa uns hört und du kannst mit Resa und mir Playstation spielen.“

Mit glänzenden Augen nickt das Mädchen mir zu und ich trete leise noch einige Schritte auf den Kühlschrank zu, der in der Ecke der Küche friedlich brummt. In einem Seitenblick kann ich die Silhouette von Arthur und Percy gegen den dunklen Schein des Kaminfeuers erkennen. Die zum Kamin hingewendeten, hohen Sessel und die Couch zeichnen sich als schwarze Blöcke in meinem Sichtfeld ab. Sie sind von den Sesseln aufgestanden und diskutieren aufgebracht, doch ich versuche den Inhalt – das Testament ihres sterbenden Vaters und Percys Idee das Alleinerbe nötig zu haben – aus Diskretion und Desinteresse auszublenden. Ich öffne die Kühlschrank einen Spalt breit und nur ein schmaler Lichtkegel erhellt den Fliesenboden. Hoffentlich zu wenig, um es aus dem Wohnzimmer zu erkennen. Ich schnappe mir eine neue Flasche Cola, schließe die Tür wieder und stelle vorsichtig die leeren Flaschen in den Kasten daneben.

Als ich aus der Küche schleiche, höre ich Cassandras tapsige Schritte hinter mir und bin beruhigt, dass sie mir ohne weiteren Aufwand folgt. Ich erklimme gefolgt von ihr die Treppe und denke bei jeder einzelnen der lauten Stufen daran, dass sie mich auf dem Weg nach unten auch nicht verraten haben. Endlich oben angekommen muss ich nur noch die erste Tür links im Flur öffnen und schlüpfe mit Cassandra im Schlepptau in Sicherheit.

Ein Gefühl als betrete ich das Geheimversteck meiner Kindheit, das ich nie hatte, im Unterholz des Waldes, der viele Kilometer außerhalb der Stadtgrenze lag. Theresa hatte ein Geheimversteck. Zwei sogar und ein Baumhaus. Sie erzählt mir oft, wie sie mit den anderen Kindern aus dem Dorf dort gespielt hat und die Tage ihrer Kindheit zugebracht. Ich werde immer wehmütig dabei. Keine Verstecke meiner Kindheit zu haben. Keine Kindheit mit ihr gehabt zu haben. Letzte Sommerferien, als ich auch zwei Wochen hier war, hat sie mir eines der Verstecke gezeigt: einen Bretterverschlag in einer Erdmulde unter einem umgestürzten Baum und zugewuchert von Brombeeren, an einem heißen Sommerabend. Sie riss die Sträucher beiseite, die den festgetretenen Boden überwachsen hatten, und warf eine Decke darüber. Sie streifte ihr T-Shirt ab und spielte mit mir, was „der Junge aus der Stadt“ hier zum ersten Mal mit ihr spielen durfte. Ich weiß noch, wie wir uns dabei ständig an Dornen stachen; dass es mittendrin anfing zu gewittern und ihre Versicherung stimmte, dass es hier drin trocken blieb, selbst bei Regen und Sturm. Das Gefühl der Erinnerung lässt den beklemmenden Stein auf meiner Brust zu einem warmen Gefühl in meine Füße sinken, während ich innerlich durchatmend in ihrem Zimmer stehe und Cassandra sich auf dem Bett breit macht.

Aber wo ist Theresa? Ich sehe mich im Raum um und wundere mich, wohin meine Freundin wohl verschwunden ist, doch Cassandra scheint es wenig zu kümmern.

„Eric, ich will Soul Calibur spielen!“, quäkt sie fröhlich und hält mir den zweiten Controller entgegen. Für einen Moment erkenne ich die eine Schwester in der anderen wieder und muss lächeln. Ich stelle die Colaflasche ab und lasse mich auf meinen alten Platz nieder, während Cassandra schon beginnt im Menü des Spiels herum zu wählen. Wie weit weg kann meine Theresa schon sein? Schließlich kommt hier in den nächsten Tagen niemand so einfach und will auch nicht freiwillig raus.
 

Cassandra und ich spielen eine Weile gegeneinander und ich beginne – ebenfalls nicht zum ersten Mal – zu glauben, dass ein Fluch auf mir lasten muss, denn während ich konzentriert und gezielt die Knöpfe des Controllers bearbeite, um die Tastenkombinationen, die ich mir über die Monate eingeprägt habe aus meinen grauen Zellen auf den flimmernden Bildschirm zu befördern, hackt die kleine Cassy entzückt auf ihre Controller ein und schickt mich Runde für Runde zu Boden. Es muss wirklich in der Familie liegen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich in diesem Haus zum letzten Mal in irgendeinem Spiel gewonnen habe.

„Mit dir spielen macht Spaß, Eric. Gut, dass Ma nicht gemerkt hat, wie ich runter geschlichen bin“, plappert sie heiter vor sich hin. Immerhin ist die kindliche Freude der kleinen Schwester an ihren Siegen verhältnismäßig gut zu verkraften im Vergleich zur durch lange Praxis ausgeprägten Schadenfreude meiner Freundin. Allerdings bezweifle ich, dass „Ma“ sie irgendwie hätte bemerken können, selbst wenn sie mit ihren Skischuhen die Treppe herunter getrampelt wäre. Selbige Ma, das war Theresas und Kassandras Mutter Sibylle schlief nämlich in diesem Moment gerade selig mit Prinz Valium. Sibylle, hatte mit ihrem Ehemann vor einigen Monaten einen schweren Autounfall, da Arthur, so erzählte es mir Theresa nach einer Feier seine Nüchternheit überschätzt und den Wagen betrunken um einen Baum gewickelt hatte. Er selbst hatte kaum etwas abbekommen, doch seine Frau brach ich Arm und Bein. Als ob das nicht schon reichen würde, verheilt Sibylles Bein nicht richtig und so kann sie seit Wochen nur mit Medikamenten schlafen – vom Aufwand tagtäglich von der Küche im Erdgeschoss zum Schlafzimmer und ins Bad im ersten Stock ganz zu schweigen. Theresa ist sich selbst nicht sicher, wie es derzeit zwischen ihren Eltern steht, doch ich sehe zumindest seit ich hier bin, wie hingebungsvoll sich Arthur um sie kümmert. Aber eigentlich steht es mir gar nichts an darüber Urteile anzustellen.

Nach einigen Runden öffnet sich leise die Zimmertür und Theresa betritt, in eines meiner T-Shirts gekleidet, den Raum. Das dunkle Haar fällt ihr zerzaust auf die Schultern und sie wirkt etwas schläfrig.

„Was macht der Schreihals hier“, kommentiert sie Cassandras Anwesenheit weniger fragend als schlicht feststellend, aber dennoch grinsend und macht die wenigen Schritte durch das Zimmer, um sich auf einem Schoß niederzulassen und mir den Controller aus der Hand zu nehmen.

„Ich hab’ Cassy vorgeschlagen, dass sie ein bisschen mit uns spielen darf“, antworte ich laut und füge in ihren Nacken flüsternd bei: „Percy und dein Dad haben sich wieder gestritten und sie saß in der Küche.“ Theresa nickt.

Zum ersten Mal an diesem Abend bessert sich die Statistik meines Controllers schlagartig und irgendwann wird Cassandra quengelig und will nicht mehr gegen ihre Schwester spielen. Ich spiele (und verliere) wieder gegen Theresa spiele, während sie auf meinem Schoß sitzen bleibt und sich die Jüngere vom Bett aus wie ein Klammeraffe über meine Schultern hängt. Ich bin es mittlerweile gewohnt unter solchen „Sonderbedingungen“ meinen Abend zu verbringen. Hoffentlich fängt Cassy nicht wieder an zu sabbern, wenn sie einschläft …

Das Game flimmert Runde für Runde weiter und Cassandra rutscht immer unruhiger auf meinen Schultern hin und her. „Ich hab’ Mr. Bananas in der Küche gelassen“, meldet sie sich schließlich beklagend zu Wort.

Ich weiß schon, worauf die Klärung hinauslaufen wird, wer ihren Plüschgorilla holen darf, deswegen bin ich, nachdem ich mich aus der Belagerung beider Schwestern geschält habe, schon nach Sekunden mit einem Bein aus der Tür.

„Und bring’ diesmal Chips mit“, erhalte ich noch Direktive, bevor die Tür sanft im Schloss klickt. Zum zweiten Mal für diese Nacht versuche ich so zaghaft wie möglich die Treppe hinunter zu gehen und wünsche mir dabei inniglich, dass die beiden Brüder mittlerweile aufgehört haben zu streiten und schlafen gegangen sind. Tatsächlich, als ich die Küche betrete, ist kein Laut aus dem Wohnzimmer zu vernehmen und die Glut im Kamin ist bereits ausgebrannt. Nur die Lichterketten, die um den Weihnachtsbaum geschlungen sind, welcher um die Ecke hinter der Wand steht, werfen eine matte Ahnung bunter Farben in den finsteren Raum. Ich finde den Plüschaffen auf dem Boden neben dem Kühlschrank. Da waren doch noch Chips auf dem Tisch im Wohnzimmer gewesen …

Ich betrete durch den schmalen Durchgang das Wohnzimmer und orientiere mich in der Dunkelheit. Ich will mich zum Esstisch wenden, doch da ist ein Schatten zwischen Weihnachtsbaum und Kamin, der mich irritiert. Eine große Geschenkschachtel für Morgen? Ich kneife die Augen zusammen und erkenne eine zusammengesunkene Gestalt, trete näher heran … Ich … Arthur glotzt mich mit überraschtem Blick an … und sieht mich doch nicht … seine Überraschung auf sein Gesicht gefroren … ein zweiter, breiter Mund, unter seinem Mund klafft rot und grinst mir zahnlos entgegen … ein ebenso roter Pfad hat sich vom neuen Mund sein Hemd herunter gebahnt … Ich versuche zu denken, aber die Zahnräder blockieren … eine Rückbremse statt ein Rückwärtsgang … Ich schlucke … dann wieder ratloses Denken.

Es reißt mich aus der Starre, als sich die Haustür öffnet und Schritte vom Flur her kommen. Ehe ich einen Plan fasse, kauere ich schon hinter der Küchentheke, den Gang zum Wohnzimmer abgrenzt und presse mich so flach wie möglich gegen die Thekenwand. Ich atme nicht, als Schritte, donnernd laut in meinen gerade hypersensiblen Sinnen, die Küche durchqueren.

Er ist tot, er ist tot, er ist tot, er ist tot, läuft wie ein hysterisches Tonband in meinem Kopf und wiederholt sich mit jedem Schritt. Als die Schritte im Wohnzimmer stehen bleiben, erlaube ich mir kurz durchzuatmen, doch ich bewege mich nicht. Ich höre Schleifgeräusche aus dem angrenzenden Zimmer und der klaffende Mund grinst mich wieder ohne Zähne an. Mir ist schlecht, doch langsam kann ich meine Gedanken wieder einfangen. Das Schleifen hat aufgehört und ich habe erwartet Arthurs Leiche würde an mir vorbei nach Draußen gezogen, doch die Schritte gehen allein durch die Küche in den Flur. Das Öffnen und Zuschlagen der Haustür. Die geschlossene Tür ist wie ein Startschuss für mich und ich eile Richtung Treppe. Ich blicke vorsichtig durch das Glasauge, doch ich kann nur eine Schneise im hohen Schnee erkennen – wer dort draußen ist, ist bereits aus meinem Blickfeld. Meine Gedanken rotieren, drehen sich im Leerlauf. Ohne mir mehr Zeit zum Denken leisten zu können, erklimme ich die Treppe zwei Stufen auf einmal und im nächsten Moment stehe ich, die Tür hinter mir schließend, in Theresas Zimmer.
 

Sie blickt etwas verwundert auf, sieht dass ich aufgebracht bin, doch sie kennt mich als einen Menschen, bei dem das nicht immer etwas zu bedeuten hat. Mit einer Erleichterung, die nichts lindert, sehe ich, dass Cassandra auf dem Bett zu einer Kugel zusammengerollt schläft. Eine Eingebung sagt mir, dass es vielleicht gut ist, es vorerst dabei zu belassen. Theresa kommt auf mich zu, ein Anflug von Besorgnis auf ihrem Gesicht, während sie mir den Stoffaffen aus den Händen nimmt, den ich völlig vergessen umklammere.

„Alles in Ordnung?“

„Dein …“, setze ich an, doch senke meine Stimme, „dein Vater ist tot.“

Wir stehen uns ruhig wie Marmorbilder gegenüber, bis ihr Stirnkräuseln den Stein durchbricht.

„Lass’ den Unsinn. Wenn du die Chips vergessen hast, dann sag’ es.“

„Resa.“ Ich nehme alles zusammen, was ich an Ernsthaftigkeit aufbringen kann – eine ganze Menge in Anbetracht der Situation. „Dein Vater liegt tot unten im Wohnzimmer.“

„Ach, komm’ schon. Ich weiß, dass ich dich zu oft runtergeschickt hab’ die letzten Tage. Ich gelobe Besserung.“ Sie grinst verlockend. Ist meine Freundin einfach nur dickköpfig oder sind die Tatsachen zu schwer zu glauben?

„Theresa, dein Vater liegt unten im Wohnzimmer, vom einen Ohr zum anderen aufgeschlitzt und ist mausetot.“ Ich kämpfe mit der Lautstärke meiner Stimme, während ihre Augen zornig werden.

„Eric, das ist nicht mehr komisch.“

„Das soll es auch nicht sein, denn wer es war hätte mich unten gerade um ein Haar bemerkt und ist gerade zum zweiten Mal zur Haustür raus.“ Ich deute in einer überflüssigen Geste hinter mich auf die Tür. Ich spüre, wie durch Theresa die Erkenntnis sickert, dass ich keinen Spaß mache, und es ist, als würde ich einem Vakuum dabei zusehen können, wie es sich mit Luft füllt. Neben ihrer Sturheit habe ich an meiner Freundin immer ihre Ruhe und Gefasstheit bewundert, doch jetzt sehe ich wie ihre Hände zittern, während sie ihren Kopf auf meine Schulter sinken lässt. Dann ist der Stillstand vorbei.

„Du bist sicher, dass er noch außerhalb des Hauses ist?“ Sie eilt zu ihrer Pinwand und greift den Haustürschlüssel vom Haken.

„Er?“

„Eric, wie viele Menschen befanden sich in diesem Haus?“

„Sechs. Deinen Dad eingerechnet.“ Die Zahnräder der Gedankenmaschine kommen langsam wieder in Bewegung, obwohl es fast peinlich ist, dass Theresa so viel schneller ihre Schlüsse gezogen hat.

„Genau. Davon waren wir drei hier oben und Mum ging ganz sicher nirgendwohin. Er bleibt nur noch übrig.“ Sie beißt sich auf den Daumennagel, irgendwo zwischen Zorn und Nervosität. „Verdammt, das hätte ich nie von Onkel Percy gedacht.“

„Wo warst du eigentlich, als ich mit Cassy wieder hoch kam?“ Entweicht es mir mehr ungewollt, da ich mich von ihren „Investigationen“ angesteckt fühle. Ich ernte einen bitterbösen Blick für meine Abschweifung.

„Im Bad, du Idiot. Soll ich dich auch noch fragen, ob du es nicht warst oder warum ich dir überhaupt glauben sollte?“, faucht sie mir entgegen. Ich habe für eine Sekunde vergessen, dass ich ein Mädchen vor mir habe, das gerade seinen Vater verloren hat.

Sie stapft aus der Tür und die Treppe herunter. Noch bevor ich unten angekommen bin, hat sie schon die Riegel vorgeschoben und den Schlüssel, nachdem sie ihn mehrmals im Schloss gedreht hat, stecken gelassen. Sie eilt durch die Küche und verharrt nur eine Sekunde an der Schwelle zum Wohnzimmer, dann betritt sie den Raum. Es ist weiterhin dunkel, doch als sie zum Lichtschalter greifen will, bekomme ich vorher ihre Hand zu fassen.

„Wenn er wirklich noch da draußen ist, sollten wir uns ihm nicht auch noch präsentieren. Wer weiß auf was für Ideen er kommt.“ Sie nickt und zieht die Hand an den Körper.

„Da, der Blutfleck“, deute ich auf die dunkle Lache vor dem Weihnachtsbaum.

„Wo ist seine Leiche?“ Ich erschaudere über die Professionalität, die Theresa an den Tag legt.

„Ich weiß nicht, aber ich habe Geräusche gehört, als hätte er die Leiche irgendwohin geschleift.“ Theresa erzittert.

„Ist es kalt hier drin?“

Das Krachen eines geöffneten Fensters, als der kalte Wind es in die Angeln wirft. Wir zucken beide zusammen vor Schreck, doch dann sehe ich das weit geöffnete Fenster neben dem Esstisch, das eine Böe gerade aufgedrückt hat. Ich eile hin und verschließe es gründlich, doch schon währenddessen kommt mir die Erkenntnis: Wer dort draußen war, ist durch das nicht richtig geschlossene Fenster wieder rein gekommen! Er könnte hier drin sein!

„Sieh’ mal, die Blutspuren“, murmelt Theresa hinter mir, offenbar weniger von der Vision befangen gerade mit einem Mörder im selben Raum zu sein. Ich sehe mich um. Sie hat recht. Gegen den hellen Wohnzimmerteppich, notdürftig durch die Lichterketten erhellt, zeichnet sich eine dunkle Schleifspur ab. Sie führt zuerst unter den Esszimmertisch und dann von dort durch das Fenster. Selbst an der Tapete unterhalb des Fensterbretts klebt die dunkle Spur.

„Er kam also von draußen wieder rein, um die Leiche unter dem Tisch zu verstecken und das Fenster zu öffnen, dann ging er wieder an mir vorbei nach draußen und während wir die Tür verschlossen haben, hat er die Leiche durchs Fenster geholt.“ Im Reden gehe ich die Fenster des Raumes ab und prüfe, ob sie verschlossen sind. Zum Glück haben die Küche und das Gästezimmer keine Fenster.

„Nicht unbedingt“, bemerkt Theresa, während sie es mir gleichtut, „denn das Fenster könnte von Anfang an nicht richtig zu gewesen sein. Schließlich wusste er ja nicht, dass jemand den Mord so unmittelbar bemerken würde und die Tür verschließen.“

„Warum hat er dann die Leiche verschoben?“

„Mh …“, sie rümpfte die Nase, „ich denke es ist eine Sache vorauszusehen, dass jemand die Tür verriegelt, aber eine ganz andere die Leiche nicht mitten im Raum liegen zu lassen.“

„Aber wollte er das Fenster von Anfang an benutzen? Weiß er sonst, dass wir ihn bemerkt haben?“

„Ist doch egal“, seufzt meine Freundin und verpasst mir einen dieser unverkennbaren Überraschungsmomente, die mich für gewöhnlich faszinieren. In diesem Fall jedoch …

„Egal?“

„Ganz genau.“

„Ich muss gestehen, dass ich dir nicht so ganz folgen kann.“

„Wir wissen, dass Percy es war. Wir sind hier drin. Wir sind in der Überzahl. Ich schüttle Mum aus Prinz Valiums Armen. Du holst die Hockeyschläger. Versuch’ Cassy nicht zu wecken.“ Ich sehe meine Freundin mit großen Augen an und habe das Gefühl die sanften Hintergrundtrommeln eines Militär-Briefings zu hören. Sie drückt einmal kurz meine Hand und küsst mich auf die Wange, dann dreht sie sich um und bewegt sich zur Treppe. Ich gehe hinter ihr her die Treppe hinauf und während sie den Gang weiter durch zum Schlafzimmer ihrer Eltern geht, schlüpfe ich leise durch ihre Zimmertür. Beruhigt stelle ich fest, dass Cassandra noch friedlich schläft und die Friedlichkeit des Zimmers mit den herumstehenden Flaschen, zu vielen Decken und Kissen und dem ruhig flimmernden Fernseher lacht mir verächtlich entgegen. Sobald ich durch die Tür gehe, ist wieder Krieg. Ich prüfe auch hier die Fenster und nehme vier von Theresas Hockeyschlägern heraus. Einen lege ich mit einer gewissen Bitterkeit neben Cassandra auf das Bett, bevor ich den Raum wieder verlasse.

Ich gehe den Gang entlang, bis ich der Tür des Elternschlafzimmers und dem leisen Schluchzen näher komme. Mit dem Rücken gegen die Wand sinkend lausche ich, wie Theresa ihrer Mutter mit ruhiger, geradezu feierlich trauriger Stimme erzählt, was passiert ist. Etwas in mir sinkt tief nach unten und verankert meinen Schwerpunkt felsenfest. Würde ich rauchen, wäre dass jetzt sicher die verdammt coole Szene, in der ich Zigarette rauchend im leeren Flur sitze, und die Ruhe vor dem Sturm genieße. Ich kann immer noch nicht begreifen, worin ich mich gerade befinde. Ich bin nicht sicher, ob ich panischer sein sollte oder mehr bei der Sache oder einfach ergriffener. Ich dachte immer, so rational und orientiert ist man nur in Filmen, in denen jede Geste von Anfang an feststeht und sich stimmig auflöst. Dieser taube Überlebenstrieb ist merkwürdig.

Ich drücke mich auf die Beine, da ich Sibylles Weinen nicht länger zuhören will, und stelle zwei Hockeyschläger in den Türrahmen. Ich streife ziellos die Treppe hinunter – soweit man in dieser Situation davon sprechen kann – und noch einmal Richtung Wohnzimmer. „Den Tatort betrachten“, spukt mir fast durch den Kopf und langsam fühlt es sich wirklich wie ein Phoenix Wright Fall an. Täter. Ausführung. Beweise. Motiv. Durch das Glasauge sehe ich die Spuren des Mörders im Schnee. Percys Spuren. Es ist schwer seinen Namen damit in Verbindung zu setzen. Draußen ist es noch stockfinster, doch ich vermute, dass es mittlerweile vier oder fünf Uhr morgens sein muss. Ob er irgendwo da draußen im Schnee lauert oder versucht sich ins Tal durchzuschlagen? Hat er Arthur aus dem Streit heraus angegriffen und „aus Versehen“ getötet – der zahnlose Mund lacht mich aus – oder war es geplant, um den Weg zum Alleinerben zu ebnen? Unsinn. Selbst ich hätte einen Mord mit einer solchen Absicht besser planen können und mich überfordert meist schon die Planung meines morgigen Mittagessens, weil ich mich dabei in Widersprüche zu verstricken schaffe.

Erneut betrachte ich die dunklen Spuren auf dem Teppich. Wo kann die Leiche sein? Im Schnee draußen? Wohl kaum hier drin. Ich schrecke auf, als ich eine sich öffnende Tür höre. In die Küche schleichend, meine Hände um den Griff des Hockeyschlägers verkrampft, steht mir auf einmal Percy gegenüber. Ich kann nicht übersehen, dass er seinen Schlafanzug trägt und mich aus müden Augen ungläubig ansieht.

„Es liegt mir ja fern mich zu beschweren, weil ihr die Nacht durchmacht“, sein verschlafenes Lächeln drückt Verständnis aus, „aber könnt ihr nicht ein wenig leiser …“

Während er spricht, legt mein Gehirn die Vorstellung eines Brudermörders über sein Auftreten und wird überlastet. Meine Arme schwingen einen flachen Bogen und der Schläger an die Schläfe wirkt sich genauso aus, wie mir es schlechte Filme stets suggeriert haben. Ich verspüre ein Gefühl von Zufriedenheit mit mir selbst, dass sich mit dem Schrecken mischt, der jetzt erst nach meiner Reaktion auf den Plan tritt, sich jedoch eigentlich auf das unerwartete Auftreten des Mörders bezieht. Es teilt sich die Zuschauerplätze mit der Überraschung über mein spontanes und pragmatisches Handeln. Percy klappt zu Boden und bleibt – wohl bewusstlos – liegen. Meine Gedanken arbeiten immer noch praktisch: Duct-Tape, im Schrank unter der Spüle. Während ich ihn auf einen Küchenstuhl hieve und beginne eng mit dem silbrigen Klebeband zu umwickeln, rufe ich laut nach Theresa, so wie ihre Eltern uns sonst immer aus der Küche zum Essen gerufen haben.

Ich schiebe den Stuhl in die Mitte des Raumes und sinke gegen die Wand ihm gegenüber nieder. Ich atme durch, doch als meine Freundin nach wenigen Minuten den Raum betritt, trommelt mir immer noch der Puls in den Ohren wie ein Dark-Wave-Song.

„Bist du wahnsinnig so rumzu …“, zischt sie mich an, ihren Hockeyschläger in der linken Hand wie eine gezogene Waffe. Sie sieht, versteht und verschluckt sich an ihrem Satz. „Oh.“

„Er kam einfach aus dem Gästezimmer als hätte er geschlafen und es wäre nichts. Selbst wenn er sich für einen guten Schauspieler hält, wer hätte ihm das abgekauft?“ Ich betrachte den gefesselten – besser gesagt geklebten – Mann. Ein Rinnsal Blut sickert von seiner Stirn hinab über sein Gesicht, während er in sich gesunken nur vom Klebeband aufrecht gehalten wird.

„Es wäre nicht der erste seiner Pläne heute Abend, der nicht so aufging, wie er es sich vorgestellt hat“, kommentiert Theresa und zupft prüfend am Klebeband. Sie nickt zufrieden.

„Hilf’ mir Mum runter zu bringen.“ Ich nicke nur und folge ihr die Treppe hinauf.

„Schläft Cassy noch?“ Sie nickt.

„Hoffentlich tut sie es noch einige Stunden“, fügt sie hinzu.

Sibylle wirkt etwas beruhigter, ihr blondes Haar zu einem unordentlichen Pferdschwanz gebunden, mit blutrot unterlaufenen Augen und blass wie eine Leiche. Ihr rechter Arm steckt noch in einer Schlinge, um nicht zu sehr belastet zu werden, während das rechte Bein von einem komplexen orthopädischen Gestell umfasst ist, welches dabei helfen soll es endlich gesund und richtig verheilen zu lassen. Ich fühle mich immer an ein kybernetisches Körperteil erinnert, wenn ich es sehe, und erschaudere. Teils wegen der Vorstellung, aber größtenteils wenn ich an ihre Lage denke. Ich habe Sibylle als aufgeweckte Taekwondo-Kampfsportlerin kennen gelernt, die mir in der Küche Verteidigungsgriffe und abenteuerliche Tritte demonstriert, während das Essen in der Mikrowelle warm wird. Theresa sagte, vor dem Unfall habe sie kurz vor der Meisterschaft gestanden, und wenn schon der Gedanke daran, dass sie nun vermutlich nie wieder ernsthaft einen solchen Sport betreiben wird, mir einen bitteren Schauer vom Nacken bis in die Hüfte jagt, dann will ich mir gar nicht vorstellen, wie es für sie ist. Nicht zu vergessen, dass sich die Umstände ihres Lebens in dieser Nacht nicht gerade verbessert haben. Ich schlage mich selbst innerlich für die Untertreibung.

Wir sprechen nicht, sondern Sibylles gesunder Arm schlingt sich kraftvoll um meine Schulter, während Theresa sie stützt und so bewegen wir uns langsam hinab in die Küche. Ihr Griff um meine Schulter erzittert, als sie Percy sieht, der immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl sitzt. Sibylle lässt sich mit unserer Hilfe auf einem Stuhl nieder. Während ich noch unschlüssig dastehe, geht Theresa zum Waschbecken und füllt ein Glas mit Wasser, welches Sekunden später klatschend in Percys Gesicht landet. Er erwacht hustend.
 

„Zum Teufel, sind ihr noch ganz klar im …“, beginnt Percy wild drauf los zu fluchen, doch wurde von einer Ohrfeige meiner Freundin unterbrochen, die ziemlich schmerzhaft klingt. Es folgen zwei weitere. Eine zornige Falte tanzt über ihrem Nasenbein, die ich bisher nur sehr selten zu Gesicht bekommen habe und mich auch nur ungern an die damit verbundenen Ereignisse erinnere.

„Spar’ dir das Theater und sag’ mir, wo die Leiche ist“, befiehlt Theresa kühl.

„Resa, von welcher Leiche sprichst du?“ Er starrt ihr verwirrt entgegen und schüttelt sich in seinen Fesseln, aber ich habe gründlich geklebt.

„Die Leiche meines Vaters.“ Nur ein Hauch von Zittern in ihrer Stimme. Er schaut sie verständnislos an, wendet sich an ihre Mutter.

„Sibylle, erklär’ mir, was hier los ist.“ Doch diese kann nur zitternd den Kopf abwenden.

„Du hast mit Arthur um das Testament gestritten“, schalte ich mich ein, um die Sache zu verkürzen, „und eine Stunde später lag er tot im Wohnzimmer. Du bist als einziger dort gewesen, also kannst du das Schauspiel so authentisch halten, wie du willst. Uns interessiert nur, wo du seine Leiche hingeschafft hast.“ Percy betrachtet mich mit schockierten Augen. Er realisiert erst jetzt, dass wir ihm einen Mord vorwerfen.

„Es stimmt …“, seine Stimme bricht ein und er muss husten, „dass ich mit Arthur gestritten habe, aber danach bin ich ins Bett gegangen. Oh ja, dann habe ich noch einen Hockeyschläger an den Kopf bekommen, aber ich bin sicher ab da kennst du die Geschichte. Außerdem war Sibylle genauso beim Streit anwesend wie Arthur und ich.“

„Warum habe ich sie dann nicht gesehen?“, blaffe ich ihn an.

„Weil …“, knüpft er ohne Unterbrechung an, doch muss dann nachdenken, „du uns sicher von der Küche gesehen hast, nicht wahr?“

„Das stimmt.“ Ich muss ihm recht geben.

„Und während Arthur und ich ziemlich laut waren, hat sie nur still und leise im Sessel gesessen. Über die hohe Lehne hättest du sie im schlechten Licht nicht gesehen.“ Er grinst leicht. Ich muss mir auf die Zähne beißen, um nicht aus der Haut zu fahren, weil er so verdammt ruhig bleibt.

„Du verdammter Nichtsnutz“, keift Sibylle ihm gebrochen entgegen, „Arthur hätte es wirklich aufgeben sollen sich um dich zu sorgen. Nicht genug, dass du lügst wie gedruckt, du willst auch noch behaupten, ich hätte meinen Mann umgebracht. Wieso sollte ich das tun?“

„Vielleicht weil er dich zum Krüppel gefahren hat?“ Ich kann es kaum glauben, wie sich sein Grinsen verbreitert. Galgenhumor, womöglich.

„Genau der Grund, warum sie sicherlich die Letzte war, die ihn hätte umbringen und die Leiche nach Draußen schaffen können“, murmelt Theresa leise, bevor ihre Hand zu einer Salve von Ohrfeigen ausholt. Als sie fertig ist, hebt und senkt sich ihre Brust in einem vergleichbar schnellen Rhythmus.

„Die Leiche ist also nach Draußen geschafft worden?“, fragt Percy als wäre nichts geschehen. Nur sein Gesicht beginnt langsam anzuschwellen.

Wir machen im selben Moment einen Schritt in Richtung Gästezimmer. Ich lasse ihr den Vortritt und eine aufgerissene Tür später durchwühlen wir die wenigen Möglichkeiten ein Objekt von dieser Größe zu verstecken. Die gleiche Prozedur folgt in Küche und Wohnzimmer, während sich Percy und Sibylle schweigend gegenüber sitzen. Sein Gesicht wirkt nachdenklich, irgendwie einschätzend. Sie hat nur vernichtet den Kopf gesenkt und sieht aus wie eine Tote. Nach erfolgloser Suche stehen wir wieder in der Küche.

„Wo ist die Leiche?“, fragt Theresa so langsam, als könne er sie möglicherweise nicht richtig verstehen.

„Ich sag’ euch was“, beginnt er gedankenverloren, „so wie die Dinge zur Zeit stehen, würde ich mich auch für den Mörder halten. Natürlich nur, wenn ich nicht wüsste, dass ich weiß, dass ich es nicht war.“ – Ich kann nur mit dem Kopf schütteln darüber, dass er selbst jetzt noch so … ausschweifend reden kann – „Aber ich verrate euch etwas, was euch zeigen wird, dass ich es nicht war: Dieses Haus hat einen versteckten Keller, den nur Arthur und ich kannten. Winziges Ding, wir haben es als Kindern zufällig entdeckt. Wäre ich der Mörder gewesen, hätte ich die Leiche dort versteckt und niemand hätte sie je gefunden und mir etwas nachweisen können. Natürlich wäre ich gleich mit dort geblieben und mich versteckt, bis die Wetterlage besser zur Flucht wäre. Aber wie schon gesagt – ich war es nicht. Ich hab’ geschlafen.“ Theresa blickt fragend zu ihrer Mutter. Diese schüttelte nur mit dem Kopf – sie wusste auch nichts von diesem Keller.

„Wenn der Keller leer ist“, setzt meine Freundin skeptisch an, „was beweist uns das? Es könnte ein Trick sein und du lässt den Keller absichtlich leer.“

„Warum sollte ich das tun? Ich kenne das perfekte Versteck in diesem Haus. Warum eine List einfädeln, die komplizierter ist als nötig?“ Ich muss zugeben, was er sagt macht Sinn, aber andererseits sollte man nichts glauben, was ein Mörder sagt, der seine Schuld noch nicht als beweist sieht.

„Weil du ein träumerischer Idiot bist, Percy.“ Theresas Augen starren völlig unbeeindruckt. „Niemand präsentiert freiwillig den Weg, wie er die Tat begehen würde, um zu beweisen, dass er sie nicht begangen hat. In einer Stunde wird es hell und dann werden wir ja sehen. Also, wo ist dein geheimer Keller?“

„Der Steinweg rund um das Haus. Zwischen dem ersten und zweiten Wohnzimmerfenster liegt unter den Steinen eine Falltür, die hinab in den Keller führt. Ich vermute es war damals ein verborgener Vorratskeller oder dazu da, um Flüchtlinge zu verstecken.“ Er blickt wieder nachdenklich herum. Ich habe das Gefühl, Percy kann wirklich nicht besonders praktisch denken: Selbst ich hätte niemals ein solches Detail verraten, schon allein, weil es nichts bringt und nur neue Möglichkeiten schafft. Er versucht vielleicht unser Vertrauen zu gewinnen, aber seit wann geht es bei Morden um Vertrauen. Nein, eigentlich geht es immer um Vertrauen. Ich muss daran denken, wie Theresa nicht im Zimmer war, als ich zurückkam, und dass ich selbst nicht beweisen kann, dass ich nichts damit zu tun habe. Doch wir vertrauen uns zu sehr, um daraus Vermutungen zu ziehen. Aber selbst sie kann mir nur soweit trauen, dass sie die Leiche sehen muss, um mir zu glauben. Ich muss lächeln. Bisher ist der Mord, außer für mich, den Mörder und … na ja … Arthur, nur wahrscheinliche Theorie, die mit dem Anblick der Leiche wahr wird.

Die Versammlung zerstreut sich für eine Weile. Ich helfe Sibylle in einen Sessel im Wohnzimmer, sodass sie dem Mörder ihres Mannes nicht gegenüber sitzen muss und sie entfacht ein neues Feuer im Kamin. Ich sehe in den Raum und muss Percy Recht geben: wäre sie beim Streit dort gewesen, hätte ich sie aus der Küche nicht gesehen. Cassandra ebenso nicht. Ich bin froh, dass Cassandra weiterhin schläft.

Nachdem Sibylle im Wohnzimmer ist, geht Theresa nach oben und sieht sich noch einmal in den Räumen um, nur zur Sicherheit. Während der ganzen Zeit stellen wir Percy Fragen. Wie er es getan hat, warum und wo die Mordwaffe ist. Ich und auch Theresa sagen bewusst Mordwaffe, weil wir sehen wollen, ob ihm etwas entfleucht, was er als Unschuldiger gar nicht wissen könnte. Meine Freundin vermutet anhand meiner Beschreibung, dass es sich um ein verdammt scharfes Messer gehandelt haben muss und ein solches fehlt auch tatsächlich in der Küche, wie wir so beiläufig wie möglich überprüfen. Doch weder finden wir das fehlende Messer, noch gibt Percy irgendwelche Antworten, die ihn überführen. Er gibt sich ahnungslos.
 

Als es dämmert vergewissern wir uns bei Sibylle, dass es wirklich in Ordnung für sie ist mit Percy allein zu sein. Sie sagt, sie werde schon nichts Dummes tun und nimmt ihren Platz gegenüber Percy ein, den Schläger in ihrer gesunden Hand haltend.

Draußen ist es eisig an diesem Morgen und wir haben uns beide in einige Schichten Kleidung gehüllt und mit einer Schneeschippe bewaffnet. Es grenzt an Ironie, dass der Weg, der durch den Schnee gebahnt ist, zur Rechten der Haustür genau bis kurz vor das zweite Fenster reicht. Zufälligerweise ist das erste Fenster natürlich eben jenes, das in der Nacht offen war. Zur Linken der Tür dagegen reicht der freie Weg um die Hausecke herum. Ich schiebe mich an meiner Freundin vorbei und fange an von der beschriebenen Stelle den Schnee zu schaufeln. Danach ist alles wie Percy es beschrieben hat: Unter den Steinen und einer flachen Schicht Erde entblößt sich eine hölzerne Falltür mit eisernem Zugring. Ich zerre mit aller Kraft die Tür nach oben und Theresa bückt sich hinunter, schlüpft einige Schritte hinein, doch krabbelt mindestens doppelt so schnell wieder zurück. Ich sehe die Leere in ihren Augen, das sich in reine Verzweiflung wandelt, als sie mich anblickt. Den Ring loslassend erspare ich ihr den Blick auf ihren toten Vater und noch bevor die Tür in den Boden kracht, wirft sie sich in meine Arme. Sie presst sich an mich und selbst durch die Kleidungsschichten und die Jacke kann ich spüren, wie sich ihre Fingernägel in meinen Rücken bohren. Tränen, ein ungekannter Anblick an ihr, kullern Theresas Gesicht hinab, als sie sich von mir löst.

„Resa, es tut mir leid.“ Ist das Einzige, was ich herausbekomme. Sie lacht kränklich.

„Was braucht dir leid tun? Du hast ihn ja nicht umgebracht.“ Ihr Gesicht zeichnet schon ein verbissenes Lächeln. „Oder gibt es irgendwelche späten Geständnisse?“

Ich schüttele nur den Kopf. Theresa ist wirklich unmenschlich hart im Nehmen, selbst für mich, der ich gerne von mir denke sie in- und auswendig zu kennen.

„Wir müssen uns noch den Weg nach links ansehen“, murmelt sie und drängt sich an mir vorbei.

„Wozu?“

„Vollständigkeit, du Meisterdetektiv.“ Sie ist schon fast um die Hausecke und ich gehe ihr hinterher.

„Was meinst du?“, frage ich während wir den Pfad links herum begehen.

„Worüber?“, entgegnet Theresa geistesabwesend.

„Es ist fast so, als will Percy uns die Spur zu seiner Überführung legen.“

„Percy ist ein Idiot.“

„Selbst Idioten helfen nicht einen Mord zu lösen, den sie begangen haben, wenn sie es darauf anlegen unschuldig zu sein.“ Plötzlich bleibt sie abrupt stehen und ich stolpere ihr in den Rücken.

„Sieh mal.“ Wir stehen kurz vor dem Ende der Schneeschneise, etwa in der Mitte der rückseitigen Hauswand. Theresa zeigt nach oben. Das stark verrostete Regenrohr, welches am Fenster des Schlafzimmers ihrer Eltern vorbei die Hauswand hinaufführt, hat einen starken Knick. Es ist teilweise aus der Verankerung in der Wand gelöst und von der Regenrinne abgerissen. In meinen Gedankenfluss fällt ein großer Stein und schlägt Wellen.

„Wann ist Percy in das Zimmer deiner Eltern eingestiegen? Hätten wir es nicht bemerkt, wenn er …“, versuche ich dem Sturm in meinem Kopf Luft zu machen.

„Unser Regenrohr ist nicht verrostet.“

„Was?“ Sie überrumpelt mich, während ich versuche mir den Zeitablauf des Abends noch einmal klar zu machen und zu schätzen, wann der Mörder Zeit gehabt hätte hier hinauf zu klettern und das Rohr dabei zu beschädigen. Viel wichtiger noch: Wieso hätte er so etwas tun sollen? Entweder Percy war schon wieder in sein Zimmer zurückgekehrt, bevor wir die Tür und Fenster verschlossen hatten, oder er hätte auf diesem Wege hinein gelangen können, falls das Fenster offen gewesen wäre. Sibylle hätte es versunken in ihren Medikamententräumen sicher nicht bemerkt. Doch wäre uns nicht aufgefallen, dass er aus dem Zimmer hinunter in sein eigenes geschlichen wäre? Nachdem Theresa die Haustür verschlossen hatte, wäre es kaum möglich gewesen, und davor hätte es wenig Sinn gemacht.

„Das ist getrocknetes Blut, Eric. Ich dachte erst es wäre Rost, das dachtest du doch auch?“ Ich nicke überrascht. „Aber unser Regenrohr war nicht verrostet. Dad hat immer auf solche Dinge geachtet. Wer da hochgeklettert ist, muss sich verletzt haben.“

Die Kreise im Wasser erreichen den Flussrand und kippen in die andere Richtung um wie eine Wippe.

„Resa, du weißt, was das bedeuten würde …“ Mein Mund steht offen als müsste ich nach Luft schnappen.

„Kannst du dich erinnern, dass Percy verletzt war, Eric?“

„Nein, aber wir haben auch nicht …“

„Zieh’ dich aus, Eric.“

„Bitte was?“ Langsam habe ich das Gefühl vom Regen in die Traufe zu kommen, wenn meine Freundin ihre Schlüsse zieht. Während ich noch erstarrt bin, knöpft sie schon ihre Jacke auf.

„Ich will nur sicher sein, dass wir vor einer Fünfzig-Fünfzig-Chance stehen. Und ich will, dass du dir dessen auch sicher bist.“

In meinem Kopf fällt der Groschen und als wie er vom Boden abprallt und springt, landet Kleidungsstück für Kleidungsstück zwischen uns im Schnee. Langsam zieht die Münze ihre geistigen Kreise, kurz davor sich für eine Fallseite zu entscheiden. Ich betrachte die Gänsehaut auf Theresas nackter Haut, mustere jeden Millimeter ohne auch nur die Andeutung einer Verletzung zu sehen. Ihr geht es ebenso mit mir.

„Na na, nicht zu sehr darüber freuen, dass wir unschuldig sind“, kommentiert sie mit einem schelmischen Grinsen. Wir lassen die Prozedur rückwärts laufen und gehen wieder voll bekleidet zur Haustür. Ich lege die Schneeschaufel nicht aus der Hand, als ich durch die Tür trete.

In der Küche sitzen sich die beiden Erwachsenen immer noch gegenüber. Nichts scheint sich verändert zu haben und doch kann ich nicht umhin es mir als eine vollkommen neue Szene vorzustellen. Meine Gedanken drehen sich wieder um das Vertrauen, dass wir einem Menschen mit Selbstverständlichkeit entgegen bringen, den wir kennen.

„Und? Leichen im Keller?“, begrüßt uns Percy grinsend. Er hat frische Abdrücke von Ohrfeigen.

„Eine“, entfährt es uns gleichzeitig. Seine Augen weiten sich in Unglauben. Er schüttelt den Kopf. Ich sehe in die Augen eines Mannes, der erkennt, dass er sich sein eigenes Grab geschaufelt hat. Sibylle beginnt zu schluchzen. Theresa stürmt durch den Raum auf ihn zu, während ich Sibylle die Hand auf die Schulter lege und sie gleichzeitig aufmerksam mustere, doch das Gestell um ihr Bein, der Arm in der Schlinge und nicht zuletzt ihre Kleidung machen es unmöglich etwas Eindeutiges zu erkennen.

„Mörder!“, schreit Theresa ihren Onkel mit von Zorn gerötetem Gesicht an, während sich ihre Arme auf seine Schultern legen und ihn schütteln. „Du bringst den Menschen um, der immer gut zu dir war und dich nie aufgegeben hat.“ Sie reißt die Ärmel seines Oberteils hoch, wobei sie sich voll Zorn hineinkrallt und im Blickfeld ihrer Mutter steht. Ich mache mit beschwichtigend gehobenen Armen einen Schritt auf sie zu, ebenfalls zwischen Sibylle und Percy. Ihr Sermon von Beschimpfungen dauert an, während sie die Knopfreihe des Oberteils so gut aufreißt, wie es das Klebeband zulässt. Sie sinkt verzweifelt vor ihm auf die Knie und beginnt zu weinen, während ihre Hände seine Beine umgreifen und schütteln. Percys Gesicht zeigt Verwirrung, Leere und auch langsam Anflüge von Schuld – nur keine Spur von Schmerz. Theresa sieht ihm in die Augen.

„Wie kann ein Mensch nur so dumm sein einen Mord zu begehen, ohne sein Alibi zu verletzen und dann alles durch sein loses Mundwerk zum Teufel zu schicken.“ Sibylle kann nicht sehen, dass Theresa Percy bei all dem Leid in ihrer Stimme angrinst, denn ich stehe hinter ihr.

Als ich mich zu ihrer Mutter umdrehen will, sehe ich nur noch einen verschwimmenden Bogen auf mich zukommen, reiße die Schaufel nach oben. Der Schlag des Hockeyschlägers trifft mit einer schmetternden Wucht auf und wirft mich zurück gegen Theresa, die nachgibt und vermutlich auf Percy stürzt. Bevor ich reagieren kann ist Sibylle auf den Beinen und schwingt den Schläger mit beiden Händen auf meine Schulter nieder. Mein Schrei begleitet ein knackendes Geräusch in der Schulter. Als ihre Hand meinen Arm ergreift und mich nach vorne reißt, rinnt heißes Eisen von meiner Schulter herunter. Ich stürze neben ihr zu Boden und rolle mich auf den Rücken, kann noch sehen, wie Theresa auf ihre Mutter zustürmt und von ihr mit einer routinierten Geste zur anderen Seite zu Boden geworfen wird. Der Fuß im Gestell holt aus, während Sibylle sich elegant auf dem anderen Fuß um die eigene Achse dreht, und saust gegen Theresas Rippen. Die Luft entweicht mit einem schmerzhaften Laut aus ihren Lungen.

„Es hätte ja alles so einfach ablaufen können, wenn ihr nicht nachts durch das Haus gegeistert wärt und Sherlock Holmes gespielt hättet“, richtet sie sich verächtlich an uns beide auf dem Boden Liegende. „Der nichtsnutzige Onkel, der seinen Bruder umbringt, geht rein ins Gefängnis und raus aus dem Testament, während die ganze Welt Mitleid mit der zurückgelassenen verkrüppelten Ehefrau hat, die das Erbe ihres geliebten Mannes bekommt. Aber wer hätte auch gedacht, dass der Versager von Bruder auch noch mit Geheimverstecken des Hauses herausrückt, um sich selbst entlastet zu glauben. Mal ehrlich Percy, du warst noch nie der Hellste, aber …“ Sie will sich gerade zum Angesprochenen wenden, als er ihr dieser dabei entgegen kommt. Ich sehe, wie er mit einem gewaltigen Ruck und einer Menge Glück sich selbst und den Stuhl nach vorne reißt und gegen Sibylle fällt. Trotz des brennenden Schmerzes in meiner Schulter sehe ich mit Genugtuung den Ausdruck auf Sibylles Gesicht, als er samt Stuhl auf ihre Beine fällt und die orthopädische Schiene zertrümmert. Ich ahne, wo Sibylle sich verletzt hat, als sie durch ihr Schlafzimmerfenster wieder ins Haus kletterte. Self-fulfilling prophecy ist schon ein Miststück.

In einem letzten Schub von Kraft richte ich mich auf, entreiße ihr den Hockeyschläger und schwinge ihn gegen ihre Schläfe. Der dumpfe Schlag ist wie Musik.
 


 

„Ich denke, es muss in etwa so gelaufen sein“, setzt Percy zusammenfassend ein und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, „Nachdem ich mit Arthur im Streit auseinander gegangen bin, blieben die beiden noch im Wohnzimmer und redeten. Die Überraschung war auf ihrer Seite, als sie ohne Hilfe aufstand, um ihn aufzuschlitzen.“ Theresa räuspert sich missbilligend.

„Entschuldigung, keine Pietätlosigkeiten mehr. Sie ging also nach Draußen, um den Weg zum Keller frei zu machen, dann kamst du, Eric, nach unten und hast die Leiche gesehen. Sie kam wieder rein, um die Leiche unter das Fenster zu schleifen, von wo aus sie sie von außerhalb einfach durchs Fenster heben und im Keller einlagern konnte.“ Er denkt einen Moment nach und ich vernehme dumpfe Geräusche aus der Küche, wo wir Theresas Mutter sehr fest verklebt haben – Mund inklusive. Wir sitzen an diesem absurden Morgen zusammen am Esstisch und trinken Kaffee, um unsere Nerven zu klären.

„Noch während sie im Keller zu Gange war, müsst ihr die Haustür abgeschlossen und auch das Fenster zu gemacht haben, wodurch ihr zum einen klar wurde, dass jemand ihr nächtliches Treiben bemerkt hatte, und sie zum anderen einen anderen Weg ins Haus finden musste. Da ihr klar war, dass es schnell gehen musste, da du, Theresa, sicher unmittelbar deine Mutter wecken würdest, erinnerte sie sich daran, dass ihr Schlafzimmerfenster offen war und kletterte das Regenrohr hinauf. Vielleicht hatte sie das Fenster auch von Anfang an als Notfallplan offen. Jedenfalls rutschte sie beim Klettern ab – entweder wegen der Glätte oder weil sie nach ihrem Langzeitschauspiel nicht mehr daran gewöhnt war das Bein richtig zu benutzen – und riss sich an einer scharfen Kante oder einer Halterung des Rohrs das Bein auf und das Rohr fast von der Wand. Sie legte zuerst wieder ihre Schiene ein und verbarg darin das Messer, mit dem sie Arthur ermordete, und darunter die verräterische Verletzung. Doch ihr beiden ward flink und deshalb hörte sie schon ihre Tochter im Gang, als sie noch nicht dazu gekommen war sich um das Blut zu kümmern, und legte sich tief schlafend nieder.“ Er trinkt einen Schluck und wir sitzen ihm nur zustimmend nickend gegenüber.

„Dann hatten Eric und ich unsere kleine unangenehme Begegnung im Flur und die Dinge entwickelten sich blendend für Sibylle, bis mir verdammtem Wolkenkopf die hirnrissige Schlussfolgerung kommt, dass ich durch Kooperation überdeutlich auf meine Unschuld hinweise und euch vom versteckten Keller erzähle. Nur dass hier keine Missverständnisse auftreten: Das war kein brillanter Schachzug von mir, den ich aus meiner Analyse der Situation heraus gemacht habe, um Sibylle zu überführen – es war einfach nur Glück der Dummen.“ Ich schüttele den Kopf und mir ist fast zum Lachen zumute.

„Doch Sibylle hofft weiterhin, dass ihr mich einfach nur den irrationalen Idioten haltet, der ich bin, der es genauso wenig auf die Reihe kriegt einen Mord zu vertuschen wie alles andere in seinem Leben. Ich bin nicht sicher, woher sie überhaupt vom Keller wusste. Entweder Arthur hat ihr einmal davon erzählt oder sie hat ihn durch Zufall entdeckt wie Arthur und ich als Kinder. In beiden Fällen glaubte sie ein perfektes Versteck für die Leiche zu kennen. Glücklicherweise seid ihr trotz der vielen bösen Videospiele kluge Kinder und als ihr das Blut gesehen habt, zogt ihr die richtigen Schlüsse. Dass Sibylle zumindest in Betracht gezogen hat, dass ihr auf diese Idee kommt, hätte uns zwar fast das Leben gekostet, es ist ja noch soweit alles dran.“ Percy tätschelt den Verband um seinen Kopf und ich bin dankbar, dass die Schlaufe, in der mein Arm liegt, meine Schmerzen zumindest ein wenig lindert.

„Aber wieso?“, fragt Theresa nach einer Weile Schweigen.

„Der Unfall, den dein Vater gebaut hat, hat Sibylle zwar nicht zum Krüppel gemacht, wie wir jetzt wissen, aber es hat sie die Chance auf die Meisterschaft, die so kurz bevor stand und auf die sie auch noch so gute Aussichten hatte, gekostet und dazu noch die Möglichkeit jemals wieder den Kampfsport, den sie so sehr liebt, ernsthaft zu betreiben. Das kann einen Menschen verändern.“ Wir nicken nur. Keiner will mehr darüber reden als nötig.

„Und jetzt?“, kommt schließlich die Frage von mir.

„Nun“, er grinst wie nur ein solcher Mensch es in einer so makabren Situation tun kann, „ich denke, wir werden einige sehr surreale Feiertage hier verbringen, bis der Schnee wieder so weit abgenommen hat, dass wir nicht mehr vom Rest der Welt abgeschnitten sind. Wir schmücken Sibylle regelmäßig mit neuem Duct-Tape, werden versuchen das alles irgendwie Cassy zu erklären, ohne dass sie mehr verstört wird als notwendig. Nicht zuletzt werden wir unser restliches Leben mit einem bizarren, gestörten Verhältnis zu Weihnachten verbringen, nicht zu vergessen einige Formalitäten, die sich in den nächsten Monaten ergeben werden …“ Selbst Percy bleibt seine Ironie in diesem Moment irgendwann im Hals stecken und er schüttelt nur den Kopf.

„Ihr beide jedenfalls geht jetzt hoch und versucht zu schlafen, während ich als der Erwachsene im Haus und davon abgesehen der, der heute Nacht am meisten geschlafen hat, hier die Stellung halte.“ Weder ich, noch Theresa widersprechen ihm und so sind wir, nachdem wir unseren Kaffee getrunken haben, auf dem Weg nach oben. Sie vergräbt ihr Gesicht in meiner Schulter, als wir durch die Küche gehen, um nicht ihre Mutter ansehen zu müssen. Wir schlurfen kraftlos die Treppe hoch und schlüpfen leise in Theresas Zimmer. Einmal mehr trifft mich die Gelassenheit, mit der sich der Raum nicht den Umständen angepasst hat, wie ein Schlag ins Gesicht. Immer noch summt im Dämmerlicht der Bildröhre und der Nachttischlampe der Fernseher vor sich hin, während Cassandra schlafend auf dem Bett liegt. Theresas Hand krallt sich in meine. Sie schließt die Tür ab und wir lassen uns auf den übergroßen Sitzkissen vor dem Bett Arm in Arm nieder, um Cassandra nicht zu wecken.

„Wenn wir wieder aufwachen, werden wir langsam realisieren und dann wird nichts mehr wie früher sein, weißt du?“, murmelt sie in meine Schulter.

„Resa, ich werde alles tun, um …“ Sie drückt mir sanft die Hand auf den Mund.

„Ich weiß.“ Sie küsst mich und nachdem sich ihre Augen schließen, spüre ich wie ihr Atem langsam ruhiger wird und sie schließlich eingeschlafen ist.

Ich werde hier wachen über dich und nicht schlafen, denke ich noch, als ich auch meine Lider nur für einen kurzen Moment schließe.
 

Abschließende Äußerungen:

Auch wenn es zu spät für die Challenge ist, habe ich es doch vollbracht: Ich habe einen Krimi geschrieben; das Genre, was mir sicherlich am Wenigsten liegt. Ich habe meine grauen Zellen schwer strapazieren müssen, um diesen halbwegs tragbaren kriminologischen Plot aufzustellen und habe für den letzten Schliff die logisch strukturierte Gehirnkapazität meines besten Freundes St.James in Anspruch genommen. Seine Fähigkeit meine wirren Gedanken zu ordnen sind eine Gabe. Mein Dank gehört ihm.
 

Als persönliche Erfahrung kann ich nur sagen, dass ich schon seit Jahren nicht mehr mit so einem "flow" einfach eine Geschichte heruntergeschrieben habe und es mal wieder ein sehr angenehmes Gefühl war, auch wenn ich denke, dass die stilistische Gesamtqualität darunter ordentlich gelitten hat. Die Perspektive hat sich als eine gewisse Herausforderung erwiesen, um das rechte Maß zwischen Gedankenfluss und subjektivem Handlungsbericht zu balancieren. Auf Grund von Kopfschmerzen und einem gewissen Distanzbedürfnis zum Text gerade in diesem Moment ist die Geschichte nicht nochmal Korrektur gelesen und es werden sich wohl die einen oder anderen großkleinen Fehler finden.
 

Zuletzt - und das ist das, was ich eigentlich nur sagen wollte - ist diese Geschichte Ito gewidmet, die sich so gewünscht hat, dass ich mal einen Krimi schreibe. Ich hoffe, ich habe dich nicht allzusehr enttäuscht hiermit ^_~



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ryourin
2009-02-24T15:34:30+00:00 24.02.2009 16:34
Hm...
Ich kann mich den vorherigen Lobeshymnen nicht anschließen.
Erstmal: Die Geschichte ist gespickt mit Fehlern, seien es Tipp- oder Kommafehler. Das nervt beim Lesen fürchterlich – ein Beta vorm Hochladen hätte nicht geschadet.

Ansonsten muß ich sagen: Zwar ist es so, daß Dein Schreibstil passabel ist, aber ich finde die Charaktere sehr unglaubwürdig. Z.B. die Stelle hier:

„Spar’ dir das Theater und sag’ mir, wo die Leiche ist“, befiehlt Theresa kühl.“

Ein paar rhetorische Fragen. Wer spricht kurz nach dem Tod seines Vaters von ihm als „die Leiche“? Und das in „kühlem“ Tonfall? Wer ermittelt unmittelbar danach, statt die Polizei zu informieren (Eingeschneit hin oder her)? Welche Tochter kann tatsächlich einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie ihren eigenen Vater tot findet?
Doch auf genau diesen Dingen baut diese Geschichte allerdings auf. Glaubwürdigkeit ist gerade bei Krimis essentiell, sonst macht es auch absolut keinen Spaß, sie zu lesen. Und glaubwürdig sind Deine Charaktere leider nicht.
Von:  MichiruKaiou
2008-12-05T14:15:30+00:00 05.12.2008 15:15
Sag mal bist du sicher, dass dir Krimis nicht liegen?
Also das sah hier aber ganz anders aus.
Ich bin von deiner Geschichte wirklich begeistert und es hat richtig viel Spaß gemacht, sie zu lesen. Ich weiß wirklich nicht, was ich hier eigentlich groß erzählen, denn entweder führe ich jedes Detail der Story auf, weil mir einfach alles gefallen hat oder ich kürze den Kommentar ab, indem ich einfach sage, dass ich die Story wirklich genial fand und es nur noch vom Feeling her gefehlt hat, dieses Werk in gebundener Fassung gerade erst im Buchladen gekauft zu haben.

Ganz ehrlich, die Charaktere sind toll, du hast die Örtlichkeiten und Begebenheiten alle wunderbar beschrieben, das Wesentliche der Lebensgeschichten der einzelnen Charaktere kam gut rüber und natürlich war auch der Fall toll. Alles war logisch aufgebaut und ich konnte den Überlegungen, die die beiden angestellt haben, sehr gut folgen.
Zudem hat mich auch dein Schreibstil wirklich beeindruckt. Du hast eine ganz tolle Ausdrucksweise und benutzt sehr schöne und vor allem passende Vergleiche!

Also ich bin wirklich begeistert und ich hätte nie gedacht, dass es mal eine Originalfic in meine Favoliste schaffen würde^^
Von:  Ito-chan
2008-12-02T21:08:24+00:00 02.12.2008 22:08
Hi ^^

Tja, jetzt fange also ich mal mit einem Kommentar hier an ^^

Zunächst einmal: Danke für die Widmung ^^
Ich freue mich sehr, nicht zuletzt, weil hier ein gelungener Kriminalfall vorliegt.

RS Fehler sind mir keine aufgefallen, nur bei zwei Sätzen gab es Ungleichmäßigkeiten, aber die beiden Sätze vermag ich dir nun nicht mehr zu sagen, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.

Daher komme ich mal zum Inhalt:
Deine beiden Hauptcharaktere sind gut gewählt, wenn ich das mal so behaupten darf. Ein Mädchen mit viel Durchsetzungskraft und ein junger Mann, der absolut nüchtern und beherrscht an ihrer Seite zu sein scheint, zwei treue Seelen.
Die Erzählperspektive des Ich-Erzählers ist gut gewählt, da der Leser dadurch sehr in die Situation hinein gerät und alles aus der Subjektive erlebt.
Leider hatte das für mich auch einen gewissen Nachteil... Ich konnte sehr lange an die Schuld des Onkels glauben, der ja nicht schuldig war.
Wobei ich irgendwann nur noch reduziert habe auf die objekteiven Infos und dann hatte ich nachher die lustige Idee mich zu fragen, wer denn alles ein Motiv und kein Alibi hatte.
Tja, mein Ergebnis war irgendwann, dass wir drei Tatverdächtige haben, zwei mit etvl. Motiv und eine die absolut keins haben könnte.
So mehr, sei jetzt mal nicht darüber gesagt, da mache ich nachher nochmal mit weiter.

Du hast eine wirklich interessante Ruhe in die Story gebracht und Resa trotz oder eben durch die Trauer sehr springen lassen in ihren Gedanken. Du hast, was das betraf gut argumentiert, mit ihrer Art und ab und an kam eben auch ihr Schmerz klar zum Vorschein.
Die Art des Protagonisten Vertrauen zu hinterfragen finde ich ebenfalls sehr durchdacht und auch schlüssig, frei nach dem Motto "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" versuchen die beiden den Mordfall zu lösen.

Was mich wieder zum Absatz vorher bringt: "Unsere Regenrinne rostet nicht." Mit dem Satz war der Fall schlussendlich wahrscheinlich jedem klar, der nicht naiv ist. Eigentlich schon vorher, wenn man darüber nachdachte, was vorher über Geheimverstecke gesagt wurde. Die Liebste zeigte dem Erzähler all ihre Lieblingsplätze, warum sollte es der Vater bei der Mutter nicht anders gemacht haben?
Natürlich mussten die Kinder spätestens dann auf den Täter kommen.
Aber in dem Moment, in dem der Onkel erklärt es gebe ein Versteck, dass nur er und sein Bruder kennen könnten, war der Mordfall klar, denn kein Mörder würde sein Leichenversteck preisgeben, außer er befindet sich in einer solchen Notlage, dass er es sagen muss oder befindet sich in der Lage, dass es niemand kontrollieren könnte, selbst wenn es gewünscht wäre.

Tja, daher kann ich nur sagen, die Fallbearbeitung ist logisch, schlüssig und vor allem gut durchdacht.

So und was sonst noch?
Ach ja: Pluspunkte, bekommst du für Cassy ^^
Ich liebe sie einfach ^^

Wobei ich dich eine Sache noch Fragen muss, auch wenn ich nicht mit dem moralischen Zeigefinger dastehen will: Wie viel von real existenten Personen findest du hier drinnen und ist Mord gut zu heißen, wie wird die Mutter jetzt eigentlich bestraft?
*grinst*
(Nein, nicht bös gemeint, sondern einfach nur als kleines Augenzwinkern am Ende, weil du ne Juristin vor dir hast xD)

Alles Liebe und Danke nochmal
Ito


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