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Dein Schmerz auf meiner Haut

von

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Kapitel 5

Ein Schritt nach dem anderen durchquere ich das Zimmer und stelle meine Lektüre zurück in den Bücherschrank. Eine Weile bleibe ich stehen und betrachte die verschiedenen Buchrücken, bevor ich mich umdrehe, wieder zurückgehe und auf dem Sofa niederlasse. Kurze Zeit später bin ich erneut auf den Beinen, verlasse den Raum und halte vor dem Fenster in meinem Wohnzimmer inne.

Völlig ruhelos, meine Gedanken verschwimmen, ein ewiges Hin und Her.

Was soll ich nur tun?

Die Zeit ist etwas Kostbares, das ich momentan nur zu verschwenden weiß. Mein Blick fällt auf das Telefon und ich trete näher an den kleinen Schrank, auf dem es steht. Das Display zeigt mir die Uhrzeit. Es ist bald so weit.

In meinem Arm spüre ich einen leichten Schmerz, der sich verstärkt, sobald ich ihn bewege. Dieses Gefühl wird mich für immer begleiten, mich mit Freude erfüllen und erniedrigen, bis in alle Ewigkeit, bis zu meinem Tod. Die erhobene rechte Hand fällt schlaff hinab, ohne ein Zögern hebe ich mit der linken den Hörer ab und drücke die Wahlwiederholung.

Ich warte.

Dann meldet sich Daniels Stimme.

„Henri, bist du das?“

„Ja.“

„Was ist los?“

„In einer halben Stunde muss ich beim Arzt sein. Hol mich von dort ab. Ich komme mit zu dir.“

„Von der Klinik?“

„Nein, ich muss in die Praxis bei der Passage zum Polizeirevier.“

„Okay.“

Ich lege auf.

Seit ich an diesem Morgen aufgestanden bin, gehen mir die Worte durch den Kopf, die Daniel und ich damals an den Gleisen wechselten. Seine Antworten entsprachen ausgeblichenen Inhalten und den üblichen zwischenmenschlichen Heucheleien, doch etwas verankerte sich in meinen Gedanken; wir sprachen von den Lügen, die wir jedes Mal uns und unserer Umgebung vorsetzen. Diese Wahrheiten sind längst zu einer Belanglosigkeit geworden.

Weil sie uns belustigten, gaben wir sie nicht auf. Weil sie uns erfreuten, schmerzte keine einzige Lüge.

Ich war nicht gern das, wofür mich alle hielten, aber ich mochte es, von den anderen nicht durchschaut zu werden. Ich wollte mehr sein, mehr als meine Tarnung. Die Angst vor mir selbst machte ich mir nur vor.

Was ist die Welt? Etwa nichts weiter als der verrottende Traum eines schillernden Insekts? Dann will ich schlafen. Schlafen und träumen, wie ich erwache.
 

Ohne Vorsicht löst er den Verband und befreit meinen Arm von der Schiene. Während er meine Muskelfähigkeit untersucht, habe ich das Gefühl, dass mein Arm jeden Moment entzweibräche. Diese ungewohnte Schwäche bringt etwas Befreiendes mit sich.

Der Arzt legt seine Brille zur Seite und langt nach einer kleinen metallischen Klinge, mit der er geübt die einzelnen Fäden aufschneidet und, begleitet von einem innerlich saugenden Schmerz, herauszieht.

„Jetzt bleibt nur noch das Pflaster auf dem Arm. Ansonsten ist es gut verheilt. Sie können gehen.“

Er rät mir zu einem leichten Training, um die Muskulatur wieder zu stärken. Mit wenigen Worten verabschiede ich mich und verlasse den Behandlungsraum.

Als ich hinaustrete, wartet Daniel vor der Tür auf mich. Er schaut mich an, sein Blick ist zu meinem Erstaunen von Trauer verhüllt. Dann packt er meinen linken Arm und zieht mich an sich. Ich bin zu überrascht, um mich zu wehren. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut und dicht an meinem Ohr flüstert er:

„Warum hast du das getan?“

Ich antworte nicht und schiebe ihn von mir. Jetzt fällt mir auf, dass er sich verändert hat, seit ich ihn das letzte Mal sah. Mir ist nicht klar, was es ist.

Irre ich mich?

Erst eine ganze Weile später, als wir nebeneinander auf dem Fußweg laufen, hält Daniel plötzlich meine rechte Hand fest. Diese Berührung betäubt mich wie ein Schlag, der zu unerwartet kam, um ihn abzuwehren. Abrupt bleibe ich stehen. Er lässt mich los.

Ich blicke mich nicht um, sondern fixiere meinen Freund, der nun zu Boden sieht. Seine Stimme ist hart und er fragt erneut:

„Warum hast du das getan?“

„Was?“

Er schaut zu mir auf, sein Blick ist hochmütig. Schließlich antwortet er gelassen:

„Es ist nicht wichtig.“

Es schnürt mir die Kehle ab, das aus seinem Mund hören zu müssen. Unzählige Gedanken und Empfindungen strömen in diesem Augenblick auf mich ein, hervorgerufen von einer unbedeutenden Aussage. Eine eiskalte Faust drückt meine Gedärme zusammen. Den Bruchteil einer Sekunde später habe ich wieder die Kontrolle und setze mit einem gleichgültigen Schulterzucken den Weg fort.

Daniel folgt mir und redet ungerührt weiter:

„Es ist lange her, nicht wahr? Ich nehme an, du warst beschäftigt, Henri?“

„Möglicherweise.“

„Ich konnte dich nicht erreichen.“

„Kann sein.“

„Warst du vielleicht nicht da?“

„Ich weiß nicht.“

Ihm ist bewusst, dass ich nicht die Wahrheit sage. Nach einem kurzen Schweigen spricht er dennoch weiter.

„Und dann hattest du auf einmal Lust dazu, mich anzurufen?“

„Ja.“

Daniel lacht und klopft mir freundlich auf die Schulter. Seine Hand gleitet hinab, sodass ich spüre, wie er sanft meinen rechten Unterarm streift. Ich muss lächeln.
 

„Milch.“

Daniel sieht mich fragend an, während ich vor dem Kühlschrank in seiner Küche stehe. Mein Blick fällt auf die noch unangetastete Butter, auf das halbleere Marmeladenglas und auf den Käse, der an den Rändern dunkel geworden ist und sich nach oben wölbt. Zuletzt sehe ich wieder auf die Milchflasche.

„Milch?“, fragt Daniel.

„Das ist das Einzige, von dem man sich aus deinem Kühlschrank ernähren kann.“

„Da ist noch Marmelade.“

„Du hast kein Brot.“

Mein Freund murmelt etwas und antwortet schließlich:

„Stimmt.“

Ich greife nach der Milch, erspare es mir, ein Glas zu nehmen, und trinke aus der Flasche. Nachdem ich sie zurückgestellt habe, schließe ich die Kühlschranktür und sehe Daniel mit einem Seufzen in sein unschuldiges Gesicht.

„Wovon ernährst du dich eigentlich?“

Er zuckt mit den Schultern ohne auf meine Frage einzugehen.

Ich schaue aus dem Fenster. Die Wolken ziehen in stürmischen Wogen daran vorbei, kontrastieren untereinander in ihren verschiedenen Grautönen, lassen keinen Platz für das Licht, die Wärme oder eine einzige Farbe.

„Das Wetter ist schön“, sage ich. „Wollen wir rausgehen?“
 

Daniels Hand ist kühl, als er mir über die Steine hilft. Zu oft muss ich feststellen, dass die Kraft meinen Fingern entgleitet. Das anhaltende Ziehen und Vibrieren in meinem rechten Arm ist zwar angenehm, aber in meiner eigenen Unbeweglichkeit fühle ich mich hilflos.

Am Rand des Schutthaufens bleibe ich stehen, um das Bild in mich aufzunehmen.

Dieser abgelegene Teil der Stadt ruht schon seit langem in seinen eigenen Trümmern, ein Mal des Krieges, der hier wütete. Der Fluss trennte die Häuser von den Feldern und der Landschaft, welche sich dahinter ausbreitet. Nun ist der Schutt unter Moos und vertrocknetem Gras begraben. Das ganze Gebiet ist von Stacheldraht umgeben. Doch dieser stellt für Daniel und mich kein Problem dar.

Mein Freund legt mir die Hand auf die Schulter und deutet nach vorn.

„Der Eingang.“

Ich sehe ihm in die braunen Augen und gehe schließlich weiter. Durch das Geröll kommt man nur schwer vorwärts. Dann stehe ich vor einer durchbrochenen Wand und kann in das Innere der riesigen Ruine sehen. Die Papiermühle wurde damals gebaut, um die Wasserkraft zur Energiegewinnung zu nutzen, und ragt deshalb in den Fluss hinein. Später diente sie als militärischer Stützpunkt. Im Augenwinkel sehe ich, dass mich Daniel mittlerweile eingeholt hat.

Ich schweife mit dem Blick an der Hausfassade nach oben. Die Wolken wallen noch immer tiefgrau über der Stadt. Dann trete ich ein. Daniel folgt mir wortlos.

Ein klaffender Spalt zieht sich vom Dach bis zum Fundament, wo der Fluss in schneller Strömung dahingleitet. Mehrere Balken und Steine versperren teilweise den Weg zur Treppe. Wir steigen darüber, um in den oberen Teil des Gebäudes zu gelangen.

„Regen.“

Daniel und ich stehen nebeneinander am Abgrund in der höchsten Etage, wo die Wände zur Innenseite weggerissen sind. Die Augen meines Freundes sind nach oben gerichtet auf die offene Wunde in der Decke, welche die Sicht auf den Himmel freigibt. Ein Regentropfen fällt mir auf das Gesicht und läuft wie eine Träne meine Wange hinab. Unter uns, tief hinunter bis in das Erdgeschoss, sieht man den Fluss an den Stützpfeilern lecken.

„Ja“, antworte ich, „es fängt an zu regnen.“

Ich spüre, wie er sanft meine rechte Hand ergreift.

„Henri.“

Weiterhin schweife ich umher und wandere über das zerstörte Gewebe des Gebäudes, den Himmel über uns, das Wasser unter uns. Mein Blick fällt nicht auf meinen Freund.

„Henri, wollen wir springen?“

Endlich schaue ich ihn an. Es wundert mich, dass seine Augen so leidvoll zu mir aufblicken. Ein dumpfes Gefühl breitet sich in mir aus und die Antwort kommt mir nur schwerlich über die Lippen.

„Es ist mir gleich.“

Daniel senkt den Kopf, sodass seine Miene halb hinter den Haaren verborgen liegt. Der Wind spielt mit einzelnen dunklen Strähnen.

Ich löse meine Hand aus seiner und hebe sie an sein Gesicht, um es mir zuzuwenden. Die Haut liegt weich unter meinen Fingern.

„Was ist mit dir, Daniel?“

Er versucht mir auszuweichen und sagt nichts.

„Ich dachte, du wolltest leben. Du hast mir selbst gesagt, dass du noch einiges vorhast.“

„Henri“, unterbricht er mich, „was spielt das für eine Rolle? Egal, was man aus dem Leben macht, irgendwann stirbt jeder den gleichen Tod.“

Daniel schließt die Augen und ich streiche mit meinem Finger über seine geschlossenen Lider. Ich muss mir keine Sorgen machen, denn er redet nur über gegebene Fakten, die nicht seinen Prinzipien entsprechen. Man muss nicht immer nach Verstand oder Gefühl handeln.

Ich kann meine rechte Hand nur begrenzt bewegen, dennoch gleite ich leicht durch Daniels Haar. Die weichen Strähnen kribbeln auf meiner rauen Handfläche.

Ich packe zu und ziehe seinen Kopf in den Nacken, sodass sein Hals entblößt ist. Er stöhnt auf und hält die Augen schmerzvoll verschlossen, während ich meinen linken Arm um seine Hüfte schlinge.

„Du hast Recht, Daniel. Im Endeffekt stirbt jeder für sich allein seinen grausamen oder erleichternden Tod. Nichts kann ihn dann zurückbringen. Wollten wir es nicht ausnutzen oder hast du dich dafür entschieden, dass du schon jetzt des Lebens überdrüssig bist?“

Er bleibt stumm.

Ich drücke ihn fester an mich und berühre mit meinen Lippen sanft seinen Hals. Er erfasst meine Schultern und versucht sich aufzurichten, doch ich zerre noch stärker an seinem Haar. Wenn ich wollte, könnte ich ihn in die Tiefe stürzen.

„Mir ist vieles völlig gleichgültig“, sage ich mit leiser Stimme, „doch diese Gleichgültigkeit stellte sich durch meine eintönigen Tage ein. Eines weiß ich ganz sicher; ich werde mit dir weiterleben, bis wir uns gegenseitig in den Abgrund reißen.“

Ich spüre seinen schweren Atem auf der Haut, die Augen sind weiterhin geschlossen und er schluckt hart. Ein ersticktes Lachen entflieht seiner Kehle.

„Also willst du mich noch nicht erlösen, Henri?“

„Erlösen?“ Ich lächle. „Die Erlösung ist wie das Grauen, mein Freund; sie kann sich unbemerkt anschleichen, aber auch ganz plötzlich vor dir stehen.“

„Dann ist es wohl mir selbst überlassen“, antwortet er und öffnet die Augen, um mir ins Gesicht zu blicken, „wie ich ihren Gesichtsausdruck interpretiere. Entweder ist ihr Lächeln zuversichtlich oder...“

„Oder?“, frage ich.

Daniel zögert und sieht mich forschend an.

„Es könnte auch ein hinterhältiges Grinsen sein.“

Mein Freund starrt in den Himmel über uns, während Regentropfen auf sein Gesicht fallen. Die Kälte zerrt an meinen Sachen und eine Gänsehaut zieht sich von meinem Nacken über den gesamten Körper. Meine Hand zittert, sodass ich sein dunkles Haar fester packe, um meine Unruhe zu unterbinden. Schließlich gehe ich einen Schritt voran, wobei Daniel fast das Gleichgewicht verliert und sich an mich klammert. Mein Griff lockert sich, ich stoße ihn mit dem Rücken gegen den zerstörten Beton und halte seine Hände fest. Die aufgerissenen Stahlklingen bohren sich in seinen Arm, den ich gegen die Wand presse.

Daniel stöhnt gequält auf. Dann lächelt er mich an.

Ich erwidere das Lächeln und löse meine linke Hand von seinem Arm, während ich den anderen stärker gegen das Gestein drücke. Das rostige Material kratzt über seine Haut und schabt sie stellenweise ab, sodass darunter helles Fleisch zum Vorschein kommt und nach kurzer Zeit klebrige Wundflüssigkeit abgesondert wird.

Daniel setzt sich nicht zur Wehr.

Ich streiche sanft über sein Haar, fange noch einmal die langen, momentan zu einem Zopf gebundenen Strähnen auf, bevor ich sie erneut dem Wind zum Spiel überlasse, fahre dann leicht über sein Gesicht und den Hals entlang.

Die Fingernägel in sein Handgelenk gekrallt, beginnt mein Arm erneut zu zittern und Daniel ballt seine Hand krampfhaft zur Faust.

„Ich liebe dich“, sage ich mit gedämpfter Stimme. „Tut es weh?“

Daniel antwortet gepresst:

„Deine Worte tun mehr weh als jeder physische Schmerz.“
 

Wir laufen über das Gras, vorbei an Gesteinstrümmern, zersplittertem Holz und Stahl. Die Papiermühle liegt hinter uns. Man hört das Wasser noch immer rauschen, doch wird es langsam vom Regen übertönt.

Daniel holt zu mir auf und sagt:

„Alles wurde so gelassen, wie es war. Die Bunker sind in einem unveränderten Zustand, man kann sie noch betreten.“ Er deutet mit dem Finger auf eine Ansammlung von Hügeln, die mit grünem Moos und Farnen bewachsen sind. „Ich möchte sie mir ansehen.“

Mein Blick ist starr auf die Grashügel gerichtet, welche jeweils auf einer Seite durch einen geraden Abschluss wie abgeschnitten wirken und den Versuch eines natürlichen Aussehens Lügen strafen. Je näher wir kommen, desto deutlicher sind die Tore zu sehen, die an dieser Stelle in das Innere der Bunker führen. Direkt vor der ersten Unterkunft betreten wir eine lange, aus unregelmäßig hervorstehenden Steinplatten gefertigte Bahn, auf der sich große Pfützen sammeln. Ich bleibe stehen und wende mich an Daniel.

„Eine Landebahn. Befinden sich in den Bunkern noch immer Flugzeuge?“

„Lass uns doch nachsehen. Dann können wir auch Schutz vor dem Regen finden.“

„Ich persönlich finde das Wetter sehr angenehm.“

Ohne noch einen Augenblick zu warten, gehe ich auf die rostige Stahltür zu. Sie lässt sich nicht öffnen, da sie sich im Laufe der Jahre verzogen hat und der Rost die Tür im Rahmen hält. Ich werfe Daniel einen kurzen Blick zu und er versteht sofort. Gemeinsam treten wir mit aller Wucht gegen den Stahl, sodass er sich Millimeter für Millimeter bewegt. Schließlich bricht die Tür aus den Angeln und fällt mit einem lauten Donnern zu Boden. Wir überqueren die Schwelle, um in die Eingeweide des Bunkers zu gelangen.

„Wow“, ruft Daniel und geht weiter. „Eine Propellermaschine. Die muss uralt sein.“

Das Flugzeug ist mit dem Fahrgestell im Boden verankert. Mein Freund greift nach der Tragfläche des rechten Querruders und zieht sich hinauf. Ich schaue ihm gelangweilt zu, wie er über den Rumpf auf die Kabine klettert und das Maschinenfach öffnet.

„Ausgeschlachtet“, kommentiert er mit einem Seufzen.

Ich wende mich ab und laufe zielsicher an der Maschine vorbei, um in den hinteren Teil zu gelangen. Hier ist es dunkler, sodass man nicht mehr viel erkennen kann, doch sobald sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt haben, kann ich ein von Glas umschlossenes Büro erkennen. Die Holztür öffnet sich mit einem lauten Knarren.

Als ich hinter mir Schritte vernehme, drehe ich mich um. Ein grelles Licht blendet mich und ich kneife erschrocken die Augen zusammen.

„Entschuldige“, höre ich Daniels Stimme, der die Taschenlampe wieder von meinem Gesicht abwendet, „die habe ich in der Kabine des Flugzeugs gefunden.“

Er leuchtet vor mich in den kleinen Raum hinein, der von Schränken und einem Schreibtisch zugestellt ist. Viele Papierfetzen, auf denen die Druckerschwärze verblichen ist, säumen den Boden. Der Lichtkegel wandert durch den Raum. Ich sehe in Daniels Gesicht und er grinst mich an.

„Fühlst du dich wieder wie ein Kind?“, frage ich spöttisch. „Die Neugier treibt zu Erkundungstouren. Was wollen wir noch hier?“

„Ich weiß es nicht.“

Sein Blick bleibt am Schreibtisch haften. Er geht an mir vorbei und langt über die Tischplatte nach einer verstaubten Stiftdose. Es klappert gedämpft, dann hält er eine Metallschere in der Hand und schwenkt mit der anderen die Taschenlampe erneut in meine Richtung. Ich greife nach seinem Arm und nehme ihm die Lampe ab. In der Dunkelheit sehe ich seine Augen leuchten. Seine Nähe ist ein Impuls in meinen Adern, der vielfach durch die Einschränkung meiner anderen Sinnesorgane verstärkt wird.

Ich streiche mit meinen Fingern über Daniels Gesicht und ziehe ihn an mich. Meine Hand wandert über seine Schulterblätter, während der Schein der Lampe das Haar in seinem Rücken bestrahlt. Mein Atem geht schwer, als ich ihm zuflüstere:

„Du bist wie eine Sucht.“

Ich höre ihn leise lachen.

„Das bin ich nicht. Es ist dein eigenes Gefühl, das du ersehnst; das Begehren an sich, nicht das Begehrte.“

Plötzlich spüre ich einen stechenden Druck im Rücken. Ich muss lächeln, als ich realisiere, dass Daniel mir die Schere mit sanfter Gewalt in den Nacken bohrt. Ich streife mit meinen Fingern den geflochtenen Zopf entlang und sage leise:

„Dein Haar ist wunderschön.“ Die Lichtreflexe zeichnen es in der Dunkelheit in einem dunklen Gold, rötlich, ein Schimmer Bronze. „Schneide es dir ab.“

Der Druck in meinem Rücken verschwindet, als Daniel mich von sich drückt. Seine Augen sind geweitet.

Dann greift er nach meiner Hand, entwindet mir die Taschenlampe und einen Moment später herrscht völlige Schwärze. Ich höre ein leises Geräusch. Mein Freund nimmt erneut meine Hand und legt sie an sein Gesicht. Ich streiche über seine Wange, berühre nur leicht seine Lider und fahre hinab zu seinem Hals. Ich wandere weiter in seinen Nacken.

Kurz über dem Halswirbel greife ich in sein kurzes Haar, dessen Spitzen weich in meiner Hand liegen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Schreiberliene
2009-12-15T20:21:42+00:00 15.12.2009 21:21
Hallo,

also, zum ersten Mal hatte ich hier wirklich das Gefühl, dass du es als Schreiber übertreibst.

"„Ich liebe dich“, sage ich mit gedämpfter Stimme. „Tut es weh?“

Daniel antwortet gepresst: „Ja. Deine Worte sind härter als jeder physische Schmerz, fast wie Eis, das erbarmungslos meinen Körper durchbohrt.“"

Das klingt nicht wie etwas, dass man als Antwort schreiben kann...

Trotzdem, die beiden leben sehr intensiv, auch wenn ich persönlich das Gefühl habe, dass sie mehr und mehr aus ihren Rollen fallen - zudem frage ich mich, ob es noch eine eindeutige Steigerung geben wird.

Mal schauen, was du dem Leser in den nächsten Kapiteln präsentierst.

Alles Liebe,

Anna


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