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Laäros - Die Stadt der Türme

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Kapitel 1

Kapitel 1
 

Johannes:
 

Seit Louis Tod waren Wochen vergangen in der es noch mehrere Tote gegeben hatte als diesen einen. Zum Beispiel hatte es einen der drei Schmiede der Stadt getroffen, eine Kellnerin, eine verrückte Wahrsagerin und einige Büroarbeiter. Das Ganze hatte natürlich nichts aus den Fugen gebracht, und die Regierungsvertreter hatte es gefreut, doch war auch für sie die Zeit nicht ganz positiv verlaufen.
 

Grifts zweiter Mann war ebenfalls der „Krankheit“ zum Opfer gefallen.

Grift war der leitende Vertreter der Stadt Laäros, Herrscher über die Türme und kaltherziger Speichellecker der Regierung.
 

Er hatte seinen Sitz in dem großem Turm, im Zentrum der Stadt und er war derjenige, der alles regelrecht kontrollierte.

Er beobachtete das Kommen und Gehen wichtiger Rohstoffe und Materialien. Nahrung, Baustoffe wie Metall oder Holz wurden abgeliefert sowie fertig produzierte Gegenstände wieder zurückgeschickt.
 

Warum man dies für uns tat, war eine sehr interessante Frage. Viele glaubten, dass man uns ein „angenehmes“ Leben bereiten wollte, bevor wir starben. Dieses Gefängnis war nicht umsonst dafür bekannt, dass niemand zu Lebzeiten entlassen wurde. Hinzu kam, dass die einfachen Menschen von Unten nicht wussten, wo der Standort lag, schließlich konnten die Anwohner nicht davon erzählen, jeglicher Kontakt zur Außenwelt war untersagt.

Die Regierungsvertreter hielten auch dicht; man bot ihnen ein Leben in Reichtum und sie ließen dafür nicht ein einziges Wort verlauten.
 

Trotz meines unfreiwilligen Daseins und des eher niederen Jobs hatte ich ein entspanntes Verhältnis zu Grift. Er benutzte mich, doch bei gewissen Angeboten seinerseits konnte ich nicht nein sagen. Es war nicht so, dass ich seine Art und seine Aufgaben gemocht hätte, und ich zweifelte nicht daran, dass er mich, sollte ich stören, ohne mit der Wimper zu zucken umbringen würde, doch war er meine einzige Möglichkeit, an Waren heranzukommen, die ich in der Stadt nicht kaufen konnte.
 

Grift war auch derjenige, zu dem ich nun hinwollte. Er hatte einen seiner Boten zu mir geschickt, um mich zu benachrichtigen, dass er es ‚wünsche‘, mich zu sehen, was in diesem Fall hieß: Kommen oder Sterben.
 

Das Klacken meiner Absätze war das einzige, was ich hören konnte, als ich die steinernen Treppen des Hauptturmes hinaufstieg.

Ich stöhnte genervt auf, ich hasste Treppen, besonders Wendeltreppen, doch nur diese gab es in den Türmen. Wütend stieß ich die Tür am oberen Ende auf und trat in eine der altbekannten, überall gleich aussehenden Hallen.
 

Es standen ein paar niedere Regierungsvertreter herum, die eifrig miteinander diskutierten. Sie ignorierten mich, ich war es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden, also schritt ich ohne ein Wort auf die große Flügeltür zu, klopfte mit zwei kräftigen Schlägen dagegen und wartete auf das „Herein“, welches auch wenige Sekunden später folgte.
 

Ich betrat das Büro und verschloss die Tür sorgfältig hinter mir.

Das Zimmer, in dem ich mich nun befand, war mit 30m² kleiner, als man es bei dem Führer erwartet hätte.

An der rechten Wand stand ein einsames Bücherregal, dessen Inhalt den Eindruck machte, lange nicht mehr angefasst worden zu sein, die linke Wand war mit Ausnahme eines Bildes, welches Laäros bei Nacht zeigte, vollkommen leer.

Ein großer, schwarzer Schreibtisch, auf dem einige ordentlich aufgereihte Papierstapel lagen, stand gegenüber der Tür und vor ihm zwei Ledersessel.

Grift saß hinter dem vierfüßigen Gestell und ignorierte mich noch.
 

Er war ein Mann, bei dem schon der erste Blick genügte, um ihn als unberechenbar einzuschätzen. Er war groß, hatte breite Schultern und trug einen Zentimeter genau sitzenden schwarzen Anzug mit grau gestreifter Krawatte, deren Knoten den Anschein hatte, auf richtigen Umfang und Durchmesser geprüft worden zu sein.

Diesen Aufzug trug er immer, nur die Krawatten wechselten ständig, wenn auch nur im Muster und nicht in der Farbe.

Grift hatte braunes, kurzes Haar, die Koteletten symmetrisch leicht ins Gesicht gezogen, ein Doppelkinn, und unter seiner Nase, auf der eine eckige Lesebrille seine aufmerksamen Augen verbarg, trug er einen fein, säuberlich geschnittenen Oberlippenbart. Er war die Perfektion in Person.

Sein Gesicht befand mehr im Schatten als im Licht, denn das einzige Fenster des Büros lag ihm im Rücken.
 

„Guten Tag, Johannes“, sagte Grift mit einem Lächeln, nahm seine Lesebrille ab und legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch.
 

Er stand auf und streckte die Hand aus. Ich nahm sie, erwiderte den Gruß in respektvoller Form und ließ mich, nachdem Grift mich dazu angewiesen hatte, in einen der Sessel nieder.
 

„Sie wollten mich sprechen, Sir?“, sagte ich.
 

„Immer alles gleich auf den Punkt bringen, nicht wahr? Ich hoffte, du würdest mir mal wieder einen Gefallen tun.“ Er hielt einen Moment inne.
 

„Heute wird ein Neuer ankommen. Ich möchte, dass du ihn für mich einweist.“
 

Warum er mich beauftragte und die Worte „für mich“ dabei betonte?

Grift wollte Kontakte zu dem Neuen, sich diese jedoch nicht über seine eigenen Männer beschaffen. Es sollte so aussehen, als seien auch einige der Gefangenen von der Regierung überzeugt. Zu tun, was Grift mir auftrug, war zwar gegen meine Moralvorstellung, aber für mein Weiterleben, das auf dem Spiel stand, würde ich es tun.
 

Er griff neben den Schreibtisch und zog einen schwarzen Koffer hervor, den er auf dem Schreibtisch vor mir plazierte.
 

„Wie wäre es mit einer neuen Messerkollektion?“
 

Er öffnete den Koffer mit einem leisen Klicken, und mir zeigten sich die Messer, glänzendes Metall, fein geschliffen, die Klingen mit geschwungenen Linien verziert. Es waren zwölf, sechs größere und sechs kleinere. Perfekt, um sie zielsicher zu werfen. Ich strich mit zwei Fingern über eines der Messer. Das Metall war spiegelglatt, eine tödliche Waffe.
 

Ich sah auf meinen Gürtel hinab, an dem meine eigenen Messer hingen. Sie waren nicht schlecht und bei weitem besser und handlicher als die anderer Bewohner von Laäros, sahen jedoch ein wenig „dreckig“ aus. Es waren Blutreste auszumachen und zusätzlich fehlte eines. In die Tiefe unter den Türmen mitgenommen von einem schizophrenen Irren, der einen Amoklauf gestartet hatte. Ich hatte ihn nicht töten wollen, doch als er Evangelos angriff, hatte ich eingreifen müssen.

Die Messer waren ein Angebot, welches ich nicht ablehnen konnte, abgesehen davon war das Ablehnen der ‚Bitte‘ tödlich.

Diese entsprechende Gegenleistung, die Waffen, lieferte Grift, damit ich meine Aufgabe gewissenhaft erfüllte, so nickte ich schließlich.
 

„Noah wird in 10 Minuten eintreffen. Er wird in der obersten Etage des Turms für die Neuen wohnen. Führe ihn bis zum Abend umher, die Wohnung wird dann geräumt sein.“
 

Was Grift sich unter Wohnungsräumung vorstellte, bezeichnete man umständlich als unglücklichen Tod des ursprünglichen Besitzers.

Man bemerke zusätzlich, dass die oberste Etage die beste war; Grift wusste, wie er handeln musste.
 

„Die Messer lasse ich zu deiner Wohnung bringen. Du weißt, was ich von dir erwarte“, sagte Grift.
 

Ich nickte erneut „Natürlich, Sir.“
 

Ich erhob mich langsam, strich mir den Mantel glatt und richtete den Kragen, dann wandte ich mich um und schritt aus dem Raum, Grifts siegessicheres Lächeln im Rücken spürend.
 

Ich lief die Treppe hinunter, bis sie auf Höhe der Brücken endete. Meine Schritte hallten durch die Vorhalle, als ich quer durch sie hindurchging. Die Vorhallen sahen in jedem der Türme gleich aus: groß und kahl. Glatte Steinfliesen bedeckten den Boden und warfen mein Spiegelbild zurück, ebenso wie die leisesten Geräusche. In jede der vier Wände war ein schweres Tor eingelassen, welches meistens offen stand. Abgesehen von den Toren und der Treppe in einer der Ecken waren die Hallen jedoch leer. Nun, der Hauptturm bildete natürlich die Ausnahme. Gegenüber den nach oben führenden Stufen verlief das gleiche steinerne Gebilde in die Tiefe unter den Turm hinab.
 

Der Hauptturm war der einzige, dessen Bau unterhalb der Brücken noch betreten werden konnte. Dieser Teil war der Zugang zur Stadt, der einzige Weg, von Unten hierhin zu gelangen.

Nachdem ich auch diesen Teil des Weges hinter mir gelassen hatte, betrat ich ein hell erleuchtetes Gewölbe.
 

In der Mitte stand eine gläserne Säule von knapp drei Metern Durchmesser.

Durch diese Glasröhre wurden die Gefangenen nach Laäros gebracht.

In der Säule war eine Art Fahrstuhl, in dem die Sträflinge in Handschellen und Begleitung zweier Wächter nach oben ‚fuhren‘. Sobald sich die Tür öffnete, wurde man grob in die Halle gestoßen, bevor das Gepäck hinter einem her flog und der Fahrstuhl mit geschlossenen Türen den Rückweg antrat.
 

Wer einmal dort auf dem Steinboden vor der Säule lag, konnte die Hoffnung aufgeben, jemals wieder die Stützpfeiler der Türme von unten sehen zu dürfen.

Wenn man die Hoffnung aufgegeben hatte, begann man langsam zu hassen, sei es die Regierung oder eine normale Familie, die diese unwissend unterstützte. Und wenn selbst der Hass nichts mehr brachte, fing man an – man nehme mich als Beispiel – auf den meisten Gebieten Gleichgültigkeit zu empfinden.
 

Gegenüber des Fahrstuhls saßen zwei Frauen hinter einem Pult und nahmen den Namen, die ehemalige Adresse und sonstige wichtige Angaben eines Mannes auf, bevor man ihn anwies, sein Gepäck stehen zu lassen, und eine der Frauen mit einem Kopfnicken auf mich wies.

Der Mann, der im verdreckten, ehemaligen weißen Kittel auf mich zukam, schien mein neuer Auftrag zu sein. Ich musterte ihn skeptisch.
 

Er war noch sehr jung, vielleicht 25, hatte eine schlanke Gestalt, wirkte jedoch eher plump.

Seine Haut war blass wie die eines Vampirs, und seine Augen zierten tiefe, dunkle Ringe, die nur teilweise von einer großen Brille verdeckt wurden. Ein Dreitagebart wucherte vor sich hin, und fettige kinnlange Haare hingen ihm ins Gesicht. Er machte einen leicht... schusseligen, doch auch intelligenten Eindruck.
 

Er schluckte „Sind sie mein Einweisungspersonal?“
 

Ich rümpfte die Nase; ich mochte diesen Titel nicht. Mich umwendend sagte ich: „Komm mit!“
 

Ich brauchte mich nicht zu vergewissern, dass er mir folgte; ich wusste, er würde es nicht wagen, es nicht zu tun.
 

Wir liefen, bis wir in der Mitte der Nordbrücke des Hauptturmes standen. Schon bei seinem ersten Schritt aus dem Turm hinaus hatte ich ein Keuchen vernommen, doch bisher hatte ich es einfach ignoriert. Als ich mich nun erneut umdrehte und ihn anblickte, stand ihm das kalte Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es war kein Wunder, fast jedem erging es so. Niemand hätte erwartet, dass ein Gefängnis eine einigermaßen eigenständige Stadt war.

Dann fiel mir jedoch auf, dass sein Blick auf die Körper unter den Brücken gerichtet war.

Erschreckend, dass ich nicht daran gedacht hatte, sondern an die Stadt als eigenständigen Organismus.

Mit der Zeit lernte man zu ignorieren. Die schlechten Gefühle wurden abgeschaltet, ständige Bilder aus dem Kopf gelöscht.
 

Der Jüngere zitterte ein wenig. „Die Leichen...“
 

„Sind tot!“, schnitt ich ihm das Wort ab. Es war eine vorerst endgültige Antwort auf diese Frage gewesen, ich wollte nicht über sie reden.
 

Wir standen einige Minuten da, ehe ich die Stille brach.

„Noah, nicht wahr?“, ich hielt ihm die Hand hin, die er zögerlich schüttelte, ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser Zustand noch an den Leichen oder eher an meinem Aussehen lag...
 

„Ich bevorzuge Professor Brise“, antwortete er dann fest.
 

„Nun, Noah,“ Ich betonte seinen Namen absichtlich um so mehr „Ich bin Johannes.“
 

„Warum duzen Sie mich?“
 

Ganz einfach. Es ist für mich wie für jeden anderen hier unwichtig, wer du einmal warst, denn hier sind wir alle gleich.“ Ich überlegte kurz.

„Es ist so, als würdest du neu geboren. Du musst dir deinen Respekt erst verdienen, bevor man dich anders betrachtet als den Rest. Die einzigen, von denen du gesiezt werden wirst, sind die Kinder.“
 

Noah nickte.
 

„Laäros besteht aus 49 Türmen und 84 Brücken. Es ist unterteilt in verschiedene Bereiche. Die Mitte, der große Turm, aus dem wir gerade kommen, ist der Sitz unseres Führers Grift und die Ankunftsstelle der Neuen.“ Ich warf ihm einen durchdringenden Blick zu, um zu verdeutlichen, wer mit „Den Neuen“ gemeint war, ehe ich fortfuhr.
 

„Der innerste Kreis Türme umfasst einige reine Wohntürme, von denen einer nur für Regierungsvertreter zugänglich ist. Im Hauptturm wohnt nur Grift selbst.

Einige der übrigen Türme des ersten Kreises enthalten Büros, und im Nord-West-Turm befindet sich das Einkaufszentrum.“
 

Noah blickte mich verwirrt an. „Wie bitte? Ein Einkaufszentrum in einem Gefängnis?“
 

Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Brückengeländer.

„Du solltest aufhören, Laäros als reines Gefängnis zu betrachten. Es ist eine Stadt, die nur die gleiche Hoffnung heuchelt wie ein Knast, aber es ist eben auch eine Stadt. Die Menschen verdienen Geld und geben es wieder aus, sie haben ihre eigene Wohnung und ihren eigenen Standard. Trotzdem will jeder hier weg.“ Ich ließ ihm ein wenig Zeit nachzudenken, bevor ich den Faden wieder aufnahm.
 

„Der zweite Kreis besteht aus Wohngebieten niederen Ranges, Kneipen und den drei Waffenschmieden der Stadt. Außerdem...“
 

„Waffenschmieden?“, wurde ich erneut unterbrochen.
 

Etwas genervt sah ich ihn an.

„Ja, Waffenschmieden. Mit genug Geld kannst du dir eine Messerkollektion oder ähnliches zulegen.“
 

„So wie die da?“ Er deutete angewidert auf meinen Gürtel.
 

„Nun“, ich musste tatsächlich ein wenig grinsen „vielleicht nicht ganz so blutig.“
 

Ich ignorierte sein Aufkeuchen, er würde sich daran gewöhnen müssen.

Es dauerte eine Weile, dann fragte er: „Wenn ihr hier festsitzt, also wenn...“
 

„Wir!“
 

„Entschuldigung, wie bitte?“
 

„Wenn wir hier festsitzen,... Du gehörst zu uns.“
 

„Ahh... gut. Wenn wir hier festsitzen, also wenn man uns wegsperrt, warum bekommen wir Waffen, wenn wir die Regierungsvertreter... damit umbringen könnten?“
 

„Eine gute Frage“, sagte ich und überlegte mir, vielleicht noch ein wenig netter zu sein.
 

„Denk mal selbst nach. Was würde passieren, wenn wir die Regierungsvertreter töteten?“
 

Noah wandte sich dem großen Hauptturm zu. Als er einige Minuten später immer noch nichts gesagt hatte, gab ich ihm einen Tipp:

„Die Regierung ist für unsere Versorgung zuständig.“
 

Den springenden Punkt hatte Noah wohl gefunden, denn sein Gesicht erhellte sich kurz, wurde aber sofort wieder ernst, als er die Lage erkannte.
 

„Die Versorgungsquelle würde aufhören zu fließen, und wir würden qualvoll verhungern, weil wir nicht nach Unten zurückkommen. Geschickt durchdacht.“
 

Erst bei den letzten zwei Worten fiel mir auf, dass das Gespräch in die komplett falsche Richtung verlaufen war. Ich hatte die Regierung kritisiert, und genau das hatte ich nicht machen sollen. So setzte ich hinzu:

„Andererseits können wir froh sein, überhaupt eine ’Stadt‘ zu haben und nicht in 10m² Zellen dahinzuvegetieren.“
 

„Komm mit“, sagte ich erneut, und wir schritten zum anderen Ende der Brücke durch die Vorhalle des folgenden Turms hindurch und weiter geradeaus in den zweiten Kreis hinein.
 

„Der Außenkreis ist der vielseitigste. Hier findest du alle möglichen Kleinläden, Restaurants, eigentlich alles. Außerdem noch eine Schule für die wenigen Kinder und Jugendlichen, die hier sind. Es gibt zwei Türme, die du auf jeden Fall kennen solltest. Der Süd-West-Eckturm ist die erste Wohnstätte aller Neuen. Der Turm ist ziemlich heruntergekommen, also erwarte nichts Berauschendes. Du wirst zuerst einige Zeit brauchen, um dich hier zurecht zu finden und die Bräuche und das Denken der Bewohner Laäros zu verstehen. So wie ich es jetzt sehe, wirst du einige Schwierigkeiten haben.“
 

„Warum?“
 

Ich blieb stehen und wandte mich mit wehendem Mantel zu ihm um.

„Du bist ängstlich, sehr eingeschüchtert durch die Brücken und meine Messer, und du betrachtest die Stadt ein wenig verächtlich. Du kannst nicht wie einige andere gemordet haben um hierher zu kommen. Ich kann dir jetzt schon sagen, dass du einige Bewohner abgrundtief hassen wirst.“
 

Noah sagte daraufhin nichts. Wir gingen weiter, und ich deutete im Vorbeigehen immer wieder auf die ein oder andere Einrichtung.
 

„Im Turm der Neuen wirst du solange bleiben, bis du dich für einen Job oder eine bestimmte Richtung entschieden hast. Wie es weitergeht und wo du hinkommst, wird man dir dann mitteilen.“
 

Wir betraten einen der Türme und stiegen die Treppen hinauf bis zur Spitze. Noahs Ausdauer ließ schon bei der Hälfte nach. Kleinigkeiten wie diese erinnerten mich unwillkürlich an die kurze Anwesenheit des jüngeren Mannes, wer länger hier war, gewann an Kondition.

Oben angekommen musste er erst einmal Luft holen – ich hatte ihm keine Pause gegönnt – doch vergaß er das Sauerstoffsammeln fast, als er die Stadt von oben sah.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die schwarzen Zinnen und musterte ihn, während er die Stadt überblickte.
 

Schließlich meinte er: „Sie...du erwähntest vorhin, dass zwei der Türme des Außenringes besonders wichtig sind.“ Er strich sich eine dreckige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Welcher ist der andere?“
 

„Der Nord-Ost-Turm. Dort ist das Gericht.“
 

„Wofür brauchen wir ein Gericht?“ Er betonte das wir überdeutlich. Wie schon angemerkt, würde er Probleme mit der Stadt haben.

Ich überlegte kurz, ehe ich zu erzählen begann.

„Unser Gericht ist nicht so, wie du es kennst. Es wird nicht über Recht und Unrecht geurteilt, du könntest prinzipiell jemandem die Kehle durchschneiden, ohne dass man sich darum scheren würde. In unserem Gericht wird nur über Leben und Tod entschieden. Leben für die Unveränderten und Tod für die Kranken.“
 

Ich las Noah die Frage aus dem Gesicht ab und antwortete, ohne auf diese zu warten.

„Es gibt eine Art Seuche in dieser Stadt, die nicht selten zuschlägt. Als krank gelten die, die sich plötzlich psychisch verändern und komplett anders handeln als gewohnt.“
 

Ich beobachtete Noah, während ich sprach, er schien mir ein wenig angespannt, als wisse er mehr darüber, versuche jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Ich durchschaute ihn trotzdem und nahm mir vor herauszufinden, was er verbarg.
 

„Wenn die Regierung dich verdächtigt, krank zu sein, kommst du vor das Gericht. Dort wird entschieden, ob du Glück hast oder angesteckt wurdest. Ist letzteres der Fall...“

Ich nickte in Richtung der Brücken. „Kannst du ihnen beim Baumeln Gesellschaft leisten.“
 

Der Blonde schluckte und schüttelte den Kopf. Ich hätte einiges gegeben, jetzt seine Gedanken lesen zu können.

„Warum muss ein Kranker sofort gehängt werden. Es ist doch nicht schlimm, wenn man sich psychisch verändert.“
 

„Es gab Übergriffe von Kranken auf andere Sträflinge und Regierungsbeamte.“ Ich kratzte mich am Kinn. „Und man stellte fest, dass die Krankheit hoch ansteckend wurde, je länger ein Mensch sie in sich trug, also entschied man sich, die Leute zu hängen.“
 


 

Kurze Zeit später liefen wir wieder durch die Stadt und ich zeigte Noah bis zum Abend die wichtigsten Orte. Er hatte das Glück gehabt, gleich in der ersten Kneipe von einem besoffenen Idioten einen Schlag verpasst zu bekommen und lief jetzt mit blutender Nase herum, während ihm dank seines demolierten Aussehens ständig bemitleidens- oder verachtenswerte Blicke zugeworfen wurden. Seit diesem Übergriff wirkte der Blonde ein wenig unaufmerksam, er fragte oft nach, was ich gesagt hatte, und war mit den Gedanken komplett woanders.
 

Als wir später im Turm der Neuen ankamen, erklärte uns ein Wächter, dass Noahs Gepäck bereits in seine Wohnung hochgebracht worden war. Schließlich drückte er dem Neuen noch einen Schlüssel in die Hand, bevor er durch das Nord-Tor verschwand.
 

Auch ich wandte mich nun zum Gehen. „Wenn du irgendwelche Fragen hast, wende dich an mich oder auch an Grift persönlich, er ist zwar hart, aber als Mensch in Ordnung. Falls ich nicht da sein sollte, wirst du eventuell auf Evangelos treffen, einen kleinen Griechen. Wir wohnen im Ost-Turm des ersten Kreises. Viel Glück.“
 

Während ich quer durch die dunkle Stadt lief, dachte ich über das nach, was ich dem jungen Professoren zuletzt gesagt hatte. An mich konnte er sich jederzeit wenden, so würde ich die Möglichkeit haben, mehr über ihn zu erfahren. Was Grift anging, hatte ich gelogen, er war nicht in Ordnung, sondern ein grausames, manipulatives Monster, und ich ließ mich auch noch ausnutzen.
 

Ich strich über meine kahle Kopfhaut und zog den Mantel enger zu, es war sehr kalt draußen, und ich kniff die Lippen zusammen.

Nur noch eine Brücke trennten mich und die warme Wohnung, in der Evangelos schon wartete. Ich schritt über die kalten Steine und hörte das Klacken meiner Absätze in meinem Kopf doppelt widerhallen. Ich betrachtete die in den Schatten der Steingebilde hängenden Leichen und Skelette, knochige Gestalten, die leise vor sich hinschaukelten. Ein kräftiger Windstoß stieß sie wild in die Luft; ein Krachen zweier kollidierender Körper, das Knacken brechenden Metalls, das Umherschnellen zweier Taue und zwei ineinander verschlungene Tote versanken in den Tiefen unterhalb des Turmes. Das Geräusch ließ mich erschaudern. Es klang wie schrilles Kreischen in meine Ohren, wie in einem der Horrorfilme, die ich damals gesehen hatte.
 

Ein Rauschen, ein unangenehmes Kribbeln glitt durch meine Adern, meine Finger waren taub, meine Beine steif, ich blinzelte verwirrt,... und das unbekannte Gefühl war verschwunden.



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