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Der Fremde

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Der Fremde

Wie ich zu dem geworden bin, was ich jetzt bin, ist im Grunde recht einfach. Dann aber ist es auch wieder nicht einfach. Es kommt immer ganz darauf an, wie man die Geschichte erzählt.

In der einen Geschichte geht es um einen Jungen, dessen Talent dazu, Leute zu beruhigen und zu heilen, von einem Schamanen entdeckt wird. Er nimmt ihn in seine Dienste und bildet ihn aus, um ihn dann als fahrende Heilerin durch die Gegend ziehen zu lassen. Ende der Geschichte.

Oder zumindest so ähnlich.
 

Die andere Geschichte ist ein ganzes Stück länger und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht ganz, wo ich anfangen soll. Es ist so viel zusammengekommen, dass dieser Schamane eigentlich nur der berühmte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Wenn man wirklich die gesamte Geschichte erzählen will, muss man bei meiner Geburt anfangen.
 

Meine Mutter war damals sehr krank und keiner wusste genau, ob sie meine Geburt überhaupt überleben würde. Die Hebamme war Tag und Nacht bei ihr, für den Fall, dass ich eine Frühgeburt würde, und die Dorfweisen beteten und fasteten. Meine Mutter war eine einflussreiche Frau, eine weiße Dame, wie man sie nannte. Das hat aber nichts mit der französischen Sage zu tun, dass die weiße Dame, die ihr Kind auf tragische Art und Weise verloren hat, immer dann erscheint, wenn etwas Schlimmes bevorsteht – es ist einfach ein Begriff für eine Frau, die an anderen Orten als eine Hexe beschimpft würde, sich selbst aber eher Heilerin nennt und ihre Praxis höchstens als weiße Magie bezeichnet mangels eines anderen und besseren Begriffs.

Nun, als ich dann wirklich zur Welt kam, lief alles recht unspektakulär ab. Meine Mutter entband, es war eine schnelle und unkomplizierte Geburt. Das Besondere war, dass es in der zwölften Nacht passierte, der letzten der zwölf Rauhnächte. Also genau in der letzten der Nächte, in denen Zauber aller Art wirkt: sprechende Tiere, Wünsche gehen in Erfüllung, Verlorenes findet sich wieder. Und die zweite Anormalie war, dass ich als Albino geboren wurde. Daran hat sich auch, wie sollte es auch anders sein, bis heute nichts geändert. Alles, was an mir dunkel ist, ist ein Pigmentfleck in Form eines Sterns, genau am untersten Nackenwirbel.

So viel also zum Thema unspektakulär – das bezieht sich, wie man sieht, wirklich nur auf die Geburt selbst. Der Rest war für Außenstehende eher angsteinflößend.
 

Denn zeitgleich zu meiner Geburt starb mein Vater bei einem Jagdunfall, dem obersten Weisen, einem sehr streng gläubigen Menschen, der laut meiner Mutter das gesamte Dorf mit seiner Gläubigkeit terrorisiert hatte, fiel der Stützbalken der Heiligen Hütte auf den Kopf, und die Krähen, die unser Dorf sonst so zahlreich bevölkerten, flogen mit lautem Kreischen von den Feldern auf und ließen sich eine Woche nicht mehr blicken.

Dementsprechend war ich nie sonderlich beliebt und wurde als Unglücksbringer verschrieen, als Wechselbalg, als Ausgeburt der Dämonen der Hölle. Bis zu meinem fünften Lebensjahr. Da änderte sich so ziemlich alles Schlag auf Schlag.
 

Meine Mutter, die seit meiner Geburt zwar toleriert, aber gemieden wurde, wurde eines Tages zu einer Hütte gerufen, in der ein junger Jäger verletzt und im Sterben lag. Sie sollte sehen, ob sie ihm noch helfen konnte, doch eigentlich war es für ihn schon lange zu spät. Er hätte viel früher behandelt werden müssen.

Also schickte meine Mutter mich, um Beinwurz zu sammeln. Schaden, so sagte sie, könne es schließlich nicht, und man müsse alles versuchen, was auch nur irgend eine Wirkung haben könnte.

Ich hatte seinerzeit nicht viel Ahnung von Heilpflanzen, aber das war eine Pflanze, die ich mir schon lange eingeprägt hatte. Ich war kein Kind, das abends nach Hause kam und noch immer sauber und unversehrt war; Ich war von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang unterwegs, sieben Tage in der Woche, vier Wochen im Monat. Ich kletterte Bäume hinauf, jagte Hasen hinterher, versuchte mich im Forellenfischen. Das sorgte dafür, dass meine Mutter selbst in ihrer eigentlichen Freizeit nie freie Zeit hatte, da sie immer am Stopfen und Flicken meiner Hosen und Hemden war. Ich glaube, manchmal hat sie sich gewünscht, ich wäre ein liebes kleines Mädchen geworden.

Da ich das aber nicht war, blieb ihr letztendlich nicht viel mehr übrig als mich in die Grundlagen der Wundversorgung einzuweihen und so war ich schon mit vier Jahren in der Lage gewesen, eine Wunde ordentlich auszuwaschen, mit Kräutern zu pflegen und zu verbinden.
 

Die meisten Pflanzen standen am Fluss an einer leicht sumpfigen Stelle und so machte ich mich zügig auf den Weg dorthin, pflückte so viel Beinwurz wie ich nur tragen konnte und eilte zurück zur Hütte des jungen Jägers.

Er lag in Fieberkrämpfen und ich konnte dem Gesicht meiner Mutter ablesen, dass es nicht gut um ihn stand, auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Doch als ich näher trat, beruhigte sich der Verwundete augenblicklich und sah mich aus klaren Augen an. Ich weiß nicht, warum ich das tat, aber ich legte meine Last beiseite und legte ihm die Hand auf die Stirn. Er glühte, aber ich wusste einfach, dass er genesen würde.

„Lauft zum Fluss und holt mir von den Wurzeln der Beinwurzpflanzen dort“, wies ich die Tochter des Jägers an, die sicher doppelt so alt war wie ich. „Lauf schnell, sonst stirbt er.“
 

Nein, ich weiß nicht, warum man ausgerechnet mir gehorchte. Meine Mutter griff nicht ein, sie sah mich nur aus verwunderten Augen an und ließ mich agieren, wie ich es wollte. Und alle Anwesenden bemühten sich, meinen Anweisungen so schnell wie möglich nachzukommen.

Also setzte man aus den beigeholten Wurzeln einen starken Tee auf und flößte dem Mann einen Löffel voll ein. Eine halbe Stunde später wieder. Und dann noch einmal, wieder eine halbe Stunde später.

Sein Bein ließ ich mit heißem Wasser auswaschen und mit Beinwurzpaste bestreichen, um es hinterher straff zu verbinden.

Nach drei Tagen war er wieder gesund.
 

So Dinge passierten von da an immer öfter. Ich hatte schon immer meine Mutter begleitet, wenn sie zu Kranken gerufen wurde, allein schon um ihr zu assistieren, jetzt fragte man mich auch nach Rat. Wenn jemand besonders krank war, so krank, dass meine Mutter nicht mehr helfen konnte, sah ich mir die Kranken an, erledigte, was meine Mutter auch schon versucht hatte, und heilte die Menschen. Mir wurde nachgesagt, dass ich magische Hände hätte, dass die Geister mir wohlgesonnen waren.

Das half mir jedoch nicht, als meine Mutter starb.
 

Ich weiß noch heute nicht, welche Krankheit sie damals hatte. Es begann eines Morgens, als sie über plötzliche Übelkeit klagte und sich hinlegen wollte, um sich auszukurieren – sie hatte an dem Tag eh keine Patienten zu pflegen.

Doch als sie sich hinlegte, fing sie kurze Zeit später an zu fiebern, dann zu fantasieren und schließlich erbrach sie blutig. Fünf Tage und vier Nächte wachte ich an ihrer Seite, tat mein Bestes um ihr zu helfen und musste hilflos zusehen, wie sie immer schwächer und schwächer wurde und schließlich starb.

Danach ging ich nicht mehr zu den Kranken im Dorf.
 

Es war eine ziemlich schlimme Zeit, die folgte. Weniger für mich, ich verbrachte den Großteil meiner Zeit in traumatisiertem Schweigen, aber für den Rest der Gemeinschaft. Wir hatten keinen Heiler mehr in der Gemeinde, da meine Mutter nicht dazu gekommen war, mich vollständig zu unterrichten oder sich gar eine Nachfolgerin zu suchen und das, was ich selbst konnte, konnte ich nicht anwenden. Dieser Abschnitt meines Lebens ist mir nur aus Erzählungen bekannt, ich kann mich bei bestem Willen nicht mehr erinnern, was ich getan oder gesagt habe, geschweige denn gedacht. Falls ich überhaupt gedacht habe... und geredet habe ich auch wenn dann nur selten und nicht mehr als zwei Sätze, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ.

Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich mich fühlte wie in zähflüssigem Nebel gefangen. Ich ging wie eine Puppe zu Tisch, wenn die Nachbarn mich riefen, ich ging wie eine Puppe schlafen, wenn es Zeit dazu war. Ansonsten habe ich wohl nur unter der alten Eiche am Rand des Dorfes gesessen und vor mich hin gestarrt, ohne zu reagieren wenn man mich ansprach.
 

Bis zu dem Tag, an dem der Fremde kam.
 

Ich habe nicht mitbekommen, wie er ankam, denn da war ich noch immer in meiner kleinen, leeren Welt, in die ich niemanden herein ließ. Aber man erzählte mir später, er wäre auf einem alten, schon recht altersschwachen Pferd in das Dorf gekommen und habe sich erkundigt, ob es hier jemanden gäbe, der ihm ein junges Pferd verkaufen kann. Ob zugeritten oder nicht sei ihm egal, er hätte vor, eine Weile in der Nähe zu wohnen. Er könne momentan nicht weiter. Hat man ihn gefragt, weshalb, so antwortete er stets, es sei besser für die Menschen hier, wenn sie es nicht wüssten.

Das alte Pferd wolle er einfach nur auf einer Weise mit anderen Pferden grasen lassen, er würde gut bezahlen, egal ob in Geld oder Naturalien. Es würde nicht mehr lange leben und solle noch einen schönen Lebensabend haben.
 

Das erste, woran ich selbst mich erinnern kann, ist dass er mit mir gegessen hat. Es mag komisch klingen, aber meine allererste Erinnerung ist tatsächlich, dass ich mit ihm auf einer Decke saß und lachte. Wie ich auf die Decke gekommen bin und worüber ich lachte, nun, das weiß ich heute noch nicht. Er antwortete mir nie, wenn ich ihn über Vergangenes fragte. Er redete mit mir nur über die Zukunft. Vielleicht war das ja auch der Grund, warum ich wieder zu reden anfing und auch das Lachen wieder lernte.

Das nächste, an das ich mich erinnern kann, neben unseren gemeinsamen Mahlzeiten unter der Eiche beziehungsweise bei schlechtem Wetter in seiner kleinen selbstgebauten Hütte, sind die Lektionen, die er mir erteilte.
 

Er brachte mir einiges bei. So wusste ich beispielsweise, dass man das Fruchtfleisch von Kürbissen als Heil- und Wundsalbe benutzen konnte, doch dass der Kürbis auch Türkenkopf heißt und bei Reise- und Seekrankheit sowie bei Verstopfung hilft, das lernte ich von ihm. Er lehrte mich die blutstillende Wirkung von der Eberesche zu schätzen und brachte mir bei, dass Beifuß während der Schwangerschaft nicht verwendet werden darf. Ich bekam erklärt, wie man einen Absud richtig zubereitet und welche Kräuter man wie konservieren kann und, vor allen Dingen, welche man nicht konservieren kann da sonst die Wirkung nachlässt bis verschwindet.

Aber vor allem brachte er mir bei, mich selbst und meine Mitmenschen wieder zu mögen, ja, sogar zu lieben.
 

Vielleicht hätte er da etwas aufpassen sollen, aber ich muss gestehen, dass er mich sicher mit nichts hätte aufhalten können, selbst wenn er aufgepasst hätte. Denn der Fluch des männlichen Geschlechts ist, dass es genau zwei Schwächen hat: Frauen und Alkohol.

Alkohol war in meinem Fall kein Problem, er schmeckte mir schlicht und ergreifend nicht und führte zu schlimmstem Magengrimmen und Erbrechen, wenn ich doch welchen kostete, um den Hänseleien zu entgehen. Das führte schließlich so weit, dass man mich mit skeptischem Blick ziehen und in Ruhe ließ, was mir wiederum sehr gelegen kam. Denn wenn ich mich nicht mit anderen betrank, hatte ich für andere Dinge mehr Zeit.

Um genau zu sein mit der anderen Schwäche des männlichen Geschlechts, wie man sich sicher schon denken konnte.
 

Wie sie heißt spielt hier eigentlich keine große Rolle. Ich bin nicht der Typ Mensch, der andere Menschen in seine persönlichen Miseren hineinzieht und sie wäre die letzte, der ich Probleme machen wollte. An dieser Stelle sei also einfach nur gesagt, dass sie wunderschön war, intelligent – und sich ihrer Reize mehr als bewusst.

Unsere erste Begegnung war, als ich auf dem Weg zu meiner Eiche war, wie ich sie insgeheim inzwischen schon nannte, um den Fremden wieder zu treffen. Man mag an dieser Stelle einwerfen dass er wohl keineswegs mehr fremd war, aber das stimmt nicht so ganz. Er wohnte zwar schon längere Zeit hier, aber außer mir hatte er wenig Anschluss gefunden. Die Dorfbewohner fanden ihn seltsam, wenn nicht sogar angsteinflößend. Dementsprechend war er immer sehr froh darüber, wenn ich ihn besuchen kam oder wir uns trafen. Außerdem, so hatte ich gemerkt, machte es ihm großen Spaß, sein Wissen über Heilkräuter und Behandlungsmethoden weiterzugeben, sich mit mir über meine Erfolge und Misserfolge bei bestimmten Behandlungen zu unterhalten und schließlich mit mir zu fachsimpeln, was man bei der nächsten Gelegenheit besser machen könnte und was schon recht gut so was, wie es war. Und um ihm den Gefallen zu tun und weil es auch mir großen Spaß machte, ihm zuzuhören und mich mit ihm zu unterhalten, kam ich also immer öfter und öfter.

Sie lauerte mir hinter einer Weggabelung auf und als ich mich höflich nach ihrem Befinden erkundigte, verwickelte sie mich so geschickt in ein Gespräch, dass ich mich dem kaum entziehen konnte. Sicher spielte auch ihr Aussehen mit eine Rolle in dieser Angelegenheit, aber das spielt keine große Rolle. Was wirklich eine Rolle spielt, das ist, dass sie mich dazu überreden konnte, auch am nächsten Tag mich mit ihr zu treffen.
 

Es kam, wie es kommen musste.

Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dass es eines Tages so weit kommen würde, aber als sie mir schließlich erklärte, sie sei schwanger, fiel ich trotzdem aus allen Wolken. Natürlich war ich mir darüber im Klaren gewesen, was wir da taten, dass es ab einem bestimmten Punkt definitiv eine unsichtbare Linie überschritten hatte und dass das, was wir taten, sicherlich nicht von der Dorfgemeinschaft toleriert wurde. Dennoch, es war ein Schock für mich.

Ich überredete sie dazu, sich bei dem Fremden untersuchen zu lassen, doch der konnte auch nur das feststellen, was wir beide schon wussten. Das Kind zu töten, dazu wollte er sich nicht überreden lassen und er machte uns auch mehr als klar, dass er in dem Fall eines Versuches unsererseits die schlimmsten Konsequenzen ziehen würde, die ihm auch nur irgendwie einfielen. Das hielt uns letztendlich als einziges davon ab, die Abtreibung auf alte, bewährte Art und Weise auszuführen. Außerdem wollte ich nicht riskieren, dass das Mädchen dabei selbst starb – das hätte ich mir nie verzeihen können.

Aber wir mussten versuchen, die Schwangerschaft auf irgend eine Art und Weise zu verbergen oder zu vertuschen. Und es dauerte nicht lange, bis sich auch eine Lösung für dieses Problem fand.
 

Denn auch der Fremde war nicht blind. Und auch der Fremde war nur ein Mann. Und so kam es, dass er einige Tage später bei den Eltern des Mädchens um ihre Hand anhielt. Sicher, es war keine schöne Sache für das Mädchen, aber immerhin besser als für alle Ewigkeit als Hure gebranntmarkt zu werden.

Also verlobte sie sich mit dem Fremden, es wurde ein großes Fest gefeiert, und heiratete schließlich, was auch wieder mit einem großen Fest gefeiert wurde. Sie erzählte mir später, die Hochzeitsnacht wäre grauenvoll gewesen, aber da sie sich bei mir auch nie beschwert hatte, tat ich es als Weibergeschwätz ab und wies sie zurecht, sie solle nicht so jammern, sie würde sich schon an ihr neues Leben anzupassen beginnen.

Daraufhin teilten wir noch einige Male das Lager, doch es verlief schweigend und für sie sehr schmerzhaft, weshalb ich sie irgendwann nicht mehr aufsuchte.
 

So zogen die Jahre ins Land und das Kind wurde geboren, bekam einen Namen, wurde den Göttern geweiht. Es wuchs und wurde älter und ich hätte nicht weiter auf diesen Umstand geachtet, wenn nicht eines Tages das Gerede der Leute angefangen hätte.

Zuerst waren es nur Gerüchte, die jeder mit einem Lachen abtat. Doch je größer das Kind wurde, desto offensichtlicher wurde, dass es mir mehr als nur ein wenig ähnlich sah. Und das Schlimmste daran war, dass diese Ähnlichkeit immer gravierender wurde.
 

Als das Geschwätz den Höhepunkt erreicht hatte, nahm mich der Fremde eines Tages beiseite.

An diesem Punkt muss ich wohl dazu sagen, dass er eigentlich keinesfalls mehr ein Fremder war: Durch seine Verbindung mit dem Mädchen hatte er sich in die Gemeinschaft eingekauft, während ich nach und nach ausgestoßen wurde. Allein schon deswegen weigerte und weigere ich mich auch heute noch, ihn anders als 'den Fremden' zu bezeichnen. Alles andere ist einfach zu schmerzhaft.

Er erklärte mir, dass ich gehen müsste. Ich wusste erst nicht, was er von mir wollte, doch schließlich begriff ich. Es war so weit, dass nicht mehr nur die Frauen tratschten, sondern auch die Dorfweisen, die sich bis jetzt möglichst aus der Sache rausgehalten hatten, diese Ähnlichkeit nicht mehr ignorieren konnten. Der Fremde legte mir ans Herz, mich möglichst bald zu verabschieden und fortzuziehen – in ein anderes Dorf, möglichst weit weg.

Und so kam es, dass ich mit seinem inzwischen zugerittenen Pferd und den wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, hinaus in die weite Welt ritt, ohne Ziel, ohne jemals weiter aus dem Dorf gekommen zu sein als bis in die nächste Siedlung. Ich war verloren.
 

Nun, hier sitze ich. Noch immer habe ich nicht mehr als das, was ich auf meinem Leibe trage, das Pferd und einige wenige kleine Münzen, mit denen ich gerade so überleben kann. Ich habe schon lange nichts mehr von meinem Kind gehört, nichts von dem Fremden. Ich kann nicht mehr in die Nähe des Dorfes kommen, bin fast ein Geächteter.

Ich heile Menschen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, werde als Hexer verschrieen, als Heiler gelobt, als Wundertäter bestaunt. Inzwischen weiß ich selbst nicht mehr, was ich genau bin. Vielleicht von allem ein wenig?
 

Meine weißen Haare, meine roten Augen und die unglaublich helle Haut haben mich in großem Umkreis bekannt gemacht. Wann immer jemand meine Hilfe braucht, wird nach dem weißen Teufel gesucht. Wenn der von mir Behandelte gestorben ist erst recht.
 

Ich sagte, dass ich nicht weiß, was ich bin. Aber eigentlich ist das eine Lüge – ich weiß, was ich bin. Ich weiß, wer ich bin. Inzwischen bin ich er geworden. Ich habe wegen einer Frau die Rolle getauscht mit dem bemitleidenswertesten Wesen, das ich je getroffen habe. Ich habe wegen einer Frau meine einflussreiche Stellung verloren, mein Heim. Ich hätte wieder eine Familie haben können, wenn ich sie geheiratet hätte. Aber ich war zu feige.

Und so ziehe ich durch die Lande, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Der Tod ist mein täglicher Weggefährte und wo immer er mich an seine Anwesenheit erinnert, lächle ich mein fratzenhaftes Lächeln, das mir in den letzten Jahren so in Fleisch und Blut übergegangen ist.
 

Ich weiß, dass ich bald zu alt werde für diesen Lebensstil. Aber ich werde nicht komplett werden wie er. Ich werde nie, nie, nie eine Frau nehmen. Ich werde nie wieder eine Frau auch nur behandeln.

Manche sagen, es läge an meiner seltsamen Religion. Aber das stimmt nicht.

Die Götter sind tot, sonst würden sie diese Ungerechtigkeit nicht zulassen.

Alles, was ich will, ist reisen.

Denn wenn ich reise, muss ich nicht daran denken, was ich bin: Ein einsamer Fremder, ohne Heimat – und ohne Zukunft...
 

Mein Gaul wird langsam schwach und müde, er kann nicht mehr so wie damals, als ich loszog. Vielleicht lege ich mich neben ihn, wenn er nicht mehr weiter kann. Vielleicht leiste ich ihm ein wenig Gesellschaft, wo auch immer seine Seele hinwandert, wenn er stirbt.
 

Denn egal, welche von den beiden Geschichten man erzählt: Keine von den beiden geht gut aus.

Niemals.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mangacrack
2009-06-24T14:07:07+00:00 24.06.2009 16:07
Mir fehlen die Worte für den Anfang, um die Geschichte beschreiben zu können. Denn sie ist in sich geschlossen, rund und perfekt. Das macht es schwer einen Kommentar zu verfassen, der nicht nur die Worte 'gut, weiter so' enthält.

Sehr gefallen hat mir die Auslassung von Namen.
Namen sind immer schwierig.

Hier hatte das einen besonderen Reiz, weil man sich aussuchen kann, wo oder wann die Geschichte spielt. Denn es ist eine Erzählung. Leicht irriert hat mich, der 'Albino-Effekt' des Jungen... ich habe nach dem Anfang und der ungewöhnlichen Geburt auf irgendwas ... größeres gewartet. So wirkt das Ende im Bezug zum Anfang ein wenig unspektakulär.

Was aber nichts anders hohen Qualität der Geschichte ändert.

~ present ~


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