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Traditions

Tendershipping (auch Bronzeshipping)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe die Aikido-Beschreibungen auf das Minimum reduziert, falls ausdrückliche Wünsche nach mehr Aikidowissen bestehen, kann ich diesen Standpunkt auch gerne ändern :)
In dem Sinne:
Viel Spaß Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, ich lebe noch! Aber habe kein eigenes Internet vorerst... aber dafür gibt es ja Internet an der Uni =) Übrigens ist das irgendwie ein "überwiegend Ryou" - Kapitel geworden O.o Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Kurze Aikido-Anmerkung: Wenn man losgelassen werden möchte oder der andere (aus Versehen) einem Schmerzen zufügt, dann klatscht man entweder auf die Matte oder sein Bein.

Und nun viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese FF geht endlich weiter :D
In diesem Sinne: Ich heiße alle alten Leser zurück und die neuen Willkommen!
Viel Spaß :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank für das Feedback! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe ihr hattet alle schöne Feiertage ^.^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Entschuldigt die Pause - das Semesterende war aus vielerlei Gründen anstrengend und ich brauchte Erholung daraufhin ^^"
Dieses Kapitel war ursprünglich auch überhaupt nicht geplant und hat die Richtung der Ff leicht geändert, weswegen die vorgeschriebenen Kapitel, die eigentlich hier gekommen wären, nicht mehr passen ò.ó Deswegen kann ich auch leider nicht versprechen die nächsten Kapitel so regelmäßig wie zuvor hochzuladen ~.~
Nun, zumindest mag ich das Kapitel xD
Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich weiß, dass diese Geschichte gelesen wird, jedoch die absolute Abwesenheit von irgendeinem Feedback lässt mich wundern... ist diese Schweigsamkeit gut oder schlecht? xD
Anyway, hier das versprochene Ryou-zentrierte Kapitel im Wald ^_^ (Mariku und Bakura kommen natürlich trotzdem vor)
Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Da dieses Kapitel glatt nur leicht angepasst werden musste, kriegt ihr es jetzt sofort :)
Es gibt wieder einen kleinen Zeitsprung von paar Tagen. Hier eine kleine Übersicht der Zeittafel bis jetzt:
1. Kapitel ("Aikido") spielte am ersten Tag des Trainings, einem Montag.
Das Kapitel "Vergangenheit" spielte am Sonntag, den 7. Tag des Trainings.
"Perspektive" und "Schmetterlinge" waren am 11. Tag (Donnerstag).
Dieses Kapitel spielt am Dienstag, den 16. Trainingstag.

Langsam aber sicher nähern wir uns dem Ende zu :) Komplett anzeigen

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Die Wege des Schicksals sind unergründet

Der frische Wind wehte durch den Wald, streifte die Kronen der Bäume, welche ihn mit fröhlichem Rauschen begrüßten. In den Nestern quiekten hungrig die gerade erst geschlüpften Kücken, während die stolzen Mütter in den Himmel empor stiegen, um ihren Kleinen Nahrung zu besorgen. Erste Blumen streckten sich der Sonne entgegen und das weiche Gras beugte sich unter dem Herrn der Lüfte. Ein Gefühl des atmenden Lebens breitete sich aus, holte auch die letzten Eichhörnchen aus ihren Verstecken.

Am Rande dieses Waldes stand ein altes Haus, gebaut aus Holz. Daran grenzte ein großes, aber leeres Dojo. Vor diesem saß ein junger Mann, nicht älter als 25, und rauchte eine Zigarette. Seine weißen Haare, die im Sonnenlicht glänzten, fielen auf den traditionellen Kampfsportanzug. Die schwarze Hose verriet den Rang eines Meisters. Gemütlich rauchte er zu Ende und betrachtete noch eine Weile lang den wolkenlosen Himmel.

„Bald kriege ich Gesellschaft.“
 

***
 

„Hey, Kleiner, bring uns noch Bier!“

Eine schmutzige große Hand klatschte auf dem Po des jungen Mannes, der bei dieser unsanften Berührung seine Lippen zu einer dünnen Linie presste. Hastig sammelte er die leeren Gläser auf sein Tablett und flüchtete hinter die Theke, um die Bestellung der vier Männer zu holen.

Als er das Bier am Tisch abstellte, spürte er sofort wieder die Hand an seinem Hintern. Eine andere Hand packte den jungen Kellner am Handgelenk und zog ihn zu dem Mann, neben dessen Platz sich der Kellner gerade befand.

„Gibt’s hier auch was anderes außer Bier, wenn du verstehst was ich meine?“, grinste der Mann.

„Bitte… Lassen Sie das…“, stammelte der Angesprochene leise.

Die Männer lachten heiter auf und der junge Mann wurde losgelassen. Sofort ergriff er die Flucht und huschte hinter die Theke. Er konnte Betrunkene einfach nicht leiden. Der Blick auf die Uhr entlockte ihm ein erleichtertes Seufzen. Seine Schicht war vorbei.

„Ryou! Der Chef will dich sehen“, rief ihm seine Ablösung zu und Ryou nickte nur. Schnell verschwand er durch die Hintertür.
 

Ryou verließ seufzend das Büro des Kneipenbesitzers und machte sich auf den Weg nach Hause. Der Chef, ein sehr netter und schon nicht mehr ganz junger Mann, hatte ihm vorgeschlagen ein Kampftraining zu absolvieren, um sich die aufdringlichen Gäste vom Hals zu halten und den Geist zu stärken. Er hatte sogar schon einen alten Freund gefragt, der ganz zufällig Meister in Aikido war, ob er sich Ryou annehmen würde. Und dieser hatte auch noch ein eingewillig! Ryou seufzte während er aus dem Bus stieg.

Schön und gut, ein Kampftraining würde ihm wirklich nicht schaden, doch das Problem war… Dass dieser Meister abgeschieden am Rande eines Waldes in den Bergen wohnte und Ryou dann für einen ganzen Monat praktisch von der Welt abgeschnitten wäre! Noch dazu müsste er einen Monat lang Urlaub nehmen und das wäre dann sein ganzer Urlaub für das Jahr… Doch wie Ryou nun mal war, konnte er den fürsorglich und bittend dreinschauenden Augen des Chefs nicht widerstehen, der sich anscheinend wirklich schreckliche Sorgen um ihn machte, und hatte schließlich zugesagt. In einer Woche würde das Training also beginnen.

In Gedanken schon beim Packen öffnete er die Haustür.
 

***
 

„MARIKU!“, ertönte es lautstark durch ihre gemeinsame Wohnung.

„Was?“, war die mürrische Antwort.

„Kannst du dich nicht ein einziges Mal beherrschen?! Ich will, verdammt noch mal, den Film sehen!“

Lavendelfarbene Augen funkelten Mariku böse an. Dieser seufzte genervt und lehnte sich zurück auf die Couchlehne.

„Das sagst du jedes Mal, wenn wir uns vor den Fernseher hocken“, beschwerte sich Mariku beleidigt.

„Wir setzten uns ja auch vor den Fernseher hin, um Fern zu schauen und nicht um wild mit einander rumzumachen!“

Maliks Stimme wurde wieder lauter. Konnte sich sein so genannter Geliebter nicht wenigstens ein einziges Mal in Zaum halten? Er wollte sich doch nur einen schönen Abend machen, seinen Lieblingsfilm schauen und danach dann mit Mariku eine heiße Nacht verbringen. Aber dieser…

„Glaubst du“, grinste Mariku ihn an.

Und er wagte es auch noch zu grinsen! Dagegen musste er wirklich was tun… Und Malik hatte da schon eine ganz konkrete Idee. Bakura, sein alter Schulfreund, hatte ihn ja nicht umsonst neulich angerufen.

„Mariku“, schnurrte der Ägypter.

Angesprochener hob eine Augenbraue hoch. Die Verwunderung über Maliks plötzlichen Stimmungswechsel war sogar noch höher als die Erregung, die sein Geliebter mit der zuckersüßen Stimme in ihm sofort hervorgerufen hatte. Malik beugte sich zu dem etwas verwirrten Mariku vor und flüsterte ihm verführerisch ein Angebot ins Ohr. Ein wohliger Schauer jagte Marikus Rücken herunter und er hätte sich auch gleich auf seinen Freund gestürzt, wenn da nicht der Inhalt dessen Worte gewesen wäre…

„ICH SOLL WAS?!“

Diesmal war es Marikus Stimme, die ihm ganzen Häuserblock zu hören war.

„Schrei doch nicht so, Schatz. Das wirst du doch schaffen“, ermutigte Malik amüsiert seinen Freund.

Dieser knurrte verärgert und wollte schon heftig protestieren, als sich ein schmaler Finger auf seine Lippen legte.

„Natürlich gibt es dann eine Belohnung. Wie wäre es, wenn ich mir eine Woche lang frei nehme und wir werden so oft du willst, wo du willst, wie du willst und wann du willst rumvögeln.“

Mariku stockte und schien in tiefe Überlegungen versunken zu sein. Die Chance würde sich gewiss nicht so schnell wieder geben, doch war es denn es wirklich wert? Ein ganzer Monat auf Kampftraining - ohne Sex - nur für eine Woche Nonstop? Aber da gab es so vieles was er schon immer mal mit Malik ausprobieren wollte und bis jetzt nie die Zeit und Gelegenheit für hatte.

‚Um Kontrolle über deine Triebe zu gewinnen’ hatte Malik gesagt…

Mariku blickte in die lavendelfarbenen Augen, die direkt vor ihm ruhten. Malik provozierte ihn gerade zu mit diesem einladenden Blick. Jetzt dominierten eindeutig die Triebe in ihm.

„Einverstanden“, sagte er bestimmt und ein lüsternes Lächeln legte sich auf Marikus Lippen. „Doch davor will ich noch eine Kostprobe.“

Den Blick nicht von den Augen seines Geliebten lassend, leckte er über den Finger Maliks und drückte ihn sanft in die Kissen. Leidenschaftlich legten sich seine Lippen auf die seines heiß geliebten Schatzes. Mariku leckte ihm sanft über die Unterlippe, um Einlass bittend, der ihm auch sofort gewährt wurde. Die Zungen berührten sich sanft, stupsten einander an und schließlich entbrannte ein leidenschaftlicher Kampf zwischen ihnen.

Ein Monat also…
 

***
 

Nun stand er davor. Es lag ganze zwei Kilometer abseits des kleinen Städtchens am Fuße des Berges und es hatte ihn viel Mühe und zwanzig Minuten seiner Zeit gekostet hierher zu gelangen. Gott sei Dank, führte ein direkter Weg zu dem Dojo, sonst hätte er sich hundertprozentig verlaufen.

Ein schwerer Seufzer entwich ihm, wie schon sooft in der letzten Woche.

„Willst du hier Wurzeln schlagen, Kleiner?“

Überrascht fuhr Ryou herum und musterte vorsichtig den jungen Mann, der ihn sichtlich genervt anstarrte.

Er hatte blonde, wirr abstehende Haare, violette Augen und einen muskulösen Körper, der lediglich von einem anliegenden schwarzen Shirt und einer Jeans bedeckt war. Über seine Schulter war eine Tasche geworfen, eine schwarze. Der Typ mochte die Farbe wahrscheinlich.
 

„Was gibt’s da zu glotzen?“, murrte Mariku.

Er hatte den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt und war schon halb durchgeschwitzt. Er wollte schnell rein und eine Dusche nehmen. Er war allgemein nicht von der ganzen Idee begeistert. Wie hatte er sich überhaupt überreden lassen?! Ach ja, die Triebe waren es… Und nun stand da vor ihm ein kleines –süßes– Weißhaar und starrte ihn an, den Weg zum Haus versperrend.

Ein Rotschimmer legte sich auf die Wangen des Kleineren und er wendete den Blick schnell gegen Boden.

„Bist wohl nicht gesprächig, was? Ist das das Dojo dieses verrückten Aikidomeisters?“

Jemand, der freiwillig in so einer Wildnis lebte, musste einfach einen Knall haben…

Die Farbe von Ryous Wangen wurde einen Ton dunkler und sein Blick war starr auf die Erde gerichtet. Er setzte schon zu einer Antwort an, als eine Männerstimme die Aufmerksamkeit der beiden auf sich lenkte.

„Ja, das ist mein Dojo.“

Die Blicke der beiden ‚Schüler’ richteten sich sofort auf die Veranda, auf welcher ihr zukünftiger Lehrer stand und sie grinsend anblickte.

„Du musst wohl Mariku sein“, meinte der Meister amüsiert, dem Blonden zunickend.

Doch da nichts außer einem Knurren als Antwort folgte, wandte er sich Ryou zu.

„Dann bist du Ryou?“
 

Ryou nickte schüchtert, den Blick nicht von dem Sprechenden lassend. Er hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der die gleiche Haarfarbe hatte wie er selbst. Dieses glänzende Weiß… Doch waren die Haare des jungen Meisters länger und viel abstehender als seine eigenen. Außerdem trug der Lehrer einen langen schwarzen Kimono, der, Ryous Meinung nach, einen wunderbaren Kontrast zu den weißen Haaren darstellte. Nur… wer trug heutzutage freiwillig denn noch Kimonos und das ohne besonderen Anlass?

„Dann kommt mal rein.“

Aikido

Ryou betrat das ihm zugewiesene Zimmer und seufzte. Es war schlicht eingerichtet. Außer einem Bett, einem Nachtschränkchen und einem Wandschrank war nichts da. Ryou legte seine Tasche auf das Bett und trat zu dem großen Fenster. Von hier aus hatte man eine wunderschöne Aussicht auf den Berg. Die Luft hier oben war erfrischend und rein, wenigstens eine gute Sache also.

Die Bergspitze verlor sich in weißen Wolken und Ryou verspürte den starken Wunsch einmal diesen Berg zu besteigen. Doch glaubte er nicht, dass es jemals dazu kommen würde.

Er sah auf seine Armbanduhr und stellte enttäuscht fest, dass er nur noch fünf Minuten zum Umziehen hatte.

Bakura, so hieß ihr Lehrer, hatte die beiden durch das relativ große Haus geführt, was nicht länger als zehn Minuten gedauert hatte. Mehr als die Küche, die Toiletten, die kleine heiße Quelle und das Dojo gab es nicht zu sehen. Höchstens die Waffenkammer, dessen Erwähnung allein Mariku, so hatte sich der Blonde vorgestellt, schon die Ohren spitzen ließ.

Er war Ryou irgendwie unheimlich und seine laute Stimme hatte ihn in den zehn Minuten öfters aufschrecken lassen. Nach dem Rundgang hatte Bakura ihnen eine Viertelstunde gegeben, um ihre Sachen auszupacken, sich umzuziehen und sich dann im Dojo einzufinden. Diese eine Viertelstunde neigte sich erschreckend schnell dem Ende zu, dachte Ryou, während er den Gurt festigte und dann sein Zimmer verließ. Den Kampfanzug hatte ihm netterweise der Chef besorgt, das war ja wohl auch angebracht, dafür dass er ihn in diese ‚Herberge’ für einen Monat gesteckt hatte. Allein mit zwei Männern. Und einer davor war mehr als nur einfach vorlaut und grob…
 

Die knappe Zeit, nur eine Viertelstunde, hatte Mariku gerade noch für eine Dusche gereicht. Schnell zog er sich das, für ihn eindeutig ungemütliche, Gewand an und verließ schnellen Schrittes sein Zimmer. Wieso beeilte er sich überhaupt? Er hatte noch nie Wert darauf gelegt rechtzeitig zu erscheinen und ‚den ersten Eindruck’ hatte er doch eh schon perfekt hingekriegt. Doch etwas an diesem Bakura brachte ihn zum Nachdenken, etwas stimmte da doch ganz gewaltig nicht… Sein Blick ähnelte dem eines betäubten Raubtieres oder dem Blick eines tollwütiges Hundes, der gerade am einschlafen war. Aber zumindest sah er gut aus und war durchaus anziehend.
 

Auf dem Flur erblickte Mariku den anderen Schüler. Dieser genoss sichtlich und vor allem geistesabwesend die Aussicht. Schon wieder stand er da wie angewurzelt, den Weg versperrend, diesmal in Mitte des Ganges.

„Hey, Kleiner! Willst du schon gleich beim ersten Mal zu spät kommen?“, rief Mariku ihm zu.
 

Ryou zuckte leicht zusammen und legte den Kopf zur Seite, um Mariku besser sehen zu können. Wenn er jetzt nicht antworten würde, würde er es den ganzen Monat über nicht tun.

„Das musst aber ausgerechnet du mir sagen“, meinte Ryou lächelnd. Dass Pünktlichkeit nicht gerade an erster Stelle im Leben des anderen war, stand für ihn außer Frage.
 

Holla, das Weißhaar konnte reden! Und ließ sich ja doch nicht alles sagen. In diesem Moment wurde Ryou dem Ägypter um einiges sympathischer. Malik würde ihn jedoch umbringen, wenn er sich jemals an so einer Unschuld vergreifen sollte… Aber etwas den Alltag des bevorstehenden Monats konnte er sich ja versüßen, nicht wahr? Und dass der Alltag gewiss nicht spaßig sein würde, war ja wohl mehr als nur klar.

Ein breites Grinsen legte sich auf Marikus Lippen und er meinte nur schlicht:

„Da hast du Recht, aber wir sollten vielleicht doch weitergehen, anstatt hier zu verdorren.“
 

Ryou lächelte zurück. Mariku schien doch nicht so schlimm zu sein, wie er anfangs gedacht hatte. Gut, vorlaut und unpünktlich, aber sonst bisher ganz in Ordnung.

„Du hast Recht“, stimmte er fröhlich zu.
 

„Es ist ja schön, dass ihr euch schon angefreundet habt, doch würdet ihr in Zukunft bitte mehr Wert auf eure Pünktlichkeit legen?“

Amüsiert beobachtete Bakura, wie Ryou seinen Blick beschämt zu Boden senkte und Mariku stur aus dem Fenster starrte. Er hatte zwar sowieso nicht erwartet wenigstens einen von beiden im Dojo rechtzeitig vorzufinden, doch Strafpredigten mussten immer sein. Dass Mariku sich nicht um vereinbarte Zeiten scherte, war Bakura vom ersten Moment an klar, und Ryou ließ sich einfach zu leicht ablenken. Das hatte Bakura schon während des Rundganges bemerkt, denn der Kleine blieb jedes Mal verträumt stehen, sobald sich eine schöne Aussicht darbot.

„Ab jetzt bedeutet jede Minute, die ihr zu spät kommt, zehn Runden um das Dojo.“
 

Ryou erschauderte bei der Zahl. Als er den Raum betreten hatte, hatte es sich herausgestellt, dass das Dojo groß war. Sehr, sehr groß. Und leer. Lediglich das Gemälde eines alten Mannes hing an einer der Wände.

Das Dojo war riesengroß und er eine Niete in Sport. Bei Leichtathletikdisziplinen, wie Hochsprung, konnte er in der Schule noch mithalten, doch wenn etwas ins Spiel kam, das Kondition forderte, da war er immer der letzte. Er hatte einfach keine. Er hatte sich nie eine antrainiert. Wozu denn auch? Er hatte sich schließlich nie erträumt mal aktiv Sport zu betreiben.
 

Mariku dagegen schnaubte nur verächtlich. Zehn Runden um dieses kleine Gebäude, das war nichts im Vergleich zu seinen täglichen Joggingstrecken. Er legte Tag für Tag jeden Abend um die zehn Kilometer zurück. Seinen Luxuskörper musste er schließlich in Form halten. Jeden zweiten Samstag ging er auch in den Kraftraum. Außerdem war er körperliche Anstrengung mehr als nur gewohnt. Manche genoss er richtig…
 

„Nun denn, nach dem das geklärt wäre, lasst uns einige weitere Dinge festlegen. In diesem Haus sind gewisse Regeln und Ordnungen zu befolgen“, der Lehrer blickte herausfordernd zu Mariku. Dieser erwiderte nur stumm den Blick auf einen Kommentar verzichtend. Sollte der andere doch erst diese Regeln auflisten.

„Das Frühstück gibt es immer um acht Uhr morgens und ihr werdet pünktlich zu ihm erscheinen, dafür sorge ich schon persönlich.“

Marikus Miene verfinsterte sich. Sollte der andere es doch versuchen, ihn würde nichts auf dieser Welt um acht Uhr morgens aus dem Bett kriegen, höchstens Maliks verführerische Lippen, doch der Besitzer dieser war ja weit genug weg.

„In diesem Haus werden nur wir drei für den ganzen folgenden Monat leben, somit wechseln wir uns beim Frühstückmachen immer ab“, setzte der Weißhaarige seine Liste fort.

Ein teuflisches Grinsen stahl sich auf Marikus Gesicht. Sollte es jemals dazu kommen, dass er ja doch morgens um acht Frühstück zubereiten sollte, was er aber stak anzweifelte, so würden sich die anderen eindeutig eine Lebensmittelvergiftung oder zumindest eine Magenverstimmung holen. Aber wenn sie unbedingt wollten…

„Das gleiche gilt auch für Mittagessen und Abendessen.“

Das Grinsen auf Marikus Lippen wurde breiter. Das konnte ja noch was werden.
 

Ryou schielte besorgt zu dem anderen Schüler. Der konnte doch hundertprozentig nicht kochen und das sadistische Grinsen, das sich gerade auf Marikus Gesicht ausbreitete, beteuerte ihn nur noch mehr in seinem Glauben. Er selbst dagegen beherrschte das Kochen einigermaßen. Immerhin lebte er seit der Mittelschule allein und jobbte in einem Lokal, wo er öfters mal dem Küchenchef bei der Zubereitung des Essens über die Schulter blickte.
 

„Trainiert wird“, fuhr Bakura fort, „drei Mal am Tag. Zwei Stunden nach dem Frühstück und dann noch zwei Mal nachmittags. Den Abend habt ihr frei, sofern ihr da in der Lage seid noch etwas zu machen.“ Ein Grinsen legte sich auf die Lippen des Lehrers. Er schien schon voller Vorfreude zu brennen.

„Nun denn, weitere Regeln, sofern sie nötig sind, ergeben sich dann. Lasst uns zum Aikido übergehen.“

Bakura nickte in Richtung des Portraits, welches Ryou schon vor einer Weile aufgefallen war.

„Aikido. Gegründet von Morihei Ueshiba, wessen Portrait ihr hier sehen könnt. Ai, welches für die Harmonie steht, das Ki, unsere innere Energie, und Do, der Weg. Aikido ist eine Kampfkunst basierend auf Selbstverteidigung.“

Ein verächtliches Schnauben seitens Mariku ertönte. Er hatte schon immer nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ gelebt.

„Ihr werdet also weniger Angriffs- als Verteidigungstechniken lernen. Doch“, Bakuras Blick legte sich auf Mariku, „sind diese Verteidigungen nicht minder gefährlich und durchaus effektiv, sogar effektiver als Angriffe. Es gibt zwei Arten von Techniken: Wurftechnik und Hebeltechniken. Doch bevor ihr diese lernt, müsst ihr lernen richtig zu fallen.“

Beide Schüler schauten verwundert auf. Fallen?

„Und natürlich muss eure mentale Einstellung entsprechend sein, sonst nützt euch auch die beste Technik der Welt nichts.“
 

Definitiv nicht. Nie und nimmer. Diese Kampfkunstart war nichts für ihn. Wie hatte es der werte Herr Lehrer genannt? Roll- und Fallschuhe. Das war jetzt eindeutig die Roll. Und niemand, auch wirklich niemand, würde ihn jetzt dazu bringen sich hinzulegen und eine Vorwärtsrolle zu machen, die eher seitlich als vorwärts ging, Marikus Ansicht nach. Sie sollten sich wie ein Rad fühlen und dementsprechend über den Arm rundförmig rollen, wobei dieser auf keinen Fall geknickt werden durfte. Der Kopf sollte den Boden in keinem Punkt berühren und die Rolle ging nicht über den Rücken, sondern Arm und Schulter. Aha. Ja sicher doch. Mariku gestand sich nicht oft ein, dass er etwas nicht konnte, aber nun musste er es tun. Das da konnte er sicherlich nicht auf Anhieb und sich mit dummen Versuchen zum Affen zu machen hatte er nicht vor. Die gescheiterten Versuche des Weißhaars sahen schon kläglich genug aus. Er würde sich mit Sicherheit nicht lächerlich machen. Vor allem nicht vor diesem grinsenden, ach so stolzen Bakura. Nee, noch was?!
 

„Was ist, Mariku? Traust du es dir nicht zu? Dabei hast du die Rückwärtsrolle so gut hinbekommen.“

Spöttisch. Provozierend. Herausfordernd.

Genau so klang es.

Mariku knurrte. Und ob er es konnte! …Können würde.

Mit einem nicht weniger hämischen Grinsen auf den Lippen trat er näher an seinen Lehrer.

„Warte bis wir zu den Wurftechniken kommen. Ich darf doch sicherlich an dir üben, nicht wahr? Wir wollen ja nicht das Weißhaar brechen“, sagte er ruhig, doch etwas Lauerndes lag in seiner Stimme.

„Du drohst mir, Würstchen?“

„Du wirst dich noch unter mir winden, Schnecke!“

Es war nur ein Augenblick, den er leider vollkommen verpasst hatte. Denn nun lag er schon auf seinem Bauch am Boden. Sein Arm wurde zur Seite abgelegt, anscheinend hatte man ihn genau mit Hilfe von diesem zu Boden geworfen. Ein kurzer Schmerz stach in seinen Arm, als er versuchte wieder aufzustehen.

„Das war ein Ude-Osae, Katatetori aus dem Ai-Hanmi Angriff. Eine Hebeltechnik“, sagte eine amüsierte Stimme irgendwo von links oben.

Dann wurde sein Arm losgelassen und er richtete sich langsam auf, ein unzufriedenes Knurren von sich gebend. Sein Blick fiel auf Ryou. Ach nö. Dieser sah ja aus, als ob er gleich voller Bewunderung und Hingabe sich freiwillig vor Bakuras Füße werfen würde, um diesen anzubeten.

Ein weiteres Knurren war Marikus Meinung dazu.

„Ich denke für heute machen wir Schluss. Ihr hattet sicherlich eine ermüdende Reise hinter euch, so reicht die eine Stunde als Einführung. Bald gibt es Abendessen, welches ich mal netterweise selbst zubereite. Ihr könnt nun gehen.“

Marikus Augen brannte mit dem Versprechen nach Rache, als er das Zimmer verließ.

Kochunterricht

„AH!“

Ein Schrei, der bis in den tiefen Wald zu hören war. Ein Schrei voller Entsetzen, dicht gefolgt von einem Wasserfall aus Flüchen. Etwas, was der Blonde sehr extravagant und recht kunstvoll konnte.

Der Grund?

Ein sehr zufriedener Aikidomeister mit einem leeren Topf in der Hand. Inzwischen leeren.

Der Inhalt war nun verteilt auf Mariku – eiskaltes Wasser. Von seinem Kinn fielen einzelne Tropfen, landeten auf den nassen T-Shirt und Decke. Wurden vom Stoff eingesaugt, verschwanden im Labyrinth von Fäden. Seine Haare lagen flach, wurden vom Gewicht der Flüssigkeit nach unten gedrückt. Sein Blick verriet Mordlust, sein Gesicht erklärte Krieg. Seine Seele schrie voller Empörung nach Rache.

„Bakura“, knurrte er bedrohlich.

Jeder andere hätte sich an dieser Stelle wohl vor Angst zitternd in eine dunkle Ecke verkrochen. Jedoch war Bakura gewiss nicht jeder. Sein Grinsen wurde nur noch breiter und fieser.

„Zeit zum Aufstehen, Dornröschen. Heute bist du dran mit Frühstück machen“, flötete er fröhlich.

Ihm machte es sichtlich Spaß den Langschläfer so zu quälen.

Dieser Hohn und das Vergnügen, die sehr offen im Gesicht Bakuras zu lesen waren, ließen den Blonden die gestrige Demonstration der Fähigkeiten seines Meisters vergessen. Die Augen zu Schlitzen verengt und mit einem tiefen Knurren in der Kehle, sprang er auf seinen auserkorenen Feind wie ein geübtes Raubtier.

Doch die Beute war nicht so leicht zu erlegen, wie er es sich gewünscht hätte. Bakura reagierte schnell wie der Blitz – da war keine einzige Überraschungssekunde gewesen, als ob er den Angriff vorausgesehen hatte.

Rums.

Ein Laut, der sich schnell im Haus verbreitete, jedem und allem von der Niederlage des kampflustigen Schülers berichtend.
 

Schon wieder hatte er nicht die geringste Ahnung wie er auf den Boden gelandet war. Eine weitere für ihn undurchschaubare aber leider auch effektive Technik. Er musste sich ergeben.

„Du bist zu linear. Direkter Angriff ohne Taktik. Du musst noch viel über den Körper und seine empfindlichen Stellen lernen.“

Diesen Vortrag hielt Bakura gut gelaunt, während er seinen triefenden Schüler zur Küche beförderte.

Mariku erweckte zweifellos den Anschein als würde er nicht zuhören und dem Gedanken an verschiedene Varianten des Mordens nachgehen. Doch er hörte ganz genau zu, jedes Wort sich einprägend. Man muss seinen Feind und dessen Stärken kennen.

Diese Szene, die auf Außenseiter wie aus einer Komödie entrissen wirken durfte, wurde durch ein gemeinsames Stauen der beiden Akteure unterbrochen.

Wasser, in einem Topf auf dem Herd, dampfte ruhig vor sich hin. Ein Messer zerteilte lautstark eine Karotte. Der damit Hantierende summte glücklich eine Melodie.
 

„Ryou.“

Die Stimme Bakuras klang gleichzeitig mahnend, kühl und resigniert. Was hatte er auch erwartet? Ein kaum hörbares Seufzen entglitt ihm, als sein Schüler sich erschrocken umdrehte und dabei fast das Messer aus der Hand fallen ließ.

Nun starrte ihn ein braunes Augenpaar verschämt und schuldbewusst an. Mit einer Priese Angst serviert.
 

Mariku lachte laut auf im Hintergrund. Diese Wendung war eine sehr erfreuliche für ihn. Er stellte sich schon auf einen freien Morgen ein, den er in seinem Bett verbringen konnte.

„Hey, mich braucht hier ja niemand mehr, dann kann ich auch gehen!“

Mit diesen Worten drehte sich der grinsende Blondschopf um und war im Begriff abzuhauen, als ein stählender Griff ihn aufhielt.

Hätte ja klappen können, seufzte Mariku innerlich.
 

Ryou starrte inzwischen nicht mehr seinen Meister, sondern den Boden zu seinen Füßen an. Eine sehr interessante Kalktafel. Eine schuldbewusste Röte umzeichnete seine Wangen.

„Gut.“ Bakura schien viel mehr zu sich selbst, als zu den anderen zu sprechen. „Kleine Planänderung. Wir kochen zusammen, um Mariku in diese Kunst einzuweihen.“
 

Nicht viel später schwebte Ryou über dem kochenden Inhalt des Topfes, der sich langsam mit verschiedenen Zutaten füllte, überglücklich darüber, dass er nicht mal eine Predigt als Strafe erhalten hatte und dass er weiterhin in der Küche verbleiben durfte. Es war ihm von Anfang an nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, diese heiligen Stätte dem Barbaren Mariku zu überlassen, der ihnen mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit einige Verdauungsstörungen eingebracht hätte.

Daneben schnitt nun Mariku eine Gurke. Eine Tätigkeit, die ihm als Anfänger sowohl von Bakura als auch von Ryou zugetraut wurde. Obwohl letzterer seine Zustimmung nur mit einem bedenklichen Blick Richtung Messer geäußert hatte. Doch das Umgehen mit kurzen und mittellangen, metallischen, „kalten“ Waffen war eine natürliche Begabung Marikus. Schnell erreichte er in seiner Tätigkeit als Gemüseschneider sogar einen fortgeschrittenen Grad.
 

Es dauerte nicht lange bis das Frühstück angerichtet war. Drei in dieser Morgenfrühe schon recht hungrige junge Männer erfreuten sich des Geschmackes von einfacher Miso Suppe und einem Salat.

Bei einer Tasse grünem Tee, die auf das Frühstück folgte, verkündete Bakura die neue Ordnung.

„Ihr werdet ab sofort immer zu zweit kochen.“

Ein wölfisches Grinsen stahl sich auf Marikus Lippen. Der Kleine würde also kochen und er schlafen.

„Unter meiner Aufsicht“, fügte der Aikidomeister unmissverständlich hinzu, seinen Blick auf Mariku richtend.

Die vorausgegangen Freude starb innerhalb von Augenblicken im Inneren Marikus. Na wundervoll. Seine Gedanken sprangen zu Malik und seinem Versprechen, um die wenigen Tröpfchen Motivation, die sich noch tapfer in seinem Bewusstsein hielten, zu erheitern und zu stärken. Was soll's, dachte sich der blonde Wolf ergeben.
 

Ryou hatte nur genickt auf die neue Regelung hin. Mit der Aufsicht seitens Bakura würde das schon funktionieren. An sich machte das Kochen ihm Spaß, demnach war mehr als bereit es öfters als anfangs vorgesehen zu tun. Ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen. Kochen war eine Tätigkeit, der er sich völlig hingeben konnte. Eine Tätigkeit bei der es ihn nicht störte, wenn andere dabei waren.
 

„Nun. Es ist kurz vor neun. Auf zum Training.“
 

Es war schon kurz nach neun, als die Schüler endlich im Dojo eintrafen. Sie hatten Zeit gebraucht, um ihre weißen Trainingsanzüge anzuziehen und die Gürtel richtig zu binden. Vor allem die Gürtel waren ein Problem. Sie neigten dazu zu stören oder wieder aufzugehen, wenn man den korrekten Bindegriff nicht kannte. Das traf auf sie beide zu.

Bakura erwartete seine Schüler im Seiza-Sitz, wie es die Tradition vorschrieb. Ein böses Grinsen verkündete Ryou und Bakura, dass ihre Verspätung Konsequenzen haben würde. Interessanterweise kamen beide wieder gemeinsam in dem Saal an.

Sobald die beiden Schüler sich hingesetzt hatten, sprach Bakura.

„Ihr seid sieben Minuten zu spät. Wir hatten uns für neun Uhr verabredet. Dieses Vergehen an meinen Regeln hat zur Folge, dass es heute kein Abendessen gibt.“

Die Worte hatten eine geteilte Wirkung auf die Schuldigen. Ryou sah beschämt und feuerrot zu Boden, wie so oft. Was das fehlende Abendessen anging, so hatte er keine weiteren Bedenken. Mit zwei anderen Mahlzeiten würde er den Abend auch ohne Essen überstehen.

Mariku blieb sich selbst treu und schnaubte abfällig. Dabei sah er Bakura herausfordernd an. Als ob Abendessen so wichtig für ihn wäre! Er konnte auch ohne! Sogar jeden Tag!
 

„Zudem werdet ihr heute Nachmittag eure siebzig Runden um das Dojo rennen. Wie versprochen, zehn Runden pro Minute, die ihr zu spät seid.“

Ryou sog tief und laut die Luft ein. Seine Augen sahen vor Schreck geweitet zu seinem Lehrmeister. Oh nein! Siebzig! Es war, als würde sein Körper schon jetzt zu zittern beginnen. Allein bei dem Gedanken…
 

Bakura ignorierte die übertriebene Reaktion und fuhr fort.

„Unsere zwei Stunden Morgentraining werden immer aus einer langen Aufwärmphase für eure Glieder bestehen und dem Üben von Grundtechniken, wie die Ausweichbewegungen und die Fallschule. Die konkreten Techniken werde ich euch in den Mittags- und Nachmittagsstunden beibringen. Fangen wir an.“

Bakura erhob sich, was ihm beide Schüler sofort nachmachten. Das Ritual, das man zum Anfang des Unterrichts immer vollzog, hatten sie gestern schon gesehen und gelernt.

Bakura setzte sich wieder in den Seiza-Sitz. Seine Augen geschlossen, in einer Haltung der inneren Ruhe, blieb er sitzen. Das gleiche Taten die beiden Schüler. Nach einigen stillen Momenten, wo jeder mit sich selbst im Reinen sein sollte, klatschte Bakura in die Hände und die drei neigten ihre Köpfe gegen Boden. Wieder wurde es still, während Bakura sich, weiterhin in seiner Sitzhaltung, zum Portrait an der Wand drehte. Ein weiteres Klatschen und eine Verbeugung folgten.

„Nun, fangen wir mit einigen Laufübungen an.“
 

Nach ein paar Runden im Dojo, die alle drei in verschiedenen Stilen liefen, folgten ausgiebige Dehnungsübungen. Nach fast einer Stunde „Aufwärmen“ – was viel mehr ebenfalls hartes Training war, wie Ryou schnell feststellte, übergingen Lehrer und die Schüler zu den Ausweichbewegungen, auch Sabaki genannt. Taisabaki und Ashisabaki, diese beiden Formen erlernten Mariku und Ryou in der nachfolgenden Zeit, obgleich der Sinn dieser Bewegungen ihnen bis zum praktischen Üben der Verteidigungstechniken noch schleierhaft blieb. Die Ausweichbewegungen waren Beinschritte, die stark ans Tanzen erinnerten. „Geschmeidig, aber sicher“, hatte Bakura erläutert. „Immer im Gleichgewicht bleiben“ war das wichtigste Gebot.

Vorerst ließ Bakura sie üben, ohne direktes Eingreifen oder Belehren. Aikido war ein Weg des Ausprobierens. Zumindest zu Anfang.
 

Nach für Ryou sehr langen zwei Stunden und für Mariku recht kurzen zwei Stunden, wobei die letzte halbe Stunde intensiver Fallschule sie deutlich verlängert hatte, verkündete Bakura den Beginn einer einstündigen Pause.

„Und seid diesmal pünktlich.“
 

Ryou wusste nicht genau was er mit dieser Zeit anfangen sollte. Mariku hatte sich sofort in sein Zimmer verzogen, um zu schlafen. Nun stand Ryou unschlüssig vor seinem eigenen Zimmer, welches sich im gleichen Flur befand. Schließlich entschied er sich seine geliebte Natur von draußen zu genießen, anstatt durch ein Fensterglas hindurch. So ging er zurück Richtung Dojo, denn in dem vorausgehenden Zimmer gab es eine Terrasse. Bald erreichte er diese und zuckte kurz zusammen. Auf dem Holzboden saß auch sein Lehrer und rauchte. Der Qualm stieg in merkwürdigen Schleierlinien.

Seine anfängliche Überraschung und die Vorliebe für das Alleinsein überwindend, nickte Ryou und setzte sich daneben.

Bakura beachtete seinen Schüler nicht, sondern starrte den Wald und die dahinter in den Himmel ragenden Berge an. Auch Ryou richtete seinen Blick darauf.

Wieso war er hier? Auf das Flehen seines Chefs hin, natürlich. Doch, gab es auch einen anderen Grund? Wollte er hier sein, hier bleiben? Die Natur, die ihn umgab, war so frisch und nah wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Das Aufwachsen in einer Großstadt hatte ihm wenige glückliche Momente für seine Naturliebe geschenkt. Doch vielleicht konnte er dies wenigstens in für diesen Monat ändern.

Ryou lächelte sanft.

Wind

Mariku lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er wollte sich eigentlich hinlegen und den geraubten Morgenschlaf wieder nachholen, doch sein Geist und sein Körper waren wach. Sein Gesicht war ungewöhnlich ausdruckslos. Kein Funken Provokation, Überlegenheit oder Herausforderung waren darin zu sehen.

„Taisabaki“, flüsterte er leise.

In seinen Gedanken ging er die Lektionen des Vormittags noch einmal durch. Er würde sich alles genau einprägen und alles perfekt umsetzten. Dann würde er gegen diesen Möchtegernmeister ankommen. Ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen!

Wäre dann vielleicht auch Malik endlich stolz auf ihn?
 

Ryou war mit ganzem Körper und fast ganzer Seele eingenommen von dem Bild, das sich ihm bot. Das zartgrüne Gras direkt vor ihm. Die dahinter beginnenden braunen, dicken und weißen, dünnen Stämme mit ihren Kronen in allen möglichen Grüntönen. Verschiedenfarbige Blüten hier und da. Ein Eichhörnchen, das den Baum hochjagte. Hochgewachsene Gräser, die sich im leichten Wind zur Erde neigten. Der fröhliche Gesang der Vögel. Und hinter dem scheinbar endlosen Wald ragten die riesigen Berge in die Höhe. Aus der Ferne schienen sie mit einer Moosschicht bedeckt zu sein, doch eigentlich war es immer noch der Wald.

Ryou schluckte. Es zog ihn zu der kahlen Spitze des größeren Berges. Es war als würde etwas in ihm danach schreien und wild um sich schlagen, um den Wunsch zu unterstreichen. Doch er hatte nicht den Mut diesem Wunsch nachzugehen.

„Woran denkst du?“

Die Stimme Bakuras riss Ryou aus seinem merkwürdigen Zustand der inneren Zerrissenheit und äußeren Ruhe.

„Ich…“, er schluckte wieder, den Blick weiterhin auf den Berg vor ihm gerichtet. „Ich würde gerne auf diesen Berg steigen.“

Nachdem er seinen Wunsch geäußert hatte, war es als würde seine Seele erleichtert aufatmen. Der innere Streit beruhigte sich, zumindest vorerst.

Einige Minuten lang herrschte Schweigen. Ryou genoss seine innere Stille. In diesem Moment konnte er voll und ganz sich dem Panorama geben und dieses in sein Inneres lassen. Die Klänge der Natur erfüllten ihn. Seine Augen glänzten vor Glück.

„Warum tust du es dann nicht einfach?“, sprach Bakura schließlich. Sein Tonfall klang weder herrisch noch belustigt. Ryou konnte die Stimme nicht ganz deuten.
 

Die Frage überrumpelte den Kleinen – das konnte Bakura genau sehen. Das kurze Zusammenzucken, der Blick, der dann zu ihm jagte und nun diese Unschlüssigkeit in den Augen seines Schülers. Es war, als ob Ryou nicht wüsste, ob er antworten sollte. Als würde er Angst vor der Reaktion haben, sollte er es doch tun. Dabei wusste Bakura genau, was dem Kleinen durch den Kopf ging. Angst es nicht zu schaffen, wenn er es probieren würde. Mit aller Macht probieren. Es war eine grausame Erfahrung zu sehen wo die eigenen Grenzen lagen. Vor allem, wenn diese viel niedriger lagen, als man es erwartet oder gehofft hatte. Doch war dies auch eine sehr wertvolle Erfahrung. Man durfte sich nur nicht davon unterkriegen lassen.

„Lass dir Zeit, die du brauchst.“

Schon wieder schien der Kleine auf seine Worte hin verwirrt.

Er würde es schon verstehen. Wahrscheinlich.

„Das Training fängt gleich an, lass uns gehen.“
 

Pünktlich. Motiviert. Entschlossen.

Genau das waren die beiden Schüler, die nun geduldig im Seiza vor ihm saßen.

Die großen Schiebetüren des Dojos waren geöffnet, um frische Luft herein zulassen. Wind wehte hinein, am Boden des Dojos entlang, wirbelte Staub hoch zu den drei Anwesenden. Wühlte die zotteligen blonden Haare auf. Die glatten weißen Strähnen. Das Durcheinander der langen weißen Mähne.

Die zwei Augenpaare, die den Lehrer anstarrten, schienen diesem Wind zu trotzen und doch blieb alles in alter Tradition unbeweglich.

Ein Klatschen in die Hände.

Verbeugungen.

„Lasst uns beginnen.“
 

Nach harten zwei Stunden, die ruhig anfingen und sich immer mehr in den Kategorien Kraftaufwand und Intension steigerten, lehnte Ryou erschöpft an die Wand. Er war zwar noch nicht am Ende seiner Kräfte, aber er war solch eine Form von Anstrengung nicht in dem Maße gewohnt. Neben ihm stand eine Wasserflasche. Bakura hatte es ihnen erlaubt zwischendurch etwas zu trinken zu holen. Auf Grund ihres Anfängerstatus konnten Ryou und Mariku noch solche Extras in mitten des Unterrichts genießen, doch wie ihnen erklärt wurde, würde sich das schon bald ändern.
 

Dankbar öffnete Ryou die halbleere Flasche und trank mit großen Schlucken das kühle Wasser. Seine Augen ließen dabei für keinen Augenblick von seinem Lehrmeister und Mariku ab. Der merkwürdige Tanz, den die beiden aufführten, war dafür zu faszinierend. Immer wenn Mariku angriff und Bakura den Angriff mit einem Shiho-Nage parierte, musste Ryou förmlich die Luft anhalten in der Angst er könnte einen Augenblick verpassen. Die flüssigen aber effektiven Bewegungen Bakuras boten einen anmutigen Anblick, den man kaum von einer Kampfsportart erwarten würde. Doch gleichzeitig wirkte die Technik, oder vielleicht auch nur Bakuras Ausführung dieser, listig und überlegen – was Mariku nur noch mehr reizte.

Shiho-Nage war die Technik, mit der sie heute angefangen hatten. Eine Wurftechnik, aber ohne einen wirklichen Wurf auf ihrem Niveau sondern dem berühmten Abrollen stattdessen – da waren die gehassten Rollen Marikus wieder aufgetaucht.

Anfangs hatte Ryou mit Mariku trainiert, doch immer öfters hatte sich Ryou eine Pause genommen – die fehlende Ausdauer machte sich schnell bemerkbar. Während dieser Zeit hatte Mariku Bakura immer wieder angegriffen, um nur Sekunden später sich auf dem Boden abzurollen. Doch auch Mariku durfte die neue – die erste – Technik an dem Lehrer ausprobieren und Ryous Ansicht nach machte er Fortschritte, während er selbst doch meist kläglich an der Ausführung scheiterte.
 

Nach einer weiteren Viertelstunde verkündete Bakura das Ende des Trainings für diesen Tag.

„Der erste Tag ist immer der kürzeste. Doch vergesst nicht, ihr schuldet mir noch siebzig Runden! Ihr habt zwei Minuten, um was zu trinken und dann ab nach draußen.“

Ein sadistisch angehauchtes Grinsen bestätigte, dass Bakura es bitter ernst meinte.

Ryou spürte, wie sein Kopf anfing sich leicht zu drehen. Er hatte es total vergessen! Dabei war er jetzt schon erschöpft! Wie sollte er nur… Die schreckgeweiteten Augen sahen zu der Tür, die nach draußen führte. Die Sonne schien munter auf die Erde herab, doch das machte den Weg um das Dojo nicht attraktiver. Eher schlimmer.

Was hätte er nur gegeben, um diesen unmöglichen siebzig Runden zu entkommen. Aber vergeblich zitterte sein Körper unter dem mahnenden Blick seines Lehrmeisters. So ergab sich Ryou der bevorstehenden Qual.
 

Seine Lungen schmerzten. Stechend. Brennend. Es war als könnte er keinen weiteren Atemzug mehr machen. Und doch – sein Körper atmete von alleine weiter. Seine Beine fühlten sich wie Blei an. Der Körper zitterte. Immer wieder verschwamm der Blick vor seinen Augen. Er konnte kaum noch die Arme oben halten. Aufhören! Aufhören! Das hatte alles in ihm geschrien, lange. Doch nun hörte er nicht einmal das in seinem Inneren. Es war, als wäre alles egal. Er würde laufen. Laufen. Weiter laufen.
 

Ryou lag in seinem Bett und schlief tief und fest trotz der Tatsache, dass es noch sehr früh war. Zufriedenheit lag dicht neben der Erschöpfung in seinen Zügen. Er hatte lange durchgehalten. Er war zwar langsam, Mariku hatte die Runden mindestens doppelt so schnell hinter sich gehabt, aber er hatte bis zum Ende durchgehalten. Immer wieder waren seine Schritte so schleppend, dass es viel mehr an Gehen als Rennen erinnerte, doch er hatte sich weiter getrieben. Unter dem wachsamen Blick Bakuras, der die Runden mitzählte, wollte er nicht aufgeben. Zwanzig. Dreißig. Vierzig. Fünfzig. Sechzig. Anfangs hatte er die Ansagen mit Aussichtslosigkeit entgegengenommen, doch dann fingen sie überraschenderweise an, ihn anzuspornen. Und schließlich hatte er es geschafft. Siebzig. Das war der erste Schritt zu seinem Berg.

Er war tot ins Bett gefallen, keine einzige Sekunde hatte ihn noch vom erholsamen Schlaf trennen können.
 

Erstaunlich. Es war mehr, als er erwartet hatte. Er hatte schon anfangs einen starken Geist vermutet, der irgendwo verborgen in dem Jungen schlummern musste. Jedoch hatte er nicht damit gerechnet diesen so schnell und vor allem auf diese Weise herauszulocken. Ein zufriedenes Lächeln voller Vorfreude legte sich auf die Lippen Bakuras. Das würde sicher ein interessanter Monat werden.

Fast ungeduldig nippte er an seinem Sake-Schälchen. Ein inneres Bedürfnis breitete sich mit nagender Sturheit in ihm aus. Er wollte den beiden vielversprechenden Schülern etwas beibringen. Doch gleichzeitig wollte er sie zu den Besten machen. Zu den Besten der Besten. Um sie dann zu zerbrechen.

Die Zikaden erfüllten mit ihrem Klang die Nacht. Der Mond schien auf die Terrasse, auf der Bakura trank. Es war sein Lieblingsplatz. Schon seit langer Zeit… Seit er damals verloren hatte.

Was er den beiden Jungs alles beibringen können würde in diesem kurzen Monat. Nur ein einziger Monat war viel zu wenig für eine Kunst, die Jahre erforderte. Die langen weißen Strähnen wiegten sich in dem Wind hin und her. Was würde dieser neue Wind mit sich bringen? Erfolg, Niederlage? Wonach strebten denn seine Schüler und war dies letztlich nicht egal? Wusste er, wonach er selbst strebte?

Ein Lächeln, das in die Dunkelheit hineinpasste, als ob es aus dieser geboren wurde. Ein Raubtier der Nacht, das seine Beute gesichtet hatte. Das sich in Vorfreude auf seine Beute schon im Gras wälzte.
 

Mariku starrte die Sterne aus dem Fenster an. Er konnte nicht einschlafen, was nicht weiter verwunderlich war. Es lag nicht in seiner Gewohnheit vor Mitternacht ins Bett zu gehen. Nach den siebzig Runden hatte er massig Zeit. Er hatte noch Ryous Bemühungen zugeschaut. Innerlich zollte er diesem etwas Anerkennung. Es war eine beachtliche Strecke für jemand untrainierten. Und es würde sicherlich zu sehr viel Muskelkater führen.

Einige Stunden hatte er mit dem illegal eingeführten Nintendo Advance verbracht, doch allzu viel Zeit konnte man damit auch nicht totschlagen.

Mariku seufzte.

So viel Zeit brachte ihn zum Nachdenken und das endete meist nicht gut.

Er hatte heute eine akzeptable Leistung erbracht, doch das viel zu kurze Training hatte ihn genervt. Wenn es nach ihm ginge, so hätten sie ruhig auch das späte Training machen können. Er hatte nur einen Monat Zeit, um Bakura zu schlagen, doch das würde er gewiss schaffen! Und in einem Monat würde er dann stolz sein Ergebnis Malik präsentieren.

Er würde erst zufrieden sein, wenn er Bakura besiegt hatte.

Ein weiteres Seufzen.

Manchmal war es kein leichter Weg sich selbst zu beweisen.

Erblühen

Schmerz. Es schmerzte. Was? Alles. Mit großer Mühe schlug Ryou seine Augen auf. Er fühlte sich kaputt, trotz des vielen Schlafes. Seine Glieder krächzten und protestierten gegen jede Bewegung. Muskelkater konnte doch nicht so schlimm sein!

Mit purer Willenskraft setze Ryou sich auf und versuchte probeweise seine Arme nach oben und unten zu bewegen. Das ging. Sogar ohne irgendwelche weiteren Schmerzen – gut. Als nächstes schwang er seine Beine aus dem Bett, weiterhin sitzend. Während dieser Bewegung sah er auf und erstarrte.

Die ersten Sonnenstrahlen ließen die wilden Strähnen glitzern. Das Licht, welches von den Augen wieder zurück hinter die Scheibe geworfen wurde, ließ das Braun golden wirken. Ein nachdenklicher Ausdruck gepaart mit vollkommener äußerer Ruhe oder stetiger Konzentration war auf das Waldstück vor dem Fenster gerichtet. Ryou sah Kraft und Energie, die bis in die Fingerspitzen reichten. Für einen Augenblick war es sich sicher, dass sie Blitze entstehen lassen konnten.

Eine Gänsehaut überfiel Ryou bei dem Anblick Bakuras an seinem Fenster, jeglichen Schlaf aus ihm vertreibend. Etwas Unerklärliches, nicht greifbar, nahm für diesen Augenblick von Ryou Besitz. Doch Bakura drehte sich zu ihm und die kribbelnde Anspannung verschwand. Schlagartig fühlte Ryou wieder seine schweren und schmerzenden Beine.

„Guten Morgen“, begrüßte ihn Bakura mit der üblichen Mischung aus Freundlichkeit und Sadismus.

„Morgen…“, murmelte Ryou leise.

Die Gestalt seines Lehrmeisters wirkte weiterhin etwas einschüchternd auf ihn. Und dieser eine Moment…

„Na, Muskelkater?“

Röte stieg schlagartig ins Gesicht Ryous. Oh ja… und wie. Das wäre auch die ehrliche Antwort auf die Frage gewesen, doch etwas hielt ihn zurück sie auszusprechen. Er wollte diese Schwäche nicht seinem Lehrer zeigen. Zum ersten Mal, soweit er sich erinnern konnte, hatte er das Bedürfnis seine körperliche Unfähigkeit zu verstecken. Er wollte nicht, dass Bakura wusste, wie unsportlich er war. Wie…schwach. Lang vergessene Scham stieg in ihm auf.

So wandte er den Blick ab und richtete ihn auf den Boden zu seinen Füßen. Ein kaum merkliches Nicken folgte, während er mit gesenkter Stimme flüsterte: „Etwas.“

Er wollte die Schmerzen, die seine Glieder beherrschten, verbergen. Doch er wollte Bakura nicht anlügen. Sein neues Vorbild. Er wollte ihn nicht enttäuschen, er wollte ihn nicht vergraulen. Er wollte weiterhin diese immense Ausstrahlung des anderen spüren. Wollte weiterhin etwas von dem Licht des anderen abkriegen. Diese Schönheit beobachten dürfen.

Ryou wusste, dass in diesem Augenblick die Röte auf seinen Wangen bestimmt eine Spur dunkler wurde. Was dachte er da nur?

Plötzlich fassten Finger sein Kinn, hoben zogen seinen Kopf hoch. So dass er mit den funkelnden Augen direkt konfrontiert wurde. Mit diesem Blick, den er so gerne nur für sich hätte. Den er so gerne selber können würde.

„Ich kenne da ein gutes Mittel…“

Ein spitzbübisches Grinsen jagte Ryou eine Gänsehaut über den Rücken. Was hatte er nur zu erwarten?!
 

Himmlisch! Herrlich! Er fühlte sich wie im Paradies. Diese Wärme, die sich überall um seine Haut legte. Die eine wohlige Hitze in durch seine Adern jagte. Er fühlte sich eigenartig befreit. So als ob es gestern nicht gegeben hätte. Als ob in ihm kein Gefühl der Scham tobte. Es war ruhig und angenehm. Entspannend. Die Verkrampfungen schienen sich zu lösen. Stück für Stück.

Mit kreisenden Bewegungen rieb er eine zähe Flüssigkeit in seine Haut. Besonders vorsichtig an den Stellen, an denen der Muskelkater ihn bei jeder Bewegung schmerzlich an die Überanstrengung vom Vortag erinnerte. Die Lotion fühlte sich kühl auf seiner Haut an. Wie Küsse einer Mitternachtsbrise im späten Sommer.

Wieder spürte Ryou die Hitze in seine Wangen aufsteigen und sank etwas tiefer in das heiße Wasser. Seit vorhin schon kreisten solch merkwürdige Gedanken in seinem Kopf. Schlichen sich durch, ihm selbst unbekannte, Hintertüren immer wieder in sein Bewusstsein. Gedanken, die durch Kitsch und Abwegigkeit ausgezeichnet waren. Was das wohl zu bedeuten hatte? Bestimmt war es die paradiesische Landschaft, die sein vorläufiges Heim umgab, die ihn beeinflusste.
 

Bakura betrat schmunzelnd die Küche. Dort erwartete ihn schon die zweite Überraschung für an diesem Morgen: ein wacher und wartender Mariku. Die erste Überraschung war die äußerst entzückende Reaktion Ryous auf seinen Annäherungsversuch gewesen, den Bakura keineswegs ernst gemeint hatte.

„Was hast du denn für eine gute Laune? Is‘ ja beängstigend“, begrüßte Mariku seinen Lehrer. Trotz des tadelloses Auftretens – sogar die Frisur war schon professional zerzaust und stand in alle möglichen Richtungen ab – konnte man Mariku leicht ansehen, wie sehr ihm die frühe Uhrzeit zuwider war, ihn regelrecht fertig machte. Noch kleine aber dunkle Ringe zierten die bronzene Farbe unter den Augen Marikus. Seine Miene sprach Bänder darüber, was sie mit jedem, der ihn ansprechen würde, vorhatte. Die ganze Haltung war eine Mischung aus Schlaffheit und Angriffslust.

Ein Paradebeispiel eines Morgenmuffels.

„Huch, heute muss ich dich ja gar nicht wecken, Blondchen. Dabei hatte ich mich schon so sehr darauf gefreut“, überging Bakura die Frage, während er sich zu dem Kühlschrank begab und die Zutaten für das Frühstück holte.
 

Mariku knurrte. Er wusste nicht so recht, worüber er sich mehr aufregte sollte: über die offene Beleidigung „Blondchen“, darüber, dass seine Frage ebenso offensichtlich ignoriert wurde, oder über dieses lasziv-sadistische Lächeln auf den Lippen Bakuras, als er davon sprach ihn wieder wecken zu wollen? Schwierige Entscheidung.

Ein zweites, tieferes und dadurch lauteres Knurren, das schon an Grollen grenzte, sollte seinen ganzen Frust über diesen Morgen zum Ausdruck bringen, doch wurde es von einem „Na, na“ seitens Bakura absolut verharmlost und seine Wut in der Kehle erstickt. Dafür traf Mariku nun die Resignation.

Schweigsam erhob er sich vom Stuhl, auf dem er gewartet hatte, und gesellte sich zu Bakura an die Anrichte.

„Lieber quäle ich mich selbst und habe die Kontrolle über mein Aufwachen, als das ich mich nochmal von dir mit einer kalten Dusche aus dem Bett holen lasse“, erklärte Mariku in einer zwar mürrischen Tonlage aber sonst recht neutralen Stimme.

Bakura schaute überrascht zu Mariku und das amüsierte Lächeln zauberte sich wieder in sein Gesicht.

„Ich habe erstaunlich interessante Schüler dieses Jahr.“

Mariku schickte ein unverständliches „Hmmm“ zu seinem Lehrer. Merkwürdiger Typ, er würde ihn wohl nie verstehen.

„Ihr überrascht mich immer wieder.“

Ob das nun gut für ihn war?
 

Als Ryou nach einer sehr entspannten und vor allem hilfreichen Stunde aus dem Bad krabbelte und sich in die Küche begab, innerlich darauf vorbereitet entweder eine Standpauke von seinem Lehrer oder eine Gemeinheit von Mariku wegen seiner Verspätung zu bekommen, immerhin war es schon zwanzig vor neun, erwartete ihn eine kleine Überraschung.

Der Tisch war gedeckt und dampfendes Essen stand darauf. Ein frischer Salat mit Tomaten, Gurken und seinen geliebten Kürbiskernen, daneben gekochter Reis und Rührei. Es war eine ungewöhnliche Mischung aus traditioneller und westlicher Küche, doch sein Magen ließ sich nicht davon beirren und knurrte verlangend. Ryou war es gewohnt früh aufzustehen und deswegen auch früh zu essen.
 

Ein Schmunzeln stahl sich auf Bakuras Gesicht, der mit Mariku schon am Tisch wartete.

„Komm, setzt dich, damit wir anfangen können, sonst holt die Wildkatze hier bald ihre Krallen heraus“, lud Bakura den Kleinen mit einer ausschweifenden Handbewegung ein.
 

Ryou nickte und setzte sich hastig, dabei fast den Teller vom Tisch fegend. Er war es nicht gewohnt, dass man so mit ihm umging. Er war es gewohnt, dass man Mitleid mit ihm hatte und ihn deswegen nur sehr schonend eine Predigt hielt, aber dass man trotz solch eines Vergehens wie Unpünktlichkeit – vor allem bei Bakura, der anscheinend ja sehr viel Wert darauf legte – ihm mit solch einer Freundlichkeit begegnete und ihn überhaupt nicht tadelte, das war neu. Normalerweise waren Leute nicht bereit so einfach drüber hinweg zuschauen, auch wenn man eine Entschuldigung parat hatte.

„Morgen“, begrüßte Mariku ihn vom anderen Ende des Tisches. Er klang zwar etwas mürrisch aber fast freundlich. Und Ryou vermutete es war die Uhrzeit, die Mariku nervte und nicht er.

Er fühlte sich sogleich ein Stück schlechter, als ihm klar wurde, dass er vergessen hatte beim Eintreten Mariku zu grüßen. Das war nicht sehr freundlich gewesen und ganz und gar nicht seine Art. Aber er war einfach zu sehr auf den Tisch und auf Bakura fixiert gewesen.

„Äh, ja. Guten Morgen, Mariku.“

„So, dann lasst uns anfangen!“, verkündete Bakura laut und die beiden Wartenden stürzten sich regelrecht auf das Essen. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.

Ryou saß ganz in der Nähe Bakuras und aus dem Augenwinkel sah er, wie dieser gerade mit seinen Essstäbchen geschickt etwas Ei aus dem Teller angelte und dieses in seinem Mund verschwinden ließ. Ungewollt haftete der Blick Ryous für einige Augenblicke an den Lippen seines Lehrers, bevor er seinen Kopf schnell senkte und sich seinem Frühstück widmete.

Er musste wieder an sein Aufwachen denken. An den Blick, der so direkt auf ihn gerichtet gewesen war. Die Lippen, die nur wenige Zentimeter von seinen entfernt angehalten hatten. Die Finger auf seiner Haut. Und diese verlockende Stimme, mit der Bakura geflüstert hatte. Seine Hand zuckte. Er sollte nicht darüber nachdenken. Nicht daran denken.
 

Ryou rann den Gang entlang. Er musste sich beeilen! Sonst würde er wieder rennen müssen – und heute würden sie alle Trainingseinheiten machen im Gegensatz zu gestern. Er würde also noch ausgelaugter sein und dann noch rennen… Dem Himmel sei Dank, war sein Muskelkater nach dem heißen Bad etwas abgeklungen. Er war noch da, vor allem in den Beinen, aber nun war er erträglich.

Nach dem Turbofrühstück hatte er aber schon wieder kaum Zeit gehabt sich fertig zu machen. Da wurde es ihm erst wirklich klar, was es bedeutete, dass die anderen mit dem Frühstück auf ihn gewartet hatten. Mariku hatte dadurch genau so wenig Zeit wie er selbst! Etwas Warmes, das sich anfühlte, als würde die Sonne direkt auf seine Brust scheinen, breitete sich bei dem Gedanken in ihm aus. War es vielleicht doch eine gute Idee gewesen her zu kommen?
 

„Heute ist es eine Minute, also zehn Runden für Ryou und drei Minuten, also dreißig Runden für Mariku. Mal sehen, wann ihr es schafft, ganz pünktlich zu sein…“

Ryou atmete erleichtert auf. Gut, zehn Runden dürfte er noch überleben.
 

Das Vormittagstraining verlief im gleichen Stil wie am Tag davor auch. Ryou vermutete, dass es jeden Tag das gleiche sein würde. Doch heute schaffte er einige Dinge leichter als am Tag zuvor. Vielleicht waren seine Fortschritte kaum merklich und im Vergleich zu Mariku war er eher gar nicht vorangekommen, doch wenn man genauer hinsah, dann konnte man es bestimmt sehen! Etwas, das man vielleicht Stolz nennen konnte, huschte über das höchst konzentrierte Gesicht Ryous.
 

Er spürte die glatte Matte ganz deutlich, als er mit den Zehen in kreisenden Bewegungen darüber strich. Er nahm die Kühle dieser war. Seine Arme folgten der Bewegung auf der Höhe seines Bauches – in Verteidigungs- und Führungsposition. Mit seinem rechten Arm hätte er jetzt eine Technik führen können, dafür war auch diese Ausweichbewegung gedacht. Er blieb in der Endposition stehen. Den rechten Arm zeigte schräg nach oben, vor Brust und Gesicht gehalten und der linke vor dem Bauch, vor seiner 'Körpermitte', wie es Bakura nannte. Sein Stand war fest. Bakura hatte probeweise einige Male versucht ihn von der Seite mit der Hand umzustoßen, mit mehr und weniger Kraft, doch jedes Mal blieb Mariku weiter stehen. Das war ein gutes Zeichen. Und doch, doch waren seine Bewegungen nicht wie bei seinem Lehrmeister. Doch spürte er, dass Welten zwischen ihnen lagen. Diese Erkenntnis, die er mit jeder ausgeführten Bewegung von neuem hatte, verwandelte sich immer mehr in Wut. Doch davon ließ er sich nicht die Konzentration zerstören. Diese Wut würde er nachher in die Rennrunden legen. Das hatte er zumindest vor gehabt.

„Du hast ein unzufriedenes Gesicht, Mariku, dabei machst du gute Fortschritte“ – die Stimme klang spöttisch. In seinen Ohren klang der Satz wie eine Beleidigung. Wie eine Aufforderung die eigene Unfähigkeit, den eigenen Durchschnitt einzusehen. „Gute Fortschritte“ bedeutete für ihn „nichts Außergewöhnliches“. Für einen Augenblick färbte sich alles rot in ihm und ohne zu überlegen drehte er sich zu seinem Lehrer und griff diesen von der Seite an. Er zielte mit seinen gespreizten Fingern unter die Rippen – da gab es einige Schmerzpunkte.

Er spürte die Kühle der Matte an seiner Wange. Er blendete es aus, dass er wieder besiegt wurde. Dass sein Arm schmerzlich festgehalten wurde. Er konzentrierte sich allein auf die Berührung zwischen Matte und seiner Haut. Er holte tief Luft und mit dem Ausatmen floss auch diese unbändige Wut, die ihn in Rage verfallen ließ, aus ihm.

„Na, wieder beruhigt?“, kam es von über ihm.

Als Antwort knurrte er nur, doch das schien Bakura genug zu sein, denn im nächsten Moment verschwand der Druck und er wurde losgelassen. Langsam erhob Mariku sich und sein Blick traf auf den Kleinen. Er sah etwas, was er nicht mochte. Was ihm einen kleinen Stich versetzte. In den Augen Ryous lag dieser gewisse Schatten, zwar war er klein und nur ganz hinten, aber er war da. Der Schatten der Angst.

Er wandte den Blick ab und sah lieber zu Bakura. Dieser schien keineswegs von dem Ausbruch beeindruckt, überhaupt berührt zu sein. Ja, warum auch? Mariku hatte ja schon öfters versucht ihn anzugreifen. Und Bakura war voraussichtlich selbst ein Raubtier, der die Gefahr nicht spürte – sondern nur Herausforderung.

„Ich geh mir was zu trinken holen“, sagte er in seiner gewohnten, halb mürrischer Tonlage.

Er hatte sich schon zur Tür gedreht, als die Stimme Bakuras ihn aufhielt.

„Bleib hier. Es ist elf, das heißt das Vormittagstraining ist vorbei. Also kommt in die Mitte für die Abschlusszeremonie.“

Er gehorchte und dabei streifte sein Blick, ohne dass er es wollte, das Gesicht Ryous. Dieser lächelte. Na, dann hatte er vielleicht doch noch nicht so viel falsch gemacht?

Wunden

Blutspritzer. Hände, die von den Schlägen, die er verteilt hatte, schmerzen. Ein Lachen – sein eigenes. Leere Augen, die ihn anstarren. Hass. Angst. Enttäuschung, die man ihm entgegen schleudert. Gefühle, die er so gerne bei anderen hervorruft. Dinge, von denen er seine Seele nährt. Eine Blonde Strähne in seiner Hand – herausgerissen.
 

Mariku schlug mit der Faust gegen die Wand der Dusche. Ein stumpfer Schmerz, von dem Schlag ausgelöst, holte Mariku aus seiner düsteren Gedankenwelt zurück.

Kaltes Wasser floss seinen Körper herunter. Er hob den Kopf und hielt sein Gesicht in den Wasserstrahl. Duschen war eine tolle Erfindung.
 

Ryou saß auf seinem Bett und starrte aus dem großen Fenster. Vor seinem inneren Auge spielte sich die Szene mit Marikus Überfall auf Bakura noch einmal ab. Mariku hatte zwar schon öfters Überraschungsangriffe gestartet, vor allem wenn er sich provoziert fühlte, doch dieses Mal war es irgendwie anders gewesen. Eine Gänsehaut jagte über Ryous Rücken als er wieder an den Blick dachte, der für eine Millisekunde auf ihn gerichtet war. Ein Blick, der ihn nur gestreift hatte und der ihn doch erzittern ließ. Er fühlte sich wie Marikus Beute. In dem Moment waren all seine Gedanken wie weggefegt gewesen. Es blieb nur eine undefinierbare Angst zurück.

Er hatte solch einen Blick schon mal irgendwo gesehen… Bakura schien im Gegensatz zu ihm vollkommen unbeeindruckt gewesen zu sein. Er war trotzdem anders als sonst. So viel ernster und ruhiger, anstatt provokant. Er hatte die Situation anscheinend sofort richtig eingeschätzt.

Ryou schloss die Augen und ließ sich auf das Bett fallen.

Bakura war wirklich…bewundernswert. Er hatte keine Angst. Er war nicht gelähmt von dieser unbekannten Situation gewesen. Nein, er hatte sofort reagiert.

Das spitzbübische Grinsen von dem Morgen drängte sich durch all die Gedanken hindurch in den Vordergrund. Die anzügliche Stimme.

Ryou spürte wie seine Wangen und Ohren heißer wurden. Was dachte er da nur? Er erhob sich ruckartig vom Bett und starrte entschlossen zum Fenster. Er würde jetzt trainieren, das Zimmer bot genug Platz für Taisabakis, und nicht Zeit an unnötige Fantasien verschwenden!
 

Mariku zog wieder seine Trainingsuniform an und betrachtete sich im Spiegel. Alles war ganz anders als vor fünf Jahren. Er war anders. Er fuhr mit der rechten Hand über seinen linken Arm und dann durch seine nassen Haare durch. Diese waren schon wieder so lang geworden. Zu lang war ihm aber lieber als zu kurz. Letzteres erinnerte ihn zu sehr an die Vergangenheit. Wobei es in der Vergangenheit auch etwas Gutes gegeben hatte – er hatte Malik getroffen. Seinen überaus heißen Geliebten, den er erst nach ihrer dritten Begegnung ins Bett zu kriegen schaffte, obwohl er ihn vom ersten Augenblick an begehrt hatte. Ein Grinsen legte sich bei der Erinnerung auf sein Gesicht. Gleichzeitig verspürte er eine kleine Regung in seiner unteren Körperhälfte. Er war nun schon seit drei Tagen hier. Er glitt mit der Hand über seinen Bauch und dann weiter nach unten. Nein, keine gute Idee. Er seufzte. Er hatte gerade erst geduscht und in einer Viertelstunde würde das Training weiter gehen. Aber zum ersten Mal dämmerte in seinen Gedanken die Frage, wie er diesen Monat eigentlich überleben sollte, so ohne Malik?
 

Bakura ging zum wiederholten Male die unzähligen Bücher in seinen Regalen durch. Es war eine Beschäftigung, der er manchmal sehr gerne nachging, auch wenn sie meistens vollkommen sinnlos war, denn er kannte all diese Bücher und wusste genau wo welches zu finden war.

Im Gegensatz zu den Gästezimmern war sein Zimmer groß und geräumig und beinhaltete um einiges mehr als nur die notwendigste Möbel. An den Wänden standen mehrere große Regale, vollgestellt mit Büchern und Brettspielen wie Go und Schach. In einer Ecke stand ein Schrank mit zur Jahreszeit passender Kleidung. Auf dem Schrank lag ein Motorradhelm. Auch ein Schreibtisch stand im Zimmer, beladen mit einem Laptop, Papieren, Stiften und einem eingerahmten Foto. Er hatte einiges aus seiner Wohnung in der Stadt hierher gebracht. Aber das wichtigste an diesem Zimmer war, dass man direkt auf eine vom Haupthaus abgelegene Terrasse gelangen konnte, auf der man sich der Wildnis extrem nahe fühlte, denn sie begann direkt davor.

Bakura griff nach einem Buch und setzte sich damit auf den Holzboden draußen. Der Himmel war zwar größtenteils bewölkt, doch einige Sonnenstrahlen drangen trotzdem hindurch und einer davon wärmte den Fuß des Aikidomeisters. Sonst war es kühl, was Bakura nicht störte. Sein Sportanzug hielt ihn warm. Bakura schlug das Buch auf und vertiefte sich ins Lesen. Etwas, was er sehr gerne tat. Denn beim Lesen blendete er seine Außenwelt recht gut aus – auch wenn man ihn wohl auch in solchen Momenten nicht hätte überraschen können. Nach einer halben Stunde legte er das Buch zur Seite und betrachtete die Landschaft. Mariku hatte eine gefährliche Seite von sich gezeigt. Gefährlich dadurch, dass sie unkontrollierbar für diesen zu sein schien. Er hatte zwar von Malik etwas in die Richtung gehört, aber er hatte nicht erwartet, dass er diese Seite hervorholen würde. Das war nicht seine Absicht gewesen.

Ein unkontrollierbares Biest, das nicht erkennt, dass der Gegner aufgegeben hat. Das die erschrockenen Schreie, das Klopfen auf der Matte, die aufgerissenen Augen voller Angst einfach ignoriert. Das weiterhin drückt und Schmerzen zufügt, bis schließlich das Geräusch von brechenden Knochen zu hören ist. Und nicht einmal das kann das Monster aus seinem Wahn holen. Mit präzisen Griffen und einer kühlen Miene macht es weiter bis starke Arme ihn zurückreißen. Zum Boden reißen. Ihn festhalten. Bis er nur noch die Matte an seiner Wange spürt.

Weiße Strähnen bewegten sich hin und her, als Bakura mit einer langsamen Kopfbewegung die Gedanken von sich schüttelte. Es brachte nichts an Dinge, an denen man nichts mehr ändern konnte, zu denken. Es war nur das Hier und Jetzt von Bedeutung. Aber er sollte das Blondchen im Auge behalten.

Bakura erhob sich und machte sich langsam auf den Weg zum Dojo, das Buch vorher zurück ins Regal stellend.
 

Ryou atmete erleichtert auf. Er war pünktlich! Sogar ganze fünf Minuten zu früh. Das hieße keine weiteren Runden außer den zehn vom Vormittag. Durch diese Tatsache erfreut, nickte er dem schon wartenden Bakura zu und setzte sich lächelnd an den üblichen Platz und versuchte es mit der Konzentrationsübung. Es ging darum seinen Geist von allen unnötigen Gedanken und Sorgen zu befreien, damit man seine Kraft sammeln und lenken konnte. Es war wichtig einen klaren geistigen Zustand zu erreichen damit man effektiv trainieren konnte. Ryou atmete tief ein und aus, die Augen geschlossen. Er versuchte sich auf seinen Bauch zu konzentrieren. Automatisch waren seine Gedanken bei seiner eigenen Atmung angelangt. Tief einatmen und tief ausatmen. An eine leichte Strömung denken. Einatmen. Ausatmen.

Er hörte Klatschen und öffnete die Augen. Neben ihm saß schon Mariku, dessen Ankunft er überhaupt nicht bemerkt hatte. Bakura verbeugte sich vor dem Portrait an der Wand, wie immer am Anfang einer Stunde. Waren die fünf Minuten etwa schon vorbei? Hieß es, dass ihm die Übung wenigstens ein bisschen gelungen war? Ryou lächelte ein weiteres Mal.
 

Er hatte die Wiederholung der gestrigen Übung zum Shiho-Nage angeordnet für den Anfang und betrachtete nun abwechselnd seine beiden Schüler, die als Paar trainierten. Sie schienen beide höchst motiviert zu sein und er bemerkte Fortschritte. Aber auch viel zu viele Ungenauigkeiten und Fehler. Einige sprach er an. Er wusste, auf was es am Anfang ankam, was wichtig zum Verinnerlichen war und was die beide im Laufe der Zeit von selbst lernen würden. Er stoppte die beiden und nahm Ryous Arm und führte ihn in die richtige Lage. Danach führte er an Ryou selbst den Unterschied der beiden Armhaltungen vor. Dies war immer noch die beste Methode, um solche Dinge zu verstehen und sich zu merken – das Spüren der Wirkung an sich selbst.

Nach einer Stunde des Übens ließ er die beiden sich setzten und erklärte ihnen eine neue Technik. Ein weiterer wichtiger Punkt beim Lehren – Abwechslung. Er erinnerte sich nur zu gut an einen seiner Aikidolehrer, der sie stundenlang ein und die gleiche Bewegung ausführen ließ, und wie genervt und gelangweilt er davon immer gewesen war. Vor allem wenn er keinerlei Fortschritt bei sich gesehen hatte.

„Ude-Osae – eine Armstreckhebeltechnik mit Haltegriff. Ihr werdet sie zuerst aus dem Ai-Hanmi Angriff versuchen. Ryou.“

Angesprochener stand auf und fasste an das ihm entgegengestreckte Handgelenk – er war jetzt der Angreifer.

„Ude-Osae ist die wichtigste Hebeltechnik des Aikido. Sie ist die Grundlage aller Bodentechniken. Deshalb ist es wichtig diese Technik stets zu üben und zu beherrschen. Die Technik funktioniert auf Grund der ständigen Kontrolle über den Ellbogen des Gegners. Ihr führt diesen zunächst in eine kreisförmige Bewegung über den Schwerpunkt des Gegners und dann schräg nach unten." Die erklärenden Worte begleitete das mehrmalige langsame Ausführen der Technik. „Ihr dürft euch erst nach vorne bewegen und damit die eigene sehr standfeste Stellung aufgeben, wenn der andere aus dem Gleichgewicht ist. Am Ende legt ihr den Arm des Gegners nach vorne gestreckt auf der Matte ab." Bakura fuhr mit seiner Hand über den ausgestreckten Arm Ryous. „Und fixiert ihn mittels verstärktem Druck auf den Ellenbogen.“
 

Ryou summte eine heitere Melodie, während er Gemüse für das Mittagessen schnitt. Neben ihm schelte Mariku Kartoffeln. Beide wurden überwacht aus dem Hintergrund von Bakura, der immer wieder zu ihnen Blicke warf und sonst in einem Buch las. Es herrschte lange Zeit Schweigen, bis Mariku dieses mit einer Frage brach.

„Was summst du vor dich hin?“

Ryou hielt kurz inne in seiner Tätigkeit und sah zu dem Größeren hoch. Dieser blickte konzentriert zu den Kartoffeln.

„Ich kenne den Namen nicht, aber es war das Lieblingslied meiner Mutter. Sie spielte es sehr gerne am Klavier“, antwortete Ryou in einer sanften Stimme. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen bei der Erinnerung an die Frau mit den langen platinblonden Haaren, die in seinen Erinnerungen stets am schwarzen Piano in ihrem Wohnzimmer saß und lachte.

„War?“

Einen kurzen Augenblick lang herrschte Stille, während zwei Augenpaare sich auf Ryou richteten. Dieser blieb unverändert und antwortete in der gleichen sanften Stimme wie zuvor nach einigen Momenten.

„Sie ist gestorben als ich klein war.“

„Sorry“, murmelte Mariku.

„Ist in Ordnung, es liegt lange zurück.“

Ryou legte das Messer zur Seite und füllte einen großen Topf mit Wasser für das Curry, an dessen Zubereitung sie gerade hantierten. „Schneidest du die Kartoffeln danach noch, bitte?“
 

Er fühlte sich erschöpft, aber es war ein wohliges Gefühl. Er war nicht ausgelaugt oder kraftlos, wie nach den Strafrunden am Tag zuvor. Nein, er fühlte sich gut. Er spürte, dass er trainiert und Kraft verbraucht, also etwas getan hatte. Die dritte Trainingseinheit war ähnlich wie die zweite verlaufen. Sie hatten erst die alte Technik und dann die neue geübt. Er musste zugeben, dass Ude-Osae ihm sehr gefiel. Die schöne Drehung und die Möglichkeit, wenn man es richtig machte, auch jemand größeren und kräftigeren zu Boden zu bringen… Es war eine Technik, die er sehr gerne gut beherrschen würde. Ryou schloss das Fenster in seinem Zimmer und setzte sich mit einem Block und seinem Mäppchen auf das Bett.

Auch die Strafrunden um das Dojo waren diesen Abend nicht so schlimm gewesen. Er war zwar wieder langsamer als Mariku gewesen, der eindeutig mehr Kondition als er hatte, aber dafür musste Mariku auch fünf Mal so viele Runden laufen.

Ryou musste schmunzeln – Mariku war am Nachmittag wieder zu spät gekommen und hatte vollkommen unbeeindruckt die Anzahl seiner sich addierenden Runden entgegengenommen. Wahrscheinlich würde er sich auch weiterhin nicht disziplinieren lassen und eine Politik des Zuspätkommens führen. Irgendwie passte das zu ihm.

Gut gelaunt nahm Ryou einen Bleistift in die Hand.

Wut

Er spürte das Glühen, das sich in ihm ausbreitete. Er spürte die Hitze, die sich in dem Körperteil zwischen seinen Beinen sammelte. Es wurde hart, während unzählige Erinnerungen an seinen fernen Geliebten seine Gedanken umkreisten. Das goldene Haar, von welchem einzelne Strähnen über seine Haut streichelten. Hände, die über seinen Körper glitten an die verbotensten Stellen. Küsse, die auf seinem ganzen Körper verteilt wurden. Die lavendelfarbenen Augen, die ihn so lüstern um mehr baten. Marikus Finger wanderten nach unten – er konnte nicht anders. Sein Kopf war voll von all den Dingen, die er mit dem biegsamen Körper Maliks schon angestellt hatte. Und das war gewiss nicht wenig. Marikus Bewegungen wurden immer schneller bis die geballte Hitze sich auf einen einzelnen Punkt konzentrierte und dann endlich entwich. Sein Körper erzitterte leicht und ein Seufzen entwich Mariku. Er drehte das Wasser noch etwas auf und hielt sein Gesicht direkt in den Strahl. Warum war Malik nur so weit weg?
 

Nach einer Viertelstunde verließ Mariku die Dusche und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Genüsslich streckte er die Arme und ließ seine Gelenke knacken. Nachdem er sich den Kampfanzug übergestreift und den weißen Gurt befestigt hatte, inzwischen hatte er gelernt diesen so zu binden, dass er nicht mehr wieder aufging, setzte sich Mariku wieder auf das Bett und holte sein Handy aus der Tasche, die daneben lag. Kein Netz. Wie schon die ganze Zeit. Mariku seufzte. Er wusste selbst, dass es albern war jeden Tag auf das Display zu starren, wenn es schon seit der ersten Minute in diesem Haus keinen Empfang hatte. Ein einziger Balken hätte doch schon gereicht, damit er Malik eine Nachricht senden konnte! Aber nein – sogar das war ihm nicht vergönnt. Genervt steckte Mariku das Handy wieder in die Tasche und verließ das Zimmer. Er marschierte in die Küche und knurrte Ryou ein „Morgen“ zu, der gerade etwas aus dem Kühlschrank holte.
 

„Morgen“, kam es von dem Kochenden zurück. Ryou drehte sich auch so gleich zu Mariku und lächelte diesen an. So langsam gewöhnte er sich an die schlechte Laune des anderen am frühen Morgen. Er beobachtete wie Mariku sich an den Tisch setzte und grimmig zur Seite sah. Unschlüssig drehte Ryou die Karotte in seiner Hand und wand sich dann wieder der Kochfläche zu. Er holte ein Messer und schnitt das Gemüse. Leise fing er an zu summen, wie so oft beim Kochen. Auf einmal spürte er etwas an seiner Schulter. Erschrocken fuhr er herum – mit dem Messer in der Hand – und verfehlte dabei nur um Haaresbreite seinen Lehrmeister.

„Hey, Messer sind gefährlich." Bakura hob abwehrend die Hände vor seinen Körper.

Ryou war so in seine Tätigkeit vertieft gewesen, dass er Bakuras Ankommen gar nicht mitbekommen hatte. Nun stand er da und bedrohte ungewollt mit einem großen Messer eben diesen. Ryou spürte wie seine Wangen heiß aufglühten.

„Oh. Entschuldigung“, murmelte er leise und senkte den Blick.

„Passiert“, erwiderte der andere nur und fuhr fort, während er behutsam das Messer aus Ryous Hand nahm. „Guten Morgen, Ryou. Ich dachte wir hatten uns darauf geeinigt, dass Mariku die Zutaten schneidet.“ Bakura drehte sich bei den Worten zu dem Ägypter, der nur ein „Hmpf“ als Antwort gab.

„Guten Morgen“, erwiderte Ryou etwas zu spät und sah wieder zu seinem Lehrmeister.
 

Bakura legte das Messer vor Mariku auf den Tisch und fügte in der gewohnt provozierenden Stimme ein „Hopp, hopp“ hinzu. Das entlockte dem Morgenmuffel ein tiefes Knurren, doch nichtsdestotrotz stand er auf, nahm das Messer und ging rüber zu Ryou.

Erleichtert lächelte dieser Mariku an. Alles selbst zu schneiden hätte eine Weile gedauert und dann wäre die Zeit zum Umziehen wieder knapp geworden. Er wollte nicht schon wieder zu spät kommen. Gestern waren es wieder zwanzig Runden geworden, da sich Mariku nach dem Mittagessen davor gedrückt hatte den Abwasch zu machen und Ryou alles selbst spülen und abtrocknen musste. Doch diese zwanzig Runden waren ihm schon leichter gefallen als die Runden an den zwei Tagen davor, auch wenn er immer noch leichten Muskelkater verspürte. Bei jedem Schritt zog etwas in seinen Beinen und – Ryou errötete stets bei dem Gedanken leicht – in seinen Pobacken. Wie konnte er bloß da Muskelkater haben?!

„Was soll ich schneiden?“, unterbrach Mariku Ryous Gedanken. Ryou zeigte hastig auf die schon bereitliegenden Karotten und den Lauch.

„Das bitte alles. Die Karotten gewürfelt und den Lauch ganz normal klein schneiden, bitte.“

Ohne ein weiteres Wort machte sich Mariku an die Arbeit. Ryou derweilen holte den Topf und füllte ihn mit Wasser. Wie hatte Mariku es eigentlich gestern geschafft rechtzeitig zu sein? Er musste keine einzige Runde laufen, auch wenn er trotzdem mitgelaufen war. Er wollte nicht aus der Übung kommen, hatte Mariku erklärt. Dabei war Mariku ein so viel größerer Morgenmuffel als Ryou und trotzdem schaffte er es rechtzeitig zu sein. Ryou stellte den Topf auf die Kochplatte. Vielleicht sollte er es wie Mariku machen und schon umgezogen zum Tisch kommen?

 

Ryou rannte zum Dojo. Er konnte das noch schaffen! Schon wieder hatte er es vergessen die Zeit im Auge zu behalten, dabei war er extra schnell beim Frühstück gewesen und Bakura hatte Mariku dazu verdonnert abzuwaschen. Doch der Ausblick, den Ryous Zimmer diesen Morgen bot, war etwas Besonderes gewesen. Das Licht der Sonne ragte nur ganz leicht über den Bergen hervor und erleuchtete die Wiese vor dem Haus. Die Bäume des Waldes, der dahinter begann, waren gehüllt in das Grau des Morgens, während auf der Wiese der Tau auf dem Gras im Sonnenlicht glitzerte. Dieser Kontrast hatte Ryous Aufmerksamkeit sofort eingefangen und er wollte es festhalten, bevor der Moment vorbei war. Doch das hatte unweigerlich dazu geführt, dass Ryou nun zu spät war. Er hatte es geschafft sich in Rekordzeit umzuziehen und rannte zum Dojo. Als er aus dem Zimmer stürmte, hatte der Wecker noch 8:59 angezeigt. Atemlos erreichte er die Halle und huschte hinein. Bakura und Mariku saßen schon bereit auf dem Boden. Unsicher, ob er es geschafft hatte oder nicht, kniete Ryou sich neben Mariku und richtete seinen Blick unverwandt auf Bakura. Dieser sah gerade auf die Uhr über dem Eingang.

„Eine Minute“, verkündete er schließlich.
 

Bakura sah die Resignation auf Ryous Gesicht und seufzte innerlich. Was hielt ihn nur immer auf? Es konnte nicht nur die Zerstreutheit sein. Bakura klatschte in seine Hände und sie alle verbeugten sich. Er drehte sich um, so dass er das Portrait an der Wand sah und klatsche ein weiteres Mal. Nach der zweiten Verbeugung stand er auf und verkündete den Beginn der Aufwärmzeit.

 

„Heute werden wir den Shiho-Nage und den Ude-Osae, die ihr die letzten Tage geübt habt, aus den verschiedenen möglichen Attacken lernen. Grundsätzlich bleiben die Techniken gleich, unabhängig von dem Angriff. Jedoch sind die Einleitungsbewegungen unterschiedlich.“ Bakura stand vor ihnen in einer Angriffshaltung, während die beiden Schüler noch auf dem Boden hinknieten. Beide ließen ihren Lehrmeister für keine Sekunde aus den Augen. Es war schon ihr zweites Haupttraining für den Tag.

„Wir haben bis jetzt immer aus dem Ai-Hanmi Angriff geübt.“ Bakura unterbrach kurz, um die zwei Schüler zu mustern. „Mariku, komm her“, sagte er schließlich.
 

Mariku schnaubte – eher aus Gewohnheit – und erhob sich graziös. Er stellte sich gegenüber seinem Lehrer und streckte seinen Arm aus. Seine Augen funkelten herausfordernd sein Gegenüber an.

„Ai-Hanmi bedeutet, dass ich mit rechts das rechte Handgelenk des Gegners greife. Oder mit links das Linke. Beides haben wir schon sowohl mit Shiho-Nage als auch Ude-Osae geübt.“
 

Ryou hörte der Erklärung aufmerksam zu, jedes einzelne Wort wie ein Schwamm aufsaugend. Er wollte nicht nur die Technik beherrschen, wovon er noch Meilenweit entfernt war, sondern auch die dazugehörige Theorie wissen.

„Es gibt auch den Gyaku-Hanmi. Dabei greife ich mit links nach dem rechten Handgelenk des Gegners, oder mit rechts nach seinem Linken.“ Bakura umklammerte mit starken Fingern Marikus Handgelenk. Mariku verdrehte nur innerlich die Augen – was machte es schon für einen Unterschied mit welcher Hand man angriff? Und warum gaben sie dem ganzen Fachnamen? Wen kümmerte es in einem echten Kampf wie die Techniken hießen, wenn man Erfolg damit hatte? Früher hatte er nicht mal Techniken verwendet. Er hatte sich auf seine Instinkte und brutale Kraft verlassen. Das brachte ihn viel Erfolg ein, meist. Zu Anfang hatte er oft blaue Blutergüsse und einmal zwei gebrochene Rippen gehabt, aber daraus lernte man schließlich, nicht wahr? Nach den ersten Niederlagen blieb er bis heute ungeschlagen. Außer von Bakura.

Marikus Blick wurde glasig und ungeduldig lehnte er sich leicht nach vorne. Ein alt bekanntes Gefühl strömte durch seine Adern und rang in seinen Ohren wieder. Ein roter Schleier legte sich über all seine Gedanken und schrie nach Kampf. Oh, wie hatte er es vermisst.

„Mariku, probiere jetzt einen Ude-Osae.“
 

Ryou lehnte, ohne sich dessen bewusst zu sein, nach vorne in Erwartung. Das war Marikus Chance sich zu beweisen und Ryou konnte erahnen, wie wichtig das dem jungen Mann war. Doch als sein Blick über Bakura streifte, fühlte er ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit über ihn waschen. Die Augen waren kalt. Kalkulierend. Unnachgiebig.
 

Bakuras Stimme hatte Marikus Gedanken unterbrochen, doch nun fügte sich der Befehl wunderbar in das Chaos in seinem Kopf. Schlagen. Treten. Anspringen. So viele verschiedene Möglichkeiten. Doch Ude-Osae ordnete all diese Gedanken und brachte sie in eine Linie. Die Technik besagte, dass man die Kontrolle über den Ellbogen des Gegners übernahm. Klasse. Damit konnte man den Arm brechen.

Mariku merkte nicht, wie seine Lippen in der Parodie eines Grinsens auseinandergezogen wurden, um scharfe Zähne zu entblößen.

Ohne Vorwarnung griff er nach dem Arm seines Opfers und drehte diesen zur Seite. Wie in den Tagen davor schon geübt, führte er in einer kreisenden Bewegung den Arm über sich und legte Kraft hinein. Gleich würde der Typ auf dem Boden um Gnade winseln! Gleich würde er das vertraute Geräusch von brechenden Knochen hören.
 

Ryou riss seine Augen auf sobald Mariku die Technik gestartet hatte. Wieder hatte er dieses komische Gefühl ein Raubtier und keinen Menschen zu sehen. Marikus Bewegungen waren nicht fließend, wie in den Tagen zuvor bei den Übungen immer, sondern abgehackt. Sie waren kraftvolles Ziehen und Stoßen und kein anmutiges Führen. Ryou spürte wie seine linke Hand begann zu zittert, doch er konnte die Augen nicht von dem Geschehen abwenden.

 

Mariku blinzelte. Anstatt eines niedergeschlagenen Gegners auf dem Boden, sah er Bakura vor ihm mit einem ausdruckslosen Gesicht. Seinen Arm hatte er anscheinend mit Leichtigkeit befreit. Mariku schluckte. Scheiße. Er hatte schon wieder…er schluckte ein weiteres Mal. Er hatte…

 

Bakura drehte sich zurück Richtung Ryou, der seine linke Hand fest mit der rechten umklammerte, und fuhr seine Erklärungen in einer fröhlichen Stimme fort. „Nun, wie man sieht, kann man den Ude-Osae nicht genau so ausführen bei einem Gyaku-Hanmi wie bei einem Ai-Hanmi. Man muss eine Spiegelverkehrte Technik anwenden. Auch Irimi genannt.“
 

Mariku hörte der Erklärung nicht zu. Er hatte die Kontrolle verloren und diesen Scheißtypen interessierte es nicht mal! Er ballte seine Fäuste zusammen und drehte sich betont langsam zu Bakura, der weiterhin erzählte. Dazu in einer Stimme, als gäbe es nichts anderes auf der Welt als Sonnenschein und singende Vögel.
 

Ryou hatte die Szene mit einer Mischung aus Angst und Faszination betrachtet. Als sein Lehrmeister den Rücken zu Mariku gewandt und seine Erklärungen begonnen hatte, fingen Ryous Augen an sich zu weiten. Wie konnte er sich so völlig ungeschützt zeigen? Dann hatte er die Stimme gehört. Fröhlich, munter. Sogar Ryou empfand es als verstörend. Mariku war doch sichtlich ausgerastet, oder? Wie konnte Bakura da nur so heiter und nonchalant über Techniken reden und den Ausbruch völlig übergehen? Ryou hatte beobachtet wie Mariku vermutlich einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte. Zuerst hatte er überrumpelt gewirkt, doch nun sah Ryou das unterschwellige Zittern. Kaum wahrnehmbar, doch vorhanden. Eine Aura der Mordlust legte sich um Mariku und umschlang ihn wie ein Kokon. Ryou war sich sicher, dass aus diesem kein hübscher Schmetterling schlüpfen würde. Wobei Mariku sicherlich zwei glitzernde Flügel stehen würden – Ryou weitete seine Augen noch weiter. Wie konnte er so etwas Absurdes ausgerechnet jetzt denken? Jetzt, wo er wahrscheinlich gleich Zeuge eines Blutbads werden würde? Er musste Bakura warnen! Dieser plauderte haltlos weiter ohne auch nur Ansatzweise die Gefahr wahrzunehmen! Doch Ryou konnte sich nicht rühren. Er konnte seinen Blick nicht von dieser grotesken Tragikomödie nehmen.
 

Kurz bevor Mariku bereit zum Sprung war, fiel sein Blick auf Ryou. Er sah die angespannten Schultern. Die Finger, die sich tief in die Hand gruben. Das Weiß der Knöchel. Die völlig leeren Augen. Weder Angst noch Sorge lagen darin. Mariku atmete tief durch und ließ mit der Luft auch die Wut aus seinem Körper entweichen. Seine Fäuste lösten sich wieder und mit Willenskraft ließ er seine Arme entspannt neben dem Körper hängen, eine völlig harmlose Haltung zeigend.

 

Abrupt verschwand die Anspannung. Das Knistern in der Luft, das Ryou fast hätte wirklich hören können, erlosch. Er beobachtete wie Marikus Haltung sich entspannte.

„Ryou. Hilf mir mit der nächsten Technik.“

Bakuras Worte rissen Ryou aus seiner Starrheit und sein Kopf schellte zur Seite, bis sein Blick Bakuras traf. Völlig ahnungslos blinzelte er.

„Hast du eigentlich zugehört? Mariku, setz dich endlich.“ Ein lautes Seufzen des Meisters hallte im leeren und sonst stillen Dojo wieder. Sogar die üblichen Geräusche von draußen konnte man kaum hören. Die Geräusche der Welt waren gedämpft von den großen Schiebetüren, die zugezogen waren.

„Ich glaube keiner hat zugehört. Also nochmal…“

Reden

Ryou sah verstohlen zu Mariku, der am Tisch saß, während der Kleinere das Abendessen zubereitete. Das restliche Training war gut verlaufen. Sie hatten die Techniken geübt und dabei die verschiedenen Angriffe variiert. Bei der zweiten Erklärung hatte Ryou auch besonders aufmerksam zugehört und sich alle Fachbegriffe gemerkt. Er konnte immer ohne zu überlegen den richtigen Angriff ausführen, wenn Bakura einen ausrief. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Ryous Gesicht. Ohne es zu merkten stimmte er die übliche Melodie an und summte. Ryou nahm das große Messer in die Hand und zerkleinerte damit das Hühnerfleisch. Einige Minuten später blickte er, wieder nur kurz, zu Mariku. Dieser saß am Tisch, seinen Kopf auf den Armen abgelegt. Sowie schon seit einer halben Stunde. Vielleicht sollte er etwas unternehmen? Eigentlich musste Mariku ihm helfen, sonst würde Bakura womöglich wieder unzufrieden sein. Ryou schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf. Mariku mochte Kochen nicht. Außerdem schien er deprimiert. Vielleicht wollte er vorhin gar nicht so wütend sein?

 

Bakura betrat die Küche und sogleich musste er ein resigniertes Seufzen zurückhalten. Das tat er in den letzten Tagen oft, was? Sein übermotivierter und freundlicher Schüler kochte – allein – während sein sonst so Testosterongeleiteter Schüler auf dem Tisch den Kopf hängen ließ. Unverzeihlich. Der Lehrmeister verschränkte seine Arme vor der Brust. Würden die zwei denn gar nicht lernen? Menschen waren von Natur aus schwache Wesen, die ab und zu Hilfe brauchten. Ryou brauchte mehr von Marikus Wut und Durchsetzungsvermögen, während Mariku mehr von Ryous Gelassenheit brauchte. Die zwei könnten voneinander lernen! Aber nein, sie zogen es vor in Angst und Selbstmitleid zu zerfließen. Verächtlich schnaubte Bakura, was jedoch keiner seiner Schüler irgendwie registrierte. Klar, der Kleine war an die zauberhafte Welt des Kochens verloren und Blondchen an die Schatten der Selbstzweifel. Dabei stand ihm ein selbstzufriedenes Grinsen so viel mehr. Dieses aus seinem Gesicht zu wischen, bereitete definitiv mehr Spaß als dieses Häufchen Elend, das auf dem Tisch zerfloss, zu betrachten.

Dann musste er wohl zu anderen Mitteln greifen. Eine sadistische Vorfreude blitze in Bakuras Augen auf, als er schließlich in den Raum hinein ging und sich gelassen auf den Platz gegenüber Mariku niederließ.

 

„Ryou, machst du noch einen Salat dazu?“

Die dunkle Stimme hatte ihn schon wieder erschreckt. Diesmal drehte er sich zumindest nicht mit einem Messer in der Hand um. Nun, mit einem Kochlöffel. Das war doch schon mal eine Verbesserung. Dieses Mal war sein Lehrmeister auch nicht direkt hinter ihm, sondern saß am Tisch. Mariku verharrte in der gleichen Pose wie zuvor, registrierte Ryous Gehirn am Rande. Doch sein Blick haftete an dem Mann mit den langen weißen Haaren. Der Lehrer hatte wieder den schwarzen Kimono an, den er am Tag ihrer Anreise getragen hatte. Und diesmal war er nur locker gebunden. Dadurch war an der Brust noch einiges an Haut zu sehen. Glänzende, weiße Haut. Die Gestalt wirkte wie vom Cover eines Mystery Buches. Wie hypnotisiert starrte Ryou darauf. Der Hals war dünn. Nicht so kräftig wie die Nackenmuskeln von Mariku. Allgemein war Bakura weniger muskulös und viel graziler gebaut. In ihm war keine schiere Muskelkraft, sondern viel mehr die Überlegenheit des Könnens. Bakura. Der Name hallte in Ryous Gedanken wieder, bis er sich dabei ertappte. Nein, sein Lehrmeister! Lehrer! Sensei! Ryou spürte, wie seine Wangen langsam Feuer fingen. Er sah auch die linke Augenbraue auf Baku- dem Gesicht seines Lehrers nach oben wandern. Er schien auf etwas zu warten. Stimmt, da war ja eine Frage gewesen… Salat.

Ryou nickte eifrig. Salat war kein Problem.

Er rührte noch einmal in der langsam aufkochenden Brühe und griff nach dem Pfannenwender, um das Fleisch zu wenden. Danach ging er zum Kühlschrank und holte das Gemüse heraus, um es in gemächlichen Schritten zu schneiden, während er immer wieder unterbrach, um umzurühren.
 

„Bereitest du auch etwas Obst für den Nachtisch vor?“

Das Fleisch brutzelte in der Pfanne und Ryou griff wieder nach dem Wender. Ein Ölspritzer landete auf seiner Hand und Ryou verzog schmerzlich das Gesicht. Er wendete das Fleisch wieder. Jetzt auch noch das Obst zu schneiden würde schwierig werden. Er war immer noch nicht mit den Tomaten für den Salat fertig. Eine schnippische Bemerkung lag ihm auf den Lippen, als er nach Bananen und Äpfeln griff und sie wusch. Er unterdrückte den Impuls etwas zu sagen. Wenn Bakura eine große Mahlzeit wollte, konnte er auch helfen! So würde er wahrscheinlich das Essen anbrennen. Abrupt hielt Ryou inne und drehte sich zum Tisch, an dem sein Lehrmeister und Mariku saßen. Mariku hatte sich anscheinend immer noch nicht bewegt. Aber er war auch für das Kochen zuständig. Fragen konnte Ryou doch. Oder? Mariku sah niedergeschlagen aus… Ryou holte tief Luft.

„Mariku“, rief er leise.

Mariku knurrte und hob seinen Kopf. Sein Blick wirkte abwesend.

Ryou schluckte und fuhr einfach fort.

„Kannst du bitte das Gemüse und das Obst schneiden?“

Mariku fixierte ihn mit seinen Augen. Wieder musste Ryou an ein Raubtier denken, das Sprungbereit wartete. Mariku würde ihn jetzt nicht angreifen, wo Bakura – der nicht einmal von seinem Buch aufgeschaut hatte, wie Ryou mit einem Seitenblick feststellte – daneben saß.

Schließlich nickte Mariku und stand auf.

„Klar.“

Ryou lächelte den anderen strahlend an. Ging doch! Mit einem „Danke“ drehte er sich wieder zu den Kochplatten.

Das leichte Lächeln auf Bakuras Gesicht entging ihm dabei.

 

Mariku gab sich der Aufgabe des Schneidens hin. Es war eine beruhigende Tätigkeit. In gleichmäßigen Bewegungen hartes Gemüse und weiches Obst zerteilen. Das machte ihm erstaunlicherweise Spaß. Er hatte sich vorher nie fürs Kochen interessiert. Das erledigte Malik, sie bestellten sich was zu essen oder holten sich fertiges Essen, wenn Malik zu müde zum Kochen war. Doch vielleicht war diese Tätigkeit nicht so schlimm? Mariku war sich sicher, dass er nie eine Leidenschaft dafür in sich erkennen würde, wie man sie Ryou ansah. Doch einfache Gerichte konnte er bestimmt auch erlernen. Vielleicht würde Malik sich freuen?

Mariku lauschte dem Brutzeln des Fleisches und dem leisen Summen Ryous. Das Weißhaar tänzelte praktisch neben der Kochplatte, während er im Topf umrührte und noch etwas beimischte. Mariku hielt kurz inne. Nein, nicht Weißhaar. Die Bezeichnung klang herablassend, musste Mariku zugeben und fuhr wieder mit seiner Arbeit fort. Auch wenn er Ryou nur in seinen Gedanken so bezeichnete, war es bestimmt nicht nett. Zumindest war er sich sicher Malik würde es missbilligen. Mariku legte die fertigen Apfelstückchen in die Schüssel, wo auch schon die Bananen lagen, und wusch das Messer.

„Bin fertig. Was soll ich jetzt machen?“, fragte er an Ryou gewandt.

Der andere Schüler strahlte ihn wieder an und gab seine Anweisungen in einer munteren Stimme.

„Du kannst den Jogurt aus dem Kühlschrank holen und mit dem Obst zusammen mischen. Am besten machst du auch noch Trauben rein. Oh, und wir müssten noch Dressing von gestern haben. Dann kannst du auch den Salat vorbereiten.“

Mariku konnte das Lächeln nicht aufhalten, das sich auf seine Lippen legte. Er erinnerte sich noch an die Horrorgeweiteten Augen im Dojo und doch schien Ryous Fröhlichkeit nicht aufgesetzt. Nein, er lächelte ihn überraschend…ehrlich an. Vielleicht war Ryou charakterlich noch viel stärker, als Mariku gedacht hatte. Vielleicht konnte Ryou ihm verzeihen? Vielleicht konnte Mariku sich seine Kontrollverlust dann auch selbst verzeihen? Wenn du Vergebung willst, bitte um Entschuldigung, hallte Maliks Stimme in seinem Kopf wieder. Stimmt.

Mariku holte tief Luft, während er Ryous Anweisungen befolgte. Er wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, doch schloss seinen Mund wieder. Er spürte wie sein Körper sich anspannte. Um Verzeihung zu bitten war immer noch keine leichte Sache. Er hatte es schon lange nicht mehr getan. Auf jeden Fall bei nichts so gravierendem. Er zwang sich einige Male tief durchzuatmen und seine Muskeln zu lockern. Schließlich hatte er den Mut über seinen Schatten zu springen schon einmal bewiesen – jetzt würde er es halt erneut tun.

„Entschuldige.“

Zu mehr als einem Wort war er jedoch nicht bereit gewesen. Es gab eh keine Rechtfertigung für sein Verhalten. Malik hatte ihm zudem beigebracht, dass Rechtfertigungen nur Ausflüchte waren. Stoisch wartete er auf die Antwort, seinen Blick dabei auf den Jogurt in seiner Hand gerichtet.

„Ist nicht schlimm. Du schienst deprimiert zu sein und magst ja kochen ohnehin nicht.“

Wie? Verwirrt blickte Mariku auf und sah zu Ryou, der ihn anlächelte.

„Außerdem hätte ich dich auch vorher um Hilfe bitten können.“

Mariku blinzelte, während sein Gehirn die Worte verarbeitete. Oh. Er hätte vielleicht doch spezifizieren sollen wofür er sich entschuldigte. Er hatte nur gedacht, es sei offensichtlich. Hatte er Ryou nicht eine riesige Angst vorher eingejagt?

„Ich meinte vorhin. Im Dojo.“ Mariku suchte nach den richtigen Worten, um sich zu erklären und gab es schließlich auf. Er war im Reden nicht so gut. Also war es am besten einfach zielstrebig gerade aus zu steuern. „Als ich ausgerastet bin. Da habe ich dir bestimmt einen Schrecken eingejagt. Sorry dafür.“

Mariku beobachtete wie der andere den Kopf schief legte. Den Kochlöffel hatte er immer noch in der Hand und rührte damit geistesabwesend.

„Oh“, sagte Ryou schließlich. „Das. Das hat mich zwar erschreckt, aber ist ok. Entschuldigung angenommen.“ Er nickte und hielt seine freie Hand Mariku hin, während seine Lippen sich wieder zu einem Lächeln auseinander zogen.

Definitiv ein Sonnengemüt, entschied Mariku und schüttelte die Hand. Danach widmete er sich weiter der weißen Masse, die er mit Fruchtstückchen vermischte. Hey, Nachtisch konnte er schon machen! Und Salat, wenn er nur fertiges Dressing benutzte. Seine Gedanken verdunkelten sich wieder, während Mariku den Nachtisch zum Kühlen zurück in den Kühlschrank stellte. Warum machte Ryou das eigentlich nichts aus? Es gab doch nichts Schlimmeres als Angst auf der Welt?

„Macht es dir nichts aus?“ Wenn er jemanden nicht verstand, sollte er nachfragen. Auch dies war eine Lektion von Malik gewesen.

Ryou unterbrach sein Summen und blickte fragend zu ihm. Sie lebten irgendwie in verschiedenen Welten, wenn er sich so oft erklären musste, dachte Mariku resigniert.

„Du hattest vorhin Angst. Hast du jetzt keine Angst mehr vor mir?“

Die feinen Wimpern flatterten, als Ryou seine Augenlider schnell auf- und zubewegte.

„Nein. Jeder kann mal die Kontrolle verlieren. Jetzt bist du ja wieder normal. Also fühl ich mich ganz sicher. Allerdings würde ich nur ungern dein Angriffsziel sein. Ich habe mich vorhin wie ein Kaninchen im Angesicht einer Schlange gefühlt. Dabei bist du nicht mal auf mich losgegangen. Du hast schon eine Mordsaura. Aber das kann bestimmt auch hilfreich sein in gefährlichen Situationen. Man nimmt dich dann ernst.“ Es war als wäre ein Damm in Ryou niedergerissen worden und nun prasselte ein Wasserfall aus Worten auf Mariku ein. „Mich nimmt meist keiner ernst. Sie denken alle ich sei leichte Beute oder kein Gegner. Körperlich bin ich das auch nicht. Aber ich kann trotzdem sinnvolle Dinge tun.“ Ryou schüttelte den Kopf, als würde einer der Leute, die ihn abfällig behandelten, gerade vor ihm stehen. Er schwang den Kochlöffel vor sich hin und her und fuhr dann fort. „Deswegen hoffe ich, dass dieses Training mir hilft. Es wäre cool, wenn ich dem nächsten, der zu aufdringlich wird, einfach den Arm verdrehen könnte.“

Mariku schüttelte innerlich den Kopf. Der Junge hatte bestimmt auch ein anstrengendes Leben gehabt.

„Wie auch immer. Hast du dich vorhin deswegen so schlecht gefühlt? Weil du die Kontrolle verloren hattest?“

Die Frage überrumpelte Mariku und für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken sie einfach zu ignorieren. Bringt nichts, ermahnte ihn wieder die Stimme seines Geliebten.

„Ja. Ich will niemanden in meiner Wut verletzen und ich will nicht, dass jemand deswegen Angst vor mir hat. Wenn, dann will ich in jemanden vollkommen bewusst das Bedürfnis wegzulaufen wecken.“

Ryou lachte neben ihm auf.

 

„Verlierst du auch manchmal die Kontrolle?“, fragte Mariku nach einigen schweigsamen Minuten nach und beobachtete den Kochenden. Dieser nickte.

„Ja. Anders als du, aber ja. Ich habe keine Wutattacken oder greife jemanden an. Aber manchmal, wenn ich gestresst und überfordert bin, da…da…“ Ryou stockte und ein Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. „Ich fühl mich niedergeschlagen und komme nicht so einfach wieder raus. Manchmal kann es sein, dass ich von der Arbeit gestresst bin und dann etwas völlig Unabhängiges passiert. Zum Beispiel sagt ein Freund eine Verabredung ab. Er kann sogar eine gute Erklärung haben, doch trotzdem kann mich das dann zum Weinen bringen oder ich sitze auf meinem Bett und kann mich nicht dazu bringen irgendwas zu tun. Oh, und ich hab auch schon Paar Gläser gegen die Wand geschmissen oder Geschenke zerbrochen.“

Mariku beobachtete wie sich Ryous Blick auf den Boden senkte und dessen Kopf feuerrot anlief. Der Ägypter befürchtete schon, dass er bald anfangen würde zu rauchen. Nun, der Kleine schämte sich wohl. Mariku war stolz auf seine wachsende Einsicht in die Innenwelt seines Gegenübers. Bald würde er zum Ryou Experten werden. Gegen Scham konnte er was Einfaches machen.

„Ich hab mehr als nur paar Gegenstände zerbrochen. Wie du gesagt hast, ist wohl normal. Geweint habe ich auch schon mal.“ Seine eigenen Wangen glühten auf. Bestimmt konnte er farblich Ryous Konkurrenz machen. Nun gut, vielleicht war dies gar nicht so einfach… Dafür wurde er mit einem verwunderten, aber direkten Blick belohnt und einem weiteren Lächeln.

„Also, alles gut und du bist mir nicht böse?“, fragte er für alle Fälle nochmal nach. Better safe than sorry.

Ryou nickte und das Lächeln wurde breiter. Ryou nahm das Ganze ziemlich locker, wie Mariku feststellte. War es vielleicht gar kein so schlimmes Vergehen mehr die Kontrolle zu verlieren, solange er dabei niemanden verletzte?
 

Ein Buch wurde zugeschlagen und beide Schüler zuckten zusammen. Fluchend drehte Mariku sich zum Tisch, an dem immer noch Bakura saß. Mist, den hatte er total vergessen! Das würde er ihm heimzahlen. Der hatte doch mit Absicht so still gesessen, damit er zuhören konnte. Marikus Augenlider zogen sich zu kleinen Schlitzen zusammen.

„Meist sind die härtesten Richter für unsere Handlungen doch wir selbst.“

Und dann kam er noch mit blöden Weisheiten! Mariku knurrte. Bakura zu verletzten war vollkommen ok!

Bakuras Mundwinkel zogen sich in einem wölfischen Grinsen auseinander.

„Übrigens, Mariku, vergiss deine vierzig Runden um das Dojo nicht“, flötete er selbstzufrieden.

Stressbewältigung

Erste Sonnenstrahlen schlichen über seine Haut und liebkosten ihn mit Wärme. Ein Vogel sang eine fröhliche Melodie am Fensterbrett. Die Klänge hallten in seinen verschlafenen Gedanken wieder. Ein Vogel zwitscherte von weiter weg zurück und die beiden Lieder flochten sich zusammen zu einem Duett. Sie wurden begleitet von dem Zirpen der Insekten. Das Licht rief nach ihm und holte ihn aus seinen schlummernden Träumen. Mariku öffnete die Augen und blickte zum Fenster. Ein leises Fluchen entwich ihm. Der Himmel zeigte neben den ersten Sonnenstrahlen noch graue Wolken und violett-blaue Schatten. Wie früh war es?

Mariku richtete sich auf und griff nach seinem Handy. Halb sieben. Wie wundervoll. Er hätte noch länger schlafen können! Er hätte noch länger in der Welt verbringen können, in der er Malik in seinen Armen hielt. Die Erinnerungen an den Traum durchmischt mit Erinnerungen aus der Vergangenheit wärmten seine Glieder. Ein Schauer stellte alle seine Härchen auf. Für einen Augenblick glaubte er Malik neben sich zu finden, sollte er seinen Kopf drehen. Den Impuls nicht widerstehen könnend, blickte er zur Seite, nur um dort Leere zu finden. Wie dumm. Mariku schmiss die Decke zur Seite und stampfte ins Bad. Dieser Monat war eine beschissene Idee gewesen! Er vermisste Malik. Er fühlte brodelnde Wut in sich aufsteigen. Eine giftige Stimme flüsterte in sein Ohr, er solle alles in Schutt und Asche legen. Alles um ihn herum zu Kleinholz verarbeiten. Er kämpfte mit diesen Impulsen und warf schließlich die Tube Zahnpaste gegen die Wand. Er drehte den Hahn für kaltes Wasser in der Dusche auf und stellte sich unerschrocken unter den Wasserstrahl. Kalte Duschen halfen doch angeblich bei so etwas? Er fühlte jedoch keine Ruhe. Nur einen stechenden Schmerz. Wie hatte Ryou gesagt, bei Stress und Überwältigung verlor man die Kontrolle? Malik nicht zu sehen war definitiv Stress. Mariku seufzte und stellte auch das heiße Wasser an. Es half nichts dran vorbei, was? Auch wenn es erniedrigend war.

 

Bakura schoss aus dem Bett wie von der Tarantel gestochen. Verwirrt blickte er sich um. Was hatte ihn auf solch alarmierende Weise geweckt? Er warf einen Blick zur Uhr auf seinem Schreibtisch. Kurz nach sieben. Seine beiden Schüler durften wohl noch schlafen. Bakura schüttelte den Kopf. Was auch immer es war, er war dankbar für die Rettung aus dem abstrusen Traum, in dem Faustgroße Spinnen über ihm liefen, während er sich nicht bewegen konnte. Er schüttelte abermals den Kopf. Was immer noch besser war, als sein Traum darüber wie seine beiden Schüler sich in blaue Aliens verwandelten, von dem er gegen drei Uhr morgens aufgewacht war. Oder der…

Jemand klopfte laut und einige Male schnell hintereinander an seine Tür. Ah, das war es vermutlich gewesen. Bakura hob eine Augenbraue, während er sich seinen Umhang locker über die Schultern legte und zur Tür schritt. Das Klopfen klang ungeduldig und herrisch, was gegen Ryou sprach. Doch die frühe Uhrzeit sprach eindeutig gegen Blondchen. Frühstück war erst in einer Stunde.

Die Tür wurde einfach aufgerissen und noch eher er ihn gesehen hatte, war Bakura es klar geworden, wen er da vorfinden würde. Ryou hatte eindeutig eine bessere Erziehung erfahren als Türen zu fremden Zimmern ohne Erlaubnis aufzumachen. Ein entschlossen und finster drein blickender Mariku marschierte direkt auf ihn zu und blieb nur einige Zentimeter vor ihm stehen. Die violetten Augen waren dunkel und wirkten fast blau bei dem grauen Licht. Bakura spürte die Anspannung zwischen ihren Körpern knistern. Er konnte die elektrische Ladung förmlich sehen. Doch er unterdrückte die automatische Reaktion seinen Körper in eine Defensivposition zu bringen. Stattdessen rollte er seine Schulter und entspannte seine Muskeln noch weiter. Er legte den Kopf leicht zur Seite und bedachte Mariku mit einem einladenden Blick aus halb geschlossenen Lidern. Er wusste, dass seine wilden Haare – frisch aus dem Bett – seine Haltung perfekt komplementierten.

Der Hunger in den Augen Marikus feuerte die Situation noch weiter an.

Bakura fuhr mit seinem Finger über die Wange Marikus, der schnaubte. Ob mit Wut oder Verlangen, konnte Bakura nicht ausmachen. Vermutlich beides, entschied er sich.

Schließlich öffnete er den Mund und brachte in seiner herablassendsten Stimme, in der eine Spur Amüsement mitschwellte, hervor: „Na, was ist? Kommst du, um eine morgendliche Trainingsstunde abzuholen?“

Der Größere griff nach seiner Hand und drückte fest. Bakura blickte weiterhin in Marikus Augen. Wie weit wohl Blondchen gehen würde?

Mariku neigte seinen Kopf nach vorne, so dass ihre Augen auf gleicher Ebene waren. Heißer Atem kitzelte Bakuras Lippen und jagte einen wohligen Schauer über seinen Rücken. Er ließ seinen Blick nicht von diesen zwei Tansaniten, die brannten. Es lagen Hunger, Leidenschaft, Verlangen, Wut darin. Herausforderung. Ein verstricktes, höllisches Feuer. Es war nicht genug, um Bakura zu erregen. Aber genug, um ihn daran zu erinnern, was er schon seit einer Weile nicht mehr getan hatte.

„Zur Abwechslung könnte ich dir da einiges beibringen.“ Marikus Stimme war ein tiefes Schnurren. Gefährlich. Vielversprechend. Es war nur ein Augenblick, der ihre Lippen voneinander trennte. Doch dieser Augenblick war für Bakura genug Zeit, mit den Fingern die Hand, die seine hielt, zu greifen und den Arm nach vorne zu ziehen, während er seinen Körper galant an Mariku vorbei – unter dessen Arm – wand und dann zu zudrücken. Einen Wimpernschlag später setzte er sich auf den Rücken Marikus, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Egal wie groß die Versuchung, Bakura hatte keinerlei Lust auf eine Auseinandersetzung mit Malik. Außerdem war dies so viel mehr Spaß.

„Du hast noch so viel zu lernen“, bemerkte er amüsiert. Von unter ihm kam nur ein Grollen.

„Also, womit habe ich diese Ehre am frühen Morgen verdient?“, fragte er mit einer Stimme, die nur so von Sarkasmus triefte. Das brachte ihm diesmal ein Knurren.

Geduldig wartete Bakura eine kohärente Antwort ab, während er genüsslich den Arm Marikus leicht zur Seite drückte, was etwas schmerzlich sein dürfte.

Es kam ein Murmeln. Ah, sie kamen der Sache näher. Bakura drückte noch etwas weiter.

„Telefon!“, antwortete Mariku schließlich. Seine Stimme klang verdächtig nah am Schreien. Bakura drückte noch einmal fester zu und ließ dann den Arm los. Sofort drehte sich sein Schüler auf den Rücken. Bevor er Bakura umreißen konnte, erhob sich dieser jedoch mit Leichtigkeit und ließ sich auf seinem Bett nieder. Telefon? Bakura hob eine Augenbraue. Das ergab erstaunlich wenig Sinn.

Mariku richtete sich schweigsam auf und starrte dann einige Momente grimmig aus dem Fenster eher er sich wieder Bakura zuwandte. Die Körperhaltung zeigte eine Sprungbereitschaft zum sofortigen Angriff. Bakura wartete lässig auf die Erklärung, ohne auch nur einen Muskel anzuspannen. Nicht in Muskeln lag die Kraft, sondern in Technik.

„Ich brauche ein Telefon.“

„Deins hat keinen Empfang hier“, stellte Bakura mehr fest als fragte.

Mariku nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wozu?“, fragte Bakura schlicht.

„Stressbewältigung“ war die einfache Antwort. Mariku lehnte sich vor mit einem lasziven Grinsen auf den Lippen. „Es sei denn du möchtest her halten“, fügte er wieder in dem schnurrenden Ton hinzu.

Ah. Das war natürlich verständlich. Wenn Mariku keinen Empfang hatte, hatte er vermutlich seit der Ankunft nicht mehr mit Malik geredet. Wenn Malik wiederum sowas wie eine Beruhigungstablette für Mariku war, so wurden die häufig werdenden Wutausbrüche nachvollziehbar.

„In der Ecke rechts von der Eingangstür des Hauses steht ein Telefon.“

Marikus Augenbraue hob sich in einer nicht minder herablassenden Geste, wie Bakuras es oft tat.

„Ich habe nichts gegen Publikum. Das bringt mehr Stimmung.“ Ein abschätzender Blick wanderte Bakura ab. „Du hast wohl auch nichts dagegen zum Publikum zu werden. Aber was ist mit dem Kleinen?“ Mariku zeigte mit der Hand auf den Flur. „Er wäre bestimmt schockiert. Es sei denn…“ Marikus Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern. „…du möchtest, dass er etwas angeturnt wird und dann in deine Arme rennt.“

Bakura schüttelte den Kopf und schnaubte. Keine Beruhigungstablette, sondern ein Ventil.

Er stand auf und griff nach dem Handy auf dem Tisch, welches er dem anderen zuwarf.

„Ich will’s zum Frühstück wieder haben.“

Mariku fing das Handy mühelos und verließ fast tänzelnd das Zimmer. Bakura schloss die Tür hinter seinem Schüler. Als er sich wieder umdrehte, fiel sein Blick auf den Tisch. Gut, dass Mariku so auf das Telefon fixiert gewesen war. Andernfalls hätte ihm womöglich das Foto auffallen können. Bakura trat näher und streichelte mit dem Finger sanft über den Rahmen. Auf dem Foto waren drei Jugendliche abgebildet. Einer von ihnen hatte kurzes weißes Haar, das wild in alle Richtungen abstand. Der Junge daneben hatte Haare von der Farbe des Sandes in der Wüste und grinste breit.

 

Ryou blickte nun schon zum zweiten Mal zur Uhr innerhalb von zwei Minuten. Es war Viertel nach acht.

„Mariku ist wirklich spät“, flüsterte er unsicher. Er hatte auf Bakuras Anweisung hin mit der Zubereitung gewartet. Doch die Zeit schritt langsam voran. Schließlich seufzte Bakura und Ryou sah zu seinem Lehrer auf.

„Wenn er kein Essen will, selbst schuld. Du kannst mit dem Kochen schon anfangen.“

Ryou stand von seinem Stuhl auf, doch bewegte sich nicht weiter. Es war doch nicht richtig Mariku ohne Essen zu lassen, oder? Vielleicht hatte er nur verschlafen? Gestern war er doch so deprimiert gewesen. Was, wenn er die Nacht hatte wegen seinen Sorgen nicht schlafen können?

„Ich gehe mal nachsehen“, verkündete Ryou schließlich.

Bakura hob nur einen verwunderten Blick zu ihm und vertiefte sich sogleich wieder in sein Buch.

Das war wohl…Zustimmung?

Er lief los und es dauerte weniger als eine Minute, bis er unschlüssig vor der Tür zu Marikus Zimmer stand. Zaghaft klopfte er. Ob der andere noch schlief? Sollte er dann lauter sein? Ryou legte vorsichtig sein Ohr an die Tür und lauschte. Er konnte Geräusche ausmachen, doch nicht spezifizieren was für Geräusche es waren. Es hätte wirklich alles Mögliche sein können von schmerzerfülltem Wimmern bis zu leisem Lachen. Ohne darüber nachzudenken, einem Impuls, der sein Herz beschleunigte, folgend, drückte Ryou die Tür auf.

 

Bakura hob den Blick von seinem Buch und musste sich ein lautes Lachen verkneifen. Ein amüsiertes Lächeln stand seinem Gesicht besser, wie er wusste. So erstickte er sein Lachen, das sich schon aus seiner Kehle kämpfte, in einem Husten und bedachte Ryou mit einer Mischung aus Hohn und Amüsement. Dieser sah nicht einmal auf. Der feuerrote Kopf war stur nach unten gerichtet. Er schien wirklich und wahrhaftig von dem Muster der Kacheln fasziniert. Er murmelte etwas so leise, dass Bakura kein einziges Wort ausmachen konnte, und holte dann die Eier aus dem Kühlschrank. Bakura hoffte nur, sein Schüler würde nichts fallen lassen. Seine Bewegungen wirkten wie in Trance, fließend und geschmeidig. Doch zwei Mal auf dem Weg zur Anrichte fror er mitten in der Bewegung ein und verbrachte einige Sekunden mit Anstarren des Bodens. Vielleicht waren da abweichende Muster?

Mut und Stolz

Ryou blickte unsicher zu Mariku auf dem Beifahrersitz vor ihm. Sein Blick huschte jedoch sogleich wieder zum Fenster des Autos. Mariku hatte gerade eine witzige Geschichte aus seinem Leben erzählt, die sogar ihren Lehrmeister zum Lachen gebracht hatte. Ryou hatte den Ägypter in der Woche, die sie schon zusammen trainierten, noch nie so gut gelaunt erlebt. Ob das wohl damit zusammenhing, dass – Ryou brach seinen eigenen Gedanken ab. Er spürte wie sogleich Hitze in seine Wangen kroch.

Gut, dass er auf dem Hintersitz des Autos saß und die beiden anderen sich vorne angeregt unterhielten. So würde es keinem auffallen. Ryou hatte langsam genug von den grinsenden und wissenden Gesichtern, die er den ganzen Tag schon zu sehen bekam, sobald er sich an…an die Sache…an den Anblick…an den Morgen erinnerte. Er wusste, dass es vermutlich schwer zu übersehen war, wenn er jedes Mal errötete. Langsam stieg in ihm jedoch trotzdem ein Gefühl der Unmut auf. Es war ein Versehen! Er hatte gedankenlos gehandelt und sowas passierte nun mal. Das war kein Grund ihn so anzusehen.

Ryou seufzte und lenkte seinen Blick auf die am Fenster vorbeirauschende Landschaft. Verschiedene Facetten der gleichen Farbe verschmolzen zu einem Bild. Dunkleres Grün floss über in die helleren Variationen der Farbe. Dazwischen sah man die zahlreichen Baumstämme. Dick, dünn, dunkel, hell. Alte Bäume, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ihre Kronen dem Himmel entgegenstreckten. Junge Gebüsche, die um die Sonnenstrahlen kämpften und erst zu leben lernten. Ryou sog die Eindrücke mit seinem Blick auf wie ein Schwamm. Er würde definitiv noch in den Wald gehen und die Natur genauer beobachten. Wie die einzelnen Blätter aufgebaut waren. Wie Insekten von einer Blüte zur nächsten flogen, nur um dann im Schnabel eines Vogels zu verschwinden. Wie sich Grashalme im Wind bogen und wie Regentropfen an Baumästen entlang flossen. Er wollte diese Details. Details, die er dann irgendwann in seinen Zeichnungen festhalten können würde.

Denn eines Tages würde er die Fähigkeit haben gut zu zeichnen. Genauso wie er eines Tages den Berg erklimmen würde.

Ryou wusste, dass er lächelte. Es erinnerte ihn an die Worte Bakuras nach ihrem morgendlichen Training. Bakura hatte über Fortschritte und die Wichtigkeit der Selbstevaluation gesprochen. Sich selbst zu kennen: seine eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Die eigenen Grenzen, aber auch Fortschritte und Möglichkeiten. Am Ende seiner Rede hatte er ihnen aufgetragen sich selbst mit dem eigenen Ich von vor dem Training zu vergleichen. Ryou sah es ganz deutlich vor seinen Augen. Die Veränderung.

 

Mariku lehnte gelangweilt an den Einkaufswagen und schaute sich um. Sie waren gerade erst in den Supermarkt gekommen und schon war Ryou breit grinsend abgeschwirrt und lief gerade fröhlich durch die Gemüseabteilung. Bakura begleitete den Kleineren und nickte hier und da bei dem unaufhörlichen Wortregen, der aus Ryous Mund prasselte. Mariku schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick durch den Obststand wandern. Warum musste er mit zum Einkaufen? Im Auto konnte er wenigstens noch mit Bakura plaudern. Er hatte versucht auf subtile Art und Weise mehr aus ihrem Lehrmeister zu locken – immerhin war es gut seinen Rivalen zu kennen. Mariku hatte viele witzige Geschichten aus seinem Leben erzählt in der Hoffnung damit den Meister zum Plaudern animieren zu können. Doch am Ende hatte Bakura nur eine einzige preisgegeben.

Mariku untersagte sich erneut in Lachen auszubrechen. Die Erzählung war wirklich witzig gewesen, was für ihn sehr überraschen gekommen war.

Marikus Blick wanderte gerade über die Bananen und haftete an diesen. Ein Grinsen legte sich unwillkürlich auf sein Gesicht, als er den Wagen zum Stand steuerte und ein gelbes Bündel hineinlegte. Ob es Ryou wohl wieder erinnern würde? Es war eine schöne Beschäftigung diesen immer wieder zum Erröten zu bringen. Mariku hatte gar nicht gewusst, wie viele Rottöne ein menschliches Gesicht alles annehmen konnte! Und alles nur, weil der Kleine morgens reingekommen war, als Mariku gerade mit Malik telefoniert hatte. Nun, nicht nur telefoniert. Er hatte auch andere Dinge getan. Bei der Erinnerung daran und vor allem der Erinnerung an die Stimme seines Geliebten entspannten sich automatisch Marikus Haltung. Er spürte wie eine unbewusste Anspannung wich und sich stattdessen wohlige Wärme in ihm ausbreitete. Malik war einfach großartig.

 

Bakura spürte wie ein Schmunzeln immer öfter versuchte sich in seine Mimik zu schleichen. Die Begeisterung Ryou war irgendwie schön. Schon seit fünf Minuten lief dieser von einem Regal zum nächsten und lobte die verschiedenen Gemüsesorten.

„Es ist erstaunlich wie groß die Auswahl hier ist! Ganz anders als in der Stadt. Da muss man in spezielle Märkte fahren, um einige der Zutaten zu finden.“ Ryou begutachtete gerade die verschiedenen Bambussprossen. „Und alles so frisch!“ Er lief weiter zum nächsten Regal, welches eine ganze Menge Weißkohl präsentierte. Ryou suchte sich ein Prachtexemplar aus und nahm es in die Hand. Suchend blickte er sich um.

Diese Heiterkeit war…angenehm, gestand sich Bakura ein und ließ es schließlich zu, dass seine Mundwinkel sich auseinander zogen. Es war eine positive Abwechslung zu seinem doch eher eintönigen Leben der letzten Jahre. Manchmal vermisste er seine wilde Jugend, die mit viel Lachen gefüllt war. Bakura schüttelte leicht den Kopf. Andere Dinge seiner Jugendzeit brauchte er allerdings nicht. Er war ganz zufrieden mit seiner inneren Ruhe und Gelassenheit, die ihm damals gefehlt hatte.

 

Ryou schaute hinter sich und suchte mit seinen Augen nach Mariku und dem Einkaufswagen. Dieser steuerte ihn gerade an. In dem sonst leeren Wagen lag etwas Gelbes. Ryou ging auf den Ägypter zu und erkannte Bananen, neben denen er den Weißkohl hinlegte. Ob Mariku Bananen mochte? Er konnte sich nicht erinnern, dass der anderen etwas in die Richtung mal erwähnt hatte. Er schaute auf und sah dabei direkt in das Gesicht Marikus. Dieser grinste ihn an und der Ausdruck hatte etwas von…Erwartung? Vorfreude? Wollte er ein Gericht mit Bananen? Oder…Ryou sah wieder zu den Bananen und die Form brannte sich in seine Gedanken. Sofort spürte er wie seine Wangen aufflammten. Verdammt! Er musste schon wieder an den Morgen denken, wo er Mariku bei… bei… dabei überrascht hatte. Er hörte Mariku lachen. Empört drehte er sich wieder zum Regal, an dem immer noch sein Lehrmeister stand. Dieser sah ihn schon wieder mit diesem typisch sadistischen Funkeln und purer Freude im Gesicht an. Verdammt! Er warf Bakura einen vernichtenden Blick zu und drehte sich wieder zu Mariku. So konnte das nicht weiter gehen!

„Hör auf!“, zischte er und verengte seine Augenlider zu Schlitzen. Das hatte er schon oft bei Mariku gesehen, bevor dieser Angriff. Ob es bei ihm genauso gut wirken würde? Zumindest hörte das Lachen augenblicklich auf. Stattdessen grinste Mariku nur noch.

„Es ist mir nun mal peinlich. Das ist kein Grund sich darüber lustig zu machen. Ich habe mich schon entschuldigt“, presste Ryou zwischen den Zähnen hervor. Es war wirklich beleidigend, wie die beiden ihn an diesem Tag behandelten. Er war wirklich der Meinung, dass solch intimen Handlung hinter verschlossene Türen gehörten. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn jemand ihn dabei erwischt hätte. Wie konnte eigentlich Mariku so unbeeindruckt darauf reagieren?

„Schon gut. Ich hab wohl übertrieben, sorry.“ Eine Hand wuschelte durch sein Haar und Ryou blinzelte verwirrt. Seine Wut wich der Verwunderung. Es hatte geklappt? Mariku sah ihn nun mit einem neutralen Gesichtsausdruck an und wartete sichtlich auf etwas. Vielleicht seine Reaktion?

Ryou nickte schließlich. Eine Entschuldigung war gut. Wieder fuhr Mariku durch sein Haar und zerzauste dieses. Irgendwie war das schön. Auch wenn er kein Kind mehr war, war es eine wärmende Geste. Zufrieden lächelnd drehte sich Ryou zum nächsten Gemüseregal. Er sollte endlich mit dem Einkaufen loslegen! Dabei fiel sein Blick auf eine Frau, die ihnen einen missbilligenden Blick zuwarf und ihren kleinen Sohn hastig an der Hand weiterzog. Verwirrt legte Ryou den Kopf schief. Sie waren vielleicht etwas auffällig und vielleicht nicht ganz der Norm entsprechend mit ihren Haarfarben, doch war das nicht irgendwie…übertrieben? Besonders bei Bakura verzogen sich die Gesichtszüge der Frau im Vorbeigehen als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Ryou schluckte. Er blickte zu seinem Lehrmeister, doch dieser stand weiterhin gelassen da und hatte wieder den Ausdruck von Überlegenheit und Herablassung aufgesetzt. Wie kriegten eigentlich Mariku und Bakura diese Mimik hin? Übten sie das vor dem Spiegel? Er sollte definitiv mal fragen. Vielleicht konnten sie ihm Tipps geben. Er würde auch brav sich vor dem Spiegel stellen und trainieren.

 

Mariku trug gerade die letzte Einkaufstüte in die Küche, während Bakura das Auto parkte. Sie hatten eine ganze Menge eingekauft. Ryou war so begeistert gewesen, dass es wohl Bakuras Herz erweicht hatte, der für den ganzen Spaß bezahlte. Ein Grinsen breitete sich auf Marikus Gesicht aus. Auch ein Raubtier konnte sich wohl an etwas erfreuen, was nicht mit Jagen und Wildnis zu tun hatte. Mariku stellte die Tüte auf dem Tisch ab, neben den vier weiteren.

„Kannst du bitte auch gleich ausräumen?“, fragte Ryou, der sich eine Kochschürze – ein Geschenk von Bakura – umgebunden hatte und schon mit der Zubereitung des späten Mittagessens anfing. Oder frühen Abendessens. Mariku blickte auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Wahrscheinlich würde es heute keine weitere Trainingseinheit geben. Mariku verstaute die ganzen Nahrungsmittel in der Küche. Was sie dann wohl stattdessen machen würden?

 

Bakura zerlegte den angebratenen Fisch mit seinen Stäbchen und kostete. Er schmeckte ausgezeichnet! Dies war nicht die übliche Soße, die Ryou die Woche über benutzt hatte. Welch unerwartete Talente sich da auftaten. Es war die richtige Entscheidung gewesen Ryou die Freiheit der Auswahl beim Einkaufen zu lassen. Doch viel unerwarteter fand Bakura das Kontra, das Ryou Mariku geboten hatte. Er hatte wahrhaftig dem Blondchen eine Entschuldigung entrungen. So amüsant Bakura auch die Situation seit dem Morgen gefunden hatte, so hatten sich bei ihm auch leichte Sorgen eingeschlichen. Ryou hatte wie ein typisches Opfer auf das Aufziehen seitens Marikus reagiert. Er hatte offen Scham gezeigt und sich passiv zurückgezogen. Wenn Ryou immer so war, dann war es kein Wunder, dass Tanaka so besorgt geklungen hatte, als er um das Training für Ryou gebeten hatte.

Doch dann hatte er Mariku seinen Unmut offen und direkt gezeigt. Er hatte ihn konfrontiert! Dieses ungezähmte wilde Tier, das schon mehrmals die Kontrolle verloren hatte. Ob Ryou endlich seinen Mut gefunden hatte? Oder er war einfach auf gut Glück von seinen Gefühlen gesteuert in eine Konfrontation gerannt… Nun, das sprach zumindest davon, dass der Kleine sich bei ihnen wohlfühlte. Das forderte definitiv Mut. Das erinnerte ihn daran, dass er eigentlich gar nichts über Ryou wusste. Tanaka hatte, im Gegensatz zu Malik, nicht viel erzählt.

„Was machst du eigentlich, Ryou, außer bei Herrn Tanaka zu arbeiten?“

 

Ryou blickte von seinem Essen auf. Es war ungewöhnlich, dass Bakura so etwas Persönliches fragte. Vielleicht interessierte er sich für ihn? Ryou verbannte den Gedanken. Sein Lehrer war nur höflich.

„Auf die Aufnahmeexamen warten.“

Mariku sah nun auch von seinem Essen auf und schaute verwundert zu Ryou.

„Uni?“, fragte er.

Ryou nickte. „Ich habe sie leider beim ersten Mal nicht geschafft, also muss ich auf die Prüfungen von diesem Jahr warten. Währenddessen jobbe ich in einem Izakaya. Ich bin also ein rôrin…“ Zum Ende des Satzes wurde seine Stimme leiser. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass man die Aufnahmeprüfung wiederholte, doch es hatte trotzdem schon unschöne Reaktionen hervorgerufen. Unsicher blickte er zu den beiden. Bakuras Gesicht zeigte einen Hauch… Besorgnis? Erleichterung wuchs in Ryous Brust.

„Unterbricht dieses Training nicht deinen Lernplan? Die Aufnahmeprüfungen sind hart.“

„Ich erinnere mich noch an die Zeit, wo Malik seine Aufnahmeprüfung hatte. Das war die Hölle. Der hat die drei Monate davor praktisch nicht geschlafen“, stimmte Mariku zu.

Ryou schluckte und wandte den Blick zum Tisch. „Die Prüfungen werden kein Problem sein“, nuschelte er. Doch dann erinnerte er sich an die Aura der Selbstsicherheit, die er so an Mariku und seinem Aikidomeister beneidete. Ryou hob seinen Kopf und straffte die Schultern. Er war stolz auf sein Können! „Ich habe beim letzten Mal nur nicht bestanden, weil ich Fieber hatte. Natürlich lerne ich immer noch und wiederhole fleißig. Ich habe auch meine Unterlagen dabei. Doch eine Pause ist im Moment genau das Richtige, denke ich“, schloss er mit einem Lächeln ab.

Mariku pfiff anerkennend. „Bist also ein schlaues Bürschchen. Sag bloß du willst an die T-Uni?“

Ryou schüttelte den Kopf. „Handai. Tokyo ist mir zu groß… Osaka mag ich viel mehr.“

Mariku lachte auf. Doch Ryou fühlte sich keineswegs aufgezogen von dem Lachen. Es klang einfach nur heiter. Im nächsten Moment spürte er wieder Marikus Hand, die seine Frisur schon wieder durcheinander brachte.

 

Bakura nickte leicht. Handai war ein ambitioniertes Ziel! Dass Ryou dies mit so viel Selbstsicherheit verkündete war schon erstaunlich. Wenn der Kleine doch diese Selbstsicherheit auch sonst zeigen würde, dann hätte er keine Probleme mehr mit aufdringlichen Gästen. Vielleicht würde dieser Monat dafür ausreichen. Er merkte schon eine beachtliche Veränderung in Ryou. Ein Gefühl klopfte vorsichtig an Bakuras Herz und riss dann die Tür auf, um ihn völlig zu überrennen. Bakura konnte es nicht mehr unterdrücken. Den Stolz, der es sich gemütlich in seiner Brust machte.

Spaß

„Warum ist es dir eigentlich nicht peinlich, dass ich heute Morgen… Also…“

Sie waren gerade beim Nachtisch, der aus einem Früchtesalat bestand. Die Bananen hatten Ryou wieder an die Szene im Supermarkt erinnert. Es war ihm immer noch peinlich und er spürte wie schon wieder die Hitze ihm zu Kopf stieg. Er wollte, dass es aufhörte! Also hatte er einfach den Mund aufgemacht und die Frage floss hinaus Richtung Mariku, der neben ihm saß. Ryou merkte aus den Augenwinkel, wie Bakura ihn interessiert musterte. Doch er konnte keinen Hohn sehen, also war das schon in Ordnung.

„Dass du mich beim Telefonsex erwischt hast?“, beendete Mariku den Satz für den Kleinen.

Ryou nickte. Halt…Telefon? Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Mariku dabei telefoniert hatte… Er hatte nur die Stöhne gehört und die unmissverständliche Handbewegung gesehen, die er wie hypnotisiert einige Sekunden lang beobachtet hatte, eher er wieder aus dem Zimmer gestürmt war.

„Nun, es stört mich halt nicht. Ist etwas Natürliches. Sich einen runterholen tut wohl jeder.“

„Schon…aber es ist doch trotzdem sehr intim. Wie kannst du da so gelassen bleiben?“, fragte Ryou und verschränkte seine Arme beleidigt vor der Brust. Seinen Lehrmeister schien das Thema ebenfalls überhaupt nicht zu stören. Der hatte bis jetzt nicht mal mit einem Muskel gezuckt oder die Augenbraue gehoben. Er schien einfach nur interessiert das Gespräch zu verfolgen.

 

 „Wie gesagt, ich bin da offen… Es ist schwer zu erklären warum. Du guckst mir ja nichts weg und es ist mir egal, ob es dich anturnt oder anekelt“, versuchte Mariku sich zu erklären. „Es ist wohl ok, dass du es lieber privat hältst. Aber du hast mich gesehen und nicht umgekehrt. Mir macht es nichts aus, also sollte es auch dir nicht peinlich sein?“ Mariku blickte erwartungsvoll zu Ryou. Das war doch ein guter Tipp! Malik würde bestimmt stolz auf ihn sein für diese diplomatische Hochkunst. Auch wenn es Mariku im ersten Moment überrumpelt hatte, dass Ryou so offen darüber reden wollte. Dabei war sogar Bakura anwesend.

 

Ryou schien lange zu überlegen. „Das ergibt irgendwie Sinn. Es wäre mir peinlich, wenn du mich dabei gesehen hättest. Ist wirklich etwas Privates für mich. Aber da ich dich gesehen habe und es dich nicht stört…sollte es wohl mir zumindest nicht peinlich sein.“ Mariku nickte zustimmend. Genau! Doch die Arme Ryous blieben weiterhin verschränkt und der trotzige Blick ruhte weiterhin auf in seinen Gesichtszügen.

„Also hast du mit deiner Freundin…dabei telefoniert?“, Ryous Stimme klang fester und weniger schüchtern diesmal.

Mariku grinste breit, während er antwortete: „Freund. Sein Name ist Malik.“

Ryou riss überrascht die Augen auf. Mariku war schwul? Und er verkündete das einfach so? Ryou nahm einen tiefen Atemzug. Wie war das? Wenn es Mariku nicht störte, sollte es auch ihn nicht stören. Ein schneller Blick zu Bakura verriet Ryou, dass auch dieser völlig unbeeindruckt davon war. Vielleicht hatte er es auch schon gewusst?

„Malik klingt ähnlich wie dein Name“, kommentierte Ryou schließlich nur.

Mariku nickte und strahlte über das ganze Gesicht. „Ist auch eigentlich der gleiche Name. Sind zwei Variationen. Mein Name ist nur durch die japanische Umschrift, bei der Einreise entstanden, und ich habe mich daran gewöhnt, während Malik die Originalversion ist. Er ist wie ich Ägypter, aber im Gegensatz zu mir ist er schon in seiner Kindheit nach Japan gezogen. Ich bin ja erst mit fünfzehn her gekommen.“

Zum zweiten Mal fühlte Ryou sich völlig überrumpelt. „Huch, du bist gar nicht hier aufgewachsen? Aber man merkt gar keinen Akzent bei dir.“

„Ist mein einziges Talent. Ich hab’s irgendwie mit Sprachen.“ Mariku zwinkerte dem Kleineren zu. „Neben natürlich meiner Kraft“, fügte er mit einem hochmütigen Blick hinzu.

Ryou schüttelte den Kopf. Da war wieder diese Selbstüberzeugung.

„Wie könnt ihr immer so gelassen und überlegen dreinblicken? Als ob ihr über allem und jeden stehen würdet? Habt ihr das vor dem Spiegel geübt?“, fragte er schließlich.

 

Mariku blinzelte einige Male. Einige Male mehr. Bis er schließlich laut auflachte und sich nach hinten fallen ließ. Weiterhin laut lachend. Was für eine Vorstellung! So würde er noch einen Lachkrampf bekommen.

 

Ryou schaute empört zu dem anderen, der vor lauter Lachen nicht mehr Sitzen konnte und nun auf dem Boden lag. Was war denn daran so lustig? Ohne zu überlegen boxte er Mariku in die Schulter. „Hey!“

„Spiegel… Bakura vor dem…Spiegel… Sein fieses Grinsen übend“, presste dieser zwischen zwei Lachanfällen hervor.

Ryou überlegte. Jetzt, wo er darüber nachdachte, war das durchaus eine witzige Vorstellung.

Er blickte zu seinem Lehrmeister und stieß auf eine Wand. Die Lippen Bakuras waren zu einem Lächeln auseinandergezogen. Doch dahinter bildete sich eine Wand aus Wut… Ryou spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Das war gruselig!

„Der Gesichtsausdruck kommt von innen. Er spiegelt bei uns beiden die Einstellung“, erklärte Bakura in einem überfreundlichen Tonfall, der Ryou eine Gänsehaut über den Körper jagte. „Doch du kannst es auch vor dem Spiegel üben. Es kann sehr nützlich sein, wenn man die Kontrolle über seine Gesichtsmuskulatur beherrscht.“ Diese Worte lösten einen erneuten heftigen Lachanfall bei Mariku aus. Ryou schluckte. Die Wand wurde dicker! Er konnte sie fast schon sehen! Gleich würde sie auf sie einbrechen.

Bakura knallte mit seiner Hand auf den Tisch.

„Ruhe! Ab mit dir nach draußen, Mariku. Zwanzig Runden um das Dojo!“

 

 

Mariku betrat frisch geduscht die Küche nach seiner „Disziplinarmaßnahme“. Ryou war gerade dabei den Abwasch zu erledigen, während ihr werter Herr Meister gemütlich am Tisch ein Buch las. Wenn der Typ Respekt will, soll er nicht so faul sein!, dachte Mariku spöttisch. Er schüttelte seinen Kopf, was die nassen Haare in alle Richtungen schwingen ließ. Einige kalte Tropfen landeten auf dem Aikidomeister, womit Mariku einen vernichtenden Blick erntete. Davon unbeirrt setzte er sich ebenfalls an den Tisch und goss sich Tee ein. Sein Blick wanderte zur Uhr. Es war erst halb sieben.

„Hey, was machen wir heute Abend?“, fragte er in die Runde.

Bakura riss sich von seinem Buch los und hob eine Augenbraue. War das dessen Standartantwort auf alles? Neben den Disziplinarmaßnahmen und gehässigen Kommentaren natürlich.

„Es ist Samstag und noch massig Zeit. Lasst uns wieder in die Stadt fahren. Es ist doch langweilig die ganze Zeit in diesem abgeschiedene Haus zu hocken.“

 

Bakura legte sein Buch zur Seite. „Du bist schlimmer als ein Kind“, konstatierte er resigniert. Nämlich ein muskelbepackter Kerl mit einem ausgeprägten Sexualtrieb und gefährlichen Wutausbrüchen, der wie ein Kind Unterhaltung braucht, fügte er in Gedanken hinzu. Zumindest schien Mariku seit dem Telefonat eine beachtlich gute Laune zu haben.

Ryou stellte gerade die letzten Teller weg und gesellte sich ebenfalls an den Tisch. Nachdenklich sprach er zu dem Lehrmeister: „Es wäre schon lustig etwas zu unternehmen. Aber was gibt es denn in der Stadt?“

Marikus Blick hellte sich auf. Er freute sich sichtlich über die Unterstützung aus unerwarteter Ecke. „Feiern!“

„Feiern?“, Ryou blickte unschlüssig zu Bakura. Er war kein großer Fan von Saufgelagen. Betrunkene Menschen waren ihm unangenehm.

Bakura seufzte und ergab sich. Da ging sein gemütlicher Abend mit Izumi Kyoka dahin…

„Das ist eine kleine Stadt, da gibt es nicht so viele Möglichkeiten… Es gibt aber natürlich einige Spielhallen, Izakaya, einen westlich gestalteten Irishpub und einen kleinen Tanzclub, der ebenfalls überwiegend westliche Musik spielt. Ich glaube er wird von Brasilianern geführt.“

„Tanzen!“, schrie Mariku begeistert.

Bakura seufzte. Mutierte Mariku immer zu so einem Energiebündel, wenn er befriedigt war, oder war es nur die Langweile? Ruhig wandte er sich zu Ryou und hob fragend eine Augenbraue.

 

Ryou sah verwundert zu Mariku. Der war ausgesprochen heiter und schien wirklich von der Idee tanzen zu gehen begeistert. Ryou lächelte und schaute zu Bakura. Die endgültige Entscheidung lag wohl bei diesem. Da bemerkte er den fragenden Blick. War etwa seine Meinung auch gefragt?

„Nun, Bars und Arcadezenter interessieren mich nicht“, fing er vorsichtig an. „Tanzen wäre vielleicht ok. Ich war ehrlich gesagt noch nie in einem Club.“

„Dann müssen wir unbedingt hin!“, schrie Mariku begeistert auf.

Bakura nickte langsam. Nun, damit wäre es wohl entschieden.

 

Ryou wartete vor dem Haus und blickte in den Himmel. Hier draußen konnte er viel mehr Sterne sehen als in der Stadt. Interessiert suchte er nach einem Sternenbild, welches er kannte. Er hob seine Hand und zeichnete mit dem Finger eine imaginäre Verbindungslinie zwischen zwei Sternen. Da! Das kannte er…

„Willst du dir nicht eine Jacke mitnehmen? Nachts wird es ziemlich kalt hier.“

Ryou ließ seine Hand sinken und drehte sich in die Richtung der Stimme. Ein frischer Wind zog auf und wehte eine Haarsträhne in sein Sichtfeld, die er beiseite strich. Am Eingang stand sein Lehrmeister, dessen Haare ebenfalls von dem Wind durcheinandergebracht wurden. Ein Lächeln legte sich auf Ryous Lippen. Die Frisur seines Lehrers schien immer wild zu sein, egal zu welcher Tageszeit. Andererseits passte es gerade wunderbar zu der schwarzen Kleidung des Lehrers. Der Kontrast und das Mondlicht ließen das Weiß leuchten. War es nicht immer in den Geistergeschichten so, dass die bildhübsche Frau von einem Dämon besessen war und übernatürlich erschien? Ryou schüttelte den Kopf und ging zurück zum Eingang.

„Stimmt. Ich hole mir schnell eine.“

 

Die Musik war rhythmisch und schnell, während bunte Lichter von allen Seiten die Tanzfläche beleuchteten. Fasziniert schaute sich Ryou um und entdeckte an der Seite eine Reihe von Tischen. Er suchte sich einen Platz, von dem man sowohl die Tanzfläche als auch die Bar überblicken konnte. Es waren noch nicht viele Gäste da und alle saßen noch. War es nicht eine Verschwendung, wenn die Tanzfläche leer blieb? Er sah sich die anderen Gäste an. Es waren überwiegend junge Leute, doch auch eine Gruppe in Anzügen, die wie typische Angestellte aussahen, saß an einem der Ecktische. Tanzbars waren wohl nicht nur ein Vergnügen für Schüler und Studenten, stellte er verwundert fest. Ryou hob seine Hand und winkte dem Rest seiner eigenen Gruppe zu. Bakura stellte die beiden Getränke in seiner Hand ab und setzte sich auf die gegenüberliegende Bank.

„Tanzen!“, rief Mariku, der immer noch neben dem Tisch stand.

„Die Tanzfläche ist leer, Blondchen.“

„Nenn mich nicht Blondchen, alter Greis. Ist doch besser wenn es leer ist, dann hat man Platz!“

 

Ryou beobachtete entgeistert wie Mariku sein Glas abstellte und zur Tanzfläche schritt. Das war wohl wahres Selbstbewusstsein! Für einen kurzen Augenblick fühlte er Fremdschämen in sic aufsteigen und blickte verstohlen zu den anderen Gästen, doch keiner beachtete sie. Verstoß es nicht gegen irgendwelche konventionellen Regeln einfach so das Tanzen zu eröffnen?

„Entspann dich und schau dir einfach an, was Mariku zu bieten hat.“

Ryou lächelte seinen Lehrmeister entschuldigend an und folgte dem Rat. Bakura schien die Situation nicht im Geringsten zu stören, also war es vielleicht in Ordnung so?

 

Wow. Der Weißhaarige spürte das starke Bedürfnis seinen Kinnladen nach unten fallen zu lassen. Mariku konnte tanzen! Manchmal schien er geschmeidig wie eine Raubkatze, die sich in fließenden Bewegung von einer Pose zur nächsten bewegte. Manchmal strotzte er von purer Muskelkraft, während er passend zum Bass seinen Körper wippte oder mit den Armen ausholte. Und manchmal wirkte er wie ein freudiges Kind, das zur Musik hüpfte und sogar das wirkte gekonnt! Besonders die Freude, die Mariku im Gesicht stand, war schön und ansteckend. Es dauerte nicht lange, bis er weitere Gäste auf die Tanzfläche gelockt hatte. Zwischendurch wirkten die Tänze albern, doch die Heiterkeit mit der die Akteure die Bewegungen ausführten, ließ Ryou breit lächeln.

„Man muss nur Spaß an etwas haben“, hörte er die durch die Musik leise wirkende Stimme Bakuras und drehte sich wieder zu diesem. Dabei stieß er auf ein breites Grinsen, welches von jeglicher Herablassung befreit war, die er es inzwischen so gewohnt war darin zu sehen. Ryou fühlte seinen Herzschlag beschleunigen.

„Tanzen ist ähnlich wie Aikido. Nur, dass man hier die Kontrolle fallen lässt. Komm, lass uns mitmachen.“

Der Kleinere griff voller Wunder nach der Hand, die ihm entgegen gereicht wurde, eher er mit Hilfe dieser zu den sich bewegenden und windenden Körpern gezogen wurde. Ohne jegliche Realisierung passte er seine eigenen Bewegungen der Musik an. Dabei blickte er weiterhin verwundert Bakura an, während sein Herz immer schneller schlug.

Vergangenheit

Ryou lag in seinem Bett und starrte die Decke an. Der gestrige Abend war wirklich etwas Besonderes gewesen. Er hatte neue Erfahrungen gemacht und dabei Spaß empfunden. Doch gleichzeitig hing das Gefühl von etwas Mysteriösem in der Luft, wenn er sich wieder daran erinnerte. Er versuchte schon seit einiger Zeit das Rätsel zu lösen, während die ersten Sonnenstrahlen über seine Decke krochen und sich seinem Gesicht immer weiter näherten. Etwas an seinem Lehrmeister war anders gewesen an diesem Abend. Die unnahbare Wand, dessen Existenz er erst durch das Fehlen eben dieser realisiert hatte, war für die wenigen Stunden auf der Tanzfläche verschwunden gewesen. Stattdessen hatte er zum ersten Mal…einen einfachen jungen Mann gesehen. Keinen übermächtigen Wolf in Menschengestalt und keine Autoritätsfigur, die ihm in allem überlegen war.

Bakuras freudiges Gesicht, die mit Heiterkeit erfüllten Augen – all die Momente des Abends tauchten durcheinander vor Ryous innerem Auge auf als würde er durch ein Kaleidoskop blicken. Und dann war da der langsame Song gewesen. Es war eine Ballade irgendeiner westlichen Rockband gewesen. Er kannte weder das Lied noch konnte er auf Anhieb das Englisch verstehen. Doch das hatte keine Rolle gespielt. Das einzige was zählte war der langsame Rhythmus gewesen, dem sich seine Bewegungen angepasst hatten. Er hatte seine Lider halb geschlossen, die Welt um ihn völlig vergessen. Der Körper vor ihm, der in kreisenden Bewegungen näher gekommen war, schien so natürlich. Es war die einzig richtige Folge gewesen diesem Körper näher zu kommen. So diktierte es die Musik. Er hatte keine Sekunde gezögert und plötzlich hatte er die Wärme auf seiner Haut gespürt, die Bakuras Körper ausstrahlte… Hände fuhren über seinen Rücken und legten sich auf seine Hüften. Mit jeder Zelle seines Körpers spürte er Bakura, als wäre dieser nur ein weiterer Teil von ihm selbst. Er hob seinen Kopf und für einen Augenblick vergaß Ryou zu atmen. Ähnlich wie seine eigenen zuvor, waren Bakuras Lider halb gesenkt. Bei der spärlichen Beleuchtung konnte er kaum die Farbe von Bakuras Augen erkennen und so war es als würde der Nachthimmel auf ihn herabblicken. Bakura wirkte genauso vergessen und von der Musik verschlungen wie er selbst. Diesen Moment des Verstandes loslassend, ließ Ryou seine Arme auf den Schultern des Größeren ruhen.

Ryou spürte wie seine Wangen bei der Erinnerung wärmer wurden und so schlug er seine Decke zur Seite und setzte sich auf. Er wusste nicht, warum genau er errötete. Weil es inzwischen völlig natürlich für ihn geworden war, seinen Lehrmeister Bakura zu nennen? Zumindest in der Sicherheit seines eigenen Kopfes. Weil sie gestern so nah aneinander getanzt hatten?

Er hatte das Gefühl die Antwort lag genau vor ihm, doch wie ein listiger Fuchs wand sie sich aus seinen Fingern und flüchtete irgendwohin in die Weiten seines Unterbewusstseins. Seufzend gab er auf und schwang seine Beine aus dem Bett. Langsam sollte er aufstehen. Vielleicht würde ihm die Erkenntnis später kommen. Nun sollte er sich mit den unmittelbaren Dingen des Lebens beschäftigen. Wie der Vorbereitung des Frühstücks.

 

Es war Mittag. Sie saßen alle am Tisch und aßen schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ryou blickte unschlüssig von Mariku zu Bakura und wieder zurück. Mariku schien mürrisch, doch das lag vermutlich an der Uhrzeit. Sie waren immerhin erst um fünf Uhr morgens zurück gewesen. Bakura hatte trotzdem darauf bestanden, dass sie um halb zehn aufstehen sollten. Mariku als bekannter Schlafliebhaber musste ja per Definition unzufrieden mit der „frühen“ Uhrzeit sein. Bakura dagegen schien die verkürzte Schlafzeit nicht im Geringsten zu stören. Er hatte keine Augenringen und…nun, er strahlte einfach keine Müdigkeit aus, wie es Mariku tat. Ihr Lehrmeister schien eher geistig nicht anwesend zu sein.

„Haben wir heute Training?“, fragte Ryou zaghaft. Dieses Schweigen wurde langsam entnervend.

Bakura gab keine Antwort. Er führte die nächste Scheibe Tamagoyaki zu seinem Mund wie eine Puppe. Ryou seufzte. Vielleicht war das doch Müdigkeit?

 

Mariku knurrte und schnippte mit den Fingern vor Bakuras Gesicht. Es war dessen Idee so früh aufzustehen! Also konnte er verdammt nochmal mit gutem Beispiel voran gehen und wach sein!

„Hey! Alter Mann!“

Bakura sah auf und warf ihm einen verachtenden Blick zu. Gut, da war doch noch ein Mensch drin.

„Was.“

Ok, Mariku revidierte sein Urteil. Das da war kein Mensch. Dabei hatte er immer sich selbst für einen echten Morgenmuffel gehalten. Gegen Bakuras ausströmende Killerwellen war er jedoch ein zahmes Kaninchen. Ein weißes Kaninchen, der nie Zeit hatte. Verwirrt blinzelte Mariku. Wo kam denn das Bild her? Er brauchte echt mehr Schlaf. Außerdem sollte er sich auf das mordlustige Monster vor ihm konzentrieren.

„Entschuldigung. Ich wollte wissen, ob wir heute trainieren werden“, kam Ryou ihm zuvor. Die Worte wurden von einem unschuldigen Augenklimpern begleitet. Ob der Kleine dies mit Absicht tat? War auf jeden Fall eine gute Taktik, wie Mariku einen Moment später verblüfft feststellte.

Die mörderische Aura verschwand schlagartig, als Bakura sich zu Ryou wandte. Stattdessen legte sich ein neutraler Gesichtsausdruck in dessen Züge. Mariku hielt in seiner Bewegung inne, was die Eierrolle auf halben Weg zu seinem Mund ließ. Nein, nicht neutral. Da war ein Hauch… Sanftheit in Bakuras Zügen. Er wirkte nicht so streng. Auch der Abstand, den er stets zu ihnen wahrte, war nicht mehr vorhanden. Stattdessen strahlten die braunen Augen eine Art Wärme aus. Der Blonde musste in seine Backe beißen, um nicht laut loszulachen. Das war einfach großartig! Der böse Wolf wurde von einem Hirsch verzaubert.

„Ja, werden wir. Aber ich denke wir machen nur eine Stunde aufwärmen und dann drei Stunden am Stück Training. Das sollte für heute reichen.“

 

Malik. Malik. Denk an Malik. An seine schöne bronzene Haut. An seine weichen Lippen. An sein stolzes Lächeln. Malik. Malik. Mariku wiederholte es immer wieder in seinen Gedanken wie ein Mantra und biss die Lippen zusammen. Hey, er war derjenige mit der schlechten Selbstbeherrschung! Bakura sollte es wirklich nicht so herausordern und besser wissen. Es sei denn er wollte ein Blutbad.

„Ist das alles? Wir üben das seit einer Woche, Blondchen. Steh auf und mach’s nochmal. Das ist nicht so schwer.“

Knurrend erhob sich Mariku von der Matte und richtete sich vor Bakura auf. Der wollte eindeutig ein Blutbad.

„Mariku. Konzentrier dich. Du darfst nicht das Gleichgewicht verlieren. Das kann ja meine Oma mit dem Krückstock besser.“

Mariku flog auf die Matte. Schon wieder. Obwohl er der Verteidiger war. Er knirschte mit den Zähnen. Das war eine harte Landung. Bakura hatte ihn zuvor noch nie bei den Übungen einfach umgeworfen. Seine Finger kribbelten und der rote Nebel schlich sich langsam in sein Bewusstsein. Malik. Malik. Malik.

Bakura schnippte mit seinen Fingern.

„Ryou, komm her.“

 

Angesprochener schluckte, doch erhob sich von seinem Platz und folgte der Aufforderung. Bakura war anders. Er spottete schon seit einer halben Stunde über Mariku und führte ihn regelrecht vor. Zudem warf er ihn ständig harsch zu Boden. Das war kein Anfängertraining mehr. Das da war brutal.

„Ude-Osae. Ai-Hanmi.“

Mutlos folgte Ryou der Anweisung und streckte den entsprechenden Arm aus damit Mariku danach greifen konnte, was dieser auch sofort tat. Ryou schluckte ein weiteres Mal. Mariku sah aus, als würde er gleich ihren Lehrmeister mit bloßen Händen den Hals umdrehen.

Ryou führte die Technik aus, doch er kam nicht weit. Eine Hand schubste ihn an der Schulter und brachte ihn aus dem Gleichgewicht.

„Zu schwacher Stand. Mariku hätte sich nur zur Seite drehen müssen und du wärst umgeflogen. Was soll das?! Stell dich richtig hin.“

Ryou begann die Technik stumm von neuem.

„Konzentrier dich! So kannst du leicht umgeworfen werden. Hast du denn nichts gelernt? Der Stand ist die Basis. Wenn du das immer noch nicht kannst, was willst du noch hier, du Schwächling?!“

Was war es nur? Diese Leere, die von ihm Besitz ergriff, während die herablassenden, gar verachtenden Worte auf ihn niederprasselten. Ryou hielt in der Bewegung inne und ließ seine Arme sinken. Sein Blick war nach unten gerichtet, doch er sah den Boden nicht. Vor ihm war ein tiefer Abgrund, in den er fiel. Hoffnungslos versuchte er nicht weiter zuzuhören. Doch es war vergebens. Die Worte hallten in seinen Gedanken wieder. Etwas in seiner Brust zog sich schmerzlich zusammen und er wusste, dass sein Körper zitterte.

„Hast du sie noch alle! Halt endlich deine verdammte Klappe!“

In irgendeiner Ecke seines Bewusstseins wusste Ryou, dass es Mariku war, der die Worte schrie. Er wusste dies bedeutete, dass dieser die Beherrschung verloren hatte. Doch der Teil seines Ichs, der über diese Dinge nachdachte, war so klein und unbedeutend, dass er ihm keine Beachtung schenkte. Stattdessen konzentrierte er sich auf… ja, auf was? Auf dieses stechende Etwas. Es schmerzte. Es zog. Es schrie. Es fiel. Stumm schritt Ryou zur Tür und verließ den Raum.

 

Mariku holte mit seiner Faust aus und schlug zu. Das war echt das Letzte! Merkte Bakura wirklich nicht, was er da anrichtete? Mariku hatte all seine Wut in seine geballte Faust gepackt. Zu seiner Überraschung spürte er Sekunden später Haut und Knochen. Bakura hatte versucht ihm auszuweichen und so hatte Mariku nicht mit seiner ganzen Wucht getroffen. Doch er hatte getroffen. Diese Tatsache überraschte Mariku dermaßen, dass er inne hielt und verwirrt Bakura anstarrte. Ok, das Raubtier war eindeutig nicht ganz anwesend, wenn er einen frontalen Angriff nicht stoppen konnte.

 

Bakura machte einen Schritt zurück und rieb seine Wange. Das hatte wehgetan. Doch viel mehr als seine Wange war sein innerer Stolz verletzt. Wie konnte er es zugelassen haben, dass Mariku ihn getroffen hatte?

Irgendwie, wenn er darüber nachdachte, wie es überhaupt dazu gekommen war, konnte er die Situation nicht ganz greifen.

„Wenn der Schlafmangel dich so mitnimmt, hättest du uns einfach alle schlafen lassen sollen.“

Bakura sah auf und betrachtete nachdenklich Mariku vor sich, der ihn mit Missmut ansah. Nicht mit Schadenfreude oder Triumph. Ok, irgendwas stimmte hier nicht.

„Ich fühle mich nicht müde.“ Er sah sich um und stellte fest, dass sein zweiter Schüler fehlte. „Aber ich muss sagen, ich war bis jetzt geistig etwas abwesend gewesen. Wo ist Ryou?“

Mariku starrte ihn mit großen, ungläubigen Augen an. Es verstrich eine schweigsame Minute, die sich immer länger dehnte. Die Zikaden zirpten. Bakura verschränkte ungeduldig die Arme.

„Ich dachte nicht, dass das jemals aus meinem Mund kommen würde, aber wenn du auf Autopilot so bist, finde ich das höchst beunruhigend.“

Bakura schüttelte leicht den Kopf. „Ich dachte nie du würdest so zimperlich sein. Soweit ich mich erinnere, habe ich euch heute nur etwas mehr Ratschläge gegeben. Das beantwortet immer noch nicht meine Frage nach Ryou.“

Auf diese Aussage hin folgte wieder Stille. Langsam konnte sich Bakura nicht mehr entscheiden, ob er die Situation lächerlich oder nervend finden sollte. Er tippte mit einem Finger auf seinen Oberarm.

Schließlich seufzte Mariku und ließ sich auf die Matte nieder, wo er entspannt die Beine ausstreckte.

„Ryou ist vermutlich in seinem Zimmer. Ich kann es ihm nicht verübeln. Uns rumschubsen, wörtlich übrigens, ist kein guter Ratschlag. Uns beleidigen auch nicht. Jemanden als unfähig zu beschimpfen ist übrigens eine Beleidigung. Das weiß sogar ich. Verdammt, wir machen das erst seit einer Woche!“ Mariku schoss ihm einen wütenden Blick zu. „Ich weiß, dass ich mich manchmal selbst dafür fertig mache, dass ich nicht so schnell vorankomme, aber hey, du müsstest es besser wissen! Du machst das seit Jahren! Du weißt, dass man diese Kampfkunst nicht in einer Woche perfektionieren kann.“

Bakura nickte automatisch. Natürlich wusste er das. Er hatte mit Aikido in seiner Mittelschulzeit begonnen. Das war später als die meisten anderen in seinem Club und er hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass er nicht in wenigen Wochen die Jahre seiner Mitschüler nachholen konnte, egal wie oft sein Trainer ihn als unfähigen Wurm beschimpft hatte… Bakura holte tief Luft und ließ sich ebenfalls auf die Matte fallen. Was genau hatte er gesagt? Er ging sein Verhalten der letzten Stunde im Kopf durch.

 

Das war…gruselig. Nach all den Jahren steckte sein erster Sensei ihm immer noch in den Knochen. Bakura legte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus. Doch das war nicht genug. Also lachte er laut auf.

„Du hast zehn Sekunden zu Erklären was daran so witzig ist, oder ich schlag deine Fresse zu Brei“, knurrte Mariku von der Seite.

Bakura hob abwehrend seine Hand, doch er konnte nicht aufhören zu lachen. Die Realisation war befreiend.

 

Es dauerte einige Zeit, bis er sich beruhigt und wieder aufgerichtet hatte. Mariku sah ihn genervt an und verlangte mit seinem Blick unmissverständlich eine Erklärung. Bakura selbst spürte das Verlangen es jemanden zu erklären, also gab er dem Impuls nach und erzählte.

„Ich habe mit Aikido in der Mittelschule begonnen. Direkt im ersten Jahr. Doch fast alle anderen aus dem Club hatten es schon in der Grundschule begonnen. Sie waren nicht unbedingt alle überragend oder talentiert, aber sie waren viel besser als ich. Auch nach dem ersten Monat konnte ich nicht aufholen, was die anderen in Jahren gelernt hatten. Das ist eigentlich verständlich, doch der Lehrer hatte etwas in mir gesehen. Er war viel harscher zu mir und er erwartete, dass ich alles auf Anhieb konnte. Er wollte, dass ich bis zu den Frühjahresmeisterschaften für die Rangkämpfe bereit war. Du weißt bestimmt wie Clubs so sind.“ Bakura warf einen Blick zu dem anderen, der nur mit den Schultern zuckte.

„Nun, sie sind ziemlich hart und ernst. Doch das war ziemlich übertrieben. Der Lehrer beschimpfte mich durchweg und sein Training war unmenschlich. Ich glaube seine Lieblingsbezeichnung für mich war „Wurm“. Immer mit einem ergänzenden netten Adjektiv. Das hatte tatsächlich geholfen und ich bin in den Meisterschaften angetreten. Ich schlug mich sogar nicht schlecht. Ich konnte die Techniken recht gut. Danach wurde das Training jedoch nur noch schlimmer. Als ich irgendwann dem Niveau meines Lehrers näher kam, fing er wirklich an mich fertig zu machen. Das war schon kein Training mehr, sondern reine Schikane. In der Mitte meines zweiten Jahres verließ ich den Club und trat einem Verein bei. Erst da lernte ich, um was es bei Aikido ging. Die Seele dieser Kunst verstand ich erst, als ich einem wirklichen Meister begegnete. Meister Shimizu lehrte mich die Bedeutung der Bewegungen, die ich bis dahin mechanisch ausgeübt hatte. Man kann sagen, ich habe erst da wirklich mit Aikido begonnen.

Ich hätte nicht erwartet im Autopilotmodus, wie du es genannt hast, zu den Methoden meines ersten Lehrers zurückzugreifen. Ich dachte nicht, dass der Einfluss nach all den Jahren noch da wäre.“ Bakura verstummte. Das war es, was in ihm das Bedürfnis ausgelöst hatte. Das Verlangen sie zu den Besten zu machen und sie dann fallen zu lassen.

„Ok, der Typ klingt nach einem Bastard. Warum genau hast du jetzt gelacht?“

Mariku klang nicht mehr wütend. Das war schon mal ein Fortschritt.

„Weil es mir vorher nicht bewusst war. Jetzt, wo ich weiß was an mir genagt hat, kann ich es endlich loslassen. Das ist sehr erleichternd.“

Bakura hielt einen Arm über seine Augen. Er hätte nie erwartet, dass in diesem Monat er sich verändern würde. Er hatte gedacht, er würde unberührt zwei Menschen etwas beibringen und sie danach wieder vergessen. Doch dies waren nicht irgendwelche zwei Menschen. Nein, mit Mariku und Ryou verband ihn etwas. Manchmal werden deine Schüler zu deinen Kindern oder deinen Freuden, hatte Meister Shimizu ihm mit auf dem Weg gegeben, als Bakura seinen ersten Dan erreicht hatte. Zum ersten Mal bewahrheitete sich dieser Satz. War es wirklich erst eine Woche, dass er die beiden trainierte? Es kam ihm viel länger vor. Dinge veränderten sich nicht so schnell… doch das stimmte nicht, nicht wahr? Bakura erlaubte sich zum ersten Mal seit längerem bewusst ein ehrliches, sanftes Lächeln. Seine Welt hatte sich innerhalb eines Tages verändert, als er zum ersten Mal das Dojo von Shimizu Kenji betreten hatte.

Bakura nahm seine Hand weg und blickte zu Mariku, der ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Missmut anstarrte. Es gab wahrlich nur einen Menschen, der diese zwei Emotionen so gut miteinander verbinden konnte.

„Ich muss mich entschuldigen.“ Er fuhr mit der Hand über seine leicht schmerzende Wange. „Nimm das hier als Ausgleich.“

Mariku grinste. Da kam wohl endlich der Triumph. Jetzt wo er darüber nachdachte, war es beachtlich, dass Mariku sich so gut beherrscht hatte. Anstatt wild und endlos auf ihn einzuschlagen, konnte Mariku sich nach dem ersten Schlag stoppen und ihm erklären was das Problem war. Das bewies, dass er nicht völlig von der Wut übermannt wurde. Bakuras Herz fühlte sich, wie schon einmal zuvor, nach einer zufriedenen Katze in der Sonne. Warm und pulsierend.

Die Tür zum Dojo wurde kraftvoll und laut zur Seite geschoben und Bakura erblickte einen entschlossenen Ryou. Dieser ließ nach einigen Sekunden sichtlich erleichtert die Luft aus seinen Lungen entweichen und schritt näher zu ihnen, während Bakura sich in eine Sitzposition aufrichtete.

Die Katze, zu der sein Herz geworden war, schnurrte laut. Stolz. Ich bin so stolz auf meine Schüler. Praktizierender von Aikido, Meister des 4. Dan, Lehrer seit fünf Jahren – zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Bakura die glückselige Freude über den Erfolg seiner Schüler.

„Ich muss mich auch bei dir entschuldigen. Es tut mir Leid. Die Vergangenheit hat mich eingeholt und übermannt.“ Lächelnd sah er zu dem Kleineren auf, der schnellen Schrittes die beiden Sitzenden erreichte und sich vor Bakura niederließ. Ryou streckte eine zierliche Hand seinem Lehrmeister entgegen. Bakura ergriff diese und zog Ryou näher. Er wiederholte nur einige Zentimeter von Ryous Gesicht entfernt „Entschuldige“. Der Kleinere nickte und lächelte sanft. Auch dieser Schüler hatte sich in nur einer Woche verändert. Wahrscheinlich mehr als jeder andere. Zufrieden und befreit legte Bakura seinen Kopf auf Ryous Schulter ab. Er selbst hatte auch noch zu lernen. 

Perspektive

Mariku schnaubte. Das erntete ihm einen nervösen Blick von Ryou und einen zornigen von Bakura ein. Was ihm herzlichst egal war. Er schnaubte wieder. Diesmal drehte sich Ryou weg von ihm und schaute wie zufällig zu den offenen Türen des Dojo und der sich dahinter bietenden Landschaft. Bakuras Augen verengten sich zu Schlitzen. Und dann sah plötzlich auch er mit verschränkten Armen weg und sah zur Wanduhr – in der entgegengesetzte Richtung von Ryous Blick. Mariku überlegte kurz, ob er ein weiteres Schnauben von sich geben sollte. Doch gemessen daran, dass es ihm bis jetzt keinen Erfolg eingebracht hatte, verdrehte er lieber die Augen. Nicht, dass man ihm Beachtung schenkte oder diese Geste einer Reaktion würdigte. Nein, lieber taten die anderen beiden als wäre nichts los. Mariku konnte sich nicht zurückhalten und schnaubte nun zum dritten Mal – lauter als die Male zuvor.

Bakura klatschte in die Hände.

Irgendwie war sich Mariku sicher, dass es noch nicht Zeit für den Unterricht war. Doch brav erhob er sich und setzte sich dann richtig hin. Aus den Augenwinkeln sah er Ryou es ihm gleichtun, den Blick leicht zur Seite gelenkt. Fein. Wenn Bakura so erpicht darauf war die Situation zu ignorieren, so würde er mitmachen. Viel länger konnten sie nicht mehr um einander auf Zehenspitzen tanzen.
 

Bakura verbat sich ein Seufzen. Was er seit zwei Tagen schon tat. Seit drei benahm sich Ryou…anders. Genauer genommen seit dem unglücklichen Sonntag. Wieder erstickte Bakura das Bedürfnis seine Stimmung kund zu tun. Mariku mit seinem lauten Schnauben und Grollen und Knurren und Augenverdrehen und Anfunkeln machte die Situation auch keinen Deut besser. Trotzdem.

„Heute wiederholen wir erst wieder die beiden Grundtechnicken“ – da kam wieder das Schnauben, das Bakura ignoriere – „und dann die verschiedenen Angriffstypen.“

Seine beiden Schüler erhoben sich sogleich, wobei Ryou es zaghaft tat. Er blieb einen Schritt hinter Mariku zurück auf dem kurzen Weg zur Mitte des Raumes, der mehr Platz bot und wo Bakura mit verschränkten Armen stand.
 

Ryou holte tief Luft und griff nach Marikus Handgelenk, der ohne zu zögern die Technik ausführte. Ryou musste nicht darüber nachdenken, was er zu tun hatte. Das Abrollen funktionierte inzwischen automatisch und er konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen, während er wieder aufstand und wieder angriff. Wirklich, es war fast schon langweilig. Seit drei Tagen wiederholten sie nur und lernten keine neuen Techniken. Bakura schien viel Wert auf die Basisübungen zu legen. Bakura. Ryou biss die Zähne zusammen und versuchte sich auf Marikus Bewegungen zu konzentrieren, doch wirklich, er hätte das Abrollen im Schlaf machen können. Das brauchte keinerlei Konzentration.

„Halt, bleibe genau da stehen.“

Ryou fror ein. Bakuras Stimme hatte durch seine nebelartige Gedankenlosigkeit geschnitten wie ein Schwert. Sofort spürte er wie seine Muskeln sich anspannten und praktisch vor Konzentration vibrierten. Bakura kam näher.

„Du solltest niemals die Kontrolle über den Griff verlieren, Mariku“, erklärte er. „Hier, wenn der Angreifer“, Bakura legte seine Finger auf Ryous Handgelenk, direkt unter die Stelle, an der Mariku ihn gerade hielt, „nur leicht…“ Ryou hörte den Worten nicht mehr zu. Nein, viel genauer konnte er sie nicht wirklich mehr wahrnehmen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich einzig und allein auf die Berührung der Finger auf seiner Haut. Hitze breitete sich von dem Punkt aus aus und strömte durch seinen ganzen Körper. Sein Blick haftete an den langen Fingern, die im Kontrast zu seiner eigenen hellen Haut leicht gebräunt wirkten. Er merkte, wie sich die Härchen auf seinem Arm aufstellten. Nicht mehr lange und die Hitze würde zu seinem Kopf steigen, da war er sich sicher. Bei dem Gedanken zuckte er leicht. Bakura ließ ihn los und die Anspannung verschwand. Ryou atmete tief ein und aus und sah dann mit einem Lächeln zu Mariku. Hoffentlich hatte er nichts bemerkt! Mariku sah ihn gar nicht, sondern direkt in Bakuras Augen. Ryou blinzelte verwirrt über die Wut, die offensichtlich in Marikus Blick lag. Mariku ließ ihn auch los und knurrte. Ryou trat automatisch einen Schritt zurück. Er war die letzten Tage so sehr in seine eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass er gar nicht Marikus… Stimmung mitbekommen hatte. Klar, er schnaubte viel, jetzt wo er darüber nachdachte, aber… Er sah von Mariku zu Bakura, der ausdruckslos sein Gegenüber anstarrte.

„Äh“, versuchte er etwas zu sagen, doch er wusste wirklich nicht genau, was er sagen sollte. So standen sie zu dritt reglos da, während Marikus geballte Fäuste langsam anfingen zu zittern. Ryou schluckte und sah gefesselt zu. Schließlich hörte er Bakura seufzen und riss seinen Blick los, um zu ihm zu sehen. Er sah… müde aus. Ryou blinzelte.

„Ich glaube frische Luft könnte uns allen gut tun. Wie wäre es mit einer Bergwanderung?“
 

Ryou summte fröhlich, während er die Sandwiches belegte. Neben ihm stand Mariku und schnitt die Tomaten. Bakura hatte ihnen aufgetragen etwas vorzubereiten, was sie mit auf die Wanderungen nehmen konnte. Anscheinend sollte es ein längerer Spaziergang werden. Ryou unterbrach sein Summen, um breit grinsen zu können. Das hörte sich aufregend an! Er musste unbedingt seine Malsachen mitnehmen. Er hatte schon von Anfang an über den Berg nachgedacht und sich gewünscht die Spitze zu besteigen. Er war sich sicher, dass sie heute nicht so weit kommen würden, immerhin meinte Bakura, dass sie zum Abendessen wieder da sein würde, doch es war trotzdem aufregend! Es war eine kleine Herausforderung, die er vor zwei Wochen bestimmt abgelehnt hätte.

„Ryou“, rief Mariku neben ihm und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

„Ja?“

„Wie findest du das Training in den letzten Tagen?“

Verwirrt sah Ryou zu dem anderen. Doch Marikus Blick war nach unten gerichtet, wo er weiterhin Gemüse schnitt. Inzwischen war er zu Gurken übergegangen.

„Es ist langweilig“, antwortete Ryou schließlich. Sogleich er die Worte ausgesprochen hatte, spürte er schon die Hitze auf seinen Wangen. Wirklich, er musste diesen Reflex schnell unter Kontrolle bringen! „Ich meine nicht, dass ich die Techniken perfekt kann“, fügte er hastig hinzu, „aber es ist so…repetitiv. Es braucht nicht sonderlich viel Konzentration ständig das Gleiche zu tun.“

Mariku sah schließlich zu ihm und Ryou sah erleichtert ein breites Grinsen auf Marikus Gesicht. Er legte das Messer ab und wuschelte ihm durch die Haare. Ryou rief ein „Hey“, doch grinste auch. Er mochte die Geste irgendwie – auch wenn seine Frisur darunter litt.

„Wusste ich’s doch.“

„Was?“

Mariku schüttelte leicht den Kopf. „Ich finde es auch ziemlich langweilig“, fügte er hinzu.

Ryou widmete sich wieder den Sandwiches und einen Moment später tat es Mariku ihm gleich.

„Bist du deswegen so gereizt?“, fragte Ryou nachdem er das Sandwich in die Box zu den anderen gelegt hatte.

Mariku hielt inne.

„Ja.“

Das Geräusch des schneidenden Messers auf dem Brettchen setzte wieder ein, während Ryou lächelte.
 

„Warte“, rief Bakura hinter ihm.

Mariku blieb stehen und sah hinter ihm, wo es nach unten ging. Sie waren seit knapp zwei Stunde unterwegs und wo es anfangs noch recht einfach voran gegangen war, kamen sie jetzt auf einem recht steilen Stück voran. Was Mariku keineswegs störte. Es war keine große Anstrengung für ihn, sondern erforderte genau das richtige Maß an Muskelkraft, um es zu einer guten Sportsübung zu machen. Solange er in gutem Tempo voranschritt. Doch dagegen schien Bakura wohl Einwände zu haben. Dieser erreichte ihn und blieb auf Armeslänge entfernt stehen. Ryou war nicht in Sicht, doch das erwartete Mariku nicht. Er war vor einer Weile stehen geblieben, um eine Pause zu machen und bestimmt auch mehr Skizzen zu machen. Sie hatten ausgemacht, dass er und Bakura zum Aussichtspunkt, der wohl ihre Destination war, weiter wandern und ihn dort treffen würden.

„Ich denke wir sollten doch hier auf Ryou warten. Der Aussichtspunkt ist noch ungefähr eine Stunde entfernt.“

Mariku schnaubte.

Sofort verschränkte Bakura die Arme und die Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Was?“, presste er zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

„Du kannst auf ihn warten und ich gehe voran“, sagte Mariku schließlich und drehte sich wieder um. Eine Hand griff nach seinem Arm und zog ihn ruckartig zurück.

„Warte!“

Mariku sah zurück und diesmal war es an ihm ein Wort zwischen seinen vor Wut zusammengepressten Lippen zu pressen. „Warum?“

„Du könntest dich verlaufen.“

„Das ist ein verdammter Pfad! Man muss nur darauf bleiben und vorwärts gehen!“ Er schüttelte Bakuras Hand ab, die ihn immer noch gehalten hatte.

„Aber es ist wirklich nicht nett gegenüber Ryou. Wird er sich nicht einsam fühlen?“ Bakuras Stimme klang einen Deut unsicher. Unsicher. Mariku grollte und mit einem Sprung nach hinten griff er nach Bakuras Kragen. Mit Gewalt stieß er ihn an den Baum, der einen Schritt hinter Bakura war. Aus Bakuras Kehle entwich ein leises Geräusch, während Mariku mit all seiner Kraft auf dessen Oberbrust presste, mit seinen Fingern weiterhin den Kragen haltend. Mariku lehnte seinen Körper an Bakuras und brachte sein Knie zwischen Bakuras Beine, ihn damit effektiv an den Baum pinnend.

„Hör. Damit. Auf. Uns. Wie. Porzellanpuppen. Zu. Behandeln“, presste er schließlich direkt in Bakuras Gesicht, das nur Zentimeter vor seinen entfernt war. Der vorher brennende Blick Bakuras wandte sich in blanke Verwirrung um.

„Was?“, flüsterte er in gebrochener Stimme.

Mariku verringerte die Kraft, mit der er gegen Bakuras Lungen presste ein klein wenig.

„Seit drei Tagen tust du so als würde Ryou zerbrechen, solltest du ihn nur berühren oder ansprechen. Seit drei Tagen lässt du uns nur die gleichen einfachen Techniken machen und kommentierst zwei Mal die Stunde, als wären wir verängstigte Kinder. Wir. Sind. Erwachsene. Menschen.“ Er betonte jedes einzelne Wort in seinem letzten Satz. Ehrlich, war Bakura so blind! Er hatte ihn ganz bestimmt nicht als jemanden eingeschätzt, der überfürsorglich sein konnte.

Im nächsten Moment spürte er einen höllischen Schmerz zwischen seinen Beinen und danach fand er sich auf dem Boden wieder, während sich ein zweiter Schmerz in seinem Arm ausbreitete. Bastard! Er hätte ihm die Luft doch wegdrücken sollen. Mariku spürte wie Bakura sich auf ihn setzte.

„Du gäbst eine hässliche Porzellanpuppe ab, Blondchen.“

So viel zur Fürsorglichkeit. Musste der Typ so von einem Extrem zum anderen schwenken? Mariku ignorierte die Schmerzen – vor allem den immer schlimmer werdenden Punkt in seinem Arm – und mit einem Ruck rollte seinen Körper zur Seite. Halleluja für die Bodenneigung und Schwerkraft! Bakura war von ihm geflogen, doch er hatte nicht seinen Arm losgelassen. Mit Hilfe dessen orientierte sich Mariku und rollte seinen Körper auf Bakuras. Ruckartig riss er seinen Arm los und packte stattdessen Bakuras Hals. Sie waren beide zum Stillstand gekommen als ihre beiden Körper in einen Baum rammten und nun sah er in die fast schwarz wirkenden Augen unter ihm. Sie loderten mit Mordslust. Mariku spürte wie seine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen und drückte zu.
 

Bakura spürte wie seine Luftröhre zusammengepresst wurde und verbannte die instinktive Panik aus seinen Gedanken. Dafür war keine Zeit. Er ballte seine linke Hand zu einer Faust und schlug in Marikus Gesicht von der Seite. Er traf die Wange und streifte die Nase nur. Schade. Das charakteristische Geräusch eines Knochenbruches hätte ihn aufgeheitert. Immerhin hatte Mariku sich leicht erhoben. Das reichte damit Bakura sein Bein anwinkeln konnte, um dann mit voller Kraft sein Knie in Marikus Magengrube zu versenken. Wirklich, Blondchen achtete überhaupt nicht auf die Beine seines Gegners! Der Griff um seinen Hals lockerte sich und Bakura holte automatisch tief Luft und er hörte ein kurzes Aufstöhnen. Im nächsten Moment wurde er an seinen Haaren gepackt und nach oben gezogen, nur um danach sofort mit seinem Hinterkopf gegen den Boden zu schlagen. Wieder wurde er nach oben gezogen. Bakura versenke sein Knie ein zweites Mal in Marikus Magen und nutze den entstandenen Moment, um nach Marikus Arm zu greifen und diesen zur Seite zu drehen. Marikus Körper folgte der Bewegung – nicht dass er viel Wahl hatte sofern er sich keine ausgekugelte Schulter wünschte. Mariku rollte von ihm und Bakura drehte den Arm weiter, bis er ein leises Knacken hörte. Mariku schrie nur leise auf. Bakura schnaubte und ließ los. Das war ein Fehler. Eine Faust traf sein Gesicht und dann spürte er einen Tritt, der ihn weiter den Berg hinab sandte. Mist. Er hätte auf seinen eigenen Rat hören sollte. Er brauchte einen Augenblick, um seinen Fall anzuhalten und sich zu orientieren. Ihn trennten nun mehrere Meter von Mariku weiter oben, dessen rechter Arm reglos hing. Ups. Mariku atmete schwer und beobachtete ihn aus Augen, die nicht mehr als Schlitzen waren.

Bakura kniete auf dem Boden und etwas Warmes floss seinen Mund und Kinn hinunter. Nase. Für einen Lippenriss war es zu viel Blut. Bakura leckte sich über die Lippen und schmeckte in der Tat Blut. Welch ein willkommener Geschmack! Schade, dass er kein Messer zu Hand hatte.

Messer.

Das brachte ihn zurück zu seinen Sinnen.

Er beobachtete weiterhin Mariku, der ihn wie ein Raubtier im Visier hatte und erhob sich langsam. Er hob seine Hände abwehrend.

„Äh“, brachte er unsicher hervor. Wie brach man nochmal Kämpfe freundschaftlich ab?

Mariku regte sich nicht.

„Ich glaube wir sollten aufhören“, sagte er schließlich. Seine Stimme hörte sich rau an und nun spürte er auch Schmerzen an seinem Hals. Stimmt, er wurde gewürgt. Nun, er hatte sich revanchiert.

„Ich kann deinen Arm wieder richten“, fügte er hinzu. Zumindest hoffte er, dass da nichts gebrochen war.

Er sah wie Marikus Lippen sich zu einem Grinsen auseinanderzogen und die Augen sich wieder normal öffneten.

„Ok“, rief er schließlich zurück.

Bakura atmete erleichtert auf. Er wusste nicht genau, ob er darüber erleichtert war, dass Mariku nicht mehr in seinem Berserkermodus war, oder dass er anscheinend ihm nicht sonderlich böse war. Vielleicht war da doch etwas an Marikus Worten wahr gewesen.
 

Mariku schrie laut. Er konnte wirklich gut mit Schmerz umgehen, doch er sah keinen Sinn darin leise zu seine, als Bakura seinen Arm richtete. Er hatte ihn wirklich ausgekugelt gehabt und Kampfverletzungen waren keinen Scham wert.

„Das Training in den letzten Tagen war also zu leicht?“

Mariku nickte und ballte seine rechte Hand probeweise zur Faust. Funktionierte. Gut.

Bakura setzte sich neben ihn auf dem Boden und seufzte.

„Was?“

„Ich dachte am Sonntag, dass ich nie wieder die Fehler meiner Lehrer wiederholen würde. Jetzt, wo es mir aufgefallen war. Doch anscheinend ist das gar nicht so einfach.“

Mariku nickte wieder. Klar war das nicht einfach. Man konnte nicht einfach so von einem Tag auf den nächsten die Dinge aufgeben, die man lange gelernt hatte. Sein Verhalten zu ändern kostete viel Kraft und Zeit und Überwachung. War doch einleuchtend. Mariku schnaubte.

Diesmal kam ein „Was?“ von Bakura.

„Es ist echt komisch, dass Menschen oft Dinge übersehen oder nicht wissen, die sogar für mich offensichtlich sind.“

Bakura boxte ihm leicht in die Schulter. Die er gerade erst gerichtet hatte.

„Tu nicht so als wärst du dumm. Du bist intelligenter als du dich gibst. Glaub nicht, dass ich daran jemals gezweifelt hab nur weil ich dich Blondchen nenne.“

Mariku lachte auf. Das war mal eine nette Abwechslung. „Erzähl das meinen ehemaligen Lehrern.“

Bakura grinste ihn nur an und ließ das Thema fallen.

„Ich hatte nur das Gefühl, dass Ryou Angst vor mir hat“, sprach er nach einigen schweigsamen Momenten wieder.

Mariku schüttelte den Kopf. Wirklich, manche Menschen waren blind.

„Er findet das Training gerade langweilig. Ich hab ihn gefragt. Und wenn du denkst, dass er ein Problem mit dir hat, rede mit ihm. So schwer ist das nicht.“

Bakura blinzelte und brach dann in schallendes Gelächter aus. Mariku beobachtete es nur reglos. So ähnlich sie sich manchmal auch sein mochten in ihrer Mordlust, so waren sie wohl wirklich grundverschieden.

„Wenn man dir zuhört, erscheint die Welt so einfach.“

Mariku grinste und erhob sich.

„Die Welt ist ja auch einfach. Komm, lass weitergehen. Dann können wir schon mal das Picknick ausbreiten, während Ryou uns einholt.“

Schmetterlinge

Ryou packte den Block mit den neuesten Zeichnungen zurück in seinen Rucksack, wo schon seine Bleistifte verstaut lagen. Nach kurzem Überlegen holte er die Wasserflasche heraus und trank einen Schluck, ehe er sich wieder auf dem Weg machte. Er war sich sicher, dass sein Gesicht inzwischen feuerrot vor Anstrengung war und er spürte den sich anbahnenden Muskelkater in seinen Beinen. Doch trotzdem grinste er breit. Der Tag war einfach herrlich! Das Wetter war angenehm – nicht zu heiß und schwül, aber noch genau warm genug, um nur im T-Shirt unterwegs zu sein. Er hatte zur Sicherheit auch eine dünne Jacke eingepackt, doch die Bewegung sandte genug Blut durch seine Venen, damit ihm nicht kalt wurde. Die Sonne schien noch am Himmel und erhellte seine Umgebung. Stellenweise war der Wald recht dicht, doch manchmal kam er an eine Lichtung – wie bei seiner letzten Pause – und dann konnte er den wolkenlosen Himmel sehen. Das Wetter war im starken Kontrast zu den letzten Tagen, in denen es viel geregnet hatte. Ryou zog tief die Luft ein, während er den Rucksack über seine Schulter warf und setzte seine Wanderung fort. Es roch nach Blättern, Holz und Blumen. Ryou hielt kurz inne und schloss die Augen, um in aller Ruhe den Duft zu genießen. In dieser Umgebung fühlte er sich entspannt und geborgen, wie sonst nirgendwo. Wenn Menschen so etwas wie „natürliche Orte“ hatten, dann war der Bergwald der natürliche Ort für ihn. Auch wenn es ihn viel Kraft kostete voran zu kommen. Ryou öffnete wieder die Augen und ging weiter. Er war schon seit einer Weile auf einem recht steilen Stück unterwegs. Doch anstatt davor wegzulaufen in der Angst zu versagen, stellte er sich der Herausforderung. Er wusste genau, dass vor nur zwei Wochen der Anblick des endlos erscheinenden Pfades in ihm eine Welle aus schierer Angst und Verzweiflung ausgelöst hätte. Doch nun biss er nur die Lippen zusammen und schritt stur voran. Der Gedanke erfüllte ihn mit Stolz. Trotzdem war er ziemlich froh darüber, dass Mariku und Bakura vorangegangen waren.

Bakura.

Ryou seufzte tief.

Bakura.

Ryou schluckte und ließ die Gedanken schließlich zu. Das war letztendlich einer der Hauptgründe gewesen, warum er alleine weitergehen wollte.

Sofort spürte er seine Wangen noch mehr aufflammen. Vermutlich glich er langsam einer Tomate. Ryou presste seine Lippen noch weiter aufeinander und beschleunigte seinen Schritt. Doch schnell merkte er, dass das Tempo ihn zu viel Kraft kostete. So würde er schon bald erneut eine Pause brauchen. Mit einem Ruck blieb er stehen und atmete tief durch. Also nächster Versuch.

Bakura.

Ryou packte mental die aufsteigende Scham und drückte sie stur zur Seite, während er die Wanderung langsam wieder in Gang setzte. Sich in Bakuras Gegenwart angespannt zu fühlen war einfach nicht sinnvoll, gestand sich Ryou ein. Erröten war es auch nicht. Bakura auszuweichen erst recht nicht. Doch wenn er ganz ehrlich war, und schließlich fand er den Mut es zu sein, so war auch das Sich-Schlecht-Fühlen danach nicht. Die quälenden Erinnerungen, die ihn vor dem Einschlafen seit paar Tagen plagten, halfen ihm absolut nicht weiter. Ryou nickte sich selbst zustimmend zu. Es gab keinen Grund sich zu schämen, denn schließlich lag seinen Reaktionen ein simples Gefühl zugrunde: er mochte Bakura. Auf eine romantische Art und Weise.

 

„Wir sind da.“

„Ach, darauf wäre ich ja nie gekommen. Steht ja auch nicht groß auf diesem Schild vor uns ‚Aussichtsplattform‘.“ Mariku las das letzte Wort besonders langsam vor.

Bakura schnaubte.

„Ich wusste gar nicht, dass Affen lesen können“, fügte er hinzu und schaute sich nach einem geeigneten Platz für ihr Picknick um. Nicht, dass da viel Auswahl war. Die Plattform war zwar ganz groß und endete in einem Halbkreis mit abgezäuntem Abgrund, doch die Grünfläche erstreckte sich nur auf einer Seite und endete einige Meter vor dem Abhang.

„Oh, seit wann lässt du dich von einem Affen vermöbeln? Fängste an mit dem Alter zu schwächeln?“

Bakura bedachte Mariku mit einem warnenden Blick, doch dieser grinste ihn nur breit an. Fast schon manisch. Bakura schüttelte den Kopf und ging rüber zu dem Abschnitt mit dem Gras. Wirklich, wenn Mariku sich nicht für einen Kampf schuldig fühlte, dann wurde er danach zu einem spitzbübischen Teenager. Auch wenn Bakura sich in einer geheimen und hinter einem Labyrinth versteckten Ecke seines Ichs eingestanden hatte, dass er froh darüber war, dass Mariku ihm den Kampf nicht übel genommen hatte, so ging er ihm langsam leicht auf die Nerven…

Mariku ließ seinen Rucksack neben der Stelle fallen, an der Bakura schließlich stehen geblieben war, und ging weiter zu dem Abhang.

Bakura sah ihm zu. Der ‚Zaun‘ war wirklich nicht mehr als paar Drähte, die nicht mal wirklich hoch reichten. Mariku blieb direkt vor ihnen stehen und lehnte sich nach vorne. Bakura öffnete den Mund…

„WUHUUUU!“

Bakura schloss seinen Mund. Das Blondchen ging ihm auf den Sack.

„Geht’s noch lauter? Ich glaube China hat dich noch nicht gehört.“

Mariku drehte seinen Kopf zu ihm und grinste noch breiter. Idiot.

„Ist doch egal. Das ist die einzig richtige Art diese Schönheit zu begrüßen.“

Bakura schüttelte den Kopf. „Lehn dich einfach noch weiter vor und stirb, Idiot.“ Er drehte sich zu seinem Rucksack und holte die Decke heraus. Hinter ihm hörte er das freudige Lachen Marikus.

 

Ryou horchte in sich selbst hinein. Sein Interesse an Bakura in seinen Gedanken auszusprechen löste so viele unterschiedliche Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse gleichzeitig aus, dass er für einen Moment von der Angst übermahnt wurde übermahnt zu werden. Nur die Absurdität dieser Reaktion hielt ihn davon ab stehen zu bleiben oder, noch besser, sich auf dem Boden hinzulegen und die Außenwelt komplett auszublenden. Stattdessen konzentrierte er sich umso mehr auf die Bäume um ihn herum und auf die Geräusche, die er mit seinem Auftreten verursachte. Ein Zweig knackte unter ihm. Die Erde fühlte sich unter seinen Füßen hart an, doch hier und da trat er auch auf glitschige oder weiche Stellen. Er sah hinunter und bedachte die Moosstellen und die vielen rumliegenden Blätter mit einem nachdenklichen Blick. Hier und da spross auch Gras aus dem braunen Grund. Nach einigen Minuten beruhigte sich der Wirbelsturm soweit, dass er seine Aufmerksamkeit wieder nach innen richtete und für alle Fälle seine Schritte ein Stück weit verlangsamte.

Das war…viel. So viele unterschiedliche Dinge, dass er sie keinesfalls sofort alle identifizieren und ordnen konnte. Es lag schon viele Jahre zurück, dass er sich das letzte Mal solch einer Bandbreite ausgesetzt gefühlt hatte. Doch anstatt davor zurückzuschrecken, seine Sachen zu packen und sich der Situation zu entziehen – spürte er es in seiner Bauchgegend kribbeln.

 

„Sind das Kirschblüten auf den Tassen?“

Mariku hielt eine schwarze Plastiktasse hoch, auf der in der Tat besagte pinke Blüten gezeichnet waren. Der Henkel war ebenfalls in Pink.

Bakura zuckte leicht mit den Schultern.

„Waren die einzigen aus Plastik im 100 Yen Shop.“ Was kümmerte ihn das Motiv sofern sie ihren Zweck erfüllten und billig waren?

Mariku sah ihn kurz mit einem nichtssagenden Blick an und stellte die Tasse dann schweigsam neben den Tellern ab. Die anderen beiden aus seinem Rucksack folgten. Sie hatten all das Essen und die Ausrüstung zwischen ihren beiden Rucksäcken aufgeteilt gehabt in dem leisen Einverständnis, dass Ryou keine weitere Bürde brauchte.

Auf der Decke, die Bakura auf dem Gras ausgebreitet hatte, standen schon die Boxen mit den Sandwiches und zwei Flaschen mit grünem Tee. Nun holte Bakura noch die Box mit dem Salat aus den Untiefen seines Rucksacks, während Mariku anfing Dosen neben den Tassen aufzustellen. Bakura hob eine Augenbraue und sah zu dem anderen.

„Wann hast du denn das Bier eingepackt?“

„Nachdem du aus der Küche warst natürlich“, antwortete Mariku schamlos. Natürlich.

„Wir müssen danach noch wieder runter und da wird es schon dunkel…“

Mariku rollte mit den Augen. „Ich hab nur drei eingepackt. Also eine für jeden. Sei kein Spielverderber, alter Greis.“

Bakura knurrte und verengte seine Augen zu Schlitzen.

„Dir ist klar, dass ich nicht viel älter bin als du, Spatzenhirn?“

„Dann solltest du deine Haare vielleicht Schwarz färben?“

Mariku beugte sich vor zu ihm und Bakuras Muskeln spannten sich an. Das nervtötende Grinsen zeichnete sich wieder auf Marikus Gesicht und seine Augen blitzten gefährlich auf. Bakura schnaubte und hielt sich bereit. Es wäre ja noch schöner, wenn er sich von einem seiner Schüler einschüchtern lassen würde!

„Andererseits, steht dir dieses Weiß ausgezeichnet…“ Die Worte waren geraunt, während Mariku mit seiner Hand eine weiße Strähne umfasste. Bakura griff nach dem Arm und zog daran mit einem Ruck, um Mariku aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis er es sich bequem auf Marikus Rücken machte und dessen Arm in aller Ruhe verdrehte, bis dieser hisste. Bakura seufzte und ließ los. Mariku lernte einfach nie.

„Schon eine Weile her, dass du mich bestiegen hast, was?“, hörte er die hämische Stimme von unter ihm. Sofort ergänzte Bakuras Bewusstsein das Grinsen in seinen Gedanken, das er im Moment nicht sehen konnte, da Marikus Gesicht ins Gras biss, und das der andere mit Sicherheit wieder zeigte. Bakura rollte mit den Augen und stand auf. War es wirklich schon so lange her, dass er Mariku das letzte Mal auf den Boden geworfen hatte? Er war in den letzten Tagen wahrlich zu vorsichtig gewesen.

„Oh, ein Schmetterling!“

Bakura sah wieder zu Mariku, der immer noch auf dem Boden lag und gerade seine Hand austreckte. Einige Zentimeter entfernt war wirklich ein Schmetterling. Eine kleine Kreatur, mit flatternden blauen Flügeln, die aus dem Grün herausstachen. Der Schmetterling landete auf Marikus Finger und Mariku lachte laut auf, was den Schmetterling sofort wieder in die Lüfte trieb. So ein Kind.

„Ich hoffe Ryou taucht bald auf. Ihm würde der Schmetterling gefallen. Bestimmt würde er ihn gleich zeichnen“, plauderte Mariku beim Aufstehen.

Bakura lächelte leicht. Er konnte sich das glückliche Gesicht Ryous nur zu gut vorstellen.

 

Ryou lächelte. Er sah all die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen sich vor ihm entfalten wie die Äste eines Baumes. Und jeder dieser Äste konnte Früchte oder Blätter tragen. Ryou wünschte sich einen Spiegel. Er war gespannt darauf wie sein Gesicht gerade aussah, denn er konnte mit Bestimmtheit sagen, dass er sich noch nie zuvor so gefühlt hatte. Es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es ließ seine Härchen sich aufstellen. Es war beängstigend und unglaublich aufregend zugleich. Ryou strich sich über die Arme in der Hoffnung seine physischen Reaktionen damit zu beenden. Das brachte ihn zu seinem ursprünglichen Problem zurück.

Sein Verhalten in Bakuras Gegenwart.

Das war es, was in ihm die negativen Gefühle ausgelöst hatte.

Dann sollte er es wohl ändern.

Ryou lachte leise auf.

Die Erkenntnis war erstaunlich einfach, auch wenn er keineswegs daran zweifelte, dass die Ausführung viel schwieriger sein würde. Diesmal wünschte er sich einen Spiegel aus einem ganz anderen Grund.

Er hörte plötzlich ein lautes Lachen. Die Plötzlichkeit ließ ihn erschreckt zusammenzucken und er sah auf. Etwas weiter oben endete der Pfad in einem ebenen Abschnitt, der frei von Bäumen war. Es lagen immer noch einige Meter zwischen ihm und dem Aussichtspunkt, wie er vermutete, doch er konnte schon eine große Gestalt mit blonden Haare erkennen, die sich gerade erhob. Ryou grinste breit. Das Lachen ließ ihn hoffen, dass sich Mariku schon über den langweiligen Unterricht beklagt hatte und eine positive Reaktion bekommen hatte. Die Auseinandersetzung wollte er gewiss nicht erleben.

„Hey!“, rief er laut nach oben.

Sofort drehte sich Mariku um und winkte ihm mit großen Handbewegungen zu.

„Beeil dich, ich hab Hunger!“

Ryou schüttelte leicht den Kopf. Doch in seiner Brust war es warm. Es war schön, dass die beiden mit dem Essen auf ihn gewartet hatten. Ryou beschleunigte seinen Gang und überwand die übrigen Meter mit Tempo.

„Hetz nicht, Blondchen“, hörte er Bakuras amüsierte Stimme.

Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag – obwohl er schon ziemlich schnell gewesen war. Er hatte diesen Ton in Bakuras Stimme in den letzten Tagen vermisst. Doch im nächsten Moment waren seine sich überschlagende Gefühle und Bakura und Marikus knurrender Magen vergessen, denn Ryou erblickte die Aussicht.

Das war…

Er stieß einen lauten Jubelschrei aus.

Jemand lachte neben ihm laut auf.

„Siehst du, das ist die richtige Reaktion!“

Momente

Mariku kaute nachdenklich auf dem Hühnerfleisch im Oyakodon. Dieses Mal hatte er das Fleisch für das Gericht nicht nur geschnitten, sondern auch angebraten. Er fand er hatte genau den richtigen Moment gewählt die Pfanne samt darin brutzelnden Fleisch und Ei von der Platte zu nehmen. Das war gute Arbeit, hatte Ryou sogar gelobt. Wenn es so weiter ging, würde er bald wirklich ein ganzes Menü für Malik vorbereiten können. Doch dies war nicht der Kern seiner Überlegungen. Eher waren das Gedanken, die am äußersten Ring seines Bewusstseins kreisten. Was in der Mitte lag, war der Planet „Bakura-Ryou“, der ihn nun seit mehreren Tagen beschäftigte.

Der Ägypter fixierte seinen Blick auf Ryou. Wie immer lagen dessen Haare im Gegensatz zu Bakuras platt und glänzten leicht. Ryou saß aufrecht mit geradem Rücken, während ihr Aikidolehrer eine entspannte Pose mit nach vorne gebeugtem Oberkörper eingenommen hatte. Ryou saß im Seiza und hielt seinen Teller auf Brusthöhe, Bakura im Schneidersitz, seinen Teller nah am Mund haltend. Sie waren wirklich unterschiedlich, stellte Mariku fest, und doch hatten beide etwas gemeinsam. Schon seit einigen Tagen bereiteten sie ihm beide – in seiner Rolle als stiller Beobachter – sehr viel Freude, was einen krassen Unterschied zur vorherigen Woche darstellte. Wirklich. Mariku musste mit aller Mühe ein breites Grinsen zurückhalten, während er Ryou zuhörte, wie dieser Bakura über dessen Essensvorlieben auslöcherte. Der sonst so geheimnisvolle Wolf hatte schon nach der zweiten Frage nachgegeben. Es war vermutlich auch schwer dem offenen und wie eine Sonne strahlendem Gesicht des Kleineren zu widerstehen.

Die Frage, die Mariku am meisten beschäftigte, war jedoch nicht, ob etwas zwischen diesen zweien funkte und ob Ryou versuchte ihren Meister um den Finger zu wickeln – denn wirklich, daran zweifelte er keine Sekunde lang – sondern viel mehr suchte er nach der Kalkulation seitens Ryou in seinem Verhalten. Wie viel davon war geplante Manipulation und wie viel intuitiver Charme? Das interessierte ihn am meisten. Er konnte sich noch nicht auf eine Antwort einigen. Doch er war sich sicher, dass in diesem Falle die Redewendung ‚Stille Wasser sind tief‘ zutraf. Nicht, dass Ryou wirklich still war, wenn er mal in Fahrt kam. Also beobachtete er still weiter. Es war äußerst amüsant die zwecklosen Versuche Bakuras sich gegen diesen Einfluss zu wehren zu beobachten. Mariku ließ die Kontrolle über seine Mundwinkel los und diese zuckten nach oben. Die beiden kümmerte seine Stimmung vermutlich wenig.

 

Bakura bemerkte aus den Augenwinkeln das hämische Grinsen auf Marikus Gesicht, als Ryou vier Minuten zu spät in das Dojo stolperte. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, dass Mariku eine Feindseligkeit gegenüber Ryou entwickelt hatte und die Schadenfreude ihm galt, doch dann fielen ihm die Worte Marikus nach dem Abendessen am Vortag ein. „Da hat jemand die Schmelze gefunden.“ Die sonst kryptische Aussage war von einem Schlag auf die Brust begleitet gewesen. Wenn Mariku jedoch wirklich glaubte, dass Bakura soweit erweicht war, dass er Ryou Unpünktlichkeit durchgehen lassen würde, so täuschte sich der Ägypter gewaltig. Nichts ging über Disziplin.

„Vierzig Runden.“

Das wischte entgegen seiner Erwartung das Grinsen jedoch nicht aus dem Gesicht des Blondchens. Auch Ryou reagierte auf das Urteil nur mit einem entschlossenen Nicken. Wo blieben die Tage, als seine Schüler noch Argwohn und Panik verspürten?

„Beginnen wir.“

 

Mariku umschloss seine Finger um das linke Handgelenk Ryous in Erwartung der Technik. Es war eine neue, dessen ewig langen Namen er sich nicht gemerkt hatte. Ryou drehte seinen Arm und Mariku folgte willig der Führung. Bei den ersten Versuchen war auch er zahm und nett. Es war sonst wirklich zu frustrierend. Doch trotzdem fand er sich nicht in der angestrebten Position, wo er sich auf dem Boden abrollen sollte. Diese Technik schien komplizierter zu sein als alle zuvor. Also zurück an die Anfangsposition. Ryou zeigte keinen Frust über den Misserfolg, sondern den Eifer zu Lernen. Mariku griff wieder nach dem Handgelenk. Währenddessen beugte Bakura sich von hinten zu Ryou und griff nach dessen Arm, um ihn zu führen. Mariku sah wie nah am Ohr Ryous ihr Meister seine Anweisungen aussprach. Er beobachtete amüsiert die roten Flecken, die in Ryous Wangen krochen. Für einen kurzen Moment erinnerte es ihn daran, wie schmerzlich er Malik vermisste. Doch dieser Gedanke wurde sofort verdrängt von der puren Freude dieses zärtliche und für die Beteiligten wahrscheinlich qualvolle Vorspiel beobachten zu dürfen.

„Lass diesen grinsenden Affen fliegen.“

Im nächsten Moment fand sich Mariku auf dem Weg zum Boden. Ohne darüber nachzudenken streckte er den Arm aus und rollte ab. Er sollte vielleicht doch mehr auf das Training achten.

 

Ryou stand im Türrahmen in einen lose gebunden Yukata gehüllt und trocknete mit einem Handtuch die nassen Haare. Er hatte einen zierlichen Hals und sehr helle Haut, die im elektrischen Licht der Lampe glänzte. Bakura beobachtete wie ein Tropfen vom Ohrläppchen Ryous sich löste und die Haut entlang nach unten rann, bis der Tropfen das Schlüsselbein erreichte und unter der Baumwolle verschwand.

„Das Bad ist jetzt frei.“

Bakura riss den Blick von dem Oberkörper seines Schülers und nickte. Schweigend schritt er an dem lächelnden Ryou vorbei, der mit einem eleganten Schritt in den Raum hinein ihm Platz machte. Bakuras Gedanken kreisten alle um das dringende Bedürfnis Ryou am Nacken zu packen und näher zu ziehen, nur um dann seine Zähne in die delikate Stelle wo Ryous Hals in die Schulter überging zu vergraben. Fest zu zubeißen, an der Haut zu saugen, mit seiner Zunge darüber zu lecken.

Bakura ballte seine Hände zusammen und ließ sie wieder los. Er spürte wie Entspannung in seine Finger floss, ihn von der lebhaften Vorstellung ablenkend, die so viel realer erschien als die meisten seiner Erinnerungen.

 

Ein Bad war wirklich genau die richtige Idee. Bakura schloss die Tür hinter sich und entledigte sich seiner Kleider, die er ordentlich gefaltet in den Korb neben dem Eingang legte, eher er die Tür vor sich zur Seite schob und den kleinen Raum mit dem Becken betrat. Es war gefüllt mit Wasser und Bakura ließ seine Hand hineingleiten. Es war heiß. Zufrieden nickend, schlüpfte er mit ganzem Körper hinein und setzte sich auf die Stufe, seine Beine ausstreckend. Seine Haut kribbelte, während er sich an die Temperatur gewöhnte. Es dauerte bis er das Weichen der Spannung aus seinen Muskeln spürten konnte. Auch sein zuvor dezent angeregtes Glied zeigte keinerlei Reaktion mehr. Bakura seufzte.

Er war nicht erweicht, wie Mariku es offensichtlich dachte. Sein Herz schmolz nicht bei dem Anblick Ryous. Stattdessen wurde er hart. Es war Verlangen, das in ihm brannte, mehr als jedes andere Gefühl. Vielleicht wurde es von der langen Inaktivität geschürt.

Doch wenn er ehrlich zu sich war, so wusste er: das war nicht alles. Er fühlte Stolz und wachsenden Respekt, wenn er an Ryou dachte. Erst vor wenigen Stunden hatte Ryou ihn überrascht mit der Determination und neu gewonnener Ausdauer, die er bei den Strafrunden gezeigt hatte. Muskeln konnten sich manchmal schnell entwickeln, die zwei Wochen konnten diese Veränderung hervorgebracht haben – doch die Veränderung des Geistes hatte er nicht so schnell erwartet. Zwei Wochen. Bakura beschwor das Bild des schüchternen jungen Mannes, den er vor seinem Dojo zum ersten Mal vor genau sechzehn Tagen erblickt hatte. Dieser Junge war nicht ganz verschwunden. Die Zerstreutheit, die er zeigte, wenn er eigenen Gedanken nachging. Die Liebe für schöne Ausblicke. Die Freude beim Kochen. Der Mut Mariku kontra zu bieten. All diese Eigenschaften waren immer noch da. Doch nun zeigte er auch Selbstbewusstsein, Entschlossenheit und manchmal sah er in Ryou eine innere Ruhe. Bei der Meditationsübung zu Anfang jeder Trainingsstunde erinnerte Ryou ihn nun an einen Brunnen, dessen Oberfläche bei einer Berührung zwar Wellen schlug, doch sonst völlig unberührt blieb. Bakura konnte sich eingestehen, dass er es attraktiv fand. Er fühlte es zwischen seinen Beinen zucken. Doch das war immer noch nicht alles, nicht wahr?

Die Heiterkeit, das Lächeln, die von Begeisterung strahlenden Augen. All diese Dinge erwärmten sein Herz ebenso wie der Stolz es tat. Es war kein einzelnes, pures Gefühl – es war eine ganze verworrene Masse aus Emotionen, Verlangen und Empfindungen. Doch das Fazit blieb gleich: diese Kakophonie machte ihn nicht weich, sondern hart und füllte seinen Kopf mit äußerst unangebrachten Fantasien. Bakura ergab sich seinen Visionen und führte die Hand zwischen seine Beine.

 

Ryou setzte sich an den Küchentisch und band den Yukata näher an seinen Körper, den Kragen weiter zusammenziehend. Mariku beobachtete ihn von seinem eigenen Platz aus. Bakura hatte zwar mit dem Rücken zu ihm gestanden, als er diese gar nicht so unschuldige Blume erblickt hatte, doch der Ägypter war sich sicher, dass Bakuras Augen mit Verlangen entflammt sein mussten. Er selbst bevorzugte der Porzellanhaut die Bronze Maliks. Genauso, wie er die Muskeln unter den augenscheinlich dünnen Armen seines Geliebten vermisste.

Ryou richtete seinen Yukata bis kaum noch etwas von seiner Brust zu sehen war. Danach nahm er wieder das Handtuch in die Hand und trocknete seine Haare mit Eifer. Mariku spürte die Begeisterung in ihm aufsteigen.

„Es war Absicht gewesen, nicht wahr?“

 

Ryou blickte hoch und schlug seine Lider weit auf. Die Frage war so vage formuliert, dass er problemlos Unwissenheit auf sein Gesicht zaubern konnte. Das war das, was er am besten beherrschte, hatte er bei den Übungen vor dem Spiegel in den letzten Tagen festgestellt. Auch wenn er eine Ahnung hatte worauf Mariku hinauswollte – schließlich grinste dieser in genau den richtigen Momenten in letzter Zeit – so konnte Ryou dem Gespräch noch entkommen.

„Dein Outfit als du aus dem Bad kamst“, schnaubte Mariku als hätte er Ryous Absicht gelesen.

Der Kleinere seufzte und legte seine Hand mit dem Handtuch in seinem Schoß ab. Er wusste, dass ein Rotschimmer sich auf seine Wangen legte und ließ deswegen den Kopf leicht sinken. Sein Selbstbewusstsein war noch nicht so durchgehend und fest wie Bakuras oder Marikus. Einiges davor war nur gute Gesichts- und Körperkontrolle, während sein Herz wie wild schlug. Dieses Schauspiel war viel schwerer zu erhalten, wenn er so direkt konfrontiert wurde. Wie würde Mariku reagieren? Würde er es abstoßend finden? Würde er es Bakura sagen? Ryou schüttelte den Kopf, um seine Ängste zu vertreiben. Er hatte die Dunkelheit besiegt, also sollte sie ihn in Ruhe lassen. Er straffte seine Schultern und richtete seinen Blick auf Mariku.

„Ja. Ich wollte sehen wie er reagiert.“

 

Mariku brach in schallendes Gelächter aus. So fühlte sich Triumph an! Er hatte es richtig eingeschätzt, dass Ryou kein ahnungsloser Anfänger dieses Spiels war. Diese manchmal subtile und manchmal gewagte Taktik war zumindest zum Teil bewusst und geplant – das machte es umso faszinierender das Abmühen Bakuras zu beobachten. Dieser war wohl noch nicht auf den Gedanken gestolpert, dass Ryou sein Interesse unterstützte und die prickelnden Augenblicke initiierte oder gar steuerte. Mariku atmete tief durch, um einem unkontrollierten Lachanfall vorzubeugen, und sah wieder zu Ryou, der ihn mit einem gequälten Lächeln beobachtete. Mariku winkte ab.

„Ich finde das großartig, ehrlich. Du machst das gut.“

 

Ryou spürte die Erleichterung, die seinen Körper durchflutete. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte sich nicht von der Meinung anderer beeinflussen zu lassen, so konnte er sich wohl nicht ganz davon lösen. Zumindest die Meinung derer, die er mochte, würde ihm wichtig bleiben. Umso schöner war es, dass Mariku ihn anscheinend so akzeptierte. Andererseits, wenn er ganz ehrlich war und sein Selbstbewusstsein wieder herauskramte, was hatte er anderes von Mariku auch erwartet?

„Danke“, hauchte er.

Mariku winkte nur ein weiteres Mal mit der Hand ab und nippte an seinem Tee sichtlich zufrieden.

 

„Hast du rausgefunden, was du wissen wolltest?“, brach Mariku das Schweigen nach einiger Zeit.

Ryou seufzte tief und lang, damit seine ganze Unzufriedenheit und sich aufbauende Frustration zum Ausdruck bringend.

„Nein. Er kann ganz schön unlesbar sein. Manchmal glaube ich, dass er sich für mich interessiert. Manchmal denke ich, dass da nichts mehr als die Schüler-Lehrer-Beziehung ist.“

Hilfesuchend blickte Ryou zu seinem Gegenüber. Vielleicht würde dieser ihm die Antwort geben, auch wenn er dies nicht glaubte. Nicht, weil Mariku es nicht vermutete oder wusste, sondern eher weil er scheinbar eine sadistische Freude beim Zusehen hatte.

„Er hat eine sehr gute Selbstkontrolle. Ich denke nicht, dass du sie so einfach brechen können wirst. Immerhin ist er ein Aikidomeister.“

Wie erwartet beinhaltete dies keinen wirklichen Hinweis auf die Gefühle Bakuras. Ryou schüttelte den Kopf. Nun, das war vielleicht auch fair. Immerhin war es sich nicht mal seinen eigenen Gefühlen ganz sicher.

„Du wirst wohl direkter werden müssen.“

Ryou nickte, während sein Gesicht sich verzog. Das hatte er befürchtet.

„Wie kommt es eigentlich zu dem Sinneswandel?“

Überrascht sah er zu Mariku. Diese Frage hatte er nicht erwartet. Doch nun sah er, dass die Neugierde sich praktisch wie eine zweite Haut über Mariku legte. Mit etwas Fantasie konnte Ryou einen erwartungsvoll wedelnden Schwanz dazu zeichnen.

„Erinnerst du dich an den Sonntag, wo Bakura uns fertig gemacht hat?“

Mariku nickte nur und Ryou wandte seinen Blick ab. Stattdessen fixierte er die Spüle, in der noch Teller vom Abendessen sich stapelten.

„Ich war ziemlich…niedergeschlagen.“

Er schluckte den Klos herunter, der sich sofort bei den Worten in seinem Hals bildete.

 

„Wenn du das nicht kannst, was willst du hier? Du bist unfähig!“ Die Worte hallten in seinen Gedanken wieder. Etwas in seiner Brust zog sich schmerzlich zusammen. Es zog. Es schmerzte. Es fiel. Er verließ den Raum, denn er wusste, dass sein Körper zitterte. Er brauchte einen sicheren Ort. Einen Ort, an dem er auseinanderbreche konnte. Er spürte die Dunkelheit sich über ihn legen. Er sank tiefer hinein in die Spirale aus Hass, Angst, Versagen. Er konnte nichts. Warum hatte er sich etwas anderes eingebildet? Warum hatte er gedacht, Bakura würde etwas anderes denken? Nun lag er auf dem Boden, weinte, schrie, während Maden sein Herz fraßen.

 

Die Erinnerung jagte Phantomschmerzen durch seine Glieder, doch wenn er sich durch das Chaos in der Realität durchkämpfen konnte, so würde er nicht bei einer Erinnerung nachgeben.

„Es war wirklich schlimm. Ich war verwirrt, verletzt. Ich konnte mich einige Zeit lang nicht mal mehr bewegen.“

 

Etwas regte sich. Es stimmte gar nicht, dass er nichts konnte! Erst einen Tag zuvor hatte Bakura ihn gelobt. Er selbst hatte über all die Veränderungen nachgedacht und konnte Stolz auf sich sein.

 

„Doch dann ist mir klar geworden, dass es übertrieben war. Ich war kein Nichts. Das hatte ich gelernt. Zudem hatte sich Bakura echt ungewöhnlich verhalten. Also habe ich stattdessen nachgedacht, warum mich seine Worte so stark getroffen hatten.“

 

Da war sie. Die Antwort, die er seit dem Morgen suchte. Willig sprang sie in seine Hände und öffnete ihm eine völlig neue Sichtweise.

 

„Es war meine eigene Angst, die mich herunter gezogen hatte. Klar hatten Bakuras Worte es ausgelöst, aber ich hatte Angst abgelehnt zu werden. Das bedeutete, dass Bakura mir wichtig war. Ich spürte zum ersten Mal bewusst die Zuneigung, die ich für ihn empfand.“ Ryou lächelte als das Gefühl es sich wieder bequem in seiner Brust machte. Es war pulsierend, aufregend, glühend, zärtlich. 

„Dann ist mir eingefallen, dass du auf Bakura losgegangen bist. Ich hatte wirklich Panik, dass es zum Krankenhaus kommen würde. Ich war mir nur nicht sicher für wen von euch beiden…“

Mariku, der schweigsam und nahezu ausdruckslos zugehört hatte, lachte auf.

„War wohl eine Überraschung, dass wir unverletzt und friedlich da saßen.“

Ryou zog seine Augenbrauen zusammen und schickte einen mahnenden Blick über den Tisch, der zumindest das Gelächter stoppte.

„Ich brauchte etwas Zeit mit allem fertig zu werden, doch schließlich akzeptierte ich es. Mit der Erkenntnis kamen dann ganz viele neue Bedürfnisse und Gefühle. Ich war stolz auf mich, aber auch verwirrt und neugierig. Ich wollte gleichzeitig anerkannt, respektiert und begehrt werden. Also habe ich einfach etwas…herumexperimentiert.“

Mariku nickte anerkennend.

„Du hast Respekt verdient. Außerdem hast du echt Talent fürs Manipulieren.“

Ryou lächelte leicht und senkte seinen Blick. Seine Hände gruben sich in den Stoff des Yukatas, während er die Hitze in seinen Wangen aufsteigen spürte.

„Die Zuneigung… sie war nicht nur für Bakura“, sagte er etwas leiser. „Sie ist natürlich anders als für Bakura“, fügte er hastig hinzu. „Ich mag dich als einen guten Freund.“

 

Bei den Worten blickte Ryou leicht auf, doch behielt den Kopf gesenkt. So wirkte er verletzlich, wie er da mit roten Wangen und hoffnungsvollen Augen halb verdeckt von langen Wimpern zu ihm hochblickte. Der Kleine wusste ganz gewiss seine Stärken auszuspielen. Mariku zweifelte trotzdem keine Sekunde an der Ehrlichkeit der Aussage. Er streckte seinen Arm aus und wuschelte durch die weißen Haare.

„Freunde ist genau die richtige Bezeichnung für uns. Ich mag dich auch.“

Ryou blühte förmlich auf bei diesen Worten. Mariku hatte diese zärtliche und ehrliche Seite von Ryou über die Ereignisse der letzten Woche fast vergessen. Er war sich sicher, dass wenn Bakura von etwas bewegt werden konnte, dann am ehesten von diesen ehrlichen Emotionen. Doch das behielt er lieber für sich.

„Weißt du nun, was genau du für den alten Mann fühlst?“, fragte er stattdessen.

Ryou schüttelte leicht den Kopf und von seinem Gesicht konnte Mariku pure Freude ablesen.

„Nein! Doch ich habe dieses wilde Herzklopfen, wenn er mir nahe ist oder wenn ich etwas wage, wie die Aktion mit dem Yukata. Gleichzeitig kann ich mich dank ihm mehr konzentrieren, wie bei den Strafrunden, da mich seine Anwesenheit herausfordert. Und manchmal…“

Mariku hörte den aufregenden Worten zu und beobachtete die wilden Gesten, mit denen Ryou seine Aussagen unterstrich. Es war wirr, durcheinander und heiter. So konnten die restlichen zwei Wochen ruhig bleiben.

Erster Versuch

„Aber es ist schon überraschend, dass du dir ausgerechnet Bakura ausgesucht hast. Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich dich mit so einem typisch schüchternen Mädchen vorgestellt.“ Mariku hatte sich nach hinten fallen gelassen und beobachtete das flackernde Licht der Lampe. Die Birne würde bestimmt bald durchbrennen. „Oder mit einem komplett aufgedrehtem Mädel, das mal im Ausland war. Aber ganz bestimmt nicht mit einem Mann, schon gar nicht mit einem Typen wie Bakura.“

Er hörte das gequälte Lachen Ryous und dann das Klacken, als er wohl seine Tasse auf dem Tisch abstellte.

„Das haben meine Freunde in der Mittelschulzeit versucht. Also das schüchterne Mädel. Im Nachhinein betrachtet, fand ich sie extrem anstrengend. Ich war nicht gut darin eine Konversation alleine aufrecht zu erhalten und sie hat wirklich kaum geredet.“ Es folgte eine schweigsame Minute. Wenn er sich genug konzentrierte, konnte Mariku auch das knisternde Geräusch der defekten Birne hören.

„Ich erinnere mich“, sprach Ryou plötzlich weiter. „Sie hatten auch das extreme Gegenteil versucht. Einst haben sie mich mit einer Schülerin aus der Parallelklasse alleine beim Karaoke gelassen. Sie redete ununterbrochen. Das war auch anstrengend. Sie hatte trotzdem versucht bei mir zu landen und mir einen ziemlich feuchten Kuss aufgezwungen. Das war ungefähr zu der Zeit als mir dämmerte, dass ich Männer interessanter fand“, die Stimme wurde so leise, dass Mariku sich nun anstrengen musste sie zu hören, also richtete er sich wieder auf.

„Das war Anfang der Oberschule. Danach kam es eigentlich ganz natürlich, dass ich einigen Schülern aus anderen Klassen näher kam. Doch ich habe meinen Freunden nie erzählt, dass ich… schwul bin.“ Ryou linste vorsichtig zu Mariku herüber. „Wann hast du festgestellt, dass du Männer bevorzugst?“

Mariku betrachtete Ryou eingehend. Offensichtlich war das Thema für ihn von Bedeutung. Das war der einzige Grund, dass sich Mariku in seine Erinnerungen vertiefte und nach ‚der einen‘ suchte, in der er seine Sexualität entdeckt hatte. Es war schwer. Nach einiger Zeit des Wühlens in seinem eigenen Kopf gab er es auf und versuchte es Ryou zu erklären.

„Ich weiß es nicht mehr. Es war keine schlagartige Erkenntnis. Es war ganz normal für mich, dass ich Männer heiß finde. Von Anfang an hatte ich keinen Zweifel daran. Malik meinte einst, dass es in dem Sinne das einzig gute meiner Eltern war – sie haben mir nie irgendwelche Vorstellungen aufgezwungen. So habe ich nie daran gezweifelt. Die Abneigung gegenüber Schwulen lernte ich erst kennen, da wusste ich schon lange, dass ich schwul bin und da war mir die Meinung anderer herzlichst egal.“ Mit einem Schnauben beendete Mariku seinen kurzen Vortrag, der ihm zumindest einen sehr bewundernden Blick von Ryou einbrachte. Das war auch eine Art Errungenschaft.

 

„Also haben wir deine respektlose Art der mangelnden Erziehung zu verdanken.“

Mariku fluchte leise, während er den Impuls aufzuspringen ignorierte. Musste Bakura sich immer so anschleichen? Und wie lange stand er schon da?

„Wenn du noch baden willst, solltest du dich beeilen, solange das Wasser noch warm ist.“

Also nicht lange. Gut. Grummelnd erhob sich der Ägypter und winkte Ryou zum Abschied mit der Hand, eher er verschwand.

 

Ryou legte eine Hand auf seine Brust. Sein Herz schlug schnell und kräftig. Doch das hatte vermutlich mehr mit dem plötzlichen Auftauchen Bakuras zu tun, als mit seiner eigenen inneren Gefühlswelt. Trotzdem zauberte es ein Lächeln auf sein Gesicht. Es erinnerte ihn an all die Male, in denen er diese Symptome als Reaktion auf Bakura hatte. Vorsichtig linste er zu seinem Lehrmeister. Dieser stand in der Mitte des Raumes und betrachtete kritisch das schmutzige Geschirr.

„Also ist das Blondchen abgehauen, ohne seinen Anteil abgewaschen zu haben“, sagte er schließlich mürrisch und krempelte die Ärmel hoch.

In der ersten Woche war es eine Seltenheit gewesen Bakura nicht in einem Hakama, Yukata oder zumindest Jinbei zu sehen. Es hatte den Charme von Traditionellem in dem ganzen Haus unterstrichen. Doch gleichzeitig war es wohl auch ein Mittel gewesen unantastbar zu wirken, vermutete Ryou. Inzwischen sah man den Hakama nur noch im Dojo und am Frühstückstisch. Manchmal erschien Bakura auch sonst in japanischer Kleidung, doch inzwischen kam es viel häufiger vor, dass er außerhalb des Unterrichts Hosen und T-Shirt trug. Entgegen irgendwo in Ryous Unterbewusstsein schlummernden Erwartung, trug Bakura nicht hauptsächlich Schwarz, sondern Blau und dunkles Grün. Trotz des warmen Wetters, hatte Bakura abends oft langärmlige Stoffjacken an.

 

„Ryou?“

Ryou riss seine Augen von dem in dunkelgrünen Stoff gehüllten Oberarm und hob den Blick bis zu den braunen Augen hoch. Er hatte den Wunsch zu erröten und im Boden zu versinken, doch stattdessen lächelte er und legte den Kopf leicht zur Seite.

„Ist dir nicht zu warm?“, fragte er das erste, was ihm in den Kopf kam.

Bakura warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und schüttelte leicht den Kopf.

„Nein, abends wird es hier kühl.“

Ryou lachte leise auf.

„Lass das Mariku nicht hören. Er beschwert sich immer noch über das zu heiße Wetter.“

„Deswegen stehe ich nicht auf muskelbepackte Blondchen“, schnaubte Bakura und widmete sich wieder dem Geschirr.

Ryou spürte wie sein Herzschlag schneller wurde. Er musste doch direkter werden, oder? War jetzt die Gelegenheit dazu? Ryou öffnete den Mund und schloss ihn unschlüssig wieder. Verdammt. Er konnte das tun! Er holte tief aber geräuschlos Luft ein und erhob sich. Während Ryou nach einem Handtuch griff und den erster Teller abtrocknete, warf er einen Blick zu Bakura.

„Auf was stehst du dann?“

Er hatte versucht gelassen und scherzhaft zu klingen, doch sogar seinen eigenen Ohren war das leichte Beben seiner Stimme nicht entgangen. Verdammt. Verdammt.

Bakura hielt in seiner Bewegung inne und sah zu ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Ryou blickte unerschrocken zurück und pflasterte ein unschuldiges Lächeln auf seine Lippen. Er war kein verängstigter Mittelschüler!

Es war nur ein Augenblick, doch er hatte ihn vollkommen verpasst.

Plötzlich presste Bakuras Körper an seinen und er wurde gegen den Kühlschrank hinter ihm gepresst. Bakuras Mund war neben seinem Ohr und er spürte warmen Atem auf seiner Haut. Ryou konnte den Schauer nicht unterdrücken, der seinen Rücken herunterlief. Bakuras Kopf bewegte sich und nun spürte er den Atem auf seiner Wange. Heißer Atem auf glühender Haut. Wie hypnotisiert starrte er in die Augen Bakuras, während dieser den Kopf von ihm etwas entfernte und ihn von oben herab betrachtete. Seine Augen wirkten fast schwarz. Ryou merkte nicht mal wie er seine Lippen leicht öffnete oder wie sein Körper leicht zitterte. Er bemerkte nicht wie sein eigener Körper nun gegen Bakuras drückte. Er wusste nur eins. Er wollte mehr.

Bakura schnaubte.

Als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über ihn gegossen kam Ryou wieder zu Sinnen und seine Augen weiteten sich leicht vor Horror. Oh nein.

„Auf jeden Fall stehe ich nicht auf jungfräuliche Rehe.“

Bakura ließ von ihm ab und ging.

Ryou sah wie er die Küche verließ. Hörte die sich entfernenden Schritte bis Stille einkehrte.

Nein.

Verdammt.

Verdammt.

Verdammt.

Ryou verspürte das dringende Bedürfnis einen Teller gegen die Wand zu schmeißen, doch stattdessen sank er auf den Boden und lehnte seinen Kopf an die Kühlschranktür.

Was sollte er jetzt tun?

 

Mariku fand ihn in der exakt gleichen Position einige Zeit später. Wortlos ging er zu ihm und kniete sich vor Ryou nieder, der ihn passiv beobachtete.

„Er hat gesagt er kommt morgen früh wieder und ist mit dem Auto weg. Wir sollen ja nicht verschlafen, er wird zum Frühstück wieder da sein.“

Mariku wartete auf eine Reaktion, doch Ryou rührte sich weiterhin nicht.

„Was genau ist bitte in der kurzen Zeit passiert, die ich im Bad war?“

Das entlockte Ryou ein Seufzen und er zuckte leicht mit den Achseln.

„Ehrlich gesagt… keine Ahnung.“

Mariku hob nur eine Augenbraue hoch.

Ryou lachte hohl und seine Stimme brach leicht. Doch er holte tief Luft und sprach seine nächsten Worte gelassen aus. „Auf jeden Fall steht er nicht auf ‚jungfräuliche Rehe‘ seinen Worten nach.“

„Weißt du, das erklärt nicht viel.“

Ryou blinzelte. Nun. Da hatte Mariku vermutlich Recht. Er fühlte wie das kalte Taubheitsgefühl sein Inneres langsam wieder losließ und bemerkte erst jetzt, das Mariku ihm behutsam über den Kopf streichelte. In seiner Brust zog es, doch er seufzte nur ein weiteres Mal und ignorierte das Gefühl so gut er konnte.

„Er meinte er stehe nicht auf blonde Muskelpakete“ – ein Schnauben von Mariku – „und dann hab ich ihn spontan gefragt auf was er denn steht. Plötzlich wurde ich gegen die Wand, nein, gegen den Kühlschrank gedrückt und bin fast zerflossen vor…“ Ryou spürte seine Wangen erröten, doch sein Blick blieb fest auf Marikus nichtssagendem Gesicht, „Aufregung und Erregung. Dann hat er mich plötzlich losgelassen, gesagt, dass er nicht auf jungfräuliche Rehe steht und ist gegangen.“

Mariku sah ihn offensichtlich erwartungsvoll an, doch Ryou bot ihm keine Fortsetzung an. Schließlich war das alles, was passiert war. Jetzt, wo er es zusammengefasst hatte, schien es echt nicht viel.

„Das war’s?“, fragte Mariku schließlich nach, während seine Hand immer noch über Ryous Kopf strich. Die Geste war überraschend beruhigend, wie Ryou feststellte. Er nickte.

„Manchmal weiß ich echt nicht was in seinem Dickschädel abläuft.“

„Wem sagst du das“, murmelte Ryou zurück. Ernsthaft, das Ganze war doch bizarr.

„Und, bist du eine Jungfrau?“

Die Frage überrumpelte Ryou genug, das er antwortete lange bevor sein Hirn das typische Schamgefühl hinterher werfen konnte. „Nein.“ Und wirklich, Scham war in dem Fall so unnötig. Er musste das Gefühl dringend loswerden.

„Und wenn du ein Reh bist, fress ich ein Besen“, sagte Mariku grinsend und ließ schließlich von seinem Kopf ab, nachdem er zum Abschluss sein Haar durchwuschelte. „Also, ignorier seine dämlichen Worte.“

Mit einem leichten Lächeln nickte Ryou.

„Das hat eine gewisse… Logik.“

„Natürlich. Ich bin halt der Beste!“

Diesmal war es ein leises Auflachen, mit dem Ryou Marikus Worte kommentierte. Der Mann verstand es durchaus einen aufzuheitern. Welch unerwartete Talente da doch schlummerten. Warum hatte er nochmal seine Gefühlsachterbahn auf Bakura fixiert?

„Und jetzt?“, fragte Ryou frustriert.

„Wir können als Rache seine Sakesammlung plündern.“

Angewidert verzog Ryou das Gesicht. Neben der Tatsache, dass er eigentlich gar nicht den bevorstehenden Abend gemeint hatte, konnte er das Getränk echt nicht leiden. Aber einen gemütlichen Abend mit ein bisschen Alkohol zur Beruhigung konnte er echt gebrauchen.

„Umeshu! Wenn du Umeshu findest, mach ich mit.“

„Abgemacht. Hat der Esel bestimmt auch da.“

Mariku stand auf und hielt Ryou eine Hand hin, der bei dem Wort ‚Esel‘ angefangen hatte unkontrolliert zu lachen. Ryou nahm die Hand an und wurde mühelos auf seine Beine gezogen.

„So ist’s besser. Und nun, auf zum Alkohol!“

Erst viel zu spät wurde Ryou klar zu was genau er da genau zugesagt hatte. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das nächste Kapitel kommt am 28. Dezember.
Ich wünsche allen eine schöne Weihnachtszeit! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche einen Guten Rutsch ins neue Jahr!
Das nächste Kapitel gibt es dann am 11. Januar :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kurze Anmerkung: Die Handai ist eh nach Ranking die Zweitbeste bzw. Drittbeste Uni Japans (T-Uni, also die Tôdai ist die Beste :)). Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich hatte ich die Prügelei überhaupt nicht geplant, doch dann sind die Charaktere mit mir durchgebrannt xD Es hat erstaunlich viel Spaß gemacht sie zu schreiben O.o
Doch deswegen kommt der Rest der Wanderung und Ryous Gedankenwelt erst im nächsten Kapitel... Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (43)
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Von:  esterlucy
2016-05-06T20:16:53+00:00 06.05.2016 22:16
Weiter so ryou du schaffst das ;)

Von:  esterlucy
2016-03-17T21:30:36+00:00 17.03.2016 22:30
Ryou, so toll süß :)

Von:  RyouxBakura
2015-12-14T19:42:23+00:00 14.12.2015 20:42
Tolles Kapitel :3
Ich liebe es wie du die Charaktere beschriebst, das verschafft meistens ein dauer-grinsen, mir zumindest xD
Auch die eine Schöne Weihnachtszeit :D
Antwort von:  Lunatik
15.12.2015 05:51
Danke! Es freut mich sehr, dass es gut ankommt ^_^
Von:  RyouxBakura
2015-12-03T17:23:06+00:00 03.12.2015 18:23
Bis jetzt tolle Geschichte und bis jetzt Gut geschrieben :3
Leider habe ich erst gestern angefangen es zu lesen, aber es fesselt :)Hoffe mal das nicht nochmal so ne lange Pause kommt :D
Von:  Adrijana
2011-03-03T20:35:09+00:00 03.03.2011 21:35
ich weiß nicht ob ich diese Kapitel als kurz empfinden soll... es hat sich so schön lesen lassen *_*
und war i-wie melancholisch (?)

hm... ich werd nicht schlau aus den drei |D
Von:  Nao_Kirisaki
2011-03-03T18:36:12+00:00 03.03.2011 19:36
Ich finde das Kapitel war interessant, aber kurz...
Da hat noch irgendwas gefehlt diesmal...
Aber ich bin mir sicher, dass das nächste Kapitel noch besser wird ^^
Von:  Mimmy-chan
2011-03-03T18:18:35+00:00 03.03.2011 19:18
ENDLICH ENDLICH ENDLICH! - ES GEHT WEITER!
Gott wie ich mich freue XD
Ach ja das hab ich auch schon beim letzten mal geschrieben, nicht? Sorry *gg*

Also wiedereinmal ein gelungenes kapi, wenn auch ein wenig kurz.

Marikus Vergangenheit klingt sehr interessat und vor allem die Tatsache, dass er warscheinlich damit brach, nachdem er Marik kennen gelernt hat. TOTAL ROMANTISCH *schwärm*

Ryous Mutter ist tot? Armes Ding *patpat*

Bakuras Leben ist einfach nur faszinierebd, oder? Was wohl auf dem Foto ist??? *neugierig guck*

Freue mich schon auf das nächste Kapitel, doch bitte lass uns nicht wieder 5 Monate warten XD

chuchu mimmy-chan
Von:  RyouAngel
2010-11-04T13:02:38+00:00 04.11.2010 14:02
DAS war ein tolles Kapitel~
In den ersten Augenblicken tat mir Ryou mit seinem extremen Muskelkater so leid...
Aber es hat sich doch wirklich gelohnt das er nicht aufgegeben hat.
Und dann als Bakura sagte er habe ein Mittel gegen den Muskelkater... ich hab schon so große Augen bekommen und dann war es doch "nur" ein Bad XD
Aber toll gemacht, muss ich sagen~

Ach und ich glaub es nicht, scheinbar lernt Mariku ja sogar und steht auf ohne geweckt zu werden... Es geschenen doch noch Wunder :3

Du hast einen tollen Schreibstil und ich bin schon sehr gespannt wie es weiter geht, hoffentlich muss ich da nicht so lange warten XD

RyouAngel
Von:  Soichiro
2010-10-26T13:34:01+00:00 26.10.2010 15:34
Ryou scheint ja wirklich nicht so ruhig zu sein wie er im Prolog erscheint immerhin gibt er Mariku contra und das finde ich wirklich sehr gut^^
Klar sagt er nichts extrem freches, dass hätte auch nicht gepasst, aber dass er überhaupt den Mund aufmacht sorgte dafür, dass er einige Pluspunkte bei mir bekommt xD
Die Idee mit dem Bergsteigen finde ich persönlich ziemlich gut, denn ich finde dass es durchaus passend ist, dass Ryou solch einen Wunsch hat und ich würde mich freuen, wenn er es auch wirklich probieren würde den Berg zu bezwingen.
Außerdem mag ich es sehr, dass Ryou ein Auge für die Natur zu haben scheint^^

Wie Bakura und Mariku miteinander umgehen, finde ich klasse xDD
Ich mag es, dass Bakura Mariku seine Grenzen aufzeigen kann und sicherlich stachelt dies auch Mariksu Ehrgeiz an und er wird das Training noch richtig ernst nehmen
Ich bin mal gespannt wie sich das Verhältnis der Beiden mit der Zeit noch ändern wird
Genrell mag ich Bakura bereits jetzt sehr gern, er ist nicht leicht zu durchschauen und hat einfach dieses gewisse Etwas, das macht das Lesen gleich noch ein Stück interessanter^^
Von:  Soichiro
2010-10-26T12:51:22+00:00 26.10.2010 14:51
Hey ^-^

Also auch ich muss sagen, dass ich kein Fan davon bin, wenn wirklich jeder fast über Ryou herfällt, doch ich muss zugeben, dass es mich in deiner FF weit weniger stört als in Anderen
Ich finde so wird einfach nur sehr deutlich, warum Ryous Chef unbedingt will, dass er lernt sich selbst zu verteidigen und ich finde es auch sehr passend, dass nicht Ryou selbst den ersten Schritt geht, denn oft brauchen solche Menschen, die recht schüchtern sind einfach einen kleinen Anstoß in die richtig Richtung
Eigentlich mag ich es auch gar nicht so, wenn Ryou extrem schüchtern ist und nicht aus sich rauskommt, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass er durch das Training sicherlich deutlich an Selbstbewusstsein gewinnen wird und deswegen finde ich ihn auch bisher ziemlich sympathisch^^

Man kann das Kapitel wirklich sehr gut lesen, du schreibst schön locker und genau das finde ich immer gut, wenn eine Geschichte der Kategorie Humnor zugeordnet ist

Ich bin wirklich gespannt wie sich Ryou und auch Mariku im Laufe der FF entwickeln werden, also werde ich brav weiter lesen xD

glg Soichiro^^


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