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Caileen, die Drachenprinzessin

von

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Siegesfeier

Nach getaner Arbeit kehrten die Drei zum Lazarett zurück, um mit Elodris über die Lage zu sprechen. Nachdem diese ihnen Auskunft über die Zahl der Toten und Verletzten und Art der Verletzungen erteilt hatte, entschied Hauptmann Daeron, das Lager soweit wie möglich abzubauen und nur die wenigen Zelte stehen zu lassen, die nötig waren, um die Schwerverletzten zu versorgen. Die Sonne warf schon lange Abendschatten und die Soldaten waren erschöpft, müde, aber auch frohen Mutes dank dieses so lang verwährten Sieges. So schickte Daeron die, die nicht zu müde und kraftlos waren, in die Stadt, um hinter Bresnas Mauern zusammen mit den Bewohnern und in den Wirtshäusern zu feiern.

„Lasst die tapferen Männer und Frauen diesen Augenblick auskosten!“, antwortete er denjenigen, die ihn skeptisch anschauten, „Sie haben es sich verdient und morgen werden wir erholt nach Tirganach zurückkehren.“

Lavinia hatte sich dies natürlich nicht zweimal sagen lassen, und kaum, dass sie Silayn zu den anderen Drachen und ihren Reitern bei der Südmauer gebracht hatte, sah man sie schon von einer unglaublichen Menge von Mitstreitern umgeben ihr Schwert dem Himmel entgegen recken und rufen: „Auf nun, Kameraden, erobern wir die Wirtshäuser! Holen wir uns nun den rechten Lohn für unsere Arbeit!“

Lachend und singend machte sich die Horde auf den Weg ins Innere der Stadt und ließ einen staunenden Daeron und eine nicht weniger verwunderte Kazary zurück. Erst als Lavinia außer Sichtweite war, konnte Kazary sich nicht mehr zurückhalten und begann, kopfschüttelnd zu lächeln.

„Was hast du?“, fragte Daeron die Elfe, wobei er den Kopf schief legte.

„Erstaunlich…“, murmelte sie weiterhin mit einem Lächeln vor sich hin, wandte sich dann aber direkt an den Elf, „War sie eigentlich immer schon so?“

„Lavinia?“, entgegnete der Hauptmann, „Nun…zumindest habe ich sie selten in anderer Stimmung erlebt.“

„Es stimmt also, was sie mir erzählt hat? Ihr kennt einander schon lange?“, fragte die Elfe neugierig.

Daeron nickte: „Oh ja…“, und begann zu erzählen, wie er Lavinia kennen gelernt hatte.

Damals, als er noch ein Knabe gewesen war hatte er gemeinsam mit Valerias und Livon, Lavinias älteren Brüdern, seine Ausbildung als Drachenreiter gemacht und sich mit den beiden angefreundet. Auch etwa Zeitgleich hatten sie ihren Bund zu den Drachen gefunden und hatten oft zusammen an den Grenzen gekämpft. So hatte er auch Lavinia kennen gelernt, die zu der Zeit, da er und die beiden Brüder schon erwachsen waren, noch ein junges Mädchen war, das stets ihren Brüdern nachgeeifert hatte und unbedingt in die königliche Armee wollte. Nach einigen weiteren Jahren war Daeron mit einer neuen, weiteren Aufgabe als Heerführer und Hauptmann der königlichen Leibwache, beschäftigt worden, während Valerias Lehrmeister in den Bruthallen wurde und Livon von einem Krieg in den nächsten zog.

„Die beiden waren fast schon eine Legende geworden, und Lavinia war so stolz, als auch sie endlich auf der Akademie aufgenommen wurde“, erklärte Daeron in Gedanken versunken, „Aber die ärmste hatte es überaus schwer…“

Denn als bekannt wurde, dass Valerias´ und Livons Schwester ebenfalls den Weg einer Drachenreiterin einschlagen wollte, waren unnatürlich hohe Erwartungen an die junge Elfe gestellt worden, denen nachzukommen fast unmöglich gewesen war. Zudem schien Lavinia das herausragende Talent ihrer Brüder zu fehlen. Dennoch hatte die Elfe nicht aufgegeben und, als bekannt gegeben worden war, dass beide neben der Prinzessin in den Krieg gezogen und erfolgreich zurückgekehrt waren, mit breiten Lächeln erklärt, dass sie eines ihre beiden Brüder in jeder Disziplin eines Drachenreiters übertreffen würde und nicht nur das! Sie hatte sich sogar geschworen, eines Tages der Prinzessin als engste Vertraute und Waffenschwester im Krieg zur Seite zu stehen. Doch damals war sie noch weit von ihren Ziel entfernt gewesen, und obwohl sie schon in dem rechten Alter gewesen war und ihre grundlegendsten Ausbildungen absolviert hatte, immer noch keinen Bund zu einem Drachen gefunden. Dann hatte sie auch noch erfahren müssen, dass die Prinzessin und ihr Brüder in der Schlacht bei den Aschefeldern gefallen waren.

„Es war ein ungeheurer Schlag für sie gewesen“, sprach Daeron betrübt, angesichts der Erinnerung, „Ich habe ihr damals persönlich die Nachricht übermittelt, doch die hat mich weinend geschlagen und einen Lügner genannt, weil sie nicht glauben konnte, das sowohl Caileen, also du, als auch Livon, Valerias und dessen Drache Thora umgekommen waren.“

Kazary nickte verständnisvoll, während sie einem Knappen Anweisungen gab, welche der Drachen noch zu füttern waren. Es tat ihr unendlich leid, dass ihre Freundin so etwas Schlimmes durchlebt hatte, zugleich aber war sie auch zutiefst beeindruckt von der Stärke, die Lavinia besaß. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst ähnliches durchgemacht hatte.

„Ihr sagtet, Hauptmann, Valerias Drache sei umgekommen…“, setzte sie nachdenklich an, als wäre ihr etwas eingefallen, „Aber was ist aus Livons Drache geworden?“

Aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie Daeron es nun war, der verschwörerisch lächelte, während er sprach: „SIE hat einen neuen Bund gefunden…Es war vielleicht einige Tage nach der Nachricht über Valerias´ und Livons Tod, als das Drachenweibchen wieder vor den Toren der Stadt auftauchte. Sie war schwer verwundet und hatte ihre letzten Kräfte gebraucht, um nach Tirganach zu gelangen. Lavinia kannte sie natürlich und pflegte sie gesund. Oft hat man sie deshalb mit Zwiespalt betrachtet. ‚Eine junge Frau, die nicht in der Lage war, den Bund zu einen Drachen zu finden’ sagten die einen, während die anderen sie bewunderten, weil sie sich trotz all ihres Leids um den Drachen ihres toten Bruders kümmerte. Und letztendlich hatte Lavinia doch noch ihren Bund gefunden.“

Kazary´s Augen weiteten sich und sie begriff: „Silayn?“

„Ja, so ist es. Bis zu dem Zeitpunkt verhielt es sich mit Lavinias Laufbahn sehr schleichend, aber von dem Augenblick an, wo sie Silayn gesund pflegte, machte sie so rasante Fortschritte, wie es bisher noch kein Drachenreiter je getan hat.“

„Aber... was wurde aus ihrem Traum?“, entgegnete Kazary.

Daeron zögerte nicht mit der Antwort: „Ihr Wunsch, ihre Brüder an Ruhm zu übertreffen, scheint jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen zu sein, auch wenn ihr zweites Ziel vorerst unmöglich wirkte. Aber…so wie es nun aussieht, scheint auch dieser sich zu erfüllen.“

Wie urplötzlich zur Erleuchtung gekommen blieb Kazary stehen. Im ersten Augenblick fühlte sie sich betrogen und glaubte, Lavinia sei nur mit ihr befreundet, um ihren Schwur einzuhalten. Im Grunde war das aber Unsinn. Alle bis auf Elodris hatten sie für tot gehalten, wie hätte Lavinia da anders denken können? Zudem war Lavinia viel zu direkt und ehrlich, um eine Freundschaft auszunutzen. Vielleicht war es aber auch Schicksal, dass ein einst unbegabtes Elfenmädchen die Waffenschwester der einstigen Prinzessin werden sollte.
 

Es dauerte noch eine Weile, bis sie Arsinoe und Falrach das Blut und den Ruß von den Schuppenpanzern geschrubbt und einen weiteren Knappen mit einem Karren voller Fleischstücke herbeigerufen hatten, ehe sie sich von ihren Gefährten verabschiedeten und beschlossen, sich ebenfalls in die Stadt zu begeben, um dafür zu sorgen, dass ihre Leute, und allen voran Lavinia, die eine für Elfen ungewöhnliche Leidenschaft für Feste und Feiern hatte, nichts Dummes anstellten oder zu viel tranken.

Ganz Bresna war mit Kopfstein gepflastert und die zahlreichen Fachwerkhäuser durch kleine Ziergärtchen geschmückt. Genau in der Mitte der Stadt befand sich ein großer gepflasterter Platz, auf dem ein einzelner reich verzierter Brunnen stand. Gewöhnlich würden auf diesem Platz Reden gehalten, Märkte aufgebaut, Zeremonien gefeiert. Es brauchte nicht lange, um Lavinia und ihre Gefolgschaft zu finden, denn obwohl es allmählich dämmerte, war noch immer gut zu erkennen, wie alle Leute sich zu einem Haus begaben: „Das Gasthaus zum Silbernen Stern“.

Der Silberne Stern war das einzige Wirtshaus in Bresna und gerade deshalb ein beliebter Treffpunkt der Arbeitsscheuen und Alltagsüberdrüssigen. Bereits von Außen konnten Kazary und Daeron das Gesinge und Gelächter der Feiernden hören. Schatten zeichneten sich gegen das warme Licht in den Fenstern ab. Ein Schwall von Klängen und eine Flut von Licht umgaben die beiden Elfen, als man ihnen die Tür zum Wirtshaus öffnete. Zum Dank nickend traten sie ein und fanden ihre Kameraden von einer jubelnden Menge umzingelt vor; Krieger und Einwohner feierten gemeinsam den Sieg und die Rettung der Stadt.

„Kommt, Freunde, kommt! Hier sind noch Plätze für euch frei!“

Aus der Runde der Feiernden erhob sich Lavinia etwas taumelnd und trat ihnen entgegen. Sie sah etwas erschöpft aus, lächelte dennoch fröhlich. Noch ehe Daeron und Kazary die Gelegenheit hatten, zu antworten, hatte Lavinia sie schon an den Handgelenken gefasst und zu den anderen hinüber gezogen. Dann wandte sie sich wieder an die Umstehenden, verbeugte sich übertrieben während sie sprach: „Und wenn ich euch, verehrten Leuten, vorstellen darf: Meine Waffenschwester und Freundin Kazary und der hochgeschätzte Hauptmann Daeron!“

Beifall tobte, auch wenn die beiden Neuankömmlinge nicht wussten, was sie hätten sagen sollen. Bald schon setzte sich Lavinia zu ihren Freunden und als sie etwas ungestört waren, schüttelte Daeron nachdenklich den Kopf.

„Du solltest achtsamer sein, Lavinia“, erklärte er ruhig, wenn auch besorgt, „Du beginnst allmählich unsere Tugenden und Pflichten als Drachenreiter zu vergessen. Du solltest lernen, wieder etwas diskreter zu werden.“

„Hast du nicht selbst gesagt, wir sollten feiern?“, entgegnete Lavinia lächelnd.

Daeron sah sie streng an: „Gegen eine Siegesfeier habe ich nichts, es ist nur… du übertreibst es. Außerdem fängst du an, aus dem Nähkästchen zu plaudern.“

In dem Versuch, einen wohlmöglichen Konflikt zu verhindern, unterbrach Kazary die beiden und sprach beschwichtigend: „Ich bitte Euch, Hauptmann, wir haben so viele Niederlagen erlitten, nun lasst sie zumindest diesen Sieg genießen. Und wie es scheint, macht Lavinias Stimmung den Kriegern Mut und Hoffnung.“

„Dennoch finde ich es nicht gut“, erklärte er etwas nachsichtiger.

Wenn man in die Reihen der Drachenreiter aufgenommen wurde, legte man für gewöhnlich einen Eid ab, einen Schwur, der mit dem eigenen Blut besiegelt wurde. So war ein Reiter an die Tugenden seines Ordens gebunden. Tapferkeit, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Respekt, Loyalität und allen voran Pflichtbewusstsein und Gehorsam. Diese Tugenden mochten hart erklingen und in Notzeiten konnten sie es auch sein, aber da jeder Drachenreiter, selbst er, der Hauptmann, an diese Tugenden gebunden war, konnten sie alle in Frieden Leben. Zu Caileens Zeiten noch, sogar auf ihren eigenen Vorschlag hin, hatte er den bis dahin jeden Tag an der Front stehenden Reitern die Möglichkeit eines Urlaubs zu geben und dafür gesorgt, dass sie, wenn ihre Drachen ein Winterquartier aufsuchen mussten, nicht als Fußvolk rekrutiert wurden. Caileen hatte dies als Gerechtigkeit und Respekt gegenüber den untergeordneten empfunden und zudem resultierte das in größerer Loyalität und Gehorsam. Lavinia hingegen schien es mit dem Pflichtbewusstsein und der Bescheidenheit nicht mehr so ernst zu nehmen. Aber das war nicht der wahre Grund, weshalb Daeron sich um sie sorgte. In Wirklichkeit glaubte er, dass sie sich so übermäßig den Feiern und der guten Laune hingab, um zu vergessen und zu verdrängen, wie sehr sie immer noch unter dem Tod ihrer Brüder litt. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als hätte sie ihre Traue überwunden und zum Andenken an ihre Brüder sich noch mehr bemüht ihnen nachzueifern, doch jetzt sah es so aus, als würde sie ihre Vergangenheit einholen.

In eben diesem Augenblick, da Daeron dies dachte, sah Kazary ihn an und erriet in seinen Augen, was in ihm vorging, hatte er doch eben erst mit ihr darüber gesprochen.

Als sie sich sicher war, dass niemandem ihr Fehlen auffallen oder stören würde, nahm sie ihre Freundin beim Ärmel und zog sie mit nach draußen vor das Wirtshaus, wo es bereits Nacht war. Ganz zu Lavinias Verwirrung machte sie erst vor dem alten Brunnen Halt und sprach auch erst, nachdem sie sich auf der Steinkante niedergelassen hatte.

„Weißt du, wie es mir damals ging…?“

Lavinia, die nicht verstand, worauf Kazary hinaus wollte, antwortete verwundert: „Wieso denn…ist etwas geschehen?“

Doch Kazary ging nichtweiter auf ihre Freundin ein, sondern begann weiter zu erzählen: „Es war wie ein Schock, wie ein böser Traum, aus dem man nicht erwachen kann. All die Jahre, die ich nun schon bei den Menschen in den Hochlanden lebe, hatte ich immer das Gefühl, nicht vollkommen zu sein, dass mir irgendetwas fehle…aber ich wusste nie, was. Daher blieb, selbst nachdem ich mit meinem Leben im reinen war und ich gelernt hatte, zufrieden zu sein mit diesem neuen, die Ungewissheit, was davor war. Umso schlimmer war es für mich, als König Meleander mir die Wahrheit erzählte. Im ersten Augenblick dachte ich, er wollte mit mir Scherzen, im nächsten Augenblick hatte ich Angst. Angst um meine Freunde, Angst um meine Menschenfamilie, Angst um Dorien, aber am meisten Angst hatte ich davor, was geschehen würde, wenn es bekannt wurde, dass ich die Prinzessin bin. Ich wehrte mich mit aller Kraft gegen die Wahrheit, doch es nutzte nichts, denn tief in meinem Herzen wusste ich immer, dass es so war.“

„Warum erzählst du so etwas?“

„Weil ich nicht möchte, dass du eine ähnliche Dummheit begehst“, gab die Elfe zu Antwort, nach dem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, „Daeron erzählte mir von deinen Brüdern. Ich erinnere mich kaum an sie, doch beschrieb Daeron sie mir als zwei der größten Drachenreiter, die je gelebt haben.“

Mit einem Schlag wurde Lavinia´ s Blick trübe. Langsam, als wäre ihr Wille gebrochen, ließ sie sich neben ihrer Freundin auf der steinernen Brunnenkante nieder und starrte den Boden zu ihren Füßen an.

„Das waren sie…“, murmelte sie kaum verständlich.

Doch Kazary, die schon seit langem wusste, wie schwer Lavinia solche Familienthemen fielen, legte ihr vorsichtig eine Hand zum Trost auf die Schulter.

„Ich weiß, es muss hart für dich sein“, sprach sie sanft und verständnisvoll, „All diese Verpflichtungen, all voreiligen Erwartungen. Ein Mädchen, von dem erwartet wird, dass sie in allen ihren Brüdern nachstrebt und gleich kommt, und nun eine Frau, die nach dem Tod ihrer Brüder ihr Ansehen aufrechterhalten und sich und ihre Stärke immer wieder beweisen muss. Zu viele indirekte Verpflichtungen, denen man aus tausenden und abertausenden von Gründen nachzukommen hat. Ich weiß das nur zu genau.“

Und als Kazary bemerkte, dass Lavinia ihr weder antwortete noch sie ansah, fuhr sie fort: „Du trägst eine Maske, du lügst den anderen etwas vor… gibst vor, immer stark, immer mutig, immer guter Dinge zu sein, doch das bist du nicht. Diejenigen, die du nahe genug an dich heran gelassen hast, sehen es dir an, wie sehr du dich damit quälst. Lege deine Maske ab, Lavinia, denn niemand kann immer stark und furchtlos sein. Du bist nicht länger dazu verpflichten, deinen Brüdern nachzueifern. Valerias und Livon hatten ihre zeit gehabt, nun ist es die Zeit Lavinias der Drachenreiterin, die anders ist, als ihre Brüder es waren, und doch genauso viel erreicht hat. Es liegt an dir, deinen Weg zu wählen und zu entscheiden, wer du sein willst.“

Damit erhob sich Kazary, ging langsam zu dem Wirtshaus zurück und überließ Lavinia ihren Gedanken.

Lange noch saß die Elfe da und betrachtete die Sterne. Vieles ging ihr durch den Kopf, allem voran die Ereignisse kurz vor und nach dem Tod ihrer Brüder. Vielleicht hatte Kazary Recht, vielleicht hatte sie sich wirklich nur selbst etwas vorgemacht. Aber ihr ganzes Leben konnte doch nicht aus einer Lüge bestanden haben! Jedoch konnte sie kaum leugnen, dass sie damals viel dafür gegeben hätte, das Talent von Valerias und Livon zu besitzen. Sie erinnerte sich, wie stolz sie gewesen war, ihre Schwester zu sein, als die beiden in der Gilde aufgenommen worden waren, und wie stolz sie auf sich selbst gewesen war, als sie selbst als Lehrling nach Tirganach geschickt worden war. Auch erinnerte sie sich noch schmerzlich, dass aller Leute Blick auf ihr gelastet hatte, jeder kannte ihre Brüder, und dementsprechend hoch waren auch die Erwartungen an sie gewesen. Und umso größer war aller Enttäuschung gewesen, als sich das Talent der beiden nicht in ihrer Schwester widerspiegelte.

Sie hatte Valerias und Livon nie gehasst, im Gegenteil, sie hatte sie sehr geliebt, sie hatten sich immer gut um sie gekümmert und schließlich waren sie ihre älteren Brüder gewesen, auch wenn sie ihretwegen so viel hatte erdulden müssen. Gehasst hatte sie alle anderen, alle, die nicht in der Lage gewesen waren, zu verstehen, dass sie nicht so war, wie ihre Brüder es gewesen waren, und weil sie nicht hatte sie selbst sein können, sondern stets sich hatte selbst quälen müssen, um das Leben zu führen, das ihre Brüder ihr vorgelebt hatten. Nie hätte sie gedacht, dass sie heute hier stehen würde. Für einen Augenblick war Lavinia zum Lachen zu Mute. Sie fand es gerade zu perfide, wie das Schicksal mit ihr spielte. Ihren Schwur, eines Tages gemeinsam mit der größten aller Drachenreitern, mit Caileen, in den Kampf zu ziehen und so ihren Brüdern ebenbürtig zu werden, zu beweisen, dass sie, auch wenn sie nicht so begabt war, viel zu erreichen vermochte, hatte sie schon damals, als der Tod der Prinzessin bekannt gegeben worden war, aufgegeben. Es kam ihr wie ein böser Scherz vor, dass ausgerechnet Kazary, ihre beste Freundin, eben diese sein musste. Aber vielleicht war es ja gar nicht so unselbstverständlich, wie sie dachte. Genau wie jeder andere in Dorien wusste auch Lavinia, dass Kazary als Kind und junges Mädchen lange dafür gekämpft hatte, um ihren Traum erfüllen zu können und das sie sich allen alten Traditionen widersetzt hatte. Vielleicht war es ja dieser steinige Weg, der die beiden Elfen einander so nahe brachte.

Seufzend erhob sie sich von der Brunnenkante und begab sich langsam fort von dem Platz, in Richtung Stadttor, wobei ihre Krücke leise auf dem Boden widerhallte. Vieles in ihrem Leben ergab nun einen neuen Sinn für sie und sie konnte endlich im Reinen mit sich selbst und dem Tod ihrer Brüder sein, aber da war noch etwas, eine einzige Angelegenheit, der sie auf den Grund gehen wollte.

Lavinia war froh, dass die nächtlichen Straßen in Bresna ruhig lagen, sodass sie nur vereinzelt auf einige Einwohner traf, die sie aber nicht weiter behelligten. Die kühle Luft tat ihr gut und schaffte klare Gedanken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schon lange nicht mehr solch eine Ruhe verspürt hatte und nun konnte sie auch verstehen, weshalb Kazary, nachdem sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hatte, sich von ihnen allen distanziert hatte. Die Zeit, die sie gebraucht hatte, um sich zu ordnen, hatte ihre Freundin verändert und ihren Charakter daran wachsen lassen. Aber für sie, Lavinia, gab es noch eine Kleinigkeit zu erledigen, jene Frage zu stellen, die sie ihr ganzes Leben lang, seit dem Tode ihrer Brüder, innerlich zerfressen hatte.

Bald schon hatte sie die Stadt verlassen und schritt umgeben vom Dunkel der Nacht um die Mauern herum, auf der Suche nach Silayn. In ihren Gedanken kamen immer wieder die gleichen Worte auf: „Hast du mich nur aus Mitleid für den Bund erwählt… Du, deren Platz an der Seite meines Bruders war?“



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