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An unexpected Lesson

Eine unerwartete Lektion
von

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Kapitel 7

Eine unerwartete Lektion
 

Kapitel 7
 

Ein frischer und klarer Morgen dämmerte und die Luft roch nach feuchter Erde. Kenshin atmete tief ein und zog seinen Gi enger um sich, denn es war doch recht kalt geworden. Verschlafen eilte er zum Brunnen und holte frisches Wasser, um sich die Müdigkeit schnell auf den Augen zu waschen. Doch da er vergessen hatte, sich noch einen Extra-Gi anzuziehen, entschloss er sich fröstelnd, das Wasser mit in die warme Scheune zu nehmen und sich dort zu waschen.
 

Baiko kam gerade von seinem morgendlichen Rundgang zurück, als Kenshin die Wassereimer hereintrug. Sofort spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Baiko war normalerweise immer in fröhlicher Stimmung und gesprächig, aber heute Morgen war sein Gesicht düster und seine Augen blickten grimmig geradeaus.

Wie Kenshin ging er zum Brunnen und holte sich einen Eimer kaltes Wasser zum waschen.

Nicht wie Kenshin schüttete er sich das eiskalte Wasser ohne zögern einfach über den Kopf um dann fluchend und die Nässe abschüttelnd wieder zur Scheune zurückzustapfen.
 

Was auch immer los war, Kenshin ging es nichts an. Jeder hatte mal einen schlechten Morgen und Kenshin wusste nur allzu gut, dass es meistens wegen irgendetwas war, über das man nicht sprechen wollte.

Deswegen ignorierte er Baikos unübliches Verhalten und beeilte sich mit dem waschen. Trotz der Nähe eines wärmenden Feuers war das Wasser ziemlich kalt und er schüttelte seinen Kopf, um so schnell wie möglich die Feuchtigkeit aus seinen Haaren zu bekommen. Wie in aller Welt hatte Baiko es geschafft, sich einfach so den Eimer überzuschütten, überlegte er. Dann zog er erst seinen alten Braunen Gi und dann darüber seinen neuen Grünen an - er würde sie heute beide brauchen, um warm zu bleiben.
 

Als er sich angezogen hatte, bemerkte er Baiko, der immer noch mit steinernem Gesicht in der Ecke saß und abwesend Löcher in die Luft starrte. Kein Zweifel – irgendetwas schien ihn wirklich zu bedrücken.

„Baiko?“ fragte Kenshin vorsichtig.

Der Angesprochene antwortete nicht.

„Baiko, alles in Ordnung?“ fragte Kenshin noch einmal.
 

Baiko rührte sich immer noch nicht und Kenshin wollte ihn schon seinen Gedanken überlassen, als er doch antwortete. „Himura, glaubst du an Vorahnungen?“

„Vorahnungen?“

„Du weißt schon, das Gefühl, dass irgendetwas schreckliches passieren wird.“

„Sessha hat schon vor langer Zeit gelernt, solche Gefühle niemals zu ignorieren. Warum?“

„Nun, ich habe solch ein ungutes Gefühl. Irgendwas wird heute passieren.“
 

„Das glaube ich auch,“ antwortete Kenshin entspannt. „Aber Sessha hat auch gelernt, das es nichts bringt, sich über solche Gefühle groß Sorgen zu machen. Sie sind eine gute Erinnerung, in unserer Wachsamkeit niemals nachzulassen.“
 

Kenshin wandte Baiko seinen Blick zu, doch dieser starrte immer noch in die Leere und in seinem Gesicht spiegelte sich nicht Angst, sondern Traurigkeit.

„Sind es die Yakuza, die dich beunruhigen?“ fragte Kenshin nach.

„Hast du jemals was über den Krieg in Aizu gehört?“ meinte Baiko schließlich. „Die ganze Provinz – einschließlich der Alten, Kinder und Frauen – wollten nicht aufgeben und haben bis zum Tod gekämpft. In diesem Krieg gab es eine Gruppe. Sie nannten sich die Brigade des weißen Tigers. Sie haben bis zu letzt ihren Standpunkt auf einem hohen Berg verteidigt. Aber anstatt sich zu ergeben, haben sie alle Seppuku begangen – insgesamt waren es 19 Junge Leute. Ich war in der Division, die sie danach so gefunden hat.“
 

Baiko fuhr sich über die Augen. „Himura, es war schrecklich. Sie waren fast noch Kinder, und alle lagen da, geköpft, aufgeschlitzt und für was? Irgendeine angestaubte Vorstellung von Ehre im Tod? Ich bin kein Samurai – ich kann keine Ehre in dem Dahinschlachten von Jugendlichen entdecken. Wir waren nicht mal dabei, sie anzugreifen, als sie sich alle umbrachten.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich entschieden, niemals mehr etwas mit Krieg zu tun haben zu wollen. Ich wollte die Armee gleich verlassen, aber das ging natürlich nicht. Ich musste auf einen Einsatz nach Hokkaido. Jetzt, drei Jahre später habe ich meinen Entschluss wahr gemacht, aber die schrecklichen Bilder verfolgen mich noch immer. Und als ich gestern die Blutspritzer auf dem Handkarren gesehen habe, war wieder alles so lebendig. Und jetzt auch noch die Aussicht, mit diesen Yakuza kämpfen zu müssen...“

Er seufzte tief. „Himura, es ist nicht so, als ob ich Angst vor dem Kämpfen hätte – ich werde mein Bestes geben, falls es zum Kampf kommen sollte. Es ist nur so, ich dachte, ich könnte das alles hinter mir lassen. Aber ich habe immer noch Albträume...“
 

„Genau wie ich...“ murmelte Kenshin.

„Ich weiß,“ sagte Baiko, ein kleines Lächeln schlich sich dabei in seine Mundwinkel. Kenshin schaute ihn überrascht an, worauf Baiko hinzufügte, „Du bist kein ruhiger Schläfer, weißt du...“

Kenshin wusste, dass dies leider wahr war und so zuckte er einfach nur mit den Schultern.

Baiko stimmte in das Schulterzucken mit ein. „Weißt du, Himura – wir sind kaputte Menschen. Wir haben zu viel Blut und Tod gesehen.“

Kenshin nickte. „Wahrscheinlich. Wir können nur hoffen,” meinte er mit einem schwachen Lächeln, “dass die Zeit die Wunden heilt.“
 

Beide gingen zur Herberge zum Frühstück mit der Hoffnung, durch das fröhliche Geplapper und die lustigen Streiche der Kinder der Familie auf andere Gedanken gebracht zu werden. Doch als sie im Haus ankamen, war die Stimmung dort so eisig wie das Wasser aus dem Brunnen. Selbst die Kinder saßen grimmig in der Ecke.

„Ist was passiert?“ fragte Baiko die vorbeilaufende Ikuko. „Ist jemand krank?“

„Krank?“ antwortete sie kurz angebunden. „Nein. Wütend vielleicht. Mein Mann hat meinem ältesten Sohn die Erlaubnis erteilt, nach Kyoto zurückzukehren.“ Sie warf Orinosuke einen stechenden Blick zu und stürmte dann davon.
 

Baiko und Kenshin sahen sich an. Beide dachten das gleiche – besser, heute Orinosuke aus dem Weg zu gehen! Beide entschieden sich, ihr Frühstück mit auf die Veranda zu nehmen und dort zu essen. Wenige Minuten später kam Daisuke mit dem Wirt der Herberge vorbei.

„Ich habe gerade eben erfahren,“ begann Daisuke mit ernster Miene, „dass die Yakuza heute Nacht ein Gehöft nördlich dieses Dorfes überfallen haben.“

„Nördlich? Aber das ist die Richtung, in die wir gehen wollten!“ rief Baiko aus. Seine dunklen Vorahnungen, dachte er grimmig, wurden also wahr. „Gab es Tote?“
 

„Nein,“ antwortete der Wirt, „aber sie wurden bedroht. Ihr Leben gegen all ihre Wertsachen. Und als sie alles hatten, was sie wollten, haben sie trotzdem einige Männer zusammengeschlagen.“

„Wie viele?“ fragte Kenshin

„Fünf Männer. Aber es waren wohl noch mehr, denn irgendeiner von ihnen sprach von ihrem Boss, der auf sie irgendwo warten würde.“
 

Der Wirt wandte sich nun an Daisuke. „Bitte, Daisuke-sama, gehen sie nicht in diese Richtung. Warten sie, bis einige unserer bewaffneten Männer diesen Abschaum aufgespürt und dingfest gemacht haben.“
 

Daisuke schüttelte den Kopf. „Ich danke ihnen für ihre Fürsorge, aber wir müssen heute noch unbedingt Miyazaki erreichen. Der Boss, denn die Yakuza erwähnten, ist vermutlich ein ehemaliger Samurai, von dem wir schon gehört haben, sein Name war Nobu. Uns wurde erzählt, dass er mit seiner Bande die Gegend unsicher macht, um sich seinen luxuriösen Lebensstil beibehalten zu können. Wahrscheinlich überlasst er die schmutzige Arbeit seinen Handlangern. Wenn es also nur fünf Handlanger sind, dann werden wir mit denen schon fertig, wir sind auch fünf starke Männer und können alle mit dem Schwert umgehen.“

„Aber Daisuke-sama...!“
 

„Wir haben keine Wahl,“ sagte Daisuke entschlossen und das Gespräch war beendet.

Der Wirt verbeugte sich und ging händeringend.
 

„Nun, der Typ hat schon recht,“ sagte Baiko. „Ich meine, dass wir angegriffen werden könnten, ist ja fast sicher. Ich hab schon den ganzen Morgen so etwas im Gefühl.“

Daisuke seufzte. „Was für eine Wahl haben wir denn?“ meinte er resigniert. „Wir müssen morgen in Miyazaki auftreten, das ist unser Auftrag. Außerdem wäre es unehrenhaft, den Kopf zwischen die Beine zu stecken, wo wir doch gar nicht wissen, ob wir wirklich in Gefahr sind. Und wenn wir angegriffen werden, wehren wir uns. Fünf gegen Fünf, keine schlechten Vorraussetzungen.“

„Aber...,“ wollte Baiko sagen. Doch Daisuke starrte ihn stechend an. „Ich weiß, was du sagen willst – meine Söhne und ich sind nutzlos in einem Kampf. Aber ich erinnere dich daran, dass wir nicht nur die Schwerttechnik können, die wir im Kabuki benutzten. Daheim in Kagoshima trainieren wir alle Drei jede Woche in einem Dojo. Außerdem haben wir ja zwei ehemalige und erfahrene Soldaten an unserer Seite...“ Er wandte sich zu Kenshin um. „Du bist doch ein ehemaliger Soldat, oder nicht?“
 

Kenshin wollte gerade antworten, als Baiko plötzlich schallend lachte. Ehemaliger Soldat? Zur Hölle, wie Daisuke wohl schauen würde, wenn er wüsste, was für ein Soldat genau hier vor ihm stand!

Zweifelnd schaute Daisuke von Baiko zu Kenshin. „Aber ich dachte... mein Enkel Bunjiro hat mir erzählt, du wärst ein ehemaliger Soldat...“

„Hai, das bin ich auch,“ beeilte sich Kenshin zu sagen, während er Baiko einen warnenden Blick zuwarf. Das fehlte noch, dass Baiko jetzt seine Identität aus lauter Unachtsamkeit preisgab.

Daisuke sah erleichtert aus. „Bei den Patrioten, hat mir Bunjiro-chan erzählt.“

„Hai,“ bestätigte Kenshin.

„Nun, gut. Dann ist ja alles geregelt!“ Mit einem Schulterklopfen verließ Daisuke die Männer.
 

„Warum habe nur das Gefühl, dass es alles andere als gut ist?“ murmelte Baiko. „Komm, Himurai, lass uns den Wagen vorbereiten. Je früher wir der Gefahr ins Auge sehen, desto besser.“
 

Innerhalb einer Stunde waren sie wieder auf der Strasse in Richtung Norden. Daisuke jedoch wollte jetzt keine Risiken mehr eingehen wie nötig. Er befahl den seiner Meinung nach besten Schwertkämpfer der Truppe, Baiko, an die rechte Seite des Wagens und Kenshin, dessen Fähigkeiten er nicht kannte, ganz nach hinten an die Rückseite des Wagens.
 

Düster lief Kenshin hinter dem Wagen her. Noch niemals zuvor hatte er einen Konvoi von hinten aus bewacht, denn aufgrund des hohen Niveaus seiner Schwertkunst war er bei den Ishin Shishi stets vorneweg gelaufen, oder – im schlimmsten Fall – an der Seite. Jetzt lief er jedoch hinten und hatte keinerlei Blick auf die Strasse vor ihnen. Natürlich machte er diesen Verlust durch seine geschärften Sinne wieder weg, mit denen er sofort eine nahende Bedrohung fühlen würde. Dennoch machte ihn die Situation äußerst nervös.
 

Nach einiger Zeit stieß Ikuko zu ihm, die ebenfalls hinter dem Wagen herlief.

„Eine Schande,“ zischte sie ihm ihre geschlossenen Zähne zu. Ihre sonst so freundliche, mütterliche Natur war eher der eines entschlossenen Kriegers gewichen.

„Bitte?“ fragte Kenshin verwirrt.

„Eine Schande, was Orinosuke dir gestern angetan hat! Mein Mann hat es mir erzählt. Das Schwert an deine Kehle zu halten – wie schändlich!“
 

Kenshin entspannte sich. Er hatte schon gedacht, die wäre wütend auf ihn. „Niemand ist zu Schaden gekommen,“ versicherte er ihr.

Sie starrte ihn an und Kenshin war es plötzlich, als ob sie seine Ki lesen könnte. Nicht wissend, ob sie diese Fähigkeit besaß oder nicht versteckte er sofort seine Gedanken tief in sich.

„Mein Mann hat mir erzählt, wie nobel du dich verhalten hast, als mein Sohn dir das Schwert an den Hals hielt.“ Sie beobachtete die Reaktion in Kenshins Gesicht, sah aber nichts außer vielleicht, dass sich sein Mund etwas verschmälerte. „In der Tat,“ fuhr sie fort, „er sagte, du bist nicht mal zurückgezuckt. Du musst entweder ein sehr mutiger junger Mann oder ein sehr törichter sein, um solche einer Bedrohung so ruhig entgegen zu treten.“

Kenshins Lippen wurden noch dünner. Eine seltsame Reaktion, dachte Ikuko.
 

„Himura-san,“ sprach sie weiter, „die meisten Männer hätten ihr Schwert gezogen und so eine Beleidigung nicht hingenommen. Und wer weiß, was dann passiert wäre. Es ist kein Geheimnis, das ich auf Orinosuke sehr wütend bin, weil er die ganze Familie mit seiner Bitterkeit vergiftet, aber er ist trotz allem mein Sohn. Deswegen bin ich dir dankbar, dass du dich zurückgehalten hast.“
 

Kenshin entspannte sich etwas. Sie schien seine Handlungen nicht misstrauisch aufzufassen. Wenn sie nur wüsste, wie viel Anstrengungskraft es ihn gekostet hatte, seinen Killer-Instinkt bei diesem Angriff zurückzuhalten. „Ich wollte die Situation nicht verschlimmern,“ antwortete er endlich.
 

Sie liefen einige Minuten schweigend nebeneinander, bis Ikuko wieder zu sprechen begann.

„Ich würde mir niemals anmaßen, dich zu fragen, warum du den Weg eines Rurouni gewählt hast. Aber wenn du diesen Pfad verlassen willst, sei gewiss, dass ich dir in Kagoshima eine Arbeit anbieten kann. Du wirst doch mit nach Kagoshima reisen, oder nicht?“
 

Kenshin zögerte einen Moment. „Ich denke nicht, dass es unter den gegebenen Umständen schlau wäre, so etwas zu tun.“

„Wegen Orinosuke? Ich denke, der wird uns sowieso bald verlassen und nach Kyoto gehen. Er würde dir dann keine Probleme mehr bereiten.“ Sie nahm seine Hand in die Ihre. „Denk bitte über mein Angebot nach.“ Dann ging sie zurück zu ihren Schwiegertöchtern.
 

Kenshin spürte noch ihren warmen Händedruck, als er ihr nachsah. Seine Situation, so erkannte er, wurde mit jedem Tag komplizierter. Natürlich könnte er ihr Angebot niemals wahrnehmen. Selbst wenn durch wunderbare Umstände seine Identität als Hitokiri Battousai nicht von Orinosuke entdeckt werden würde, irgendwann würde jemand anderes ihn erkennen. Was dann passieren würde, mochte sich Kenshin gar nicht vorstellen. Es tat trotzdem weh – niemand hatte ihn seit langer Zeit so herzlich behandelt und bei niemandem hatte er sich akzeptiert und willkommen gefühlt. Er realisierte plötzlich, dass er, obwohl er es gar nicht wollte, irgendwie in den Bund dieser Familie aufgenommen worden war und dass man sich um ihn sorgte. Er spürte auf einmal ein seltsames Verlangen in ihm - das Verlangen nach einem Zuhause und einer Familie.
 

Doch wenige Sekunden später drängte die dunkle Vergangenheit wieder in sein Bewusstsein. Unterhalb seiner oberflächlichen Ruhe, das wusste er, schlummerte immer noch die Geschicklichkeit und Grausamkeit des Hitokiri, der er einmal gewesen war.

Es war kein Zufall, dass er nie lange an einem Platz blieb. Wer konnte schon sagen, ob oder wann diese Grausamkeit sich vielleicht entfesselte und den Tod von jemandem, der ihm nahe stand, zur Folge hatte, so wie es mit der einzigen Person, die er je geliebt hatte, passiert war.
 

Nein, schüttelte er den Kopf, er würde gleich nach dem großen Auftritt in Myazaki die Familie verlassen. Er hoffte nur, das wenigstens bis dahin seine Identität geheim bleiben würde.
 

Die dunklen Gedanken abschüttelnd konzentrierte sich Kenshin jetzt wieder voll und ganz auf die Strasse. Eines war klar - obwohl sie sich jetzt auf einer breiteren, vielbenutzten Strasse befanden, gab es keine Reisenden, die ihnen begegneten. Kleinere Stände oder Läden am Straßenrand sahen verfallen oder zerstört aus. Die zwei Dörfer, die ihnen unterwegs begegneten, waren wie ausgestorben und die Menschen versteckten sich verängstigt in ihren Häusern.

Die Yakuza schienen in dieser Gegend sehr aktiv gewesen zu sein, und, wie es den Anschein hatte, war dies noch nicht lange her.
 

Er spürte langsam wieder die angespannte Nervosität über sich kommen, die ihm während des Bakumatsu für so lange Zeit ein ständiger Begleiter gewesen war – dieser Zustand der äußersten Wachsamkeit, in dem jeder Nerv seines Körpers sofort auf die geringste Veränderung in seiner Umgebung reagierte. Sie liefen der Gefahr genau in die Arme und es war sein Job, alle zu beschützen. Wenn das bedeutete, die Macht Hiten Mitsurugis zu entfesseln, dann sollte das wohl so sein, auch wenn er sich dadurch selbst verriet. Niemals könnte er diese Familie Schaden nehmen lassen.
 

Nach über einer Stunde angespannten Marsches spürte er es endlich – das unverwechselbare Gefühl, beobachtet zu werden.

Schnell huschte er ein wenig nach rechts und sah in der Ferne einige Vögel aus dem Geäst flattern. Niemand sonst hatte es bemerkt oder sich etwas dabei gedacht, doch Kenshin wusste es besser. Er suchte mit den Augen das Unterholz ab.

Da, weiter die Straße entlang, sah er eine kurze Bewegung hinter einem Baumstamm. Er spürte eine feindliche Ki von dort ausgehen.
 

In dem Augenblick kam Bunjiro zu ihm gelaufen, um ihn nach etwas zu fragen. „Bunjiro-san,“ wies ihn Kenshin mit ernster Stimme an, „ich habe einen wichtigen Auftrag für dich!“

„Oh...“ Mit großen Augen starrte Bunjiro Kenshin an, dann richtete er sich zu voller Größe auf und streckte sein Kinn nach oben. „Hai, Himura-san!”

Kenshin unterdrückte ein Lächeln. „Bunjiro-san, ich möchte, dass du so unauffällig wie möglich zu Baiko-san nach vorne gehst. Sag ihm, er soll sich zurückfallen lassen, ich möchte mit ihm sprechen. Aber es darf nicht verdächtig wirken. Verstanden?“

„Hai!“ wisperte Bunjiro und schlenderte davon und tat, wie ihm geheißen. „Ein guter Schauspieler,“ dachte Kenshin, als er den Jungen beobachtete, der ganz beiläufig ein paar Worte mit Baiko wechselte, während die Blätter eines Busches für ihn viel interessanter zu sein schienen.
 

Baiko lief daraufhin etwas langsamer, so dass Kenshin ihn bald eingeholt hatte. Sie schauten sich nicht einmal an, als Kenshin sagte, „Wir werden beobachtet.“

Baiko zeigte keine Reaktion aber antwortete, „Du fühlst es also auch.“
 

„Ja. Jemand ist hinter den Bäumen da vorne auf der linken Seite versteckt, gerade an der Kurve der Strasse. Auf die Entfernung kann ich allerdings nicht genau ausmachen, wie viele es sind.“
 

Baiko schaute zu der Stelle, die Kenshin ihm beschrieben hatte. „Ich seh’ gar nichts,“ stellte er fest, „aber ich fühle es einfach in meinen Knochen. Vielleicht sollten wir jetzt die Frauen und Kinder besser in den Wagen tun, das dürften sie von da vorne aus nicht sehen. Sag du auch noch Ryosuke-san bescheid. Ich sag es Daisuke-san und Orinosuke-san.“
 

Kenshin nickte kaum merklich und die zwei trennten sich wieder so unauffällig, wie sie zusammengekommen waren. Als Bunjiro wieder herüber kam, befahl ihm Kenshin, die Frauen und Kinder so unauffällig wie möglich anzuweisen, in den Wagen zu steigen.

Vorher sollte er noch Ryosuke bescheid sagen, dass sie beobachtet würden.
 

„Wenn du deine Aufträge erledigst hast, dann steigst du zu den Frauen in den Wagen,“ endete Kenshin.

„Aber...!“
 

Kenshin warf Bunjiro einen strengen Blick zu. „Du willst doch Soldat werden? Ein Soldat hinterfragt niemals die Befehle, die einem gegeben werden. Außerdem hast du doch ein Holzschwert. Wenn der Wagen angegriffen wird, liegt es allein an dir, die Frauen zu verteidigen. Los!“
 

Als alle Frauen und Kinder im Wagen saßen, ließ Ennosuke die Pferde schneller traben, so das sie näher und näher an die Kurve mit den Bäumen kamen. Kenshin fühlte nun die Anwesenheit von mehreren Männern – fünf oder sechs, schätzte er – aber sie rührten sich immer noch nicht von der Stelle. Kaum hatten sie die Kurve erreicht, da sah er endlich kurz einen bunten Stoff zwischen den Bäumen aufleuchten und Geraschel in den Büschen zeugte von Männern, die sich ein Stück vom Weg entfernt im Unterholz versteckten. Kenshin konnte jetzt spürten, dass es mehr als nur sechs Männer waren – sechs auf der einen Strassenseite, aber auf der anderen noch mal zwei – oder waren es drei? Kenshin strengte alle seine Sinne an, aber die dritte Ki, die er eben noch gespürt hatte, war verschwunden...
 

Drei von den sechs Männern stürmten nun vor sie auf die Strasse und blockierten mit gezogenen Schwertern ihren Weg. Der Wagen hielt an und Daisuke und Orinosuke liefen den Männern entgegen. Kenshin konzentrierte sich unterdessen auf jedes Anzeichen einer Bewegung der restlichen Männer in den Büschen. Allerdings, solange sie sich nicht bewegen würden, würde auch er sich nicht bewegen. Es war ja auch möglich, dass sie nur etwas Geld erpressen wollten, und sich, sobald die Summe bezahlt, wieder zurückziehen würden.
 

Doch auf einmal waren laute Rufe von Vorne zu hören, denn einer der Wegelagerer hatte Daisuke am Kragen gepackt und Ryosuke rannte vom Wagen weg, um seinem Vater zu helfen. Genau in diesem Moment schienen sich die drei noch im Gebüsch verborgenen Männer in Richtung Wagen zu bewegen.

„Ryosuke, nein!“ rief Kenshin, als er realisierte, was da vor sich ging. Die Blockade war nur ein Trick gewesen, um die Männer vom Wagen zu trennen. Im Augenwinkel sah er, wie Daisuke seinen Angreifer bereits losgeworden war und Baiko und Ryosuke zu Orinosuke stürmten, um ihm gegen die restlichen zwei Angreifer zu helfen. Es würde jetzt zu spät sein, ehe sie realisierten, dass die wirkliche Gefahr nicht vor, sondern hinter ihnen beim Wagen lag.
 

Zeit zu Handeln. Kenshin rannte mit blitzartiger Geschwindigkeit den drei Männern entgegen, die gerade eben aus dem Unterholz auf der Strasse auftauchten. Bevor sie Kenshin überhaupt bemerken konnten, war er schon über ihnen. Die Männer waren schwerfällig und nicht einmal schnell genug, um ihre Schwerter zu ziehen, doch Kenshin zeigte keine Gnade. Mit einem wuchtigen Aufwärtsschlag seines Sakabatous flog der erste der Männer ins Gebüsch zurück. Der zweite konnte nicht einmal innehalten und wurde von dem folgenden, nach unten zielendem Schlag Kenshins auf den Boden gehauen. Gerade, als er sich dem Dritten zuwenden wollte, war Ryosuke schon zur Stelle und trat ihn mit einem mächtigen Fußkick nieder. Wer hätte gedacht, das Ryosuke so talentiert im Kempo ist, dachte Kenshin kurz.
 

Die Situation am Wagen war nun in Kontrolle, doch Kenshin spürte noch die zwei anderen Ki’s, die etwas tiefer im Wald zu finden waren. Und war da nicht schon wieder das Anzeichen einer dritten Ki? Oder waren es vier?

Kenshin sprang schnell wie der Wind in das Unterholz, die peitschenden und schneidenden Äste ignorierend. Da vor ihm fand er sie – zwei Samurai, die sich hinter einem Baumstamm versteckt hielten. Kenshin kam zum stehen und rief ihnen zu, „Eure Spießgesellen sind besiegt worden – jetzt seit ihr an der Reihe!“
 

Gerade wollte er seine Drohung wahr machen, als er plötzlich auf seiner linken Seite ein zischendes Geräusch hörte, als ob etwas durch die Luft flog. Kenshin schwang sich genau rechtzeitig herum und wich so dem Wurfmesser aus, das auf seinen Hinterkopf gezielt war. Ein Ninja! Kein Wunder, dass er die dritte Ki nicht recht hatte spürten können. Doch kaum war er dem Wurfmesser ausgewichen, da kam auch schon ein zweites, diesmal von der rechten Seite auf ihn zugeflogen. Schnell sprang er nach oben und das Wurfmesser kratzte ihn nur ein bisschen am Oberarm. Mit einem Salto katapultierte er sich hinter die zwei Samurai vor ihm, weil wer wusste, dass die Ninja es höchstwahrscheinlich nicht wagen würden, irgendetwas in die Richtung ihrer Arbeitgeber zu werfen und diese dann aus Versehen zu verletzen.
 

„Rote Haare?“ hörte er einen der Samurai stottern. „Das kann nicht sein... ich dachte, er wäre tot! ... Mein Gott, das ist der Hitokiri Battousai!“
 

Die zwei Samurai entschlossen sich nun zu einem gemeinsamen, verzweifelten Angriff, doch Kenshin war schon losgerannt um sie auseinander zu locken und weiter weg von den Ninja zu gelangen. Er ließ sich von dem ersten Samurai einholen, sprang dann plötzlich herum und entfesselte einen kraftvollen Abwärtsschlag, der den Mann vom Hals bis zur Leiste traf. Bevor er zu Boden fallen konnte, traf ihn Kenshins Schlag auf den Rücken und schleuderte ihn gegen einen Baumstamm, an dem er wie ein Häufchen Elend zusammensackte.
 

Der zweite Samurai griff ihn jetzt an, sein Gesicht in Entsetzten und Wut über das, was Kenshin seinem Bruder angetan hatte, verzerrt. Er ging in Battoujutsu-Stellung und es schien Kenshin, als ob er im Jigen-Stil trainiert war.
 

“Du Abschaum der neuen Regierung!” spuckte er in Kenshins Richtung wütend aus. „Wie kannst du es wagen, dich den Nobu-Brüdern entgegenzustellen?!“ Dann sprang er vorwärts mit all der Geschwindigkeit, die er meistern konnte.
 

Auch Kenshin ging jetzt in Battoujutsu-Stellung und sah den Mann näher kommen. Er rannte zwar schnell, aber für Kenshin schien es fast wie Zeitlupe. Er wartete bis zur letzten Sekunde, dann zog er sein Schwert in einem gleißenden Licht aus Bewegung. Weniger als eine Sekunde später hatte er den Mann mit Schlägen an Hals, Bauch und Brust niedergestreckt. Wie sein Bruder lag er jetzt zusammengekrümmt auf dem Boden.
 

Nun sprang Kenshin herum um die Ninja zu finden, denn die zwei Samurai konnten ihm jetzt keinen Schutz mehr bieten. Als er wieder zurückrannte, kam ihm Ryosuke entgegen, aber genau ich dem Moment sah er einen der Ninja über ihnen in den Bäumen und schon kam ein Wurfmesser geflogen.

„Ryosuke!“ schrie Kenshin, „Achtung! Ein Wurfmesser!“
 

Ryosuke, dank seines akrobatischen Trainings beweglich, schwang sich sofort zu Boden und rollte sich zur Seite ab. Dort wo er eben noch gestanden hatte, steckte jetzt das Messer im Boden.

Der Ninja sprang jetzt vom Baum aus auf Ryosuke mit der eindeutigen Absicht, ihm das Messer ins Genick zu stecken. Ryosuke jedoch war schnell. Kaum hatte er sich abgerollt, da stand er auch schon und schwang sich ein einigen Rückwärtssaltos von dem Ninja weg um sich für einen offenen Kampf bereit machen zu können. Doch alle Angriffe von Ryosuke prallten am Ninja ab, der nur auf seine Chance zum Angriff wartete. In diesem Moment kam auch Baiko am Ort des Geschehens an und sofort sprang er den Ninja von hinten an und rammte ihm den Griff seines Schwertes von Hinten an den Hals. Der Ninja fiel zu Boden.
 

Doch Kenshin hörte wieder das zischelnde Geräusch eines Wurfmessers – der zweite Ninja wollte wohl nicht kampflos aufgeben. Doch durch sein Wurfmesser verriet er Kenshin die Richtung seines Versteckes. Ohne Mühe wich Kenshin dem Messer aus, warf sich dann mit Saltos in Richtung des zweiten Ninjas, so dass es diesem unmöglich war, ihn zu treffen. Kaum landete Kenshin vor dem Ninja, als dieser schon einen gezielten Fußtritt auf seinen Hals richtete. Kenshin schwang schnell sein Schwert in großem Bogen nach oben und erwischte das ausgestreckte Bein des Mannes. Dieser fiel rückwärts um, doch bevor er den Boden berührte, schlug Kenshin ihm noch gezielt mit dem Schwert auf den rechten Ellebogen. Es gab ein ekelerregendes knackendes Geräusch und Kenshin wusste, dass dieser Mann nie mehr jemanden mit Wurfmessern bewerfen konnte. Der Ninja lag nun wie ein nasser Sack am Boden, sein Bein und sein Arm standen in grotesker Weise von seinem Körper ab.
 

Als Kenshin aufsah, bemerkte er Orinosuke mit einem blutigen Schnitt am Arm den Platz des gerade stattgefundenen Kampfes betreten, gefolgt von Daisuke. Beide schauten sich entgeistert um, bevor sie die vier bewusstlosen Männer am Boden genauer betrachteten. Erst jetzt bemerkte Kenshin, das irgendetwas nicht stimmte. Dieser kleine Kratzer von dem Wurfmesser an seinem Oberarm brannte wie Feuer und das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. Er kniete sich auf den Boden, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, aber es fiel ihm schwer.
 

„Mein Gott, was hast du getan?“ hörte er Orinosuke ausrufen, der gerade die beiden Ninjas inspizierte, die Kenshin besiegt hatte. Seine Stimme klang verschwommen und fern. „Du hast sie getötet! Hitokiri! Du hast alle getötet!“
 

Kenshin spürte eine Hand am Arm, die ihn hochziehen wollte, aber seine Beine wollten ihm nicht gehorchen und so sank er wieder zurück auf die Knie.

„Orinosuke-san, hör auf!“ Es war Baiko. “Alle leben, schau doch genau hin! Er hat niemanden getötet!“

„Orinosuke-san,“ gelang es Kenshin irgendwie zu sagen, „Sessha tötet nicht!“
 

„Was zur Hölle? Schau dir die Männer doch an!“ schrie Orinosuke.

Kenshin legte langsam sein Schwert vor sich auf den Boden, so dass es alle sehen konnten. Warum fühlte sich sein Gewicht auf einmal so schwer an? „Es ist... ein Sakabatou,“ keuchte er. „Ich... kann nicht töten.“
 

Er sah durch den vor seinen Augen immer dichter werdenden Nebel Baiko, der sich zu dem Schwert beugte und mit dem Finger über die stumpfe Seite der Klinge strich – die Seite, die bei einem normalen Schwert rasiermesserscharf gewesen wäre. „Verdammt noch mal, er hat recht!“ hörte er ihn sagen, aber seine Stimme klang weit entfernt.
 

Jetzt erst bemerkte Baiko, dass mit Kenshin etwas ganz und gar nicht zu stimmen schien – er war blass wie ein Toter und wankte auf seinen Knien hin und her. Schnell eilte er an seine Seite und sah das Blut an seinem linken Oberarm. Gerade wollte er die Wunde genauer anschauen, als Kenshin sagte, „Halt! Gift... Das Wurfmesser... war vergiftet.”
 

„Was?!“
 

„Baiko,“ flüsterte Kenshin, zu schwach um lauter Sprechen zu können, „schnell – meine Reisetasche... Wasser.“
 

Er hörte Bewegung um sich herum, Rufe und Schreie, doch er fühlte bereits, wie das Gift sein Herz angriff, sein Atem immer schwerer wurde und er sich kaum noch bei Bewusstsein halten konnte. Das Gift wirkte schnell. Minuten später kam Baiko endlich mit der Tasche und Bunjiro folgte ihm mit einem Wassereimer.
 

“Das Päckchen mit dem weißen Pulver…” keuchte Kenshin. „Zwei Messerspitzen, ins Wasser...“
 

Baiko tat wie ihm befohlen und half Kenshin dabei, die Medizin zu sich zu nehmen. Der Effekt war unmittelbar – Kenshins Herz begann heftig zu pochen und sein Atem wurde wieder schneller. Der schwarze Nebel, der sich ihm vor die Augen gelegt hatte, begann, sich aufzulösen und als er endlich wieder klar sehen konnte, erkannte er vor sich alle Männer und auch einige Frauen, die ihn umringten. Er fühlte jetzt, wie jemand ihm den Gi über die verletzte Schulter zog, die Wunde mit einem Messer neu aufritzte und mit frischem Wasser auswusch. Wasser spritzte über den Boden und dann das Gefühl einer seiner Salben auf der Wunde. Er sah auf und erkannte Baiko, der ihn verarztete. Er packte ihn bei der Hand und versuchte, aufzustehen.
 

Als er endlich zum stehen gekommen war, dämmerte es Kenshin plötzlich, dass jeder rings um ihn herum schrecklich schweigsam war. Er schaute herum und ihm begegneten nur Gesichter mit großen Augen und voller Unverständnis.
 

„Damit hetzt er uns die Regierungspolizei auf den Hals, mit diesem Massaker hier, ich sag’s euch,“ hörte er Orinosuke sagen.

„Ruhe!“ zischte Daisuke. „Dieser Mann hat unsere Familie gerettet. Bist du blind? Das hier sind Ninja, verdammt noch Mal! Und ich dachte, wir müssen uns nur um 4 oder 5 unorganisierte Banditen Sorgen machen...“ Er schüttelte seinen Kopf und meinte dann an Kenshin gewandt, „bist du fit genug zum weiterreisen?“
 

„Ja,“ antwortete Kenshin etwas atemlos. Er lief einige Schritte und spürte, wie die Kraft in seine Beine zurückkehrte. „Ich bin nur etwas erschöpft, ansonsten fühle ich mich wieder ganz gut.“
 

Er winkte die Arme, die ihm zur Unterstützung entgegengestreckt wurden, ab, denn er musste jetzt selbst wieder zu Kräften kommen, doch er spürte ohne sich umzudrehen, dass ihm die Blicke aller folgten. Ryosuke’s Ki schien von allen am meisten aufgewühlt zu sein – und das sagte viel.

Tja, dachte Kenshin grimmig, während er mit den anderen zurück zur Strasse lief, die Männer hatten ihn gerade eben in Aktion erlebt. Es war nun nicht mehr abwendbar, dass sie ihn jetzt verdächtig finden würden und dass sich unangenehme Fragen in ihren Köpfen bilden würden. Als sie den Wagen erreichten, sah er Ikuko und dieses eine Mal streckte Kenshin selbst seine Hand aus, um nach ihr zu greifen und sich an ihr festzuhalten, denn seine Beine begannen nun nach den paar Metern Weg wieder zu wackeln.
 

„Himura-san! Alles in Ordnung?“ rief Ikuko besorgt aus. „Himmel, du bist verletzt. Kinder – aus dem Weg. Himura-san braucht jetzt Platz im Wagen.“

„Fass ihn nicht an, Mutter!“ schrie Orinosuke hinterher. „Er ist kein Killer! Ein Dämon! Du weißt nicht, was er da draußen getan hat!“
 

Ryosuke packte Orinosuke grob am Arm und drehte ihn zu sich um. „Kein Dämon – Er ist ein Meister!“ Dann, an Kenshin gewandt, sagte er fast anschuldigend, „Warum hast du uns nicht erzählt, dass du ein Meister der Schwertkunst bist?“
 

„Ryosuke-san, ich bin kein Meister,“ antwortete Kenshin erschöpft. „Sessha kam nie so weit.“ Dann kletterte er langsam in den Wagen und sank auf einer Matratze nieder. Wenige Minuten später war er eingeschlafen.

Ryosuke begutachtete nun die am Boden liegendend und blutenden Körper der Banditen. „Schnell weg von hier,“ meinte er fröstelnd.

„Wir können nicht einfach so gehen und die so liegen lassen,“ warf seine Frau Mei besorgt ein. „Sie sterben vielleicht!“
 

“Sollen sie doch,” sagte Orinosuke, der gerade die Schnittwunde an seinem Arm verarztete. „Wir sagen einfach im nächsten Dorf bescheid, was passiert ist. Die werden sich freuen, persönlich die Banditen „verarzten“ zu können.“

„Mh..“ nickte Daisuke. „Ikuko, Liebes, bleib bitte bei Himura-san im Wagen und kümmere dich um ihn. Der Rest von uns kann Laufen. Ich denke, wir sind jetzt sicher.“
 

Und so bewegte sich die Truppe mit ihrem Wagen erneut des Weges entlang, alle erleichtert, die Gefahr nun endlich hinter sich gelassen zu haben aber alle noch von den gerade stattgefundenen Ereignissen aufgewühlt.
 

Nach kaum einer Stunde hatten sie das nächste Dorf erreicht und nach anfänglichem Misstrauen wurden sie von den Bewohnern überschwänglich begrüßt. „Die Götter mögen euch für immer wohlgesonnen sein!“ riefen die Leute. „Diese Yakuza haben uns fast alle unsere Geschäfte ruiniert! Endlich können wir wieder aufatmen und Handel treiben!“
 

Kenshin bekam von all dem Aufruhr nichts mit - er lag, war er doch dem Tod nur knapp entkommen, in einem tiefen Schlaf. Dieser Schlaf war jedoch nicht erholsam oder friedlich. Als erstes wälzte er sich wild umher – ein Effekt der Medizin, die ihn aufgeputscht hatte. Dann begann er zu stöhnen und ächzen und der Schweiß lief ihn in Strömen herunter, obwohl es recht kühl um ihn herum war. Ikuko versuchte, ihm zu helfen und als sie ihn da so schwitzend daliegen sah, entschloss sie sich, seine zwei Gi’s auszuziehen und ihm statt dessen einen dünnen Yukata anzuziehen. Das war nicht besonders schwer, denn Kenshins Gewicht war das einer Feder. Was sie jedoch sah, erinnerte sie wiedereinmal daran, dass dieser Junge wohl schon einiges in seinem Leben durchgemacht haben musste, denn auf seiner Brust waren drei dicke, alte Narben, die von Schwertern zu kommen schienen. Ikuko hatte Kenshin schon seit dem ersten Tag, an dem sie ihn begegnet war, ins Herz geschlossen und es brach ihr mütterliches Herz, sich vorstellen zu müssen, was er trotz seines Alters schon für Schmerzen ertragen hatte müssen.
 

Sehr zu ihrer Erleichterung schien jetzt Kenshin endlich etwas ruhiger zu werden. Sie hoffte, er würde sich ordentlich ausschlafen und frisch und fit wieder aufwachen.
 

Aber statt dessen begann er nun im Schlaf zu murmeln und sich abermals hin und her zu wälzen. Kenshin wusste, dass er eingeschlafen war, doch als er die Augen öffnete und sich umsah, fand er sich nicht in einem Bett sondern auf dem Schlachtfeld von Toba Fushimi. Er ergab überhaupt keinen Sinn für ihn, hier zu sein, aber da war er, inmitten von Rauch und Feuer auf einem infernalischen Schlachtfeld. Schnell sprang er auf die Beine und zog sein Katana, denn schon stürmte eine Truppe Soldaten des Bakufu auf ihn und seine Kameraden zu. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er bereits Dutzende der Angreifer getötet, sein Herz klopfte wild in seiner Brust und er schwitzte wegen der körperlichen Anstrengung. Von Ferne hörte er das Dröhnen von schweren Feuerwaffen, aber um ihn herum waren nur die Schreie der Soldaten und das Stöhnen der im Sterben liegenden. Er hasste es – das Blut, das Dahinschlachten und die Verschwendung von Menschen als Kanonenfutter – er hasste es so abgrundtief, aber er wusste, dass heute alles vorbei sein würde.
 

Dann, plötzlich inmitten einer erneuten Angriffswelle, wurde alles still. Die Feinde schienen sich zurückzuziehen und er sah, wie überall auf dem Schlachtfeld die Standarten von Choshuu aufgerichtet wurden. Schreie ertönten – keine Schmerzensschreie, sondern Freudenschreie: Das Bakufu war besiegt! Es war also getan – Seine Anwesenheit in diesem Krieg war nicht länger nötig. Er würde nicht länger töten müssen. Er war frei! Da wo er gerade stand ließ er sein Katana und sein Wakizashi einfach in die Erde fallen und wollte davongehen, doch die Schwerter flogen auf wundersame Weise wieder zurück in seine Hände. Er schmiss sie noch einmal zu Boden doch wieder waren sie im nächsten Moment auf ihrem angestammten Platz. Voller Entsetzen erkannte er jetzt, dass die Toten vom Schlachtfeld alle auf ihn zukamen, ihn umzingelten und anklagend mit blutenden Fingern auf ihn zeigten. Er versuchte zum dritten Mal seine blutbefleckten Schwerter wegzuwerfen und davon zu gehen, aber erfolglos. „Mörder, Mörder!“ hörte er die Toten flüstern. Er wollte rennen, weg von diesem Bild des Grauens, doch die Toten folgten ihm, immer noch mit anschuldigend ausgestreckten Fingern. Seine Schwerter klebten nun an seinen Händen und als er auf die Klingen herabsah, schien es, als ob endlose Blutströme von ihnen auf die Erde herabtropften. „Lasst mich los!“ schrie er seine Schwerter an, „Lasst mich gehen! Lasst mich in Ruhe!“
 

„Lasst mich in Ruhe!“
 

Kenshin schoss hoch, sein Gesicht verzerrt als er spürte, wie jemand ihn zurückhalten wollte. Es war Baiko.

„Ruhig, Junge, Ruhig!“ sagte Baiko. „Du hast nur schlecht geträumt!“

Hinter Baiko konnte Kenshin Ikuko sehen, die ihn sehr besorgt ansah und deren Ki fast so etwas wie Angst auszustrahlen schien. Kenshin hörte auf, sich gegen Baikos Griff zu wehren und ließ sich zurückfallen. Baiko lehnte sich über ihn und flüsterte ihm leise zu, „Du zauberst besser schnell ein Lächeln in dein Gesicht, Himura, denn du hast mit deinem Albtraum Ikuko eine Heidenangst eingejagt.“

„Was...?“ fragte Kenshin verwirrt, wurde jedoch von Baiko grob unterbrochen. „Frag nicht, sondern tu es einfach!“ befahl er, „Jetzt!“
 

Kenshin war erschrocken über das plötzlich so barsche Benehmen Baikos aber er folgte schnell seinem Befehl und pflasterte ein kleines, irgendwie schüchternes Lächeln in sein Gesicht. Er spürte sofort, wie sich Ikukos Angst und Gespanntheit auflöste. Er war überrascht, wie schnell so ein falsches Lächeln die Besorgnis einer Person hinwegzaubern konnte.
 

„Mir geht es gut, wirklich,“ sagte Kenshin zu ihr. „Der Albtraum... muss noch eine Nachwirkung des Giftes gewesen sein!“ Das war zwar eine Lüge, überlegte er, aber besser wie die Wahrheit allemal.
 

Baiko tat so, als würde er Kenshins Temperatur auf seiner Stirn fühlen und stellte dann fest, “Ich denke, er hat jetzt alles überstanden. Warum lässt du uns nicht einen Moment allein, Ikuko, damit ich ihn komplett durchchecken kann?“

„Das wird wohl das Beste sein...“ meinte Ikuko. „Ich hatte wirklich Angst um dich, Himura-san...“
 

Kenshins Lächeln weitete sich etwas. „Bitte vergib mir, ich wollte dich nicht verängstigen,“ meinte er so aufrichtig, wie er konnte.

Ikuko lächelte zurück und verließ den Wagen. Kaum war sie verschwunden, verschwand auch Kenshins Lächeln. An Baiko gewand fragte er, „Was zur Hölle sollte das Getue eben?“
 

„Hör Mal, Himura,“ antwortete Baiko, „ich weiß, dass es sich nicht vermeiden ließ – verdammt, du hast uns vorhin den Arsch gerettet – aber jetzt fragt sich jeder, wirklich jeder, wer du eigentlich bist. Wir parken gerade im nächsten Ort und stehen hier schon seit gut einer Stunde und die ganze Zeit posaunt Orinosuke draußen herum „Hey, ich hatte recht, er ist gefährlich,“ bla, bla. Jeder hat es gehört, auch Ikuko. Deswegen solltest du sie nicht noch mehr verunsichern sondern sie weiterhin glauben lassen, das du das bist, wofür sie dich hält!“
 

„Und was ist das?“ fragte Kenshin, der schon fast Angst vor der Antwort hatte.
 

„Na, harmlos natürlich!“
 

Kenshin lachte bitter. „Baiko, es hat seinen Sinn, sich jetzt noch was vor zu machen. Sie haben gesehen, wer ich bin...“
 

„Ja, du hast sie sicherlich verwirrt – Ennosuke vor allem,“ sagte Baiko. „Du hast ihm anscheinend erzählt, du wärst irgendein Niemand, der Leute mit seinem Schwert beschützt, aber nicht tötet? Naja, so wie du gekämpft hast, war es klar, das du mit Sicherheit kein Niemand bist, und das hat Ennosuke etwas zu schaffen gemacht. Und was hat es eigentlich mit dem Schwert mit verkehrter Klinge auf sich?“
 

Kenshin warf ihm einen kalten Blick zu. Informationen darüber würde er mit niemandem teilen.
 

„OK, ich hatte kein Recht, dich danach zu fragen,“ sagte Baiko schnell, „Aber du hättest mich wenigstens warnen können. Weißt du, jedes Mal, wenn Orinosuke versucht hat, dich aufzumischen, hat mich das Jahre meines Lebens gekostet, weil ich dachte, gleich ist es aus mit ihm!“
 

„Weißt du jetzt, was ich meine?“ fragte Kenshin verbittert. „Du wusstest, wer ich bin und deswegen hast du von mir erwartet, dass ich ihn jeden Moment umbringen könnte. Wenn ich nicht einmal dich davon überzeugen konnte, das ich kein Hitokiri mehr bin, was für eine Hoffnung bleibt mir da noch, irgendjemanden anderes überzeugen zu können – oder überhaupt jemals ein normales Leben führen zu können? Du weißt, Ikuko-san hat mir sogar einen Job in Kagoshima angeboten. Was du nicht weißt, ist, wie sehr ich mir innerlich wünsche, Ja zu diesem Angebot sagen zu können! Doch das kann ich nicht!“
 

Kenshin bemerkte jetzt den Yukata, den er trug und während er ihn auszog um wieder in seine zwei Gi’s hineinzuschlüpfen, sprach Baiko wieder.

„Hör mal, Orinosuke hätte seinem Vater beinahe erzählt, dass er vermutet, wer du bist. Aber Daisuke hat ihm das Wort abgeschnitten. Soweit es ihn und alle anderen betrifft, bist du ein Held, der ihr Leben gerettet hat. Ryosuke-san ist sogar überzeugt, du bist ein Meister der Schwertkunst und kann gar nicht versehen, warum du das bisher geheim gehalten hast. Daisuke hingegen denkt, du hast irgendein dunkles Geheimnis, das mit irgendetwas aus der Bakumatsu-Zeit zu tun haben muss – und die Frauen... na ja, die sind einfach noch etwas hysterisch wegen dem Überfall und der zerschmetterten Körper der Banditen und sie können sich nicht vorstellen, wie so ein netter Typ wie du zu solcher Gewalt fähig ist. Verstehst du jetzt, warum du dir ein Lächeln in dein Gesicht heften solltest?“
 

Kenshin seufzte. “Baiko, wir kennen und zwar noch nicht lange, aber du bist mir wirklich ein guter Freund. Ich werde tun, was du sagst.”
 

Er zupfte seinen Gi zurecht und stopfte ihn in seine Hakama, dann folgte er Baiko aus dem Wagen. Sofort spürte er eine seltsame Stimmung um sich herum, denn jeder der Anwesenden hörte auf zu sprechen und schaute ihn an. Er stand still und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, bis sich Baikos Ellebogen in seine Seite bohrte.
 

„Lächeln,“ wisperte dieser ihm zwischen geschlossenen Zähnen hindurch zu.
 

Kenshin senkte den Kopf und versteckte seine Augen hinter seinem Pony und versuchte möglichst unschuldig zu lächeln. Dann folgte er einfach Baiko, wo auch immer er gerade hinging, denn das fand er besser, als dumm vor dem Wagen herum zu stehen und sich von allen anstarren zu lassen. Weit waren sie nicht gekommen, als sie Mayako einholte und ihm mit einer tiefen Verbeugung ein Tablett voll mit leckerem Essen reichte. „Dein Mittagessen, Himura-san.“
 

Kenshin schaute sie verblüfft an, verbeugte sich dann ebenfalls, worauf sich Mayako nochmals tiefer verbeugte und dabei das Tablett fast herunterwarf.

„Himura-san,“ sagte sie steif, während sie ihm das Tablett hinreichte, „nicht du, sondern wir alle sollten uns tief vor dir verbeugen.“

Kenshin fühlte abermals Baikos Ellebogen zwischen seinen Rippen. Er lächelte Mayako an und brachte ein „Arigatou, Mayako-dono,“ über die Lippen. Sie verbeugte sich zum dritten Mal bevor sie wegging.
 

“Wirklich, Himura-san, du solltest dich nicht für deine Taten schämen!” sagte nun Ikuko, die mit einer Tasse heißen Tee auf ihn zu kam. Anscheinend hatten alle auf ihn gewartet, was Kenshin noch nervöser machte. „Die Götter haben dir ein mächtiges Talent geschenkt und du hast es ehrenhaft genutzt, um unsere Familie zu beschützen. Bitte, erlaube uns, dass wir dir unsere Dankbarkeit zeigen!“ Damit verbeugte auch sie sich tief.
 

„Bitte, Ikuko-dono,“ sagte Kenshin unsicher, „Sessha verdient das nicht...“

Wieder der Ellebogen in seiner Seite. „Bedank dich einfach,“ zischte Baiko.

“… aber natürlich bin ich sehr dankbar,” fügte er schnell hinzu.
 

„Du musst deine Begabung nicht vor uns verstecken,“ sprach Ikuko weiter, „in unserer Familie wird die Schwertkunst in allen Ehren gehalten.“ Dann ging sie davon um die Teller zu spülen.
 

“Was geht hier vor?” fragte Kenshin schließlich Baiko, als sie wieder alleine waren. Er hatte eigentlich erwartet, von allen mit Verachtung, wenn nicht sogar mit offener Feindschaft behandelt zu werden, nachdem, was er getan hatte. Aber statt dessen wurde er wie ein Fürst bedient. Es ergab für ihn keinen Sinn!
 

„Es ist, wie ich gesagt habe – erst haben sie dich für gering geschätzt, jetzt wissen sie nicht mehr, wie hoch sie dich einschätzen sollen,“ sagte Baiko, der gerade im Augenwinkel Orinosuke wahrnahm, der ihn zu sich winkte. „Wenn du lästige Fragen vermeiden willst, solltest du besser schnell allen versichern, dass du nichts weiter als ein vom Schlachtfeld davongelaufener Vagabund bist, der ziellos durchs Land wandert. Ich muss jetzt die Pferde einspannen. Kannst du alleine laufen?“
 

Kenshin fühlte sich immer noch ein bisschen wackelig, aber nickte.
 

Als Baiko gegangen war, spürte Kenshin plötzlich seinen leeren Magen und er biss herzhaft in einen der Äpfel auf dem reich gefüllten Tablett. Der Kampf und danach noch die Giftattacke hatten ihn hungrig gemacht und so war er so mit dem Essen beschäftigt, dass er die kleine Nomi erst bemerkte, als sie sich schon fast auf ihn gestürzt hatte. Schnell stellte er das Tablett zur Seite und fing die Dreijährige auf, die ihn fest umarmte und sich in seine verletzte Schulter krallte.

„Kenshin-san! Dir gehts wieder gut!” rief sie freudig aus.
 

Kenshin lachte. „Ja, Nomi-dono, und jetzt gehst mir noch besser, de gozaru yo!“
 

Jetzt kam auch Noriko, Nomi’s Mutter, angerannt und nach einer hektischen Verbeugung riss sie ihre Tochter von Kenshin runter. „Bitte, Himura-sama, vergib Nomi-chan.“

Himura-sama?

“Ah, Noriko-dono, nicht sama – Sessha ist doch nur ein Rurouni!” sagte Kenshin schnell.

„Aber wir wussten nicht, dass du ein Meister der Schwertkunst...“ begann sie zu sagen.

Kenshin unterbrach sie. „Sessha ist auch kein Meister!“ Er vergewisserte sich, dass er ein Lächeln im Gesicht hatte um Noriko nicht noch mehr zu verunsichern. Diese starrte ihn aber trotzdem verwirrt an. Dann, als sie ihre Sprache wiedergefunden zu haben schien, fragte sie schüchtern:

„Himura-sama, äh, Himura-san, wenn ich fragen dürfte...“ Sie druckste etwas herum. „Ich meine, wenn es nicht zuviel verlangt wäre...“
 

„Kann ich etwas für dich tun, Noriko-dono?“ kam Kenshin ihr zur Hilfe. Warum hatte Noriko, die sonst so freundlich zu ihm gewesen war, nun auf einmal Angst, mit ihm zu sprechen?

„Himura-san, bitte, ich glaube, die Wunde von meinem Mann hat sich wieder geöffnet. Wenn es dir nicht zu viel Mühe macht... könntest du dir sie mal anschauen?“
 

Sofort stand Kenshin auf. „Natürlich, Noriko-dono, das werde ich gleich tun. Und...“ Er lächelte Noriko noch einmal möglichst ehrlich an, „... Sessha ist wirklich nichts weiter wie ein einfacher Vagabund!“
 

Noriko führte ihn zu ihrem Ehemann Ennosuke, der gerade mit seinem Vater und seinen Brüdern in ein ernstes Gespräch vertieft war. Als sie ihn kommen sahen, hörten sie abrupt auf und Kenshin konnte das Gefühl nicht loswerden, das er Thema dieser Diskussion gewesen war.
 

“Schatz,” begann Noriko und schenkte ihrem Mann einen um Verzeihung heischenden Blick, “Ich weiß, du wolltest nicht, aber ich habe Himura-sama trotzdem gefragt, ob er nicht dein Bein untersuchen kann…”

„Du hättest ihn nicht belästigen sollen...“ wollte Ennosuke antworten, aber Kenshin unterbrach ihn. Er sah das Blut, das von der Wunde aus bereits Flecken auf Ennosukes Hakama hinterlassen hatte. „Darf ich?“

Ennosuke nickte, krempelte seine Hakama hoch und zu tage kam der blutige Verband.
 

“Ich weiß, Satoshi-sensei hat mir geraten, mich körperlich noch nicht anzustrengen,” sagte Ennosuke entschuldigend, “aber als die Banditen angriffen, hatte ich Probleme, die Pferde ruhig zu halten…”
 

Kenshin untersuchte die Wunde genau. Beim Anblick des aufgerissen Fleisches wurden die Männer um ihn herum leicht grün. „Keine Sorge,“ versicherte Kenshin ihnen, „es ist keine Hauptschlagader verletzt, nur die Haut um die Wunde blutet ein wenig. Ich werde sie gleich neu verbinden, ich hole nur schnell meine Tasche...“

Daisuke schnitt ihm das Wort ab. „Noriko, warum holst du nicht schnell die Tasche für Himura-san?“

Mit sinkendem Mut sah Kenshin Noriko davongehen. Schon das ganze Verbeuge und Getue von allen hatte ihn ziemlich nervös gemacht. Jetzt war er auf der Hut, denn er hatte das Gefühl, das Daisuke auf die Gelegenheit wartete, ihn ausfragen zu können. Schnell pflasterte er das schüchterne Lächeln in sein Gesicht.
 

„Die Vorsteher des Dorfes haben einen Arzt zu den Banditen geschickt, sie verarztet und weggebracht,“ erzählte ihm Daisuke nun. „Sie haben einen Boten nach Miyazaki geschickt, der die Behörden dort informiert und Polizisten mitbringen soll, die sich dann um diese Gauner kümmern werden. Ich habe ihm gesagt, er soll ausrichten, dass unsere zwei Sicherheitsmänner sie dingfest gemacht haben.“
 

„Ohne eure Hilfe hätten wir es nicht geschafft,“ sagte Kenshin und mit Blick auf die Brüder fügte er hinzu, „Eure Söhne waren ebenfalls eine große Hilfe.“

Orinosuke schnaubte selbstzufrieden.

„Naja, ich hatte eher den Eindruck, dass du unsere Hilfe gar nicht nötig hattest,“ sagte Daisuke enthusiastisch. „Ich sah ja nur das Ende deines Kampfes, aber es war wirklich beeindruckend, was du da gezeigt hast – eine perfekte Kombination von Akrobatik und Kenjutsu! Wir haben gerade davon gesprochen, dass es interessant wäre, einige deiner Techniken für unsere Übungen zu übernehmen. Das wären großartige Show-effekte, denkst du nicht? Darf ich den Namen deiner Schwerttechnik erfahren?“
 

Kenshin spannte sich unmerklich an. „Meine Technik?“ wiederholte er mit unschuldigem Blick. Er wusste, dass es bereits Leute gab, die genau wussten, wie die Technik hieß, die der Hitokiri Battousai benutzt hatte. Wie viel konnte er ihnen sagen, ohne sich zu verraten?

„Es ist eine alte Schwerttechnik, die kaum einer kennt... aus der Sengoku-Zeit.“
 

„Sengoku?” Daisuke befingerte sein Kinn. “Das wäre sicherlich ein Kassenschlager...“

„Schwerttechniken aus der Sengoku-Zeit werden seit über zweihundert Jahren nicht mehr unterrichtet,“ grummelte Orinosuke in die Runde, „also hör auf uns anzulügen und sag einfach die Wahrheit!“
 

Unter dem bohrenden Blick Orinosukes seufzte Kenshin innerlich und hoffte auf das Beste.

„Hiten Mitsurugi Ryu – das ist meine Technik.“
 

Es war Ennosuke, nicht Orinosuke, dessen Augen sich bei diesen Wörtern weiteten. „Hiten Mitsurugi Ryu?“ rief er aus. „Ich denke, davon hab ich schon gehört.“ Er wandte sich an Ryosuke. „Ist das nicht die Technik, die einer der berühmtesten Patrioten benutzte? Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, wer genau... jedenfalls sagt man, das ohne diesen Mann die Revolution nicht zustande gekommen wäre.“

„Stimmt!“ nickte Ryosuke. „Hat uns nicht auch ein Bekannter erzählt, das Okubo-sama nach diesem Mann sucht und ihn unbedingt finden will? Warum eigentlich...“ Er wandte sich zu Kenshin. „Vielleicht war dieser Mann aus deinem Dojo? War dein Dojo berühmt während der Bakumatsu-Zeit?“
 

Kenshin war nun äußerst angespannt – Okubo Toshimichi suchte ihn? Warum? Er hatte Gerüchte gehört, dass die neue Regierung die Attentäter von damals alle aus dem Weg räumen ließ, weil sie zu viel schmutzige Geheimnisse wussten, aber Katsura hatte ihm vor seiner Abreise versichert... Jahre der Übung machten es leicht für ihn, seine innerliche Aufgewühltheit und Gefühle vor den anderen zu verstecken und so bemerkte nicht einmal Orinosuke mit seinem ständig drohenden Blick, dass sich Panik in Kenshin breit machte. Alles, was sie sahen, war das schüchterne Lächeln in seinem Gesicht und – „Oro?“
 

Ryosuke verschluckte sich und lachte. „Dein Dojo, Junge, dein Dojo! Du warst damals nur ein Kind, deswegen weißt du es vielleicht nicht, aber war einer deiner Meister ein berühmter Kämpfer während des Bakumatsu?“

Orinosukes Ki erreichte einen gefährlichen Höhepunkt, denn er kaufte Kenshin seine Schauspielerei nicht ab.
 

„Es gab eigentlich kein Dojo, wo ich trainiert habe - wahrscheinlich kam der berühmte Kämpfer von wo anders,“ antwortete Kenshin schließlich lahm.
 

Orinosukes Augen blitzten und gerade eben wollte er etwas sagen, doch da kam Noriko zurück und damit war das Gespräch beendet, sehr zu Kenshins Erleichterung. Schnell nahm er das Verbandszeug zur Hand und ging ans Werk. Die Brüder ließen sie alleine, weil sie nicht schon wieder grün angesichts der üblen Wunde werden wollten. Kenshin beeilte sich, fertig zu werden und verließ dann Ennosuke. Als er zurück zum Wagen ging, wich das Lächeln in seinem Gesicht einem eher grimmigen Ausdruck.
 

“Was ist los?” fragte ihn Baiko leise. „Für mich wirkten deine Schauspielkünste sehr überzeugend.“

„Morgen werde ich gehen!“ war Kenshins Antwort.

„Nicht das schon wieder,“ sagte Baiko lächelnd, doch ein Blick in Kenshins Augen ließ ihn verstummen.

„Das ist hier kein Scherz oder so etwas,“ sagte Kenshin. „Ich habe ihnen gerade von dem Namen meiner Schwerttechnik erzählen müssen. Und Ennosuke und Ryosuke haben den Namen erkannt, wenn sie auch nicht genau wussten, woher.“

„Aber der Alte hat doch Orinosuke erlaubt, die Familie zu verlassen. Damit ist doch die eigentliche Gefahr gebannt, oder nicht?“
 

Kenshin schüttelte den Kopf. „Nein, Baiko. Er wird nicht aufgeben, bevor er sein Ziel erreicht hat. Und inzwischen sind auch die anderen alle der Wahrheit ziemlich nahe gekommen.“ Er seufzte. „Das Lustige ist, dass es mir sogar Spaß gemacht hat. Der Auftritt gestern und alles. Es war ein ungewohntes aber angenehmes Gefühl, die Leute einmal über mich Lachen zu hören, weißt du?“
 

Er stopfte seine Tasche in den Wagen und nahm seinen Posten auf der rechten Seite ein und schon bald war die ganze Familie wieder in Bewegung. Noriko und Nomi liefen neben ihm her, aber etwas war anders. Das Gefühl der Vertrautheit war weg, statt dessen herrschte nun ein Gefühl von Formalität. Kenshin scherzte mit Nomi wie zuvor, doch Noriko schien unsicher, ob sie sich zu ihm wie zu einem Freund oder zu einer höhergestellten Person verhalten sollte.
 

Dann kam Bunjiro auf ihn zu. Vorsichtig fragte ihn Kenshin, ob sein Vater Orinosuke es erlaubt hatte, sich mit ihm zu unterhalten, doch Bunjiro winkte ab. „Großvater hat mir gesagt, dass ich mit dir reden darf.“ Doch selbst Bunjiro schien nicht mehr so lebhaft wie am Morgen sondern eher schweigsam und zurückgezogen.
 

„Macht dir etwas Sorgen?“ fragte Kenshin sanft.
 

Bunjiro sah in überrascht an. „Woher weißt du das?“

Kenshin lächelte. „Eine Gabe, die Sessha vor langer Zeit gelernt hat.“

Bunjiro seufzte. „Es ist, was vorhin passiert ist. Was du getan hast.”

„Oh.“ Kenshins Mut sank. Noch einer mehr, den er verängstigt hatte.

„Ich sah, wie die Männer aussahen, gegen die du gekämpft hast,“ sagte Bunjiro. „Sie sahen schlimm aus, nicht?“

„Hm,“ sagte Kenshin.

„Sie werden doch nicht daran sterben, oder?“

„Sessha hofft, nicht – nein.“

Bunjiro war wieder schweigsam. Dann meinte er, „was ich da gesehen habe... die Gewalt – ist es das, weswegen du mir gesagt hast, ich soll kein Soldat werden?“

„Hm.“

Bunjiro seufzte. „Danke Kenshin-san.“
 

--
 

Japanese Terms:
 

-sama: ehrerbietende Endung, vornehmlich für einen Herrscher

Shimazu-sama: Ehemals der Daimyo (Feudalherrscher) der Provinz Satsuma, nun Gouvaneur unter der neuen Regierung.

Yakuzas: Mafia-ähnliche Gangs.

Bakumatsu: Bürgerkrieg

Kempo: Kampfkunst, die vornehmlich Hände und Füße anstelle von Schwertern einsetzt.

Toba Fushimi: Die finale Schlacht des Bakumatsu.

Bakufu: Militärregierung des Shogunats

Wakizashi: Kurzschwert

Sengoku: Periode der japanischen Geschichte, in der nahezu alle kleinteiligen Staaten miteinander im Krieg lagen. Nach ihr folgte das Tokugawa Shogunat Ende des 16. Jh.

Okubo Toshimichi: einer der führenden Patrioten aus Satsuma, jetzt einer der wichtigsten Mitglieder in der neuen Regierung.
 

Anmerkungen: Eine Menge historischer Information in diesem Kapitel. Die Brigade des weißen Tigers hat es wohl wirklich gegeben, es waren neunzehn Jugendliche, die dachten, ihr Daimyo wäre im Kampf gefallen und daraufhin alle Seppuku begingen.
 

Die Medizin, die Kenshin gegen das Gift einnimmt, ist Digitalis, also eigentlich ein Gift, das in geringen Dosen aufputschend wirkt.
 

Nächstes Kapitel: Kommt die Familie Kenshins Geheimnis auf die Spur? Und wie wird es in Myazaki, wo viele Soldaten aus Satsuma stationiert sind, die mit Kenshin zusammen im Bürgerkrieg gekämpft haben?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sarai-san
2008-01-31T20:13:50+00:00 31.01.2008 21:13
Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie genau Kenshins Charakter getroffen wurde. Sein Zwiespalt bei der Familie bleiben zu wollen und sie zu ihrem Schutz zu verlassen. Gerade jetzt sind sie seinem Gehiemnis ja schon sehr nahe gekommen.

Bye
Sarai


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