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An unexpected Lesson

Eine unerwartete Lektion
von

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Kapitel 3

Kenshin bekommt seinen ersten Schauspielunterricht als Onnagata, aber die Vergangenheit lässt ihn nicht los.
 


 

Kapitel 3
 

“Sie haben Talent, nicht?”
 

Ikuko saß zusammen mit Kenshin im Hof des Doktors und sie schauten den Kindern und Erwachsenen zu, wie sie Akrobatische Kunststücke übten. Ikuko war sichtlich stolz auf ihre Familie. Die Frauen hatten gerade eben ihre Probe beendet – sie spielten Instrumente, um die Aufführung musikalisch zu begleiten – und schauten jetzt den Männern beim Saltoschlagen, Händelaufen und Jonglieren zu.
 

„Keiner in der Welt des Kabuki übertrifft meinen Mann und unsere Söhne an Gelenkigkeit,“ bemerkte Ikuko schwärmerisch. „Vielleicht könnten sie dir auch ein paar Kunststücke beibringen?“
 

Kenshin schmunzelte. Wenn sie wüsste, dachte er. Vieles, was die Männer da gerade machten, war auch Teil einiger Hiten Mitsurugi Techniken. Er fragte sich nebenbei, ob nicht vielleicht der erste Meister der Hiten Mitsurugi Schule, Hiko Seijuro der Erste, einmal ein Akrobat gewesen war. Oder vielleicht sein Meister, Hiko der Dreizehnte. Hiko hatte mit ihm natürlich nie über seine Vergangenheit geredet – er hatte behauptet, das er bereits erwachsen und perfekt auf die Welt gekommen sei.
 

Die Männer der Daisuke-Familie sprangen vielleicht nicht so hoch oder so weit wie Hiko oder Kenshin, aber das mussten sie auch nicht. Ihre Aufgabe war es, das Publikum in Staunen zu versetzen; Wer den Hiten Mitsurugi Stil lernte, dessen Aufgabe war es, lebend einen Schwertkampf zu überstehen. Dennoch, während er all diesen doch recht kleinen, normal gebauten Menschen zusah, wie sie durch die Luft sprangen, erinnerte er sich, wie beeindruckend Hiko gewesen war, ein Berg von einem Mann – er war weiter und höher als sie alle gesprungen und trotzdem leichtfüßig wie eine Katze.
 

Die Kinder, die auch trainierten, erinnerten Kenshin daran, wie verschieden doch seine eigene Kindheit gewesen war. Der fünf Jahre alte Sohn von Ryosuke, Oda, versuchte sich gerade am Handstand. Kenshin erinnerte sich, wie er selbst fünf gewesen war. Er hatte damals noch eine Familie und lernte keine Akrobatik, sondern wie man ein Feld zu bestellen hatte. Ryosuke’s anderer Sohn, Saburo, war bereits sieben und konnte schon auf den Händen laufen. Kenshin hatte in diesem Alter bereits seine Famile verloren und er war ein Sklave gewesen, hatte gerade so das Gemetzel der Banditen, die seine Gruppe angegriffen hatten, überlebt. Zu dem Zeitpunkt, an dem er so alt wie Ryosuke’s ältester Sohn Byako, also neun, gewesen war, hatte er schon sein Training bei Hiko begonnen. Und als er schließlich wenig älter war wie Orinosuke’s zwölfjähriger Junge Bunjiro, hatte er...
 

Kenshin drückte seine Augen zu, als ob das seinen Gedankenstrom aufhalten könnte. Welchen Sinn hatte es, sich zu erinnern? Zu der Zeit, als er wenig älter wie Bunjiro gewesen war, war er bereits ein Mörder. Er war ein dummer Teenager gewesen, überzeugt, die Welt mit einem Schwertstreich ändern zu können. Ein Fehler, der ihn für immer verfolgen würde. Selbst hier, so weit weg von Kyoto und den Schrecken der Bakumatsu-Zeit, hatte ihn schon jemand erkannt und ein Zweiter war kurz davor gewesen. Alles, was er mit seinem noch übrig gebliebenen Leben anfangen wollte, war Wiedergutmachung zu leisten, die Erinnerung an Hitokiri Battousai zu begraben – aber sobald die Menschen herausfanden, wer er gewesen war, konnten sie ihn nie mehr als einen normalen Menschen ansehen.
 

So in Gedanken hörte er plötzlich Bunjiro schreien. „Byako, NICHT!“. Sein Kopf schoss hoch und er sah gerade noch Byako, wie er sich selbst von einer Mauer stürzte, um einen Doppelten Salto zu versuchen. Innerhalb einer hundertstel Sekunde erkannte Kenshin, dass der Junge zu wenig Schwung dafür hatte und sicherlich auf den Kopf oder den Hals fallen würde. Ohne nachzudenken schoss er quer über den Hof und fing den Jungen im Flug. Auf dem Rücken liegend, mit dem Jungen auf ihm, schlitterte er einige Meter über den Boden, bevor sie zum liegen kamen. Als er aufsah, kam bereits Bunjiro angerannt. Byako starrte Kenshin panisch an, als ihm bewusst wurde, dass er sich eben fast den Hals gebrochen hätte. Orinosuke kam nur Sekunden später und sah Kenshin mit seinem Sohn auf dem Bauch, der weinte.
 

„Was machst du mit einem Jungen, zur Hölle!“ brüllte er und rannte auf sie zu. „Nimm deine Hände von ihm!“ Er packte Byako grob am Arm und zog ihn mit sich.
 

„Vater! Hör auf!“ rief Bunjiro aus. „Byako hat versucht, einen Doppelten Salto die Mauer herunter zu machen. Er hätte sich fast das Genick gebrochen, wenn ihn Kenshin-san nicht...“

„...ihn nicht was – lüsternd umarmt hätte?“

Kenshin kam langsam wieder auf die Beine und war bereits umringt von Daisuke, Orinosuke und Ryosuke. „Orinosuke“ begann er, „es ist die Wahrheit...“
 

Orinosuke packte Kenshin am Kragen. „Wenn ich dich jemals wieder dabei erwischen sollte, wie du meinen Sohn begrapscht...“

Jetzt kam auch Baiko mit gezogenem Schwert in den Innenhof gerannt. „Wer wird angegriffen?“ schrie er, doch dann sah er, wie Orinosuke Kenshin gepackt hielt und Kenshin sich nicht wehrte. „Was zur Hölle ist denn hier los?“
 

“Baiko-san, tu dein Schwert weg. Keiner wird hier angegriffen – außer der Rurouni hier.“ Meinte Daisuke spitz.

Orinosuke funkelte ihn an, ließ aber Kenshin mit Blick auf Baikos Schwert los. „Ich würde auch gerne wissen, was hier los ist,“ sagte er mit drohender Stimme.
 

„Ich erzähl es euch!“ sagte Ikuko. Sie war wütend auf ihren aufbrausenden Sohn und stellte sich zwischen ihn und Kenshin. „Byako weiß, dass er noch keine Saltos kann, aber er wollte es trotzdem versuchen, als Bunjiro nicht aufpasste. Himura-san und ich saßen da drüben und haben Bunjiro schreien gehört. Ehe ich reagieren konnte, war Himura-san schon bei ihnen und hatte Byako aufgefangen. Er hat einen schlimmen Unfall verhindert!“
 

Orinosuke schaute quer über den Hof. „Niemand kann so schnell von der einen Ecke zur anderen rennen,“ schnauzte er sie an.
 

“Vielleicht, aber er hat es getan.” Wiedersprach Ikuko gereizt. „In der Tat wäre dein Junge jetzt nicht mehr so lebendig, wenn dieser Mann nicht das getan hätte, wovon du behauptest, das es kein Mann tun kann. Du bist ihm eine Entschuldigung schuldig!“
 

Kenshin hörte stumm diesem Familienstreit zu, in den er sich nicht einmischen wollte. Er spürte an Orinosuke’s Ki, wie ernorm wütend er war und das würde auch keine Entschuldigen ändern.
 

“Ikuko-dono,” sprach Kenshin sanft, “sie brauchen das nicht zu tun. Der Junge ist sicher, das ist alles, was zählt.”

Oriosuke hatte sichtlich damit zu tun, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. Er sah zu Byako, der nun in den Armen seiner Mutter lag, dann zu Bunjiro, der verängstigt war. Schließlich biss er seine Zähne zusammen und verbeugte sich steif vor Kenshin.

„Ich nehme die Hilfe, die du meinem Sohn geleistet hast, zur Kenntnis.“ Er spuckte die Worte förmlich aus und stapfte dann davon.
 

Nun, da die Situation aufgeklärt schien, half Daisuke Kenshin aufzustehen. Er war überrascht, wie fest der junge Mann seinen Griff erwiderte und wie viel Stärke er ausstrahlte. Für jemanden, der so schmächtig aussah, war diese Kraft unerwartet. Er beobachtete, wie Kenshin sich den Staub von der Kleidung klopfte und fragte sich, was er wohl noch alles über diesen jungen Mann lernen würde.
 

“Wir haben jetzt keine Zeit für Zänkereien.” Meinte Daisuke erschöpft zu seiner Familie. „Wir müssen in weniger als einer Stunde auftreten. Byako, du wirst heute nicht dabei sein – du hilfst deiner Tante Mei beim Kinder aufpassen.“

Byako wollte schon protestieren, aber der Blick Daisukes ließ ihn verstummen.

„Und du, junger Mann,” sagte er an Kenshin, der immer noch voller Staub war, gewandt, „Du willst dich sicher umziehen und sauber machen.“
 

Danach ging er zu Orinosuke, der etwas entfernt mit verschränkten Armen stand und immer noch vor sich hin brütete. „Was ist bloß in dich gefahren, ältester Sohn?“ fragte er betroffen.

Orinosuke funkelte seinen Vater an. “Du willst es nicht einsehen, oder?“ meinte er besserwisserisch. „Dieser Typ, mit dem stimmt irgendwas nicht. Ich vertraue ihm nicht.“

Daisuke beobachtete, wie Kenshin den Hof gerade verließ. Er konnte immer noch den überraschend kraftvollen Händedruck von ihm spüren.
 

“Ich weiß, was du meinst – irgendwas stimmt nicht so ganz mit ihm. Aber ohne konkrete Beweise können wir ihn nur nach seinen Handlungen beurteilen, die alle sehr ehrenvoll waren – das musst selbst du zugeben. Meine Intuition sagt mir, das er ein friedvolles Herz hat und das er keine Gefahr für uns ist.

Orinosuke schnaufte verächtlich. “Friedvoll – das denkst du? Ich denke, er versteckt etwas vor uns...“

„Jeder hat seine Geheimnisse.” Entgegnete Daisuke. “Auch du.”
 

“Was zur Hölle soll das nun wieder bedeuten?”

“Du weißt genau, was ich meine. Der Grund warum du so gereizt bist. Aber ich sag es dir noch einmal – wir gehen nicht zurück nach Kyoto und dabei bleibt es!“

Daisuke machte kehrt und ließ den wütenden Orinosuke stehen. In Wahrheit jedoch wusste er, das Orinosuke irgendwie recht hatte. Dieser Wanderer verbarg ein Geheimnis und dieser kraftvolle Händedruck gerade eben hatte sein Gehirn in Schwung gebracht. Er selbst hatte sich immer für jemanden gehalten, der andere gut einschätzen konnte – und er war sich sicher, das dieser junge Mann genau das war, was er schien: ein netter Typ, der vielleicht eine Tragödie miterlebt hatte oder seine Familie im Bürgerkrieg verloren hatte. Aber ein gefährlicher Typ?

Nein, er hatte nicht das Gefühl, das er gefährlich war. Aber irgendwas war trotzdem seltsam... Aber als Orinosuke ihn am Kragen gepackt hatte, hat er keinerlei wiederstand geleistet. Also, dieser Mann war friedlich und keine Gefahr. Immerhin, es würde interessant werden, ihn als Schauspieler zu sehen, denn er wusste, das beim Schauspielern oftmals verborgene Geheimnisse den Weg ans Licht fanden.
 

Um drei Uhr stand der Wagen auf dem Dorfplatz, geschmückt mit farbenprächtigen Plakaten und Girlanden. Da es eine Freiluft-Aufführung war, kostete es keinen Eintritt, aber Baiko saß am Eingang und bewachte eine kleine Spendenbox.
 

Kenshin jedoch blieb im Wagen. Sein brauner Gi hatte nach dem Vorfall mit Byako nun mehrere neue Löcher und musste dringend genäht werden. Wenn Ikuko schon über seinen braunen Gi den Kopf geschüttelt hatte, was würde sie über den Ersatz-Gi denken, den er jetzt anhatte? Ryosuke’s Frau Mei war nun dran, die Kinder zu hüten, und er saß neben ihr, halb beim Nähen, halb beim Zuschauen, wie die Männer ihre akrobatischen Stunts vorführten.

Mei bemerkte, wie er seinen Gi flickte und meinte „Du bist sehr begabt mit Nadel und Faden.“

Kenshin antwortete freundlich. „Ein Rurouni muss nunmal alles selber machen, nicht?“

„Das nehme ich an, aber es tut uns allen Leid, das deine Kleidung kaputt gegangen ist.“

„Die Sicherheit des Jungen war wohl um einiges wichtiger, wie mein alter Gi.“ Bemerkte Kenshin während er untersuchend seinen Finger durch eines der neuen Löcher steckte. Er sah im Augenwinkel Byako, der in der Ecke schmollte. Er erinnerte sich, das er in dem Alter auch oft geschmollt hatte, vor allem, nachdem Hiko ihn geärgert hatte.
 

Mei seufzte tief. Mit ernstem Gesicht wandte sie sich an Kenshin. „Orinosuke ist zur Zeit sehr unglücklich. Und das hat er an dir ausgelassen.“

Überrascht schaute Kenshin auf. Er wusste zwar, das Orinosuke nicht glücklich war – seine Ki voller Unzufriedenheit sprang ihm förmlich ins Gesicht – aber das Mei so offen mit ihm sprach, war unerwartet. Er war es nicht gewohnt, das man ihn in Vertrauliches einbezog und er wusste auch nicht, wie er reagieren sollte. Mei bemerkte seine Verschämtheit.

„Bitte, verzeih mir, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen!“ entschuldigte sie sich. „Aber du solltest wissen, das unsere Familie sehr glücklich ist, dass du mit uns reist, wenn es auch einige nicht zeigen können.“
 

Der Auftritt war nun vorbei und die Familie freute sich über die mehr als zahlreichen Spenden. Es blieb noch genug für die Einkäufe übrig und sogar für das Sparschwein der Familie. Sie kauften also frisches Essen im Dorf ein und kehrten dann zum Wagen zurück, um einen ruhigen Lagerplatz für die Nacht zu finden. Keine fünfzehn Minuten vom Dorf entfernt fanden sie eine kleine Lichtung, nicht zu weit weg vom Doktor, wo Ennosuke die Nacht verbringen würde.
 

Das Abendessen war üppig, mit Früchten und Gemüse und sogar Fisch. Die Spannung vom Nachmittag hatte sich gelöst – nur Orinosuke schien noch nicht besänftigt. Bald war es Zeit für die Kinder, ins Bett zu gehen und Kenshin leistete Baiko beim letzten Rundgang ums Lager Gesellschaft, bevor sie ihre Betten in der Nähe der Pferde aufschlugen. Als sie gerade an Daisukes Zelt vorbeigingen, rief es: „Himura-san! Morgen beginnt deine Arbeit!“
 

Kenshin nickte bestätigend aber fühlte die Furcht wie einen Stich im Magen. Er hatte keine Ahnung vom Schauspielern und sicherlich keine Ahnung vom Frau-sein. Wiedereinmal fragte er sich, was ihn geritten hatte, dem aberwitzigen Plan zuzustimmen. Immerhin erinnerte ihn sein gut gefüllter Bauch an einen Grund. Also, wenn er den Krieg überlebt hatte, dann könnte er das doch auch überstehen, dachte er sich.
 

Als sie ihre Betten aufschlugen, meinte Baiko: „Ich denke, ich halte heute Nacht lieber Wache. Nach dem was der Arzt gesagt hat, wegen den Yakuza in der Gegend. Du kannst ruhig schlafen.“

„Wir können uns die Nacht auch aufteilen,“ schlug Kenshin vor. Baiko überlegte kurz, beschloss aber dann, Kenshin zu vertrauen.

“Ok.” Entschied er sich. „Du übernimmst die erste Wache, ich löse dich dann irgendwann um Mitternacht ab.“
 

Mit diesem Entschluss wollten sie gerade ihre Betten aufrollen, als Mayako, Mei und Noriko kamen. Mayako hielt einen grünen Gi in ihren Armen.

„Himura-san,“ begann sie etwas drucksend, „Meine Schwieger-Schwestern und ich sind übereingekommen, dass es eine Schande war, dass deine Kleidung kaputt gegangen ist, als du meinem Sohn geholfen hast.“

Himura-san? Warum auf einmal so freundlich?

„Wir würden uns geehrt fühlen, wenn du diesen Gi als Ersatz annimmst.“
 

Kenshin sah an sich herab. Den Ersatz-Gi, den er anhatte, war von einem häßlichen Gelb und verlieh ihm ein kränkliches, gelbsüchtiges Aussehen. Aber er fühlte sich nicht wohl, dieses Geschenk anzunehmen.

„Er gehörte meinem Mann, also müsste er dir passen.“ Sagte Ennosuke’s Frau Noriko. „Bitte, nimm ihn!“

Mayako nickte. „Das ist unsere Art, Danke zu sagen.“

Schließlich nahm Kenshin etwas schüchtern den Gi. „Sessha ist sehr dankbar, Kawayama-dono.“

„Nenn mich Mayako.“ Dann, nach einer Reihe formaler Verbeugungen, gingen die Frauen wieder in Richtung Wagen.
 

„Ein Tag voller Überraschungen.“ Stellte Baiko fest. „Die alte Eis-frau ist anscheinend aufgetaut.“

Kenshin beäugte den neuen Gi noch etwas ungläubig. „Anscheinend...“
 

Er verstaute den Gi in seiner Wandertasche. Morgen könnte er ihn gleich anziehen. Dann nahm er seinen Wachposten ein. Dieser Tag war wirklich voller Überraschungen gewesen, nicht die geringste davon Mayakos Verwandlung. Aber er wusste er nicht so ganz, was er davon halten sollte. Er glaubte, dass die Frau die gleiche Einstellung wie ihr Mann Orinosuke hatte – deswegen war er über ihr kaltes und argwöhnisches Verhalten nicht überrascht gewesen. Aber kaum ging es um ihren Sohn Byako, war sie – im Gegensatz zu ihrem Mann Orinosuke – aufgetaut und zeigte Herz. Also Familienangelegenheiten waren wirklich nicht sein Ding.

Im Laufe der Nacht fand er sich schließlich zu müde, um aus all dem noch schlau zu werden und er fiel erleichtert ins Bett, als Baiko endlich die zweite Wache übernahm.
 

Natürlich war der Schlaf für Kenshin nur eine Angelegenheit, die man so schnell wie möglich hinter sich bringen sollte. Manchmal, wenn er Glück hatte, schlief er still – ab und an erinnerte er sich sogar an einen schönen Traum. Meistens jedoch, wenn nicht immer, quälten ihn im Schlaf die Albträume. Deswegen hoffte er jedes Mal, wenn er die Augen nachts schloss, das es eine von den guten Nächten werden würde. Und auch heute schien es zuerst so zu sein.
 

Als er langsam in den Schlaf glitt, dachte er an das morgendliche Gespräch mit Noriko und den Kindern. Im Traum hörte er dann die Geräusche von spielenden Kindern. Er schaute sich um und sah, das er in Otsu war, in ihrem kleinen Bauernhaus, das er mit Tomoe geteilt hatte. Sie war draußen auf der Wiese, mit einem kleinen Lächeln im Gesicht und spielte mit den glücklichen Kindern. Er ging auf sie zu und legte ihr den Arm sanft um die Hüfte, fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte. Dann erkannte er, dass die spielenden Kinder nicht nur irgendwelche Kinder, sondern seine eigenen Kinder waren. Und er fühlte sich glücklich.
 

Er war jetzt ein Bauer, kein Soldat. Nachdem er Tomoe einen Schmatzer auf die Backe drückte, ging er zur Scheune, um den Vorrat an Gemüse zu überprüfen. Kaum ging er auf die Scheune zu, verwandelten sich das dort liegende Obst von frisch und knackig in verdorrt und stinkend. Die Rüben und Blätter wurden plötzlich knochige Hände, die zu seinem Schrecken alle nach ihm griffen und ihn zu Boden rissen. Er versuchte, sich von dem Gemüse in Handform zu befreien und als er danach griff, griff er plötzlich eine echte, blutende Hand. Er schrie nach Tomoe, aber als sie am Einfang der Scheune auftauchte, war auch sie blutig.

Er schreckte hoch, fand sich selbst nicht in Otsu sondern auf seiner Bettrolle und kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Sein Herz klopfte wild und er schaute sich panisch um, um zu sehen, ob er geschrien hatte. Anscheinend und das beruhigte ihn etwas, war das nicht der Fall gewesen, denn alle schliefen friedlich und Baiko saß ruhig da und hielt Wache.
 

Er setzte sich auf, den Kopf zwischen seinen Händen.

Was für ein Recht hatte er, zu denken, dass er jemals eine Familie haben könnte? Was für ein Recht hatte er, zu denken, dass er jemals solchen Frieden und solches Glück erleben durfte?

Nein, alles führte zu einem Punkt zurück – er war ein Mörder, ein Attentäter, er hatte zu viele Leben genommen. Es hatte keine Bedeutung, ob seine Morde gerechtfertigt waren oder nicht. Sie ließen sich nicht mehr rückgängig machen. Was war das noch mit Ikuko, die sagte, sie werde ihm beibringen, den Leuten Glück und Freude zu bringen anstelle von Leiden und Tod? Es war nichts weiter als ein schlechter Witz, ein weiterer grausamer Scherz, den sich die Götter mit ihm erlaubten. Schon als er noch ein Attentäter war, hatten die Götter ihren Spaß mit ihm. Sie versprachen ihm Hoffnung, nur um sie danach zu zerschmettern. Jetzt wieder. Aber er spürte, das er sich die Hoffnung nicht nehmen lassen wollte. Nein, er wollte wirklich von Ikuko lernen. Bitte, flehte er zu den Göttern, erlaubt mir, von Ikuko zu lernen!
 

Baiko erwachte auf einen Schlag, als die Sonne bereits aufging. Wie konnte er nur eingeschlafen sein, wo er doch die Wachpflicht hatte! Naja, überlegte er, wenn Yakuza gekommen wären, hätte er sie wahrscheinlich gehört. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und drehte sich um, in Erwartung, Kenshin noch schlafend vorzufinden. Baiko schlief nicht fest und er war sich sicher, dass er Kenshin gehört hätte, wenn er aufgestanden wäre – doch umso überraschter war er, ein leeres Bett und weit und breit keinen Kenshin vorzufinden. Vielleicht hatte er Geschäft zu erledigen, wie gestern Morgen, aber es gefiel ihm trotzdem nicht, dass Kenshin so einfach verschwunden war und er nichts davon bemerkt hatte. Heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein und trotz seinem milden Verhalten war Kenshin immer noch der berüchtigte Hitokiri Battousai. Schnell vergewisserte er sich, dass alle seine Habseligkeiten und die der Familie noch an ihrem Platz waren. Immerhin, nach dem hässlichen Zusammenstoß gestern, zwischen Kenshin und Orinosuke und dann noch die ganzen Gewinne, die die Familie mit ihrem Auftritt gemacht hatte ... doch alles war noch da. Warum hatte er sich also heimlich davongeschlichen?
 

Er entschloss sich, nicht auf die Rückkehr des Vagabunden zu warten. Statt dessen ging er zu dem kleinen Bächlein, was nahe vorbei floss. Vielleicht hatte Kenshin ja Lust auf ein Bad bekommen? Kaum stand er am Ufer, da hörte er es – die unverwechselbaren Geräusche eines Schwertes, das durch die Luft saust. Er konnte zwischen den Bäumen kurz ein silbernes Aufblitzen in der Sonne sehen und er folgte diesem Blitzen und den Geräuschen vorsichtig. Langsam kroch er näher an die Lichtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen, heran. Er erwartete dort, einige Yakuza zu finden, von denen ihm die Dorfleute erzählt hatten. Aber als er näher kam sah er, dass es nur eine einzelne Gestalt war, mit fliegenden roten Haaren. Er kroch noch näher und hielt den Atem an. Es war Kenshin – nein, der Battousai, korrigierte er sich – der hier die atemberaubendsten Schwertübungen machte, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Diese unglaubliche Gewandtheit der Bewegungen, die Geschwindigkeit des Schwertes, die kaum fassbare Höhe seiner Sprünge – noch nie hatte er dergleichen gesehen. Kein Wunder, dass Kenshin dieses Talent vor anderen verbergen wollte.
 

Baiko war wie hypnotisiert. Er verlor jegliches Zeitgefühl, während er im hohen Graß verborgen saß und dieser Vorführung an Schwertkunst beiwohnte, die jeglichen Gesetzen der Schnelligkeit und Schwerkraft zu trotzen schien. Schließlich war Kenshin bei den letzten Kata angelangt, die seinen Puls senken und die Muskeln entspannen sollten. Baiko sah, wie Kenshin leicht in seine Richtung nickte, als Zeichen, das er seine Anwesenheit bemerkt hatte. Verdammt, grübelte Baiko, woher weiß er, dass ich da bin?

Es bestand also kein Grund mehr zum Verstecken und Baiko stand auf und ging zu Kenshin, der gerade sein Schwert wieder in die Scheide steckte.
 

“Ein bisschen früh für Sport, oder?” sagte Baiko. Er versuchte, sich seine Beindruckung nicht anmerken zu lassen.

Kenshin zuckte mit den Schultern. „Ich konnte nicht schlafen.“ Antwortete er. „Egal, ich glaub ich brauchte das, nach dem ich gestern in Frauenkleidern herumlaufen musste.“

„Das hat dich belastet, oder nicht?“ stellte Baiko fest, während sie zusammen zurück zum Lager gingen.

„Es war ein seltsames Gefühl, ja.“ Sagte Kenshin mit leichtem Lächeln.
 

Baiko fand das gedankliche Bild von Kenshin in Frauenkleidern verstörend, jetzt, nachdem er gerade Zeuge von seiner unglaublichen Schwertkunst geworden war. Was war dieser Mann? Mit einer Begabung wie dieser könnte er mit dem Schwert alleine ein Vermögen machen – wenn nicht als Soldat, dann doch auf alle Fälle als Kenjutsu-Lehrer. Die Leute würden ihm die Bude einrennen, ob Meiji-Zeit hin oder her.

Aber, dieser Mann war ein verarmter Wanderer, der sich für eine warme Mahlzeit Frauenkleider anziehen ließ. Das machte alles irgendwie keinen Sinn!
 

„Sooo... das war also der legendäre Hiten Mitsurugi-Stil?“ fragte Baiko mit der Hoffnung auf eine Erklärung.

„Ja.“ Kenshin war offensichtlich nicht der Typ für viele Worte.

„Ich wusste nicht, das ein Mensch sich so schnell bewegen kann.“ Stellte Baiko fest.

„Mein Meister war schneller.“ Meinte Kenshin sachlich.

Schneller? „Aber... das ist doch… nicht möglich,” stotterte Baiko.

Kenshin antwortete nicht, aber ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
 

„Nun, ich bin auf jeden Fall froh, niemals vor der Spitze dieses Schwertes gestanden zu haben...“ murmelte Baiko.

„Ich auch.“ antwortete Kenshin.
 

Am Lager angekommen fütterten sie erst die Pferde, die schon ungeduldig schnaubten und gingen dann mit Wassereimern bewaffnet zurück zu dem Bach.

Baiko grübelte immer noch über das gerade Gesehene nach. „Du musst aber lange Kenjutsu gelernt haben, um so gut zu sein.“ Bemerkte er.

„Sessha hat sehr jung angefangen, ja.“

„Ich hab erst ab meinem 18. Lebensjahr Schwertunterricht bekommen.“ erzählte Baiko. „In der Satsuma-Armee.“

Kenshin betrachtete Baiko. Er wusste sein Alter nicht, aber er schätzte ihn auf einige Jahre älter wie sich selbst. Das bedeutete, das auch er in der Bakumatsu-Zeit gekämpft hatte.
 

“Warst du vor Beginn der Boshin-Krieges schon in der Satsuma-Armee?” fragte Kenshin.

„Ja, nachdem Satsuma sich mit Choshu gegen das Schogunat verbündet hatte, zwei Jahre vor Toba Fushimi. Ich habe am Hafen von Kagoshima gearbeitet, als sie mich angeworben haben. Nie hab ich richtig kämpfen gelernt. Aber ich hatte genug Muskeln von der Hafenarbeit, deswegen haben sie mich genommen. In der Armee hab ich dann die Grundlagen in Angriff und Verteidigung gelernt.“

Sie füllten ihre Eimer am Bächlein.

„Hast du Pläne ? » fragte er Kenshin nach einer Weile. „Ich werde, wenn ich heim komme, ein Schreiner werden, dann such ich mir eine gute Frau und bau mir ein schönes Haus.“

„Warst du nicht ein Hafenarbeiter?“ fragte Kenshin freundlich, einer Antwort ausweichend.
 

„Ja,“ anwortete Baiko, „Aber einer meiner Kameraden in der Armee war Schreiner und in seiner Freizeit hat er mir einiges begebracht. Außerdem, jetzt ist das Klassensystem abgeschafft, da kann man machen, was man will.“

„Das stimmt“. Nickte Kenshin.
 

“Und was ist mit dir?”

„Ich?“ Kenshin war diese Frage sichtlich unangenehm.

„Ja. Du kannst doch nicht vorhaben, dein ganzes Leben mit Herumwandern zu verbringen, oder?“

Kenshin seufzte tief. „Wahrscheinlich schon.“

„Bitte? Keiner will für immer wandern!“

Kenshin blieb stehen. „Für jemanden wie mich gibt es keine andere Wahl.“ Sagte er mit kaum hörbarer Stimme. „Was ich will steht nicht zur Debatte.“

“Aber du bist doch ein Held und alles!”

Kenshins Augen blitzten plötzlich hell auf. „Held?“ zischte er. Seine seltsam glühenden Augen fixierten die von Baiko. „Ich war ein Attentäter.“ Er spuckte das letzte Wort so verachtungsvoll aus, das es Baiko verstörte.
 

“Aber… wenn du nicht gewesen wärst,” begann Baiko, nachdem er wieder Worte finden konnte, „wäre die neue Ära nicht zustande gekommen. Ich meine, das sagt doch jeder. Außerdem gibt es auf der Welt keinen Soldaten, der noch nie jemanden getötet hat!“
 

„Aber ich habe kaltblütig getötet, nicht in der Schlacht.” Kenshins eisige Stimme ließ es Baiko kalt den Rücken herunter laufen. „Hunderte Männer haben ihr Leben an mein Schwert verloren. Nicht nur Soldaten, sondern auch Männer, deren einzigstes Verbrechen es war, das Shogunat zu unterstützen.“
 

“Aber der Krieg ist vorbei! Die Ishin Shishi haben gewonnen.“ Konterte Baiko.

„Aber der Wunsch nach Rache hört nie auf.“ entgegnete Kenshin. „Drei Jahre wandere ich jetzt durch Japan. Weißt du, was passiert, wenn jemand sich mit mir einlässt? Diejenigen, die Rache an mir üben wollen, töten sie, in der Hoffnung, dadurch auch mich zu erreichen.“

In Anblick von Baikos geschocktem Gesicht fügte er hinzu: „Es ist mehr als einmal passiert. Erinnerst du dich, als Daiskuke mir die Arbeit hier anbat und ich gezögert hab, dass es gefährlich sein könnte, wenn ich bei ihnen bliebe? Genau deswegen – weil ich Angst hatte, das ich durch meine Anwesenheit alle gefährde. Nein, ich werde nie eine Frau oder eine Familie haben können. Mein Schicksal war schon entschieden, als ich ein Junge war und meine Dienste Choshuu angeboten habe. Keiner kann die Vergangenheit jetzt noch rückgängig machen.“
 

Erinnerungen an den Albtraum kamen zurück, ausgelöst von dem Lachen der Kinder, das jetzt aus dem Lager zu hören war. Eine Welle von unbeschreiblicher Traurigkeit erfasste ihn, als er die Kinder da so spielen sah, zusammen mit ihren Eltern. Er war kurz in den Genuss eines solchen Lebens gekommen. Schnell versuchte er, diese Gedanken wieder zu verdrängen, doch Baiko hatte den Schmerz in seinem Gesicht wahrgenommen. Baiko konnte sich nicht vorstellen, wie jemand ein so hoffnungsloses Leben führen konnte...
 

“Rurouni.” Meinte er. “Vielleicht ändert sich ja dein Leben, wer weiß?“

Kenshin schenkte ihm ein leeres Lächeln. „Nette Idee.“
 

Als sie die Eimer zum Lager gebracht hatten, erinnerte sich Kenshin an den grünen Gi, den ihm Mayako geschenkt hatte. Besser, er zog ihn schnell an. Nicht, das ihn sein Aussehen besonders interessieren würde, aber dieser gelbliche Gi gefiel ihm wirklich nicht. Er beschloss, dass, wenn ihm der grüne gefiel, er den gelben verbrennen würde und so die Welt davor bewahrte, seine Hässlichkeit noch einmal zu sehen.
 

Natürlich war ihm der grüne Gi zu groß. Die Ärmel hingen über seine Hände. Aber er fühlte sich trotzdem wundervoll an, da die Wolle, im Vergleich zu seinem alten, rauen Gi sehr weich war. Schnell band er die zu langen Ärmel mit einer Kordel nach hinten und ging mit den Wassereimern zum Lagerfeuer.
 

Die Frauen begannen, das Frühstück vorzubereiten. Sie kochten Nudeln und Fisch. Ikuko nickte bestätigend, als sie Kenshin in seinem neuen grünen Gi sah.

„Ah, du hast also Mayakos Friedensangebot akzeptiert?“ sagte sie.

„Oh. Ja.“ Kenshin sah an sich hinunter und befingerte das Material. “Es ist eigentlich zu schade für jemanden wie mich.” Sagte er. „Ich bin sehr dankbar.“

“Nun..” bemerkte Ikuko mit einem verschlagenen Lächeln, “Wenn man es so sieht, dann hast du Glück. Du kannst den Gi unter deinem Kostüm tragen und musst dich nicht mehr vor mir umziehen!“
 

Sie lachte laut, als sie Kenshins rot werdendes Gesicht sah. „Himura-san, du bist wirklich ungewöhnlich. Ich mag dich.“ Lachte sie und er wurde noch röter. Sie tätschelte seine Hand und merkte, wie er sich abermals unter ihrer Berührung anspannte. „Eigentlich..“ fügte sie hinzu, „..bin ich überrascht, das dich noch kein nettes Mädchen abgeschleppt hat.“
 

Kenshins Augen weiteten sich und er wurde plötzlich sehr still.

„Hab ich was Falsches gesagt?“ wunderte sich Ikuko über diese unerwartete Reaktion.

Es folgte eine lange Stille.

„Nein, Ikuko-dono.“ Antwortete Kenshin schließlich. „Ihr habt nichts falsches gesagt. Ich hab nur schlecht geträumt heute Nacht, das ist alles.“
 

Sorgenvoll beobachtete Ikuko Kenshin. Was für einen Traum er gehabt haben musste, dass ihn plötzlich so eine Aura von Traurigkeit umgab... Schon wieder ein neues Rätsel um diesen Wanderer.
 

„Nun,“ meinte sie, „Nach dem Frühstück werde ich dir beibringen, wie sich eine Frau zu bewegen hat. Das wird deine schlechten Träume hoffentlich verdrängen.“

Da – ein kleines Lächeln in seinem Gesicht!
 

Als das Frühstück fertig war, setzten sie sich rund um das Feuer, Kenshin neben Baiko. Dieser stupste ihn an. „Ich hab gehört, die Männer üben heute ihren Schwertkampf , gleich nach dem Frühstück. Sowas hast du noch nicht gesehen!“

„Schwertkampf?“ fragte Kenshin. „Was für eine Art Kata machen denn Kabuki-Schauspieler?“

Baiko kicherte. „Willst du wissen, warum diese Leute in einem echten Kampf total nutzlos wären? Dann musst du heute zuschauen, mehr kann ich dir nicht sagen.“
 

Kenshins Neugier war geweckt, und er freute sich, dass Daisuke alle drängte, schnell zu Frühstücken. Kaum waren sie fertig, eilten die Männer zum Wagen und holten aus ihm die Kiste mit den Waffen, die Kenshin bei seiner ersten Begegnung mit der Theatergruppe so beunruhigt hatte. In ihr fanden sich die verziertesten Schwerter, die Kenshin je gesehen hatte. Die Griffe waren voll mit Silber und Gold, an den Scheiden waren viele Edelsteine und Ornamente in Drachenform. Baiko drängte ihn, eines der Schwerter zu ziehen. Kenshin erwartete wegen des reichen Schmucks ein Schwert von allerfeinster Qualität, aber statt dessen sah er nur ein Stück billiges Metall. Auch war es schief und krumm, nicht in der Hand ausbalancierbar. Also total nutzlos. Fragend blickte er Baiko an.
 

„Alles Attrappen.“ Erklärte er Kenshin. “Sie spielen Kaiser und Shogune oder berühmte Samurai, deswegen sind die Schwerter so verziert. Aber es sind Attrappen, genau wie ihr Schwertkampf.“
 

„Ein falscher Schwertkampf?“

„Schau zu!“ sagte Baiko.
 

Die Männer und auch die ältesten Söhne nahmen ihre Schwerter zur Hand und stellten sich in einer Linie auf, mit Daisuke ganz vorne. Kenshin sah, wie sie ihre ersten Schwünge begannen, die sich nicht großartig von einem normalen Kata irgendeiner Kenjutsu-Schule unterschieden. Als sie die Defensiv- und Offensiv-Übungen begannen, sah er jedoch, was Baiko gemeint hatte. Wie oft hatte Hiko ihn angebrüllt, als er angefangen hatte, Kenjutsu zu lernen: Die Schläge immer mit gleichem Schwung ganz ausführen. Doch was machten diese Männer? Sie stoppten mitten im Schlag. Es war, wie wenn sie Angst hätten, über einen gewissen Punkt hinaus zu schlagen und ihren Angreifer zu treffen. Was würde das Ganze in einem Schwertkampf nützen, fragte Kenshin sich. Dann endlich begriff er – künstliche Schwerter, künstlicher Schwertkampf. Natürlich. Sie brauchen die Kunst des Schwertkampfes nur auf der Bühne, aber logischerweise wollten sie keinen verletzten, geschweige denn, sich töten.
 

Jetzt befahl Daisuke den Männern, sich paarweise aufzustellen. Und wirklich: die Männer kämpften, und ihre Schwerter stoppten immer genau in der Mitte, so dass es aussah, als wäre der Kampf echt, sie sich aber niemals gegenseitig treffen oder verletzen würden. Diese Übungen beeindruckten Kenshin. Aber Baiko hatte recht – wie viel auch immer von echtem Kenjutsu in diesen Übungen stecken mochte, in einem echten Kampf hätten sie keine Chance. Dennoch machte das Zuschauen Spaß und es ärgerte ihn ein bisschen, als Ikuko ihn abholte.
 

Doch jetzt musste er sich ganz auf sich selbst konzentrieren. Das Erlebnis mit dem Spiegel war schon so schockierend – wie würde es sein, wenn er jetzt auch noch lernte, sich wie eine Frau zu bewegen?

„Hast du schon mal beobachtet, wie eine Frau läuft?“ fragte ihn Ikuko, während sie auf den Wagen zugingen.

„Gibt es da Unterschiede?“ fragte Kenshin unschuldig.

Ikuko lachte. „Unterschiede? Himmel, Ja! Ich denke nicht, dass es einen lebenden Mann gibt, der nicht einer gutaussehenden Frau hinterher schaut. Das machen wir, um den Männern zu imponieren: Unsere Hüften schwingen, kleine zierliche Schritte, die Art, wie wir schüchtern unsere Augen senken...“
 

Kenshin beobachtete Ikuko, die ihre Gangart von einer fünfzigjährigen Mutter in die einer jungen, koketten Dame verwandelte.

„Nie vorher bemerkt?“ fragte sie, während sie ein flirtendes Mädchen imitierte, das über den Rand ihres Fächers zwinkerte.
 

Kenshin wurde rot. „Hm.. na ja...“ stotterte er. Natürlich hatte er Mädchen bemerkt. Er war ja immerhin mal mit einem verheiratet gewesen. „Es ist nur, Sessha starrt ihnen nicht so direkt hinterher,“ schaffte er es endlich zu sagen. Er hatte das Gefühl, das Ikuko Freude an seiner Beschämtheit hatte.

„Tja, dann ist es wohl an der Zeit, das du ein bisschen Starren lernst.“ Meinte sie belustigt.
 

Sie kramte in einem der Koffer aus dem Wagen und fand ein Paar hoher Geta-Sandalen, die sie Kenshin in die Hand drückte. Er zog sie über und versuchte zu laufen – sofort stolperte er und fiel hin. Auch ein erneuter Versuch endete schon nach wenigen Schritten. Das Problem war, dass er selbst Geta nie benutzt hatte, geschweige denn die hohen Geta einer Frau. Diese Holzsandalen waren teurer als seine normalen Zori und ihre harte, hölzerne Konstruktion denkbar ungeeignet für einen Schwertkämpfer, der oftmals schnell rennen musste. Deswegen hatte er nie so etwas besessen. Als er nach einem erneuten Versuch aufstand, hörte er Ryosukes Sohn Saburo hinter seinem Rücken über ihn kichern. Bunjiro verpasste ihm eine Kopfnuss und knurrte: „Halt die Klappe. Er hat Byako gestern gerettet, vergiss das nicht!“. Toll, dachte Kenshin, jetzt lachen schon Kinder über mich.
 

Ikuko begann, in ihren eigenen hohen Geta vor ihm her zu laufen und Kenshin beobachtete sie angestrengt. Er war vorher nie auf die Idee gekommen, den Gang einer Frau zu analysieren. Hiko hatte ihm zwar beigebracht, jede Bewegung eines Feindes zu bemerken, aber natürlich waren das alles Männer. Jetzt sah er, wie verschieden sich Ikuko bewegte. Anstatt wie ein Mann mit großen Schritten zu schreiten, machte sie kleine Schritte. Er versuchte es nachzuahmen, konzentriert, nicht wieder hinzufallen. Ikuko kam an seine Seite und lief neben ihm her. Er versuchte vorsichtig, seine Schrittart ihrer anzupassen und es gelang ihm, auf den Beinen zu bleiben. Wenn Ikuko anhielt, hielt auch er an. Wenn sie sich umwandte, wandte auch er sich um. Wenn sie sich verbeugte, verbeugte auch er sich – und fiel sofort um.
 

„Nein, Himura-san,“ lachte sie. “Du musst die Füße am Boden lassen und deine Beine nicht zu weit auseinander stellen. Immer schön sittsam...“
 

Sittsam?...
 

Nach einer halben Stunde hatte Kenshin langsam den Dreh heraus. Er folgte Ikuko einmal um das Lager herum wie ein Phantomime, kopierte alle ihre Bewegungen und Gesten. Er erkannte, wie sie diese Eleganz ihrer Bewegungen erreichte. Es war die Leichtigkeit ihrer Bewegung, die so verschieden war von den kraftvollen Bewegungen, die man als Krieger antrainiert bekam. Einige ihrer Bewegungen erinnerten ihn an eine gewisse Frau – diejenige, die es vor so langer Zeit geschafft hatte, ihn vor dem Rand des Wahnsinns zu bewahren. Warum musste ihn alles immer an Tomoe erinnern?
 

„Himura-san?“ fragte Ikuko mit besorgtem Gesicht.

„Oh! Verzeihung!“ antwortete er mit einem unbeholfenen Lächeln. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er stehen geblieben war und in die Leere gestarrt hatte.
 

“Naja, vielleicht reicht es auch für heute. Ich denke, du hast die Grundbewegungen langsam heraus, zumindest für das Stück, das Ryosuke herausgesucht hat. Es ist ein gutes Stück und wird dir bestimmt gefallen.“
 

Es war eine Erlösung, diese unbequemen Geta auszuziehen und in seine vertrauten Sandalen zu schlüpfen. Er fühlte sich fast an, als ob er auf Luft laufen würde. Hatte nicht Ryosuke so etwas in der Art gesagt – dass Laufen in Geta ihm mehr Annerkennung für die Frauen beibringen würde? Wie hatte er recht gehabt!
 

Ikuko schickte Kenshin jetzt zu Ryosuke, der an einem Tisch, der über und über mit Papierrollen bedeckt war, saß.

“Oh, Himura-san. Genau dich hab ich gesucht.“ Trällerte er ihm fröhlich entgegen. Er hielt ihm eines der Papiere hin. „Kannst du lesen? Ich hoffe es, weil das ist dein Text.”

Kenshin nahm das Papier und überflog schnell, was da geschrieben stand. „Ja ich kann lesen, aber trotzdem – was ist das?“

„Es ist unser Stück. Ich musste es etwas umschreiben, weil du ja nicht sprichst und das die anderen Schauspieler für dich übernehmen müssen. Das Stück heißt: Dämon heraus, Glück herein. Du weißt schon, das, wo die Witwe den Dämon verjagt, in dem sie ihn mit Sojabohnen bewirft – sehr beliebtes Stück zur Setsuban-Zeit.
 

„Aber es ist nicht Setsuban-Zeit.“ bemerkte Kenshin.

„Ich weiß, aber genau dieses Stück wurde von unserem Gönner in Miyazaki gewünscht.“
 

Kenshin laß schnell seinen Text zu Ende und meinte: „Aber hier steht etwas von sich gegenseitig mit Dingen bewerfen...“

“Ach, das tut nicht weh – wirst du sehen.” Sagte Ryosuke. Er begann, mit Kenshin die stilisierten Bewegungsabläufte des Kabuki zu üben und Kenshin versuchte, ihm alles nach zu machen. Er fühlte sich erst total lächerlich, aber je mehr er übte, desto mehr entdeckte er einen gewissen Rhythmus in den Bewegungen. In Wahrheit fiel es ihm sogar leicht, bis auf eine Sache.
 

„Zu Angespannt, Himura-san, zu angespannt!“ rief Ryosuke verzweifelt zum vielleicht hundertsten Mal in dieser Stunde. „Es ist eine Komödie, kein Militärmarsch! Du tanzt, wie wenn du aus Holz wärst.“ Und Kenshin entschuldigte sich zum vielleicht hundertsten Mal in dieser Stunde für seine Unfähigkeit, lockerer zu werden.
 

Als sie endlich bei der letzten Szene angelangt waren, erklärte Ryosuke genau, wie der Höhepunkt des Stückes, in dem das Bewerfen mit den Bohnen stattfinden sollte, auszusehen hatte. „Die Witwe hat Angst, aber sie erinnert sich, dass sie mal einen wandernden Exorzisten gesehen hat, der einen Dämon mit Bohnen ausgetrieben hat. Also wirft sie die Bohnen nach dem Dämon. Meinst du, du kriegst das hin?“
 

Kenshin nickte und nahm eine Handvoll Bohnen, während Ryosuke eine erschreckte Frau imitierte, die Bohnen warf. „So. Jetzt versuch du es und bewirf mich von da drüben aus.“
 

Kenshin tat, wie ihm befohlen und drehte sich um, um etwas Abstand zwischen sich und Ryosuke für die Bohnen-Werf-Szene zu bringen. Doch kaum hatte er Ryosuke den Rücken zugedreht, hörte er ein zischendes Geräusch, als ob etwas auf ihn zufliegen würde. Ohne überhaupt nachzudenken, schoss er herum und – schneller als mit dem Auge zu sehen – fing er das, was auf ihn zuflog, mit der Hand. Es waren drei Sojabohnen. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, das es nur ein Scherz von Ryosuke, der jetzt mit offenem Mund Kenshin anstarrte, sein sollte.
 

“Oh, Ryosuke-san, gomen nasai!” beeilte sich Kenshin zu sagen. „Ich...ich hab nur etwas auf mich zufliegen gehört... es war Instinkt...“ Gedanklich verpasste er sich eine Ohrfeige, weil er sich so von seinen Reflexen hatte leiten lassen.
 

Ryosuke schüttelte die Überraschung langsam ab, versuchte aber immer noch, zu verstehen, was er gerade gesehen hatte. Wie konnte dieser Rurouni so schnell reagieren? Er hatte ihm doch den Rücken zugewandt, woher wusste er dann, das die Bohnen auf ihn zuflogen – geschweige denn, wie konnte er sie so schnell fangen?
 

„Wie hast du das gemacht?“ rief er verwundert aus. „Das ist zweifellos einer der besten Tricks, die ich je gesehen habe. Das Publikum wird dich dafür lieben!“
 

Publikum? Trick? Worüber redet dieser Mann! „Ich hab das von meinem Shishou gelernt...“ antwortete Kenshin verwirrt. Ryosuke ging zu ihm herüber und nahm ihm die Bohnen ab. „Hör zu, Rurouni.“ Sagte er. „Du bist angespannter wie ein Schraubstock. Du musst lockerer werden. Dieser Kampf mit den Bohnen – das ist doch alles Spaß. Es soll lustig sein. Ich bewerfe dich, du wirfst zurück, wir lachen alle und so weiter. Du hast schnell gelernt, wie du die Rolle der Witwe in dem Stück spielen sollst, aber das leichteste – den Humor – kannst du nicht so ganz rüber bringen. Stell dir vor, es ist, wie wenn du ein Kind bist, und Streiche spielst... Deinem Bruder einen Frosch in den Futon setzt oder so was. Hast du so was in deiner Kindheit nicht gemacht?
 

Kenshins Augen wurden unergründlich – selbst Ryosuke erkannte, wie der Rurouni plötzlich eine unsichtbare Mauer um sich und seine Gedanken errichtete. „Sessha hatte nicht wirklich eine Kindheit.“ Sagte Kenshin ausdruckslos. „Obwohl...“ seine Stimme wurde etwas weicher, wie auch seine Augen. „Ich habe mal den Lendenschurz meines Meisters mit Wurzelsaft beschmiert – er konnte eine Woche nicht mehr richtig laufen, weil das Zeug so gebrannt hat... und einmal hab ich ihm Wasabi-puder in seinen Sake gemischt...“
 

„Das ist es. Diese Einstellung brauchst du auch hier!“ rief Ryosuke aus. „Ich hab die Idee. Ich werde den Lausbuben in dir herauskitzeln, ob es dir passt oder nicht. Daher hast du folgenden Auftrag: Du musst heute noch jemandem aus der Familie einen Streich spielen. Dann wirst du dich wieder daran erinnert, was es für ein Gefühl ist, schadenfroh zu sein. Dann wirst du in der richtigen Stimmung für das Stück sein!“
 

„Jemandem aus der Familie?“ schluckte Kenshin. „Das kann ich nicht tun... sie sind doch alle freundlich zu mir.“

„Nicht jeder.“ Betonte Ryosuke. “Zum Beispiel gibt es da meinen ältesten Bruder – Orinosuke.”
 

„Was?! Aber der hasst mich doch sowieso schon!“

“Aber er wird nie herausfinden, wer ihm den Streich gespielt hat, wenn du es richtig anstellst,” meine Ryosuke verschwörerisch lächelnd. „Immerhin weiß er immer noch nicht, wer ihm damals den Frosch in den Futon gesetzt hat, und das ist schon sechs Jahre her...“

„Aber... aber...“
 

In dem Moment kam Bunjiro zu ihnen herüber, um sie zum Mittagessen zu rufen.

„Kein Aber, Himura-san.“ Sagte Ryosuke, während sie zum Lager gingen. „Nach dem Mittagessen trainieren ich und mein ältester Bruder eine Schwertkampfszene. Danach holen wir Ennosuke vom Doktor ab. Also genug Zeit, dir etwas Gutes einfallen zu lassen. Abends dann haben wir Gesamtprobe von dem Stück, bis dahin musst du also in der richtigen Stimmung sein. Bis später!“ Damit ließ er Kenshin stehen, der sich fragte, was er jetzt anstellen sollte.
 

Nach dem Essen setzte er sich an einen Baum gelehnt hin und grübelte über das Stück und über den lächerlichen Auftrag von Ryosuke nach. Baiko stand etwas abseits und beobachtete ihn, wie er Grimassen und Armbewegungen übte. Er fand das alles sehr lustig. „Hey, Fräulein, alles in Ordnung?“ scherzte er, als er zu ihm herüber ging.

Kenshin funkelte ihn böse an.

“Ach komm, nur ein Scherz.” Sagte Baiko.

Kenshin seufzte. “Kein Scherz, Baiko-san.“ Mit leidendem Gesichtsausdruck sprach er weiter. „Ryosuke-san hat mich beauftragt, meinen Humor wieder zu finden und deswegen soll ich jemandem hier einen Streich spielen. Und zwar Orinosuke-san. Das ist wirklich keine gute Idee - der Mann hasst mich – aber ich konnte ihn nicht davon überzeugen.“
 

Baiko rieb sich die Bartstoppeln. „Einen Streich, eh?... Hört sich lustig an, Rurouni. Schon Ideen?“

„Ich dachte eigentlich, dass du mir hilft, Ryosuke von dieser Schnapsidee abzubringen..“

„Schnapsidee? Das ist eine großartige Idee!“ lachte Baiko. „Also, was hast du vor? Dornen für seinen Zeh? Oder Würmer in seinem Tee?“
 

Kenshin lächelte über die Vorschläge – er hatte all diese Streiche schon vor Jahren bei Hiko ausprobiert. Doch langsam kam sein Gehirn in Schwung. Er musste sich jetzt etwas Lustiges ausdenken, aber es durfte nicht zu offensichtlich sein. Etwas außergewöhnliches, aber nicht zu brutal, und wichtig: Es durfte nicht zu ihm zurück führen. Sein Lächeln weitete sich.
 

“Eine Ginko-Beere an der Sohle seiner Sandalen – das mach ich!” erklärte er schließlich.

„Ginko? Was passiert dann?“ fragte Baiko

„Noch nie bemerkt, was passiert, wenn du auf so eine Beere trittst?“ erklärte Kenshin. „Es stinkt wie Hundescheiße. Heute Morgen im Wäldchen bei meinem Training hab ich welche gerochen.“
 

Schnell stand er auf und ging zu dem Platz, den er in Erinnerung hatte, mit Baiko auf den Fersen. Kaum hatten sie die Sträucher gefunden, umgab sie auch schon der eklige Gestank. Baiko hielt sich die Nase zu, während Kenshin aufgeregt flüsterte: „Da! Ginko-Beeren!“
 

Vorsichtig pflückte er eine und wickelte sie in ein paar Blätter. Dann brach er noch einen kleinen Ast, an dem Harz heruntertropfte, ab. So bewaffnet gingen sie ins Lager zurück und warteten auf eine günstige Gelegenheit.
 

Lang mussten sie nicht warten. Keine zehn Minuten später sahen sie, wie Orinosuke und sein Vater zum Wagen gingen, um sich für die Schwertkampf-Probe umzuziehen. Die Männer holten sich ihre Schwerter und schlüpften aus ihren Sandalen, um sich lederne Kostümstiefel anzuziehen. Dann gingen sie auf der Suche nach einem freien Platz für ihr Training. Kenshin tastete mit seinen Blicken das Lager ab. Noriko war in ihrem Zelt, zusammen mit Ikuko und Nomi, die ein Nickerchen hielt. Mei war mit ihren zwei Kindern am Fluss, um Wäsche zu waschen. Mayako war mit ihren zwei Söhnen im Zelt und übte Kalligraphie. Es würde also keine Zeugen geben.
 

Jetzt schlich Kenshin lautlos wie eine Katze zum Wagen und schnappte sich Orinosuke’s Sandalen. Denn schlüpfte er unbeobachtet hinter den Wagen und schmierte das Harz des Astes auf die Unterseite der Zori – die Ginko-Beere blieb perfekt daran kleben. Schnell stellte er die Sandalen wieder an ihren Platz und eilte an den Rand des Lagers zurück. Dort fand er seinen zerstörten braunen Gi und das Nähzeug und damit setzte er sich ganz unschuldig an einen Baum und wartete.
 

Die Männer trainierten fast eine Stunden lang, bevor sie zum Wagen zurückkamen, aber das war in Ordnung – Kenshin hatte viel Erfahrung mit geduldigem Warten. Sie legten ihre Schwerter beiseite und zogen ihre Stiefel aus. Dann nahmen sie ihre Sandalen und gingen davon. Orinosuke kam nur wenige Schritte weit, bevor er stehen blieb und schnüffelte. Er ging noch zwei weitere Schritte und schnüffelte wieder. Dann beugte er sich herunter und schaute unter die Sohlen seiner Zori.

Eine Ginko Beere! Sein Gesicht verfinsterte sich, als er realisierte, dass er gerade Opfer eines Streiches geworden war.
 

“Bunjiro! Komm sofort her!” schrie er wütend nach seinem ältesten Sohn. Kaum hatte der Junge seinen Kopf aus dem Zelt gesteckt, als ihn Orinosuke anbrüllte: „Du hast mir eine Ginkobeere unter meine Sandalen geklebt, oder nicht? Ich leg dich übers Knie!“
 

Mayako schoss aus dem Zelt heraus. „Was redest du da? Die Jungs haben mit mir die letzten Stunden Kalligraphie geübt.“
 

Orinosuke wandte sich ab und wollte nach den Kindern von Ryosuke rufen, sah aber dann, das sie am Fluss mit ihrer Mutter beschäftig waren. Er sah zu Baiko, der unwissend mit den Schultern zuckte. Der Rurouni schien sehr damit beschäftigt zu sein, seinen Gi zu nähen. Orinosuke funkelte zu Daisuke und Ryosuke, die jetzt beide fast schon hysterisch über die ganze Situation lachten. Mit einem wütenden Grummeln riss sich Orinosuke die Sandalen von den Füßen und zog die Kostümstiefel wieder an, bevor er zum Fluß stapfte um dort die stinkenden Dinger loszuwerden. Kaum war er außer Hörweite, stimmten Kenshin und Baiko in das Gelächter mit ein.

Ryosuke ging zu ihnen und lobte: „Gute Arbeit, Rurouni!“
 

Kenshin fand es überaus seltsam, sein eigenes Lachen zu hören. Es dauerte einige Minuten, bis er sein Lachen wieder unter Kontrolle hatte, aber danach fühlte er sich wie ein anderer Mensch. Alles schien irgendwie leichter, heller – die Luft, die Leute, er selbst. Es dämmerte ihm plötzlich, dass er sich gar nicht mehr erinnern konnte, wann er das letzte Mal so ausgelassen und frei gelacht hatte. In Wahrheit war er sich sicher, dass es schon vor Jahren gewesen sein musste, als er noch bei Hiko trainiert hatte.

Er fühlte es auf seiner Haut kribbeln, wie als ob ihn warme Sonnenstrahlen kitzeln würden. Ein gutes Gefühl.
 

--
 


 

Japanische Wörter:

Ki: ‘aura.’

Yakuzas: Gängsterbande

Kata: Die vorgeschriebenen Trainingsbewegungen einer Kampfkunst

Kenjutsu: Kampfkunst

Shishou: Meister einer Schwertkampfkunst

Toba Fushimi: Entscheidende Schlacht im Januar 1868, die den Untergang des Shogunats mit sich brachte.

Setsuban-Zeit: Fest während der Tag und Nacht-Gleiche im Frühling. Traditionell werden Dämonen und Unglück aus den Häusern vertrieben um Glück für das neue Jahr hereinzulassen. .

Wasabi: scharfe, japanische Rettichpaste

Zori: japanische Sandalen
 

Author’s Note: Warum denkt Kenshin bei mir so viel über Tomoe nach? Ich denke, weil er nach ihrem Tod niemals die Gelegenheit dazu hatte. Er wurde ja sofort wieder in den Horror der Bakumatsu-Zeit hineingeworfen. Danach musste er erst einmal seine Taten verarbeiten. Ich kann mir schon vorstellen, das es drei Jahre dauert, ehe er seine Trauer, wenn auch nur kurz, vergessen kann und, wenn auch nur kurz, von Herzen lachen kann.
 

Nächstes Kapitel: Kenshin muss lernen, was es für Gefahren mit sich bringt, eine Frau zu sein. Außerdem mehren sich die Verdächtigungen über seine Vergangenheit .



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