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Pirates of the Caribbean

Freedom of the Seven Seas
von

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Die Gefangene

„He! He, du, hörst du mich?“

Die junge Frau verharrte regungslos, konnte oder wollte ihn nicht hören.

Der Junge fuhr sich mit den Zungenspitzen über die Lippen.

„Die Leute sagen, du bist eine Sklavin, die versucht hat, ihren Herrn zu erstechen. Ist das wahr?“

Ein Schatten regte sich hinter bernsteinfarbenen Augen, ein Anflug von Stolz zeigte sich.

„Er hat bekommen, was er verdient hat.“

„Hm.“

Ihr Nachbar lehnte sich zurück und streckte sich auf dem Boden des Kerkers aus.

„Und warum hat er das?“

„Er hat meine Schwester vergewaltigt und sie hat sich das Leben genommen.“

„Hm, soso...“

Verträumt zupfte er an seinen Haarspitzen herum.

„Wie ist dein Name, hübsche Jungfrau?“

Nun hob sie doch den Kopf und sah ihn an.

Sie war tatsächlich bildhübsch; obwohl ihr Gesicht nach Wochen im Kerker die Spuren von Schlägen, Dreck und Hunger aufwies, konnte sie mit jedem hellhäutigen Mädchen mithalten.

Barfuß, gekleidet in eine Leinenhose und ein Leinenhemd, die beide Löcher und Risse aufwiesen, konnte sie langes, schwarzes Haar und wunderschöne, goldfarbene Augen vorweisen, die sicherlich das Herz eines jeden Mannes entflammt hätten – bis er feststellte, dass ihre Hände und Füße in eisernen Fesseln steckten und sie ein Sklavenbrandmal auf der Schulter trug.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die aufgerissenen Lippen.

„Anamaria.“, antwortete sie vorsichtig.

Der junge Mann grinste leicht und salutierte spöttisch.

„Anamaria, aye? Und weißt du auch, wer ich bin?“

Sie zog die Augenbrauen hoch und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.

Kurze, vielleicht schulterlange braune Haare, die nach allen Seiten abstanden, und in die ab und an Perlen und Muscheln eingeflochten war, ein rotes Kopftuch, das ihm die Haare aus dem Gesicht hielt.

Am Kinn etwas, das wohl mal ein Bart werden wollte.

Mit viel Liebe.

In zwanzig Jahren vielleicht.

Dunkle, unergründliche Augen, wie die See kurz vor dem Sturm (derselbe Sturm vermutlich, der sich über seine Haare hergemacht hatte).

Schlank und drahtig, die Kleidung ebenso zerschlissen wie die ihre, doch im Gegensatz zu ihr trug er Hemd, Hose und Stiefel, außerdem eine arg mitgenommene Uniformjacke der Handelsmarine.

Anamaria schätzte ihn auf vielleicht zweiundzwanzig, im besten Fall fünfundzwanzig Jahre.

Vielleicht aber auch erst neunzehn, sein Alter war schwer einzuschätzen.

„Ein Straßenjunge, der eine Marinejacke gestohlen hat?“

Empört stemmte er die Hände in die Hüften und sah sie an.

„Ich muss doch sehr bitten! Ich bin Captain Jack Sparrow.“

Anamaria sah ihn einen Augenblick lang verwirrt an, dann begann sie zu lachen.

„Captain? Du?“

„Ich.“, bekräftigte er, „Captain Jack Sparrow. Ich habe ein eigenes Schiff. Ich hatte, meine ich.“

„Ist es gesunken?“

„Nein, aber es war von der Handelsmarine, und ein Gentleman von der Trading Company hat es eingezogen, als sie mich verhaftet haben.“

„Und warum wurdest du verhaftet?“

„Weil ich...“ Er sah sie prüfend an. „Nun, weil ich die letzte Ladung auf Kuba abgesetzt haben, anstatt sie wie verlangt in Kingston beim Sklavenmarkt abzuliefern. Menschen sollten keine Ware sein.“

Er seufzte leise und nahm wieder die schimmelbewachsene Decke des Kerkers in Augenschein.

„Na ja, er meinte, wenn die Ladung nicht abgeliefert wird, ist sie gestohlen, und das wäre dann Piraterie.“

Er zuckte die Schultern.

„Wenn er das sagt...“

Anamaria erhob sich vorsichtig und kam zu seiner Seite des Gitters hinüber.

„Du hast die Sklaven, die du abliefern solltest, freigelassen? Einfach so?“

Er grinste und nickte leicht.

„Allein um Becketts Gesicht zu sehen war’s das wert.“

„Dafür werden sie dich hängen!“

„Ach, Unsinn. Mein Vater...“

Rasch sah er sich um, dann kam er etwas näher.

„Kennst du den Rat der Bruderschaft?“

Sie nickte leicht. „Die Piratenfürsten, meinst du? Ja. Auf der Plantage gab es eine Frau, die sie uns erzählt hat. Eine hübsche Legende.“

„Eine wahre Legende.“ Jack grinste erneut und zeigte dabei nicht weniger als zwei Goldzähne. „Mein Vater ist einer von ihnen. Er holt mich hier raus, früher oder später, und dann kann ich wieder auf sein Schiff zurück. Handelsmarine ist auf Dauer nicht das wahre. He, wir könnten zusammen abhauen und die Meere unsicher machen!“

Anamaria lächelte schwach.

„Ja, sicher. Spinner.“
 

Eine Gruppe Soldaten kam am späten Nachmittag vorbei und Anamaria bekam einen Schrecken, doch die bis an die Zähne bewaffneten Rekruten der East India Trading Company waren nicht auf dem Weg zu ihr, sondern zu ihrem Zellengenossen.

Ihr Anführer war ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann, dessen jugendliches Gesicht und perfekt sitzende weiße Perücke nicht über den grausamen Zug um seine Mundwinkel hinwegtäuschen konnte.

Anamaria schluckte.

Hierbei handelte es sich zweifellos um Cutler Beckett, den Bruder ihres früheren Herrn.

Doch dieser bemerkte sie nicht – oder ignorierte sie schlicht und ergreifend – und trat zu Jack hinüber, der ihn offensichtlich kannte und ans Gitter trat.

„Cutler! Seid Ihr hier, um mir das Kommando über mein Schiff zurückzugeben, aye?“

Der Angesprochene zuckte mit einer Augenbraue.

„Welcher Grund sollte mich zu einer derartigen Handlung veranlassen?“

„Hm... weil Ihr eingesehen habt, dass ich Recht hatte? Und Ihr Unrecht?“

„Ich wüsste nicht, in welchem Punkt ein Straßenkind aus Tortuga im Recht sein könnte.“, knurrte Beckett..

Bei dem Wort „Straßenkind“ zuckten Jacks Mundwinkel verärgert, doch er riss sich zusammen.

„Die Sklaven, Beckett. Es war richtig, sie freizulassen.“

„Laut der Abmachung wird die Ladung ausgeliefert, dann wird bezahlt. Verschwindet die Ladung unterwegs mit dem Wissen des Schiffskapitäns, so ist dies als Diebstahl und somit gemäß dem fünften Erlass Seiner Majestät George des I. als Akt der Piraterie zu werten.“

„Menschen sind keine Ladung.“, wiederholte der Junge trotzig, „Also liegt hier kein Verstoß vor.“

„Sklaven sind eine Ladung, deshalb ist es Piraterie, wie ich gerade erläutert habe, aber darauf kommen wir bei Eurer Hinrichtung zu sprechen, Sparrow.“

„Was, nicht einmal eine anständige Verhandlung?“

Beckett sah mit sichtlich angewidertem Blick an ihm auf und ab.

„Könnt Ihr Euch einen Anwalt leisten?“

„Ähm...“

„Wozu eine Verhandlung ohne Anwalt? Aber um meinen guten Willen zu beweisen – Ihr sollt eine Anhörung vor dem Richter bekommen, und damit die Gelegenheit, Eure Beweggründe ausführlich darzulegen. Aber das Ergebnis steht ohnehin schon fest.“

Er wandte sich zu einem der jüngeren Soldaten um, der hinter ihm Aufstellung genommen hatte.

„Master Norrington, sorgt dafür, dass unser Freund morgen früh vor dem Richter erscheint.“

Und mit diesen Worten machte er sich aus dem Staub.

Jack lehnte sich seufzend wieder gegen die Wand und summte leise vor sich hin.

Anamaria beobachtete ihn eine Weile stumm und lauschte auf den Text, doch er sagte ihr nichts.

„Was singst du da?“, fragte sie schließlich.

Jack öffnete die Augen wieder und sah sie einen Augenblick prüfend an, doch dann befand er sie augenscheinlich für würdig oder was auch immer, denn er antwortete: „Es ist ein Piratenlied, das mein Vater mir beigebracht hat, kaum dass ich sprechen konnte.“

Ach was.

„Und was besagt es? Das übliche Raufen, Trinken und Stehlen?“

„Nein!“

Jack kam wieder näher zum Gitter.

„Es ist nicht wie all die anderen Lieder. Dieses Lied ist etwas besonderes.“

„Kein Trinken?“

„Nein, herrgott! Hör zu. Es ist sehr wichtig, dass du den Text kennst, denn wenn ein Pirat in deiner Nähe es singt, dann ist es deine Pflicht, dass du einstimmst. Steht im Kodex, sagt mein Vater, und der muss es wissen, denn er kennt den ganzen Kodex auswendig. Es handelt davon, dass das Piratendasein selbst in große Gefahr gerät. Deshalb ist es auch verboten, das Lied einfach so zu singen, sondern nur, wenn du, oder jemand der dir nahe steht, wirklich in Schwierigkeiten mit der Marine steckt. Angeblich eilt dir dann Blackbeard, der ehrwürdigste aller Piraten selbst, zu Hilfe.“

„Und wenn er’s nicht mehr rechtzeitig schafft?“

„Dann rächt er deinen Tod.“

Stolz nahm Jack wieder auf der schmalen Holzpritsche an der Wand Platz.

„Soll ich dir den Text beibringen? Aber dann wirst du wohl oder übel Pirat werden müssen, denn nur Piraten dürfen es singen.“

Anamaria seufzte leise und zuckte die Schultern.

„Meinetwegen.“

Pirat

„Liza!“

Anamaria schrak aus dem Schlaf.

„Hey.“

Jemand hielt besorgt ihre Hand fest.

„Anamaria...“

Es war Jack, und er sah besorgt auf sie herab.

„Deine Schwester?“

Anamaria nickte leicht.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Derartige Alpträume verfolgten sie seit dem Tod ihrer Schwester.

Jack legte den Kopf schief und beobachtete, wie sie sich gegen das Gitter lehnte.

„War sie deine Zwillingsschwester?“

Anamaria schloss die Augen und nickte.

Jacks dunkle Augen ruhten auf ihr.

„Du kanntest Beckett, hm?“

„Ja.“, murmelte sie, „Er... er ist der Bruder meines Herrn. War, meine ich.“

Jack nickte leicht und zum ersten Mal stellte Anamaria fest, dass sie es bedauerte, dass er wahrscheinlich zum Tode verurteilt wurde.

„Ich kenne seinen Bruder. Kein sehr angenehmer Zeitgenosse. Warum hat’s nicht geklappt?“

„Ich weiß nicht... ich hätte ihm die Kehle durchschneiden sollen oder das Messer ins Herz rammen, aber im entscheidenden Moment, da...“

„Da hast du dieses Flackern in seinen Augen gesehen, nicht wahr? Dieses Wissen, dass er sterben würde, und dann hast du es nicht mehr fertig gebracht. Stimmt’s?“

Sie nickte leicht.

„Ja, das... muss seltsam klingen für jemanden wie dich...“

„Nein, eigentlich nicht.“, sagte Jack, „Ich versteh’, was du meinst. Jeder, der ein Gewissen hat, würde das tun. Mir ging es ähnlich.“

Rasch sah sie wieder auf.

„Du hast schon Menschen getötet?“

Jack verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Im Kampf, ja. Das erste Mal, als ich zwölf war... Ein Soldat, den mein Vater schwer verwundet hat. Er wäre ohnehin gestorben.“

„Zwölf...“, murmelte Anamaria, „Dein Vater muss ein skrupelloser Mann sein.“

Jack schüttelte jedoch den Kopf.

„Nein. Er will, dass ich früh lerne, meinen Platz unter dem Jolly Roger einzunehmen. Deshalb hat er mich auch zur Handelsmarine geschickt, damit ich ihre Taktiken lerne. Als Doppelagent, gewissermaßen.“

„Und warum willst du nicht bei der Handelsmarine bleiben? Ich meine, wenn es dir darum geht, auf See zu sein, dann...“

„Unsinn.“

Er zupfte an einer Münze herum, die in eine seiner Haarsträhnen eingeflochten war.

„Es ist doch etwas vollkommen anderes, ob man unter einer Piratenfahne segelt oder unter der Krone.“

„Ein Schiff ist ein Schiff, oder nicht?“

„Um Gottes Willen!“

Jack fuhr sich ein weiteres Mal durchs Haar.

„Bei der Handelsmarine segelt man von einem Hafen zum anderen, je nach dem, was man geladen hat, wo sich die besten Preise dafür erzielen lassen und was man an Bord nehmen muss, ganz zu schweigen davon, dass es spezielle Handelsrouten gibt, die abgefahren werden, und wenn man sich nur um zwei Wochen mit der Ankunft verspätet, gilt man entweder als Schmuggler oder als Taugenichts. Aber als Pirat ist man nur einem Menschen zur Treue verpflichtet, nämlich dir selbst – und dem Piratenfürsten, der dir Schiff und vielleicht auch Crew gegeben hat, solange du dir nicht beides selbst erarbeitet hast. Für diese Treue sichert man dir Proviant und gegebenenfalls Unterstützung zu, zumindest sollte er das, dem Kodex nach Aber es hält sich heutzutage ohnehin niemand mehr an den Kodex, also bist du frei, zu tun, was immer du willst.“

„Und du bist frei, gehängt zu werden.“

Lautlos war Beckett aus dem Schatten getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und fixierte Jack mit seinen obsidianfarbenen Augen auf einer Stelle.

Jack verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Was wollt Ihr, Cutler?“

„Ich war so frei, Eurem Gespräch zu lauschen, und ich muss sagen, es war sehr aufschlussreich.“

„So?“

Anamaria bemerkte eine Spur Nervosität, die in Jacks Stimme mitschwang, und stellte erneut fest, dass sie den jungen Piraten mehr oder weniger bemitleidete.

Beckett war niemand, den man sich zum Feind machen sollte.

„Ich muss allerdings zugeben, dass ich Captain Teach nicht für so leichtsinnig gehalten hätte, seinen eigenen Sohn zur Marine zu schicken. Ein geschickter Schachzug allerdings.“

Jack löste seine Hand langsam aus Anamarias und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie besagte immer noch festhielt.

„Mein Vater ist ein Ehrenmann.“, sagte Jack leise.

„Sind wir das nicht alle, auf unsere Art?“, schnurrte Beckett.

„Einige mehr, andere weniger.“, rutschte es Anamaria heraus.

Beckett ignorierte sie geflissentlich.

Jacks Blick flackerte zu ihr herüber. „Recht hat sie.“

Beckett hob die Augenbrauen.

„Seit wann hört ein Pirat auf das Wort einer Hure?“

„Eine bildhübsche.“, bekräftigte Jack, „Aber das tut nichts zur Sache. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.“

„Zweifellos.“

Beckett kam etwas näher zum Gitter.

„Bezüglich Eures Vaters würde ich mich gern noch etwas näher mit Euch unterhalten.“

Er winkte einem Soldaten, der hinter ihm gewartet hatte.

„Bringt Mr Sparrow in mein Quartier. Ich werde gleich nachkommen.”
 

Nervös beobachtete Anamaria die Tür.

Drei Stunden war es her, seit Jack von den Soldaten abgeführt worden war, und in dieser Zeit hatte Beckett ihm weiß Gott was antun können...

Die Tür wurde geöffnet und zwei Soldaten traten ein, beide ungefähr in Jacks Alter, vielleicht ein paar Jahre älter, der eine mit struppigem, feuerroten Haar und Bartansatz, der andere mit etwas längerem, braunen Haar, das er zu einem kurzen Zopf gebunden im Nacken trug und bernsteinfarbenen Augen, in denen ein stetiges, freundliches Lächeln zu liegen schien.

Dieser trat nun auch, nachdem er sich gründlich umgeschaut hatte, zu Anamaria hinüber.

„He, Mädchen, kennst du einen gewissen Jack Sparrow?“

Anamaria riss die Augen auf.

„Jack?“

„Aye, Jack. Kennst du ihn?“

„Ihr seid Soldaten, was soll die Frage?“

Der junge Mann verdrehte die Augen.

„Hör zu, Jackies Vater schickt uns, damit wir seinem Sprössling den Hals retten.“, kam der andere seiner Antwort zuvor.

„Was?“

Anamaria biss sich auf die Unterlippe.

„Ähm, Beckett hat ihn abführen lassen...“

Ohne einen weiteren Kommentar wurde eine doppelläufige Pistole auf ihren Kopf gerichtet.

„Wohin?“

„Hector!“, knurrte der andere, packte den Arm seines Kameraden und entwand ihm die Pistole, „Das hilft uns wirklich nicht weiter, und woher soll sie das wissen?“

„Dann geh und such Jack!“

„Ich dachte, wir bleiben zusammen!“

„In sein Quartier.“

Die beiden hielten inne und sahen sie verdutzt an.

„Und wie kommen wir dahin?“

„Ich kann euch hinführen...“

„Danke, wir finden unseren Weg allein.“, knurrte Hector, griff nach dem Arm seines Kollegen und zog ihn Richtung Tür, doch dieser löste sich von ihm.

„Aber wenn sie uns führt, sind wir schneller.“

„Ah, und wie willst du die Tür aufkriegen?“

Der junge Mann nahm kurz Maß, dann griff er nach einer Stange und hob die Tür ohne große Schwierigkeiten aus den Angeln.

„Türscharniere mit halbem Stift sind Standard in Marinegefängnissen, aber mit dem richtigen Hebel kann man sie herausheben.“

Hector knurrte unwillig.

„Könnten wir dann jetzt gehen, Master Turner, oder wollt Ihr Euren genialen Geist noch weiter zur Schau stellen?“

Turner hob eine Augenbraue, erwiderte jedoch nichts darauf, sondern wandte sich Anamaria zu.

„Also, Anamaria, dann geh vor und zeig uns den Weg. Mach dir keine Sorgen, du hast mein Wort, das Wort Bill Turners, dass dir niemand etwas antun wird.“

„Danke.“, seufzte sie und trat an den beiden vorbei auf den Gang.
 

„Ich darf Euch daran erinnern, dass es mir gestattet ist, jedwedes Mittel zur Befragung Gefangener anzuwenden.“

„Was Ihr nicht sagt.“

Jack biss die Zähne zusammen und presste eine Hand auf seinen Unterarm, kreidebleich im Gesicht.

„Ich will hoffen, das war Euch eine Warnung, Master Sparrow.“

„Captain.“

„Natürlich.“

Jack fuhr damit fort, seinen offensichtlich gebrochenen Arm abzutasten.

Beckett nahm sich vor, den dafür verantwortlichen Soldaten bei nächster Gelegenheit zu befördern.

Er erhob sich, betrachtete den Jungen prüfend und begann, langsam um ihn herumzugehen.

Jack folgte ihm nervös mit den Augen.

„Mercer, seid so gut und unterbindet einen weiteren Fluchtversuch.“

Mercer trat hinter Jack und drehte dem jungen Mann ohne weiteres die Arme auf den Rücken.

Jack verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Was erhofft Ihr Euch hiervon, Beckett?“

„Informationen, was denn sonst? Wenn Euer Vater einer der Piratenfürsten ist, werdet Ihr – oder besser, er – einige höchst wertvolle Informationen besitzen. Wir werden sehen, wie viel Ihr Eurem Vater wert seid.“

„Ihr seid ein Mistkerl, Beckett.“, beschloss Jack, „Mein Vater wird nicht auf Euch hereinfallen.“

„So?“

Beckett hockte sich vor den Kamin und stocherte mit einem Eisen darin herum.

Jack beäugte das misstrauisch, und Beckett erhob sich, das Eisen in der Hand.

„Mr Mercer, bitte sorgt dafür, dass nicht gleich jeder etwas davon mitbekommt, ja?“
 

„Kannst du mit einer Waffe umgehen?“

Anamaria schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin als Sklavin aufgewachsen…“

„Wird ja immer besser.“, knurrte Hector, doch Bill ignorierte das, zog einen Dolch unter seiner Jacke hervor und gab ihr diesen.

„Bleib in Deckung, und wenn ich’s dir sage, dann folgst du mir, verstanden?“

„Ich… wenn Jack oder jemand anderes verletzt ist, dann… ich meine, ich verstehe mich darauf, Verletzungen zu verarzten…“

Bill klopfte ihr auf die Schulter.

„Das werden wir wahrscheinlich gut gebrauchen können.“

Black Pearl

Anamaria kniff die Augen zusammen und hockte sich in einer dunklen Ecke hin, wie Bill es gesagt hatte.

Das also waren Jacks Piratenfreunde?

Nun, zumindest Bill schien sympathisch zu sein.

Und wenn Jack es ernst gemeint hatte, dann würde sie ihn begleiten… aber wollte sie das?

Zweifellos blieben ihr nicht viele andere Möglichkeiten, aber ihre bisher einzigen Erfahrungen mit einem Schiff bestand aus dem Sklaventransport von Montego Bay nach Kingston, Jamaika, und anschließend ins Gefängnis von Port Royal, und sie hegte nicht das Bedürfnis, derartiges in nächster Zeit zu wiederholen.

Rasch verdrängte sie die Gedanken daran, umfasste den Griff des Dolches, den Bill ihr gegeben hatte, fester und überlegte.

Ob die beiden Piraten nun Erfolg hatten oder nicht, sie befanden sich noch immer in einer Marinefestung voller Soldaten, es würde eines Wunders bedürfen, um sie alle hier mehr oder weniger unverletzt herauszubringen…

Eines Wunders?

Die Zeilen des Liedes kamen ihr wieder in den Sinn, die Jack ihr beigebracht hatte.

Wenn Jack tatsächlich der Sohn von Captain Blackbeard alias Edward Teach war, so würde doch dieser sicher bei der Rettung seines Sohnes helfen?

Verzweifelt versuchte sie, sich an die Melodie zu erinnern – Musik war nicht gerade ihre Stärke.

The king and his men stole the queen from her bed...

Sie räusperte sich, ihre Stimme schien seltsam belegt.

„…and bound her in her bones…

Mit jeder Zeile wurde ihre Stimme fester, und bald traf sie jeden Ton.

Yoho, haul together, hoist the colours high… hiev ho, thieves and baggers, never shall we die.

Die Wand ihr gegenüber explodierte in einer Feuerwolke.

Anamaria schrie auf und bedeckte rasch das Gesicht mit den Händen, als es Feuer und Staub auf sie herunter regnete.

Ein weiterer Kanonenschuss zertrümmerte die Wand einige Meter weiter, und als der Staub des ersten Einschlags sich legte, blieb Anamaria der Mund offen stehen.

Ein einzelnes Schiff lag in der Mitte der Bucht von Port Royal vor Anker, ein riesiger Dreimaster.

Makellose, pechschwarze Segel blähten sich im Wind, darüber tanzte der Jolly Roger und neben der Galionsfigur am Bug prangte der weithin sichtbare Schriftzug „Black Pearl“.

Die schwarze Perle Captain Teachs, zweifellos.

Sämtliche ihrer Zweifel über Jacks Geschichten waren wie weggeblasen.

„Mädel!“

Bill rüttelte ihre Schulter.

„Komm, wir müssen hier weg!“

Sie warf einen Blick zu Hector hinüber.

Er stützte Jack, der sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte – eine Tatsache, die Anamaria sofort Sorgen bereitete, denn so weit ihr das aus der Entfernung möglich war, konnte sie an ihm keine äußerlichen Verletzungen feststellen.

Schmerzen hatte er zweifellos, und er schien kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, aber was…

„Später!“

Bill packte ihren Arm und zog sie mit sich den Gang hinunter, vorbei an Soldaten, die in die Gegenrichtung strömten und ihnen keine Beachtung schenkten, und über den Innenhof, doch ihre überraschend leichte Flucht war am Tor zu Ende.

Hier trat ihnen eine weitere Gruppe Soldaten entgegen, etwa zwölf Mann stark, und diesen fiel auf, dass sie alle weder zum Personal noch zur Wachablösung gehörten.

„Keine Bewegung!“

Der Anführer trat auf Bill zu.

„Wer seid ihr und wohin wollt ihr?“

„Wir sind… wir wollten zu einem Wundarzt. Unser Freund wurde verletzt, als die Piraten…“

Er machte eine hilfreiche Geste zu Jack, der verstand und sich bemühte, wie ein verletzter Soldat auszusehen (was sich darin äußerte, dass er versuchte, so etwas wie Haltung anzunehmen und möglichst pflichtbewusst auszusehen).

Unglücklicherweise war Bill Turner für einen Piraten ein verdammt schlechter Lügner.

„Gefangene fliehen!“, keifte der Corporal, der sie angesprochen hatte.

Hector trat seelenruhig auf ihn zu, zog seine Pistole, richtete diese auf den Kopf des entsetzten Mannes und drückte ab.

Anamaria schlug sich eine Hand vor den Mund.

Bill seufzte leise, schüttelte schwach den Kopf, sah zu Hector und beide zogen ihr Schwert.

Jack stöhnte leise und stützte sich auf Anamarias Schulter ab.

„Zum Hafen.“, zischte er leise, „Schnell, während die Soldaten abgelenkt sind! Die beiden kommen schon zurecht, wir sammeln sie unterwegs ein…“

„Wir können doch nicht-“

„Wir können!“

So gut er konnte packte er ihre Schulter und schob sie in die Richtung des Festungstores.
 

Es platschte neben ihr und Bill zog sich auf die Reling des Schiffes hoch, dicht gefolgt von Hector, der prustete und Wasser spuckte.

Beide trieften vor Nässe, doch Bill lachte und zeigte dabei makellos weiße Zähne.

„Herrlich, so etwas habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht!“

„War auch besser so.“, knurrte Hector und schüttelte sich wie ein nasser Hund, „Warum bist du nicht auf deiner Farm in Sussex geblieben, Mann? Lern besser lügen oder besser fechten oder beides, sonst wird aus dir nie ein echter Pirat!“

Bill hob die Augenbrauen und wandte sich zu ihm um, doch das Grinsen auf seinem Gesicht blieb.

„Ich fechte besser als du.“

Hector nahm dies als Anlass zu einem hohlen Lachen.

„So, Landratte, glaubst du? Das will ich sehen!“

„Ich zeig‘ es dir.“, bot Bill freundlich an, eine Hand auf seinem Schwertgriff, und Hector schien geneigt, seine Herausforderung anzunehmen, doch dann fiel sein Blick auf Anamaria.

„Und was haben Sie an Bord dieses Schiffes zu suchen, Miss?“

„Wir konnten sie ja schlecht dalassen, was?“, kam Bill Anamaria rasch zu Hilfe, „Abgesehen davon hat sie gesagt, dass sie sich auf Medizin versteht, und wie du dich erinnerst, ist unser letzter Schiffsarzt im letzten Hafen recht überstürzt von Bord gegangen…“

„Ja, sturzbetrunken und mit einer Kugel im Kopf.“, knurrte Hector.

„Mit deiner Kugel im Kopf.“

„Wer mich beim Würfeln reinlegen will, der soll sich dabei geschickter anstellen. Das gilt ganz nebenbei auch für dich, Turner, und ich an deiner Stelle würde jetzt zusehen, dass ich auf meinen Posten komme.“

„Noch bist du nicht der Kapitän der Pearl, und der Herr möge verhindern, dass es je so weit kommt.“, knurrte Bill, wandte den beiden jedoch den Rücken zu und machte sich auf den Weg unter Deck.

Anamaria zog es ebenfalls vor, Hectors Gesellschaft zu entkommen.
 

Als sie unter Deck ankam, stellte sie fest, dass Jack noch immer zwischen Bewusstlosigkeit und Schlaf schwankte.

Leise, um ihn nicht zu wecken, nahm sie an seiner Seite Platz und untersuchte die Wunde an seinem Arm.

Wie sie es befürchtet hatte, hatte Beckett ihn gefoltert, und mit diesem Brandzeichen war seine Zeit als Agent bei der Handelsmarine wohl vorbei…

„Wie geht es ihm?“

Anamaria fuhr zusammen, als eine heisere Stimme sie so unvermittelt aus der Ecke des Raumes ansprach.

Ein Pirat lehnte dort an der Wand, das Gesicht von Wind und Wetter so verbrannt und zerfurcht, dass es unmöglich schien, sein Alter zu schätzen. Haar und Bart waren pechschwarz und so verfilzt, dass Anamaria nicht zwischen Bart- und Haupthaar unterscheiden konnte.

Ähnlich wie bei Jack waren in seine Haare eine Vielzahl bunter Perlen eingeflochten.

Zweifellos war dies sein Vater, Edward Teach.

Blackbeard.

Seltsamerweise verspürte Anamaria in seiner Gegenwart nicht die Nervosität oder gar Angst, die sie erwartet hätte.

Im Gegenteil, trotz seines furchteinflößenden Aussehens empfand sie spontane Sympathie mit dem alten Piraten.

„Es wird ihm bald besser gehen.“, sagte sie mit einem Blick auf den reglosen jungen Mann neben ihr.

Teach sah sie verdutzt an, doch dann lachte er.

„Das hoffe ich doch.“, sagte er, immer noch lächelnd – wenn der Ausdruck auf seinem zerfurchten Gesicht denn als ein Lächeln zu deuten war.

Blackbeard kniff die Augen zusammen und trat etwas näher zu Anamaria, die anhand seines schwankenden Ganges und seiner Alkoholfahne feststellte, dass es unter Piraten wohl zum guten Ton gehörte, bei Sonnenuntergang bereits mindestens ein Fass Rum geleert zu haben.

Tatsächlich nahm der Piratenfürst einen tiefen Schluck aus der Flasche an seinem Gürtel, aus der ein beißender alkoholischer Geruch aufstieg, bei dem Anamaria schwindelig wurde, bevor er weitersprach.

„Mir kam zu Ohren, dass du dich mit medizinischen Dingen auskennen sollst?“

„Ich… ja, ein bisschen, Herr.“

„Sag nicht Herr zu mir.“, knurrte er, „Piraten sind freie Männer – Frauen in deinem Fall – und nennen niemanden ihren Herren. Du kannst mich Captain Teach nennen.“

„Ähm, aye, Captain.“, antwortete sie rasch, „Jack hat-“

Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn im selben Augenblick erklangen vom oberen Deck laute Stimmen.

Blackbeard zog die Augenbrauen zusammen und drängte sich an ihr vorbei die Treppe hinauf auf das Deck.

Hier war Tumult ausgebrochen, und der Auslöser waren offenbar Bill und Hector.

Ersterer stand mit erhobenen Fäusten über dem am Boden liegenden Hector, der sich mit einem triumphierenden Grinsen das Blut aus dem Mundwinkel leckte

Anamaria konnte zwar nicht verstehen, was Bill zu seinem Kontrahenten sagte, doch es war ihr auch so klar: „Steh auf und sag das noch mal“ sah in jeder Kneipe, in jeder Sprache und auf jedem Schiffsdeck gleich aus.

Statt jedoch einzugreifen, als Bill erneut sein Schwert zog, seufzte Teach nur leise, lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie Hector Bills Angriff parierte und seinerseits dazu überging, seine verbliebene Ehre zu verteidigen.

Anamaria sah fragend zu Teach.

„Das passiert laufend.“, erklärte ihr dieser, „Ganz besonders zwischen den beiden. Meistens gewinnt Bill, und unter anderen Umständen hätte ich Hector schon längst von Bord gesetzt, aber wenn es darauf ankommt, kann man sich doch immer wieder auf ihn verlassen, und genau wie Bill ist er der geborene Seemann. Außerdem ist bei ihren Streitigkeiten noch nie jemand ernsthaft verletzt worden, und Hector wird seine Lektion über kurz oder lang lernen.“

Besagter schwang sich im selben Augenblick hoch in die Takelage, um seinem Gegner das Schwert aus der Hand zu treten, doch davon ließ Bill sich nicht aufhalten.

Stattdessen fing er seinen Säbel mit der freien linken Hand ebenso geschickt wieder auf und versetzte Hector stattdessen mit der rechten Hand einen Faustschlag gegen die Rippen, der ihn taumeln ließ.

Hector verlor das Gleichgewicht, rutschte ab – und im selben Augenblick war Bill zur Stelle, um ihn wieder auf das sichere Deck zurückzuziehen und ihm seine Schwertspitze an die Kehle zu setzen.

„Pass auf dein loses Mundwerk auf, Barbossa.“, sagte er leise und vollkommen ruhig, „Wenn du es wagst, noch einmal derartiges von dir zu geben, sorge ich dafür, dass es dir endgültig gestopft wird, hast du verstanden?“

Hector verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, schien jedoch nicht in der Stimmung für einen weiteren bissigen Kommentar, sondern nickte knapp, riss sich los und verschwand mit wenigen Schritten unter Deck.

Captain

Teague sollte Recht behalten: Am nächsten Morgen verhielten sich sowohl Bill als auch Hector, als sei nichts geschehen.

Dennoch bemerkte Anamaria, das der gestrige Abend weder vergeben noch vergessen war, denn Bill stürzte sich verbissen in jede Art von Arbeit, die zu tun war, ohne dabei ein Wort mehr als nötig mit einem der Crewmitglieder zu wechseln, und Hectors Blicken zufolge hätte dieser nichts lieber getan, als seinen Widersacher auf der Stelle über Bord zu fördern.

Sie kam jedoch nicht dazu, großartig darüber nachzudenken, denn offenbar galt sie nun tatsächlich als der Schiffsarzt der Black Pearl.

Noch bevor es Mittag wurde, hatten diverse Seeleute, erst zögerlich, doch dann immer offener, in diversen Situationen, von gequetschten Fingern bis hin zu gebrochenen Knochen und kleineren Brandwunden, ihren Rat gesucht.

Anamaria tat, was sie konnte, und stellte dabei fest, dass die Tatsache, einer mehr oder weniger geregelten Tätigkeit nachzugehen, mit äußerster Befriedigung erfüllte.

Andererseits wurde sie jedoch nicht an den anderen auf dem Schiff anfallenden Tätigkeiten beteiligt, denn, ob Schiffsarzt oder nicht, alles in allem war und blieb sie eine Frau, und als solche hatte sie in den Augen der meisten Männer an Bord nichts verloren.

Als sie am Nachmittag, als sie ein paar Minuten lang nichts mehr zu tun hatte, an Deck trat, stellte sie jedoch überrascht fest, dass sie offenbar nicht die einzige war, die nichts zu tun hatte: Bill Turner lehnte an der Reling und starrte gedankenverloren aufs Meer hinaus.

Mit derselben Verwirrung stellte sie fest, dass er einen schmalen goldenen Ring an der rechten Hand trug.

Ein Pirat, der sich im Stand der Ehe befand…?

„Bill…?“

Er schrak hoch, als sie neben ihm an die Reling trat.

„Aye?“

„Ist… mit dir alles in Ordnung? Du wirkst…“

„Was? Nein, es geht mir gut.“, sagte er knapp und konzentrierte sich wieder darauf, den Horizont mit seinen Blicken zu fixieren.

„Du wirkst nicht so.“, antwortete Anamaria vorsichtig, wohl wissend, dass sie sich damit auf gefährliches Terrain begab, „Hat Hector…“

Bill zog einen Mundwinkel hoch.

„Hector? Hector ist ein Idiot, mehr nicht.“

„Warum habt ihr euch dann gestern überhaupt gestritten?“, rutschte es ihr heraus.

Bill grinste leicht, doch es wirkte im geringsten glücklich.

„Weil er ausnahmsweise mal Recht hatte.“, murmelte er.

„Bitte?“

Ihre Verwirrung wuchs.

„Worum ging es denn überhaupt? Hatte es mit deiner Frau zu tun?“

„Was?“ Nicht minder verdutzt sah er sie an und brauchte offenbar ein paar Sekunden, bevor er begriff. „Ah… nein. Nicht wirklich. Indirekt. Teilweise. Ist eine lange Geschichte.“

„Wo ist sie?“

„Hm?“

„Deine Frau… ist sie…“

„Sie lebt, wenn es das ist, was du meinst. Und ich will hoffen, dass sie noch in England ist.“

Unwillkürlich kamen ihr Hectors Worte wieder in den Sinn: Warum bist du nicht auf deiner Farm in Sussex geblieben, Mann?

Bill hatte darauf nicht geantwortet, sondern stumm den Blick abgewandt und…

„Du hast sie verlassen, um Pirat zu werden?“

Bill verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „So ungefähr, ja.“

„Und er hat gut daran getan, denn ohne ihn wäre ich schon längst tot.“, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Anamaria fuhr herum. „Jack!“

„Zu Diensten.“, antwortete der Angesprochene und versuchte sich in einer Verbeugung, bei der es in seinen Augen schalkhaft blitzte.

Rasch machte Anamaria ein paar Schritte auf ihn zu.

„Was tust du hier? Du bist verletzt, du solltest unten bleiben und-“

„So weit kommt es noch, dass ich mich unten in der Kabine einsperren lasse.“, knurrte Jack, bewegte probeweise die Finger der rechten Hand und verzog das Gesicht, „Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich nicht ganz so wohl in meiner Haut fühle wie sonst…“

So sah er auch aus, fand Anamaria.

Obwohl er sich große Mühe gab, so normal wie möglich aufzutreten, straften der Verband und die Schlinge an seinem rechten Arm seine Worte Lügen, und Anamaria war zudem aufgefallen, dass er ab und an vor Schmerz das Gesicht verzog, das ganze anschließend jedoch mit einem Grinsen zu überspielen versuchte.

Nun jedoch breitete sich auf seinem Gesicht ein echtes leichtes Lächeln aus.

„Aber wie ich sehe, hat dich noch niemand über Bord geworfen oder zu exorzieren versucht, obwohl du eine Frau bist – das ist ein gutes Zeichen, oder?“

„So sieht es aus.“, warf Bill ein, „Dann will ich euch zwei Hübschen mal nicht weiter stören…“

Mit diesen Worten verschwand er Richtung Bug.

Anamaria sah ihm nach und wandte sich dann wieder zu Jack um.

„Du solltest trotzdem liegen bleiben!“

„Mach dir um mich mal keine Sorgen.“, entgegnete Jack ungewohnt ruppig und stützte sich mit dem gesunden Arm auf die Reling.

„Doch, mache ich.“

Anamaria trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Jack…“, sagte sie leise, „Bitte. Überanstreng dich nicht…“

„Es geht mir gut, klar?“

Mit Mühe hielt sie sich davon ab, die Augen zu verdrehen.

„Nein, das tut es nicht, Jack, und das weißt du auch. Du darfst dich nicht überanstrengen – und deinen Arm benutzen darfst du auch nicht, wenn du ihn jemals wieder richtig gebrauchen können willst.“

„Ich weiß…“

„Gut.“

Sie nahm ihre Hand von seiner Schulter, trat jedoch neben ihn an die Reling und lächelte leicht.

„Hey, bringst du mir das Navigieren bei?“

„Was?“

Verdutzt sah Jack sie an.

„Das Navigieren.“, wiederholte sie, „Und Fechten. Alles, was auf einem Schiff wie diesem nötig ist. Ich meine, du kannst es mir beibringen, dann langweilst du dich nicht, und ich mich auch nicht, und außerdem kann es uns doch nur weiterhelfen, oder nicht?“

Das Fragezeichen auf Jacks Gesicht wandelte sich langsam wieder in sein übliches Grinsen.

„Aye, warum nicht? Du bist zwar eine Frau, aber es gibt viele weibliche Piraten, und außerdem…“

Er brach rasch ab, wandte den Blick wieder ab und starrte aufs Meer hinaus, wobei sich ein Hauch Rosa auf seine Wangen schlich.

„Schon gut, vergiss es.“

„Nichts da! Was außerdem?“

„Gar nichts, ich dachte nur, dass… vergiss es einfach!“

Anamaria konnte sich dem Anflug eines Lächelns nicht erwehren.

Offenbar hatte Jack ihrem Vorhaben noch aus einem dritten Grund zugestimmt, und zwar aus demselben, der sie dazu gebracht hatte, diesen Vorschlag überhaupt auszusprechen: Um einen Grund zu haben, mehr Zeit mit dem jeweils anderen verbringen…

„Jack? Darf ich dich etwas fragen?“

„Hm? Jederzeit, was denn?“

„Wie alt bist du?“

„Was?“ Er sah sie fragend an. „Ähm… welches Jahr haben wir jetzt?“

„1773…“

„Also…“ Er überlegte kurz und zählte etwas an den Fingern ab. „Ich bin 1754 geboren, glaube ich, also müsste ich jetzt neunzehn sein, nicht wahr? Ja, neunzehn. Aber das Datum weiß ich nicht mehr, ich war noch zu klein, um mich zu erinnern…“

„Es war der sechzehnte Juli.“, erklang Teagues Stimme von hinten, „Der schlimmste Orkan, dem dieses Schiff je standgehalten hat.“

„Oh. Das ist… interessant.“

„Du sagst es, Jackie. Jetzt komm in meine Kajüte, wir haben zu reden.“

Jack zuckte die Schultern, warf Anamaria einen entschuldigenden Blick zu und folgte seinem Vater.
 

„Nun denn, Jackie…“

Teague nahm mit einem Seufzen hinter seinem Schreibtisch Platz, auf dem sich Seekarten, Rumflaschen und Waffen stapelten, und maß seinen Sohn mit einem langen Blick.

„Ich habe beschlossen, mich zur Ruhe zu setzen.“

Jack legte den Kopf schief.

„Was soll das heißen…?“

„Ich bin zu alt für das Leben auf einem Piratenschiff, Jackie.“, fuhr Teague fort, „In zwei Wochen legen wir an der Schiffbruch-Bay an, und dort werde ich von Bord gehen und den Rest meines Lebens mit deiner Mutter zusammen dort verbringen. Du wirst an meiner Stelle der Piratenfürst der Karibik sein, ebenso wie der Kapitän über die Pearl. Dass du mir ja gut auf sie aufpasst!“

Jack klappte bei diesen Worten der Mund auf, und er setzte zu einer Vielzahl Kommentare dazu an, brachte jedoch nur ein leises „Oh“ heraus.

„Du warst bereits der Kapitän eines Schiffes, Jackie, und du hast deine Sache gut gemacht, deshalb weiß ich, dass ich dir das Kommando über die Pearl anvertrauen kann, ohne befürchten zu müssen, dass du sie gleich auf die nächste Sandbank setzt. Hab ein Auge auf die Crew, besonders auf deine neue Freundin.“

„Ich… ja, natürlich…“

Teague nickte anerkennend, öffnete eine der Schubladen seines Schreibtisches und zog eine kleine Silbermünze hervor.

„Hier.“

Jack nahm die Münze entgegen und sah seinen Vater fragend an.

„Das ist eines der neun Pieces of Eight, das dich als Piratenfürsten ausweist. Trag es immer bei dir, und verlier es nicht, hast du verstanden?“

„Aye.“, murmelte Jack, spielte gedankenverloren mit der Münze in seiner Hand und befestigte sie schließlich mit einer raschen Handbewegung in einer seiner Haarsträhnen.

„Von nun an bist du der Kapitän der Pearl. Enttäusch mich nicht, Jackie.“

„Aye.“, wiederholte Jack und war heilfroh, als Teague ihm endlich mit einer Handbewegung gestattete, die Kapitänskajüte zu verlassen.

Begegnung

„Das mit dem Orkan wusste ich. Nur das Datum nicht. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich noch nie Land betreten, weißt du?“

„Für ein Kind muss das Leben auf einem Piratenschiff fantastisch sein.“

Anamaria fuhr behutsam mit dem Zeigefinger die Unterseite von Jacks Arm entlang, und Jack zuckte zusammen.

„Au!“

„Entschuldige.“

Sie nahm seine Hand und begutachtete das Brandmal kurz über dem Handgelenk.

Wie beabsichtigt, würde die Narbe natürlich zurückbleiben, doch zum Glück gab es keine Anzeichen, die auf eine Entzündung hindeuteten, und auch der gebrochene Knochen würde wohl ohne großartige Komplikationen verheilen – vorausgesetzt, Jack verhielt sich weiterhin vorschriftsmäßig und hörte auf das, was sie ihm sagte.

„Eigentlich ist es ziemlich langweilig.“, fuhr Jack fort, die Augen verträumt durch das schmutzige Kabinenfenster hinaus auf den Horizont gerichtet, „Ich meine, als ich noch ganz klein war, war meine Mutter mit an Bord und hat sich um mich gekümmert, aber irgendwann hatte sie keine Lust mehr und ist in der Schiffbruch-Bay geblieben. Auf einem Schiff herrscht den ganzen Tag reger Betrieb, aber ich durfte anfangs noch nicht mithelfen, und deshalb war mir langweilig. Später dann hab‘ ich mich manchmal ziemlich übel verletzt, weil die Takelage nicht darauf ausgerichtet ist, für einen Achtjährigen als Spielplatz zu dienen, und ich bin immer wieder runtergefallen, bis mein Vater es mir irgendwann verboten hat, darauf herumzuklettern. Aber die Mannschaft hatte mich zu ihrem Maskottchen auserkoren, sie haben mir alles Notwendige beigebracht…“

Anamaria lächelte leicht und begann, Jacks Arm behutsam wieder mit dem Verband zu umwickeln.

„Und wie kommt es, dass du nie an Land gegangen bist?“

„Keine Ahnung. Wir haben ohnehin nicht oft angelegt, nur in Tortuga ab und zu, um Vorräte aufzunehmen oder Beute zu verkaufen, und da wurde mir verboten, an Land zu gehen. Und wenn wir an irgendwelchen kleinen Inseln angelegt hatten, damit mein Vater nach Schätzen graben konnte und dergleichen, dann musste ich auch an Bord bleiben, weil es zu gefährlich war…“

Anamaria hatte ihr Werk nun vollendet, sie richtete sich auf und gab Jack einem Impuls folgend einen Kuss auf die Wange.

„Fertig.“

Jack sah sie verdutzt an, lächelte dann jedoch.

„Danke.“

Offenbar hatte er die Tatsache, dass sein Vater ihn kurzerhand zum Captain der Black Pearl und zum Piratenfürsten der Karibik ernannt hatte, recht gut verwunden.

Genau genommen gefiel es ihm sogar recht gut, sich nur nach seinem eigenen Kopf richten zu müssen, und seine in den letzten Tagen fast ständige gute Laune übertrug sich auch auf die Mannschaft.

Nachdem sie Edward Teague bei der Schiffbruch-Bay abgesetzt hatten, hatte Jack Kurs auf Tortuga setzen lassen – um Proviant an Bord nehmen zu lassen, wie er sagte, und um alte Bekanntschaften aufzufrischen.

Bis dahin würden sie jedoch noch ein paar Tage brauchen, und so vertrieben sich Anamaria und Jack die Zeit damit, dass Jack ihr das Piratenleben näher brachte und sie sich im Gegenzug um seine Verletzungen kümmerte – und um die Tatsache, dass er nüchtern genug blieb, um sein Schiff steuern zu können.
 

„Was für Bekanntschaften meintest du eigentlich?“, fragte Anamaria, während sie Jack auf Deck folgte.

„Dieses und jenes.“, wich der junge Captain der Black Pearl ihr aus, marschierte auf die Kommandobrücke zu und wandte sich hier an Bill, der gerade das Steuer führte.

„Master Turner!“, begrüßte er diesen, „Es sind nicht zufällig irgendwelche Schiffe in der Nähe? Mir ist langweilig!“

„Nicht dass ich wüsste, Captain.“, antwortete Bill, „Wir bewegen uns allerdings auch weit abseits jeglicher Handelsrouten…“

„Segel in Sicht!“, erklang im selben Augenblick ein Ruf aus dem Krähennest, und hoch erfreut eilte Jack zur Reling.

Hier jedoch gefror sein Grinsen auf der Stelle.

Rasch trat Anamaria neben ihn und entdeckte auf sofort den Grund dafür.

Es war nicht ein Schiff, nein, es waren drei, die frontal auf sie zusteuerten.

Die Segel waren blendend weiß – und darüber flatterte die Flagge der East India Trading Company!

„Beidrehen!“, fauchte Jack, kaum dass seine Schreckstarre sich gelöst hatte, „Wenden und Kurs in die Gegenrichtung setzen, und zwar sofort! Alle Segel setzen und schnellstmögliche Geschwindigkeit aufnehmen! Ballast abwerfen und–“

Eine Kanonenkugel platschte keine zwei Meter vor dem Bug des Schiffes ins Wasser, während die Matrosen sich hastig daran machten, die Anordnungen ihres Captains zu befolgen.

„Alle Segel gesetzt!“, meldete Hector, „Mehr Geschwindigkeit ist nicht möglich, Gegenwind.“

„Verdammt!“, zischte Jack mit einem nervösen Blick zu den Schiffen, die sich bedrohlich genähert hatten.

„Befehle, Captain?“

Besorgt sah Bill zu seinem Freund, dessen Gesicht sämtliche Farbe verloren hatte.

„Ist hier eine Insel in der Nähe?“, sprang Anamaria ein, „Companyschiffe sind schwer bewaffnet und haben viel mehr Tiefgang als wir! In seichtem Wasser können wir sie mit Sicherheit abhängen.“

„Aye.“, murmelte Jack, „Aye, das könnte vielleicht…“

„Eine kleine Inselgruppe ohne Namen ist zwei Seemeilen entfernt, Nordosten!“, antwortete Hector bereits auf Anamarias Frage, bis dahin schaffen wir es nie!“

„Wir müssen es versuchen!“, zischte Anamaria, und endlich schien Jack geneigt, zu reagieren.

„Erleichtert das Schiff!“, bellte er, „Von vorn bis achtern, alles Unnötige kommt über Bord! Sogar…“

Er schluckte.

„Sogar der Rum, Männer.“

Entsetztes Schweigen breitete sich aus, doch Hector übernahm kurzerhand das Kommando.

„Alles von Bord, ihr faulen Landratten!“, fauchte er, „Los, sonst seid ihr selbst an der Reihe!“

Bewundernd stellte Anamaria fest, dass Barbossa durchaus einiges an Charisma besaß – fast mehr als Jack selbst.

„Aber der Rum, Barbossa!“, winselte einer der Matrosen, den Anamaria unter dem Namen Pintel kennen gelernt hatte, „Warum auch der Rum?“

„Weil ich das sage!“, knurrte Hector.

In Bills Augen blitzte es wütend auf.

„Weil der Captain das sagt.“, antwortete er scharf.

Hector warf ihm einen eisigen Blick zu und eilte auf das Deck hinunter, um beim Entladen des Schiffes zu helfen.

Erleichtert bemerkte Anamaria, wie ihre Verfolger zurückfielen.
 

Sie blieben es nicht lange.

Zwar holten die Schiffe nie weit genug auf, um auf sie feuern zu können, doch die weißen Segel verschwanden nie hinter dem Horizont.

Selbst als die Black Pearl wie erwartet seichtes Gewässer erreichte, blieb die Gruppe, deren Flaggschiff den Namen Endavour trug, zwar zurück, patrouillierte jedoch so gezielt an ihren Grenzen, dass es unmöglich war, wieder aufs offene Meer hinauszugelangen, ohne dabei in die Reichweite ihrer Kanonen und somit in die Gefahr, sich ihnen in einem offenen – und unmöglich zu gewinnenden – Kampf stellen zu müssen, zu geraten.

Als die Dämmerung hereinbrach, war ein Großteil der Crew mit den Nerven am Ende.

Selbst Hector fiel nichts mehr ein, und so stand er stumm an der Reling und starrte finster zu den Schiffen hinüber, die grünen Augen zu schmalen Schlitzen verengt.

„Teilt Nachtwachen ein.“, befahl Jack knapp, „Bemannt die Kanonen die ganze Nacht hindurch und informiert mich über jede Regung, die auf diesen Schiffen vor sich geht.“

Mit diesen Worten verschwand er in seine Kajüte und Anamaria folgte ihm rasch.
 

„Verdammt.“, murmelte Jack, „Verdammt, was machen wir jetzt?“

Er sank auf einen Stuhl hinter seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände.

„Rum… ja, ich muss klar denken können. Gib mir die Flasche von der Kommode da.“

„Die war das erste, was ich über Bord geworfen habe. Du kannst auch ohne Rum klar denken, Jack… besser als mit, schätze ich.“

Sie nahm neben ihm Platz und legte ihm einen Arm um die Schultern.

„Hey, Jack.“, sagte sie sanft, „Mach dir keine Sorgen. Wir finden schon eine Lösung.“

„Die Lösung treibt ein paar Seemeilen entfernt im Atlantik.“, murmelte Jack sichtlich deprimiert.

„Unsinn.“

Anamaria schloss die Augen und überlegte.

„Wir müssen an ihnen vorbeikommen, ohne gesehen zu werden… unter Wasser ist schlecht möglich, aber wir könnten… wir könnten… ich hab’s! Die Pearl ist schwarz, nicht wahr, vollkommen schwarz? Und wir haben fast Neumond! Wenn es vollkommen dunkel ist und wir alle Lichter löschen, dann…“

„…dann werden sie uns nicht sehen!“

Freudestrahlend riss Jack den Kopf hoch.

„Du bist genial!“

Er sprang auf, im selben Moment schwankte das Schiff abrupt unter heftigem Wellengang und er riss in dem Versuch, sich an etwas festzuhalten, Anamaria mitsamt ihrem Stuhl zu Boden.

Verlegen erstarrte er, sein Gesicht nur Zentimeter vor dem ihren.

„‘Tschuldigung.“, sagte er leise, allerdings nicht ohne ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht, „Mit Rum wär‘ das nicht passiert.“

„Trottel.“, murmelte Anamaria.

„Pirat.“

„Mit Leib und Seele.“, erwiderte sie leise.

Unwillkürlich wünschte sie sich, für den Rest ihres Lebens hier liegen zu bleiben, die Wärme seines Körpers, seine leichten Atemzüge und seinen Herzschlag zu spüren, ihm in die Augen zu sehen, nur sie beide, das Schiff, die Wellen, die sacht unter ihnen gegen das Holz schlugen, die flatternden Kerzen auf dem Tisch, die ein sanftes, gelbliches Licht verbreiteten, seine Lippen, die sich den ihren näherten, bis sie –

Ruckartig wurde die Tür aufgerissen, ein Schuss peitschte durch die Luft, Schwerter wurden gezogen und eine Kugel schlug krachend hinter ihnen in der Wand ein.

„Aufstehen.“, erklang eine eisige Stimme, die Anamaria entsetzt als die von Mercer, Cutler Becketts hakennasigem Sekretär erkannte, „Im Namen der East India Trading Company seid Ihr verhaftet, Jack Sparrow, ebenso wie der Rest Eurer Crew.“
 

„Sie haben sich angeschlichen, in kleinen Booten.“, sagte Bill leise, „Tut mir leid, Jack, wir wurden überrumpelt.“

Er war bedenklich blass, aus einer Wunde an seiner Schulter tropfte Blut, doch das war nichts im Vergleich zu Jack.

„Schon gut.“, antwortete dieser mit tonloser Stimme, ohne ihn anzusehen, und es schien, als habe er Mühe, überhaupt seine Zähne auseinander zu bewegen, „Nicht eure Schuld.“

Er hatte es rasch aufgegeben, sich gegen seine Handfesseln zu wehren, doch seine Handgelenke waren bereits wund gescheuert und unter dem Verband sickerte Blut hervor.

Behutsam griff Anamaria nach seinen Fingern und drückte diese sanft.

Jack versuchte sich in einem Grinsen, was dazu führte, dass er seinem Jolly Roger erstaunlich ähnlich sah.

Cutler Beckett marschierte zufrieden, die Hände auf dem Rücken verschränkt, an den Reihen seiner Gefangenen auf dem Deck seines Schiffes, der Endavour entlang.

„Ich wusste doch, dass wir uns bald wieder sehen, Jack.“, sagte er mit dem üblichen herablassenden Lächeln, das ihm so zu Eigen war, kaum, dass er vor Jack stehen geblieben war.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“, murmelte Jack.

„Zweifellos.“, entgegnete Beckett und trat zur Reling hinüber, um einen langen Blick auf die Black Pearl zu werfen, die von der Endavour ins Schlepp genommen worden war.

„Ein hübsches Schiff nennt Ihr Euer Eigen, Captain Sparrow.“, bemerkte er, „Wo liegt seine Höchstgeschwindigkeit?“

„Sucht und Ihr werdet finden, Beckett, inzwischen warte ich gern hier.“, antwortete Jack spitz.

Beckett überging dies.

„Ich fürchte, die Company hat keine Verwendung für ein Piratenschiff.“, sagte er und wandte sich wieder zu Mercer um, der an seine Seite getreten war, „Versenkt es.“

„Nein!“

Jacks Stimme klang nahezu hysterisch und er machte einen Schritt nach vorn auf Beckett zu.

„Beckett, nein! Hört, dies ist das schnellste Schiff in der Karibik, nein, auf allen sieben Weltmeeren, Ihr-“

Ohne Vorwarnung schlug Beckett ihm mit voller Wucht ins Gesicht.

Es knirschte, als Jacks Nasenbein nachgab, und Anamaria keuchte entsetzt auf.

Mit einem leisen Stöhnen ging Jack zu Boden.

Beckett betrachtete einen Augenblick lang interessiert seine blutverschmierten Fingerknöchel.

„Darf ich bitten, Mr Mercer? Aber vorher schafft bitte Captain Sparrow hierher an die Reling. Ich möchte, dass er sich ganz genau ansehen kann, was passiert, wenn man sich der East India Trading Company widersetzt.“

Sturm

„Jack…“

Anamaria strich ihm vorsichtig über die Wange.

„Jack, sieh mich an, bitte.“

Er reagierte nicht.

„Lass mich dein Gesicht sehen. Bitte, Jack.“

Folgsam drehte er den Kopf zu ihr, starrte jedoch weiter an ihr vorbei ins Leere.

Behutsam fuhr Anamaria ihm mit einem Finger über das Nasenbein.

Jacks Finger zuckten, doch er stieß ihre Hand nicht weg.

„Das wird schon wieder.“, murmelte sie, „Was ist mit deinem Arm?“

Sie griff nach seinem Ärmel, um diesen hochzuschieben, doch er entzog sich ihrer Hand und verschwand ohne einen Kommentar in einer anderen Ecke des Laderaumes, wo er weiterhin die Wand anstarrte.

Rasch erhob sich Anamaria, um ihm zu folgen, doch Bill hielt sie zurück.

„Lass ihn, Mädel. Trösten kannst du ihn später, und wie auch immer es dir beliebt, aber zuerst müssen wir von hier verschwinden.“

„Wie denn?! Hier sind überall Soldaten – und wir sind auf einem Schiff, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest!“

Langsam aber sicher gingen auch mit ihr die Nerven durch – was durchaus nachvollziehbar war anhand der Tatsache, dass auf sie alle der Galgen (und auf Jack vermutlich vorher noch Becketts private Folterkammer) wartete.

„Was haltet Ihr davon, Eure weiblichen Reize einzusetzen, Missy?“, schlug Hector vor, und Anamaria war sich für einen Augenblick nicht ganz sicher, ob das nun ernst gemeint war.

Diese Bemerkung führte dazu, dass Bill ihm erneut einen bösen Blick zuwarf, doch in Anamarias Kopf hatte bereits ein Plan Gestalt angenommen.

„Inwiefern?“

„Verzaubere den Offizier, der die Luke zum Deck bewacht, dann springen wir über Bord und zu den Inseln. Meiner Kenntnis nach gibt es dort Lagunen und Mangrovenwälder, dort findet uns niemand.“

„Das klingt vernünftig.“, murmelte Anamaria.

Bill verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts.
 

„Verzeihung, Captain?“

Beinahe hätte Anamaria die Augen verdreht, als der Soldat tatsächlich ein paar Schritte in ihre Richtung machte, sie jedoch förmlichst darauf hinwies, dass er noch lange nicht den Rang eines Captains innehatte, und dass sie ihn bitte mit „Lieutenant Norrington“ ansprechen solle, vorausgesetzt, sie wünsche noch einmal das Wort an ihn zu richten, was er allerdings (und dies zeigte lediglich sein Tonfall) nicht weiter begrüßen würde.

„Nun, was gibt es, Miss?“

Seine Stimme klang zwar gelangweilt, aber nicht unbedingt unfreundlich, und sie erkannte, dass er maximal in Bills Alter, also Anfang bis Mitte Zwanzig sein konnte.

Fast tat er ihr leid.

„Einem meiner Freunde geht es sehr schlecht, Lieutenant Norrington, Sir.“, sagte sie und bemühte sich um einen möglichst unterwürfigen und verzweifelten Tonfall, „Könnten wir vielleicht einen Arzt bekommen?“

Ihr neuer bester Freund schien verwirrt.

„Das ist gegen die Vorschriften.“

Damit hatte Hector bereits gerechnet.

„Könnt Ihr dann nicht selbst nach ihm sehen?“, bettelte sie in, wie sie fand, herzzerreißendem Tonfall, „Ein so erfahrener Offizier wie Ihr wird sich doch sicher mit kleineren Wunden auskennen…“

Nun schien der Lieutenant selbst kurz davor zu sein, die Augen zu verdrehen, doch er bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, entschied dann offenbar, dass sie die Wahrheit sagte, und begab sich ins Innere des Laderaums.

Weit kam er nicht, denn Hector schlug ihn kurzerhand bewusstlos und nahm ihm die Waffen ab.

„In Ordnung, was jetzt?“, fragte Anamaria und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Ihr könnt gern hierbleiben, wenn Ihr wollt.“, knurrte Hector und wollte an ihr vorbei vor die Tür treten, doch Anamaria hielt ihn zurück.

„Warte! Was ist mit Jack? Seine Hände sind gefesselt, so kann er nicht schwimmen…“

„Ich mach‘ das.“, sagte Bill rasch, griff nach dem Schlüsselbund vom Gürtel des Soldaten und befreite Jack von den Handschellen.

Anamaria sah besorgt zu ihrem Freund, der noch immer vollkommen apathisch dasaß und von Bill auf die Beine gezogen werden musste.

„Jack!“

Drängend packte der Pirat die Schultern seines Freundes und schüttelte ihn.

„Jack, hörst du mich? Es gibt andere Schiffe als die Pearl, wir müssen uns nur eins besorgen, aber zuerst müssen wir von hier verschwinden, sonst lässt Beckett uns alle hängen! Denk an die Crew, Mann!“

„Aye.“, murmelte Jack und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, „Aye, die Crew… ja, ich… lass uns von hier verschwinden, ja…“
 

„Achtung! Gefangene fliehen!“

Der Ruf kam schneller als erwartet und schlagartig brach unter der ehemaligen Crew der Black Pearl Panik aus.

Ohne dass noch jemand auf Bill oder Hector hörte, die verzweifelt versuchten, ihre Leute zusammenzuhalten, rannte alles kopflos durcheinander, die Matrosen stürzten sich in Todesangst über die Reling ins hoffentlich rettende Wasser und Bill packte kurzerhand Jack und Anamaria an je einem Arm und verhalf ihnen dazu, es den Matrosen gleichzutun, während die Kugeln von Becketts Soldaten ihnen um die Ohren pfiffen.

„Schießt!“, fauchte Beckett, „Wehe euch, wenn auch nur einer sein Ziel verfehlt! Tötet sie alle, bringt mir nur Sparrow lebendig!“

Als sie ins Wasser stürzte, durchbrachen die Kugeln neben ihr die Oberfläche, eine nach der anderen.

Blut färbte das ohnehin aufgrund der Dunkelheit undurchsichtige Wasser noch dunkler, große, schwarze Wolken trieben umher, zu viel, als dass es nur von Bills Wunde hätte stammen können…

Lass es nicht an dich heran, Anamaria., befahl sie sich selbst, Schwimm, einfach geradeaus, lass nicht Jacks Hand los, sieh dich nicht um…

Der Sauerstoffmangel schnürte ihr die Kehle zu, doch noch immer zischten Kugeln durch das Wasser – sie wagte es nicht, aufzutauchen und nach Luft zu schnappen.

Etwas schweres, dunkles streifte ihr Bein, sank unaufhaltsam Richtung Meeresgrund. Becketts Soldaten zielten gut…

Luft!

Hustend streckte sie den Kopf über Wasser, um einen kurzen, herrlichen Atemzug zu tun.

Im selben Augenblick trag sie etwas genau zwischen die Schulterblätter.

Der Schlag presste ihr erneut die Luft aus den Lungen, weiß glühendes Metall schien sich seinen Weg durch ihren Körper zu bohren, durch ihre Rippen, in ihre Lunge.

Ihr Aufschrei wurde von einer Welle erstickt, die im selben Augenblick über ihr zusammenschlug.

Schlagartig schienen ihre Lungen wie mit Wasser gefüllt, sie schmeckte etwas eigenartig metallisches auf den lippen und Jacks Hand entglitt ihren Fingern, die sich seltsam taub anfühlten.

Erneut schlugen die Wellen über ihr zusammen und diesmal fehlte ihr die Kraft, sich wieder an die Oberfläche zurückzukämpfen.

Sie schien zu fallen, tiefer und immer tiefer, bis die schmale Mondsichel über ihr in einem Meer aus Finsternis versank und sie weder das unruhige Seewasser noch die Kälte, die von ihrem Körper Besitz ergriff, mehr spürte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Kukuri
2008-01-30T17:38:15+00:00 30.01.2008 18:38
*auf die letzten Sätze guck*
Ich hoffe, du wagst es nicht.
*pistole bereit stellt*

Ein tolles Kapitel ^^ Achja, heißt das nicht Leutnant und nicht Lieutnant... oder hab ich mich verlesen? XD oder gar getäuscht O_O (Nein sowas passiert mir nicht! *chrmchrm*)
ich freu mich schon auf die Fortsetzung x3
Von:  Kukuri
2008-01-29T19:14:58+00:00 29.01.2008 20:14
Ich hab mir die FF jetzt bis hierhin durchgelesen und muss sagen:
Respekt!
Die Idee ist wirklich gut, und an deinem Schreibtil gibt es auch nichts zu bemängeln. Die Charakter hast du wirklich toll beschrieben ^^
Ich würd mich freun wenn es bald weitergeht x3
Deine FF landet bei mir in den Favos!

Bis dann ^^
Shinko
Von: abgemeldet
2008-01-16T19:58:24+00:00 16.01.2008 20:58
Heey ich bin die Erste^^ Also ich muss wirklich sagen, es ist GENIAL.
Ich liebe Fluch der Karibik sowieso und kann den erst Film auswendig, aber schreib bitte bitte schnell weiter, diese Geschichte ist absolut SUPER


SUUUUUUUUUUUUUUUPEEEEEEEEEEERRR

*Fan ist*


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