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Rise of Broken Sun

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Ichi – Akatsuki ~ Morgendämmerung

So, nachdem ich das vor Ewigkeiten geschrieben habe, lade ich es ENDLICH auch bei animexx hoch! Warum eigentlich erst jetzt? Na, wie auch immer. Das Broken Sun ist ursprünglich ein Rollenspiel - eines meiner absoluten Lieblingsrollenspiele hier bei animexx, um genau zu sein. Und weil mich die Geschichte zu begeistert, mitgerissen und teilweise wirklich tief bewegt hat (nächtliche Heulkrämpfe vor dem Laptop mit eingeschlossen ^^;;;), bin ich auf die Idee gekommen, es für meine liebe, liebe Freundin Yoko (Yoko-chan hier bei animexx) als Geschenk in eine Geschichte umzuschreiben. Schon, wie das Rollenspiel entstanden ist, war einfach einmalig: Erst wollten wir unbedingt ein Samurai-Rollenspiel haben, weil wir so PEACE MAKER Kurogane-süchtig waren (und sind!). Wer's nicht selber merkt: Yokos Charakter (Yukita) ist *sehr* von Okita Souji, und mein Charakter (Ashitaka) ist sehr von Hijikata Toshizou beeinflusst. *räusper* Sie... sehen auch genau so aus... ^^;;; (bis auf die Tatsache, dass Taka graue Augen hat)

Aber dann entstand da eine Wahnsinns-Story, und die Charaktere haben sich so verselbstständigt. Taka ist heute, mit Caine, mein Lieblingschara. ^.^ Ja, und das Endergebnis kann man also hier lesen. Es macht viel Spaß, die Geschichte zu schreiben, es ist sogar richtig entspannend. Man merkt an den vielen Dialogen, dass es mal ein RPG war, und wie genau ich das mit den RPG-Dialogen am besten umsetze, hab ich auch noch nicht raus. ^^;;; Aber ich hab mein Bestes gegeben, und ich verspreche, es wird noch besser werden! Wer also Lust auf ein Samurai-Psycho-Drama hat (das folgen noch Szenen, das kann man sich gar nicht vorstellen!), statt einem Gut-Böse-Schema lieber mehrere Seiten mit unterschiedlichen Zielen haben möchte und nebenbei noch ein bisschen über die Geschichte meiner Welt (Youma) lernen will... bitte, hier ist die Geschichte, auf die ihr immer gewartet habt! Ich hoffe, ich habe alle Charaktere gut umgesetzt, und jetzt Schluss mit meinem wohl längsten Vorwort EVER und... viel Spaß mit Rise of Broken Sun!!!
 

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Sakurahashi no Kazahaya Yukita ~ Yoko-chan

Yukigawa no Tsukimori Ashitaka ~ YueKatou (--> Ich ^^)

Kagezaki Shôtoku ~ TiaChan

Jin-Roh Ishii ~ SonGokuDaimao
 

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„Du kannst einem Menschen alles nehmen – seinen Besitz, seinen Glauben, seine Freiheit; aber nicht die Freiheit, für seine Ziele und Träume alles zu geben“
 

Kane Tiphreth (Midgardischer General und Revolutionär)
 

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Verhaltenskodex der Hikari no Jotei
 

Erstens: Es ist nicht gestattet, die Hikari no Jotei zu verlassen bzw. auszutreten.
 

Zweitens: Es ist verboten, sich privat Geld zu beschaffen oder zu verdienen.
 

Drittens: Es ist verboten, an Rechtsstreitigkeiten und Prozessen teilzunehmen, außer es betrifft die Hikari no Jotei.
 

Viertens: Es ist verboten, sich in private Angelegenheiten einzumischen oder Streitigkeiten innerhalb der Hikari no Jotei zu beginnen.
 

Fünftens: Vorgesetzten ist mit höchstem Respekt zu begegnen. Ihren Anweisungen ist Folge zu leisten.
 

Sechstens: Die Ausrüstung, insbesondere das Schwert, ist mit Achtung und Ehrerbietung zu behandeln.
 

Siebtens: Informationen gleich welcher Art sind unter keinen Umständen an Außenstehende weiterzugeben.
 

Sollte einem dieser Artikel zuwidergehandelt werden, hat die betreffende Person Seppuku zu begehen.
 

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Ichi – Akatsuki ~ Morgendämmerung
 

Shukumei rannte.

Sie rannte um ihr Leben, doch ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen, mit blitzenden Krallen und langen, spitzen Zähnen, die ein scharrendes Geräusch auf dem trockenen Boden verursachten. Der Tag war noch jung und der Hof des Schlosses von Gharith beinahe menschenleer, sodass niemand von ihrer verzweifelten Flucht Notiz nahm. Niemand? Nun – das entsprach doch nicht ganz der Wahrheit, denn das gharithische Schloss war nicht umsonst auch das Hauptquartier der Hikari no Jotei, der königlichen Samuraiarmee, und einer dieser tapferen Samurai hatte seinerseits die Verfolgung der blutrünstigen Bestie aufgenommen, die Shukumei nach dem Leben trachtete.

Sein langes, schwarzblaues Haar wehte in dem Wind, den er allein durch seine Bewegung schuf, sein Körper war gespannt und seine violetten Augen fixierten starr den Feind, den es einzuholen galt und der sich doch mit einer unverschämten Eleganz und Schnelligkeit immer weiter von ihm zu entfernen schien. Womit er sich leider auch unaufhaltsam seinem Opfer näherte, dessen Kräfte langsam aber sicher schwanden. Der Samurai beschleunigte seine Schritte noch einmal, dann sogar noch ein kleines bisschen mehr und wenige Sekunden später ein letztes Mal, bis der Boden mehr unter seinen Füßen hinwegraste, als dass er sich noch von ihm abstieß. Sein Blick durchbohrte den haarigen Rücken des Ungetüms, fast so tödlich wie die Klinge eines Schwertes, ließ ihn keine Sekunde mehr aus den Augen. Es gab nur noch ihn, die Bewegung und das Monster.

Und dann war da im nächsten Moment noch eine Mauer, eine große, schwarze Mauer, die vollkommen unvermittelt vor ihm aus dem Boden ragte.

Der Samurai hatte nicht einmal mehr genügend Zeit, um darüber nachzudenken, dass dies eigentlich ganz und gar unmöglich war, dass es hier mitten auf dem Hof einfach keine Mauer geben durfte, schon gar keine große und schwarze. Aber was hätte das auch noch für einen Unterschied gemacht? Der Zusammenprall trieb ohnehin jeden Gedanken aus seinem Kopf und die Luft aus seinen Lungen, und im nächsten Augenblick stürzte er auch schon. Er fiel vornüber, ehe er so überhaupt so richtig wusste, wie ihm geschah, und dann landete er auch schon auf der vermeintlichen Mauer, die ihm da so plötzlich den Weg versperrt hatte.

Diese zweite Landung war deutlich weicher als der erste Zusammenstoß, einzig seine Stirn machte eine eher unangenehme Bekanntschaft mit dem trockenen Boden des Schlosshofes. Ein dumpfes Pochen breitete sich in seinem Kopf aus – nicht unbedingt das, was er unter Schmerz verstand, aber etwas ähnlich Unschönes, und zudem war sein Blick seltsam getrübt. Der Samurai stöhnte leise und rieb sich die Stirn. Er wusste, dass er wieder aufstehen, dass er weiterlaufen und Shukumei zu Hilfe eilen musste – wenn es dazu nicht schon zu spät war. Allerdings war da immer noch dieses latente Gefühl von Schwindel in seinem Kopf, und so kämpfte er sich eher langsam und vorsichtig wieder auf Hände und Knie.

Der Boden unter ihm bewegte sich.

Mit einem leisen, erschrockenen Keuchen öffnete der Samurai die Augen, und da fiel ihm auch wieder die vielleicht doch nicht ganz so unbedeutende Nebensache ein, dass er ja gar nicht auf dem Boden lag, sondern auf… dem irgendetwas, das ihn kurz zuvor zu Fall gebracht hatte. Das übrigens auch zwei graue Augen besaß, deren Blick ihn auf eine unsagbar vernichtende Weise durchbohrte. Und das an sich nicht unbedingt eine Erscheinung war, die man ohne weiteres übersehen konnte.

Die kalten grauen Augen lagen in einem unwahrscheinlich finsteren Gesicht, dessen Züge auf eine markante Weise schön und ganz eindeutig silvanisch waren. Wie die Augen des Mannes waren aber auch seine sehr langen Haare für einen Silvanier ungewöhnlich hell, jedenfalls nicht schwarz, sondern von einem dunklen Braun. Er hatte sie hoch am Hinterkopf zusammengebunden, allerdings nicht besonders ordentlich, sodass ihm noch einige Strähnen vor das Gesicht fielen. Und dann fügte er seinem vernichtenden Blick ebenso vernichtende Worte hinzu, nämlich:

„Wer auch immer Ihr sein mögt – sagt, hättet Ihr vielleicht die Güte von mir herunterzugehen?!“

Es gab Momente, in denen die Erkenntnis einen Menschen wie ein Blitz traf, so deutlich, hell und plötzlich. Manche dieser Momente mochten erleichternd oder gar erleuchtend sein. Andere vielleicht ein wenig erschreckend. Und wieder andere… ja, wieder andere waren Momente wie dieser, in denen man wie unser Samurai begriff, dass man vor wenigen Sekunden keinen Geringeren als Yukigawa no Tsukimori Ashitaka, den Vizekommandanten des Dritten Korps, der auch über die Reihen der Hikari no Jotei hinaus für seine Unerbittlichkeit und Grausamkeit bekannt war, buchstäblich über den Haufen gerannt hatte.

Es verstrichen wiederum mehrere Sekunden, in denen der Schwarzhaarige nichts Anderes tun konnte, als den Blick der grauen Augen geschockt und perplex zu erwidern. Dann kletterte er von Ashitaka herunter, so schnell er eben konnte, ohne gleich wieder hinzufallen, erhob sich und trat einen Schritt zurück.

„Es tut mir furchtbar leid!“, stieß er hastig hervor, während er sich wie mechanisch zu verneigen begann. „Ihr… Ihr seid Tsukimori-san, nicht wahr? Bitte, verzeiht mir, das wollte ich wirklich nicht!“

Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich der Vizekommandant ebenfalls erhob, und dann spürte er auch schon wieder dessen eiskalten Blick auf sich, der ihn von oben bis unten geringschätzig musterte.

„Spart Euch weitere Entschuldigungen“, entgegnete Ashitaka, während er seine Augen nun über die eigenen Kleider und sein langes Haar streifen ließ – ganz besonders über die dünne Schicht von Staub, die an beidem haftete –, wobei sein Gesichtsausdruck leider nicht freundlicher wurde, „und öffnet das nächste Mal lieber die Augen, bevor Ihr Euch in Bewegung setzt.“ Er öffnete den Mund, wie um noch etwas hinzuzufügen, hielt dann aber inne und betrachtete sein Gegenüber sogar noch ein wenig finsterer. „Wer seid Ihr überhaupt?“

Der junge Samurai unterbrach sich in seinem entschuldigenden Verneigen. Sah Ashitaka stattdessen noch einen Moment lang überrascht an. Und dann plötzlich lächelte er.

„Mein Name ist Sakurahashi no Kazahaya Yukita und ich bin der Anführer der ersten Einheit des ersten Korps.“ Er verneigte sich erneut, aber diesmal nach wie vor mit einem Lächeln auf den Lippen. „Sehr erfreut.“

„Ihr?“ Die Stimme des Braunhaarigen klang zweifelnd, und das ganz bestimmt nicht ungewollt. Dann steckte er sich zunächst einmal die Pfeife wieder an, die er offenbar die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten hatte – eine lange, schlanke Kiseru aus dunklem Holz –, bevor er mit unverändert düsterer Stimme fortfuhr: „Ja. Die Freude ist ganz meinerseits. Ich…“

Wiederum hielt er inne, aber jetzt bemerkte Yukita, dass seine Augen irgendetwas Anderes fixierten – etwas, das sich hinter ihm befand. Und dass in das kalte Grau für den Bruchteil einer Sekunde eine ganz leise Spur des Entsetzens trat. Als er seinen Blick wandte, um dem des Vizekommandanten zu folgen, sah er allerdings nur einen wenig entsetzlich aussenden Menschen, den selbst er noch um gut einen halben Kopf überragte. Er hatte etwas weniger als schulterlanges schwarzes Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug, und violette Augen.

„Konnichi wa, Tsukimori-fukuchô! Konnichi wa, Kazahaya-san!”, begrüßte er sie sehr höflich und mit einer tiefen Verbeugung. Dann ging er auch schon weiter. Yukita sah, dass er ein Buch unter seinen Arm geklemmt hatte.

„Konnichi wa!“, grüßte er dem Fremden hinterher und verneigte sich ebenfalls in dessen Richtung. Dann wandte er sich wieder Ashitaka zu. „Ja, ich“, bestätigte er dann, wobei er den zweifelnden Tonfall in den Worten des deutlich größeren Mannes gekonnt überhörte. „Und ich wollte das wirklich nicht, ich war nur auf der Jagd nach…“ Jetzt war er derjenige, stockte und innehielt. Dann riss er seine violetten Augen weit auf. „Oh bei den Göttern, Shukumei! Wenn dieses Monster ihr etwas getan hat, dann…“

Und mit diesen Worten rannte er an Ashitaka vorbei, ohne diesem noch einen einzigen weiteren Blick zu schenken. Er stürzte in die Richtung, in die Shukumei und das Ungetüm verschwunden waren. Nach ein paar Augenblicken war ihm, als ob ihm irgendjemand – vermutlich Ashitaka – etwas hinterherrufen würde, das in etwa nach Halt! oder Bleib stehen! klang, aber da war er sich nicht ganz sicher. Er meinte auch, plötzlich schwere Schritte hinter sich zu hören, und obendrein fühlte er sich beobachtet. Aber all das nahm er nur am Rande wahr. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf Shukumei, auf die arme, kleine Shukumei. Und er erkannte sofort den Ernst der Lage, in die sie geraten war.

Natürlich war Yukita schon erleichtert zu sehen, dass Shukumei überhaupt noch am Leben war. Allerdings saß sie in der Falle. Sie hatte sich todesmutig auf einen sehr hohen Fenstersims gerettet, aber das Ungetüm sprang fauchend und mit gebleckten Zähnen immer höher und höher, während es mit seinen langen Krallen nach ihrem Körper schlug. Sein Schwanz peitschte nervös hin und her. Yukita ließ sich von all dem wenig beeindrucken. Er legte eine Hand an den Griff seiner Waffe, während er direkt auf das Monster zuhielt, das Shukumei so grausam in die Enge gedrängt hatte.

Dass noch einmal jemand nach ihm rief, hörte er überhaupt nicht mehr. Sein Körper war gespannt, mit jeder einzelnen Faser zum Angriff bereit. Er würde die Bestie erlegen. Andere Gedanken, andere Sinneseindrücke, andere Geschehnisse um ihn herum fanden in seinem Kopf keinen Platz mehr. Vielleicht bemerkte er die Finger an seinem Kimono auch deshalb erst in dem Moment, als sie sich schon um dessen weißen Stoff geschlossen hatten und ihn zurückzerrten. Jemand wollte ihn herumreißen. Yukita kämpfte tapfer um seine Freiheit, dann im nächsten Moment um sein Gleichgewicht, aber letzten Endes siegte doch sein allzu großer Schwung. Er kam auf dem staubigen Boden ins Schlittern, und dann plötzlich prallte von hinten etwas gegen ihn, riss ihn mit sich nach vorne und geradewegs gegen die zum Fenstersims gehörige Wand.

Danach wurde ihm erst einmal schwarz vor Augen.

Yukita rang nach Atem, blinzelte und schüttelte den Kopf, um wenigstens wieder einigermaßen klar zu sehen. Dies nutzte er dann, um sich mit einem kurzen Blick davon zu überzeugen, dass sein Körper noch vollständig intakt war. Er fühlte sich nämlich wie zerquetscht, und das war auch wirklich kein Wunder. Immer noch etwas benommen musterte er Ashitakas knapp zwei Meter große, muskulöse Gestalt, die ihn da eben zwischen sich und der Wand eingeklemmt hatte. Wenn er es genau bedachte, war es eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.

Darum kümmerte der Vizekommandant sich herzlich wenig. Er blinzelte ebenfalls noch einige Male, klopfte sich endlich doch noch den Staub von seinem schwarzem Kimono, dem schwarzen Hakama und den… nicht schwarzen, sondern braunen Haaren. Und ging dann seinerseits auf das blutrünstige Monster zu, das immer noch fauchend vor dem Fenster auf- und abschlich. Packte es mit beiden Händen. Hob es hoch. Und setzte es dann auf seine Schulter, bevor er sich die Hände in die Seiten stemmte und mit finsterer Miene auf Yukita zustapfte. Der eilte erst einmal an Ashitaka vorbei zu Shukumei, streckte die Arme aus, um gerade bis zu ihr hinaufzureichen, und ließ sie dann über seine Arme in seinen Nacken klettern. Beruhigend streichelte er der Ratte über ihren kleinen Kopf.

„Arme Shu-chan“, sagte er ganz leise, „hat dieses böse Vieh dir Angst gemacht?“

„Rührt dieses Vieh noch einmal an“, sagte eine Stimme hinter ihm, „und Ihr seid die längste Zeit hier am Hof gewesen.“

Der Tonfall des Vizekommandanten ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm damit vollkommen ernst war. Yukita zuckte zusammen, drehte sich dann aber ganz ruhig um – und sah im ersten Moment nicht mehr als einen Hals. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte Ashitaka an. Machte für einen ganz kurzen Moment eine seltsame Handbewegung, als wolle er ins Innere seines Yukata greifen. Hielt dann aber inne und antworte ganz plötzlich und sogar überraschend laut:

„Dieses Vieh hat meine arme Shukumei ohne ersichtlichen Grund gejagt und hätte sie gefressen, wenn ich es zugelassen hätte! Passt gefälligst auf Eure Haus… tiere auf!“

Er stemmte sich die Arme in die Hüften und funkelte Ashitaka an.

„Katzen fressen Ratten“, antwortete der, während er ein ganz unglaublich böses Lächeln auf seine Lippen legte. „Und das in jeder Beziehung, was Ihr Euch übrigens merken solltet. Darüber hinaus ist Kokyô auch kein Vieh, sondern eine Katze. Falls Euch das nicht bekannt war.“ Ashitaka richtete sich noch ein bisschen mehr auf und wirkte spontan sogar noch um einige Zentimeter größer. „Übrigens solltet Ihr Euch, bevor Ihr fortfahrt, noch einmal gut überlegen, ob Ihr auch tatsächlich den richtigen Tonfall gewählt habt, um mit mir zu sprechen.“

Yukita presste seine Lippen fest aufeinander. Jetzt hatte er die Hand wirklich auf Brusthöhe im Inneren seines Yukata und umfasste dort etwas. Dann holte er tief Luft und schloss einen Moment die Augen.

„Ver…zeiht mir meine… Unbeherrschtheit“, sagte er und verneigte sich. Hielt einen Moment lang inne. Und fügte dann ganz, ganz leise hinzu, so dass es, wenn überhaupt, höchstens Ashitaka hören konnte: „Manchmal… trickst die Maus… oder in diesem Fall die Ratte, die Katze aus… und frisst sie ihrerseits.“ Dann zog er seine Hand wieder aus dem Kimono hervor und verneigte sich erneut. „Ich werde mich in Zukunft beherrschen“, fuhr er dann ganz normal und wie immer fort.

„Manchmal wird die Ratte auch von herabfallenden Hagelkörnern erschlagen“, grummelte Ashitaka und verdrehte die Augen. „Ausnahmen bestätigen die Regel. Darüber hinaus ist diese Diskussion müßig und wir werden beobachtet.“ Diesen letzten Satz sagte er übrigens betont laut.

„Nein“, widersprach Yukita, „dazu sind Ratten viel zu schlau.“ Er grinste. „Ist es Euch peinlich, dass dieser Kleine uns gesehen hat? Euer Shinobi, nehme ich an.“

Ashitaka sah aus, als ob er ihm am liebsten den Hals umdrehen würde.

„Er“, verbesserte er dann, wobei er demonstrativ Yukita musterte, „ist eigentlich gar nicht so klein, wie man zunächst einmal denken könnte. Und vor allem ist es seine Aufgabe, feindlichen Mächten nachzuspionieren, nicht seinen Vorgesetzten.“

Der Vizekommandant sprach mit jedem Wort noch ein wenig lauter und deutlicher. Als er fertig war, raschelte es tatsächlich in den Bäumen zu ihrer Linken. Dann war es wieder einige Augenblicke lang still. Und letztlich trat der Schwarzhaarige wieder auf den Platz hinaus und kam eilig auf sie zu.

„Es tut mir leid!“, entschuldigte er sich mit einer neuerlichen tiefen Verbeugung. „Ich hatte nicht im Sinn, Euch nachzuspionieren.“

Yukita lächelte amüsiert.

„Hm, vielleicht fühlt er sich gerade unterfordert? Diese Shinobi sind seltsam. Ich glaube, von diesem Beruf wird man ein bisschen… verrückt.“

Das sagst ausgerechnet du, sagte Ashitakas Blick, während er selbst auf diese Bemerkung hin schlicht und ergreifend schwieg. Er wandte sich dem Shinobi zu, ohne Yukita weitere Beachtung zu schenken. Dieser konnte bei der Gelegenheit aber immerhin feststellen, dass der Vizekommandant sogar noch ein wenig böser dreinblicken konnte, was zweifellos eine Leistung war.

„Aber gewiss nicht“, meinte er dann ganz unwahrscheinlich kalt, „du bist natürlich rein zufällig hier vorbeigekommen. Und hast dich dann rein zufällig dort versteckt und uns schweigend… angestarrt.“ Er stieß einen grummligen Seufzer aus. „Unglaublich, was für Zufälle es gibt. Allerdings… kommt mir dieser Zufall nicht ganz ungelegen. Es gibt noch Dinge, die ich mit dir besprechen muss. Wohlgemerkt nur mit dir.“

Shôtoku nickte, wohingegen Yukita beschloss, dass er sich den Ausdruck in Ashitakas grauen Augen, der ihm förmlich entgegenschrie, wie sehr er doch gerade störte, nicht länger gefallen lassen musste. Er verzog kurz und unwillig das Gesicht, hob dann seine Schultern und drehte sich um.

„Ich gehe schon“, sagte er, und schlenderte tatsächlich langsam davon. „Ich habe sowieso frei, also warum verschwende ich meine Zeit hier“, murmelte er weiter vor sich hin. „Es stimmt, was sie sagen, er ist wirklich so ganz anders als sein Vater… aber was erwarte ich… der Liebling des Kommandanten.“

Yukita blickte nur kurz über die Schulter zurück, aber es entging ihm nicht, dass Ashitaka merklich zusammenzuckte. Auf seinem Gesicht war deutlich zu lesen, dass er hin- und hergerissen war, ob er Yukita nun ignorieren oder ermorden sollte. Dann schien er sich für eine Art Kompromiss zu entscheiden, indem er ihm in wahrlich tiefgefrorenem und reichlich bedrohlichem Tonfall hinterherrief:

„Was habt Ihr da eben gesagt?!“

„Hm?“ Yukita blieb stehen – in bereits zwei, drei Metern Entfernung – und wandte sich wieder um. Ein breites, gut gelauntes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Ich sagte, dass ich sowieso frei habe und hier nur meine Zeit verschwende.“

Ganz kurz streifte sein Blick dabei Shôtokus Gesicht, und obwohl dieser nach wie vor beherrscht war, in einer unnachahmlichen Weise, wie überhaupt nur Shinobi beherrscht sein konnten, meinte er doch in dessen dunklen Augen zu lesen, dass er damit gerade ihrer beider Todesurteile unterzeichnet hatte. Ashitaka trat auch augenblicklich wieder auf Yukita zu – er trat sogar mit sehr, sehr, sehr finsterer Miene auf ihn zu und sagte:

„Sieh an, sieh an… die Ratte bleckt ihre Zähne und möchte alle Welt an ihrer Intelligenz teilhaben lassen. Zu gütig.“ Sein Gesichtsausdruck wandelte sich betont langsam und fließend von angedeutet wütend in herablassend und ein bisschen gehässig. „Möchte da jemand witzig sein? Oder einfach nur ein wenig provozieren? Jedenfalls scheint sich dieser Jemand seiner Lage nicht ganz bewusst zu sein.“

Yukita sah ihn einen Moment lang recht verduzt an. Blinzelte. Und setzte dann wieder ein Lächeln auf.

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Ihr da eigentlich redet, Tsukimori-san.“ Er neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte unbeirrt weiter. „Vielleicht würde Euch etwas Freizeit auch nicht schaden.“

„Ihr scheint auch nicht so recht zu wissen, wovon Ihr ab und an sprecht, aber aus irgendeinem Grund wundert mich das nicht.“ Er steckte sich wieder – schon wieder! – seine Pfeife an und wandte sich dann zum Gehen. „Allerdings habt Ihr insofern Recht – meine freie Zeit ist kostbar, und ich kann sie gewiss auf sinnvollere Weise nutzen als hier.“

„Da habt Ihr sicher vollkommen Recht, Vizekommandant!“ Yukita lächelte immer noch, als er sich ebenfalls zum Gehen wandte. Dann plötzlich stockte er, als ob ihm gerade noch eingefallen wäre, das er beinahe etwas vergessen hätte, und wandte sich noch einmal halb um. „Und… Ihr wollt sicher keinen Rat von mir, aber ich sage ihn Euch trotzdem. Passt besser auf die Leichen auf, die in Eurem Keller liegen… sonst finden sie vielleicht noch mehr Menschen.“

Nur für den Bruchteil einer Sekunde verlor Ashitaka tatsächlich die Fassung und starrte Yukita mit deutlich geweiteten Augen hinterher. Schon im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen., doch Yukita hatte sich bereits abgewandt und ging langsam in Richtung der Übungsplätze davon. Obwohl es immer noch recht früh am Morgen war, wurde dort bereits gekämpft. Yukita sah sich nach einem bekannten Gesicht um, bis sein Blick auf einem jungen Mann mit einem schwarzen Pferdeschwanz hängen blieb, der schon deshalb schwer zu übersehen war, weil seine Augen unterschiedliche Farben trugen. Dass eines von ihnen dunkelrot, das andere dunkelblau war, machte das Ganze für einen Silvanier sogar noch ein bisschen auffälliger.

Ishii Jin-Roh, der Anführer der ersten Einheit des zweiten Korps, war gerade damit beschäftigt, einen jüngeren Samurai in Grund und Boden zu kämpfen. Während sein Gegner bereits keuchte und schwitzte, mit rot angelaufenem Gesicht und starren Augen, wirkte Jin-Roh eher ein bisschen gelangweilt. Es vergingen noch einige Momente des ungleichen Kampfes, dann zerschnitt er dem Jüngeren mit einigen spielerischen Handbewegungen das Gewand, was auf den ersten Blick recht seltsam und überflüssig anmutete – auf den zweiten Blick aber die schneeweiße Unterwäsche des Samurai enthüllte. Im Kontrast dazu färbte sich sein Gesicht beinahe augenblicklich in ein tiefes Rot.

„Da hast du es“, sagte Jin-Roh ganz ruhig, während er ihn wenig interessierte betrachtete. „Wenn du nicht lernst, konzentriert zu kämpfen, wird dir das immer wieder passieren. Und das nächste Mal wird sich nicht dein Gewand von dir abschälen, sondern deine Haut, also pass besser auf!“

Der jüngere Samurai verbeugte sich, sammelte hastig und ein bisschen unbeholfen seine Sachen zusammen und verschwand eilig vom Übungsplatz. Jin-Roh steckte sein Schwert wieder in die Scheide und ging dann mit der ihm eigenen Unnahbarkeit und Erhabenheit auf Yukita zu. Er begrüßte ihn mit einem Nicken.

„Guten Tag, Kazahaya-san!“

„Ishii-san, guten Tag“, entgegnete Yukita und verneigte sich, während er – wie immer – lächelte. „Habt Ihr dem armen Kleinen da eine Lektion erteilt?“

Jin-Roh erwiderte die Verneigung und folgte mit seinem Blick der Kopfbewegung, die Yukita in die Richtung vollführte, in die der Junge verschwunden war.

„Meiner Meinung nach könnten all diese Heißsporne ein ganzes Dutzend solcher Lektionen vertragen, sie nehmen ihre Berufung nicht ernst genug, sind nicht mit dem ganzen Herzen und dem ganzen Verstand dabei.“ Er seufzte. „Im Grunde kann mir der Junge dankbar sein, wenn ich meinem Meister in seinem Alter mit der gleichen erbärmlichen Leistung unter die Augen getreten wäre, die er mir heute gezeigt hat, dann hätte ich dreihundertmal die Treppen zum Ishimo-Tempel und wieder zurück rennen können, alle dreitausend, mit zwei vollen Wassereimern oben auf den Schultern!“ Er wandte seinen Blick wieder Yukita zu. „Aber wem sag ich das“, fügte er mit einem angedeuteten Lächeln hinzu.

„Ja, ich verstehe vollkommen, wovon Ihr redet“, nickte der und lächelte zurück. „Leider sind die meisten meiner Männer nicht so jung, wie es der Kleine da war. Ich habe noch keinen von ihnen erlebt, dem ich nicht hätte zeigen müssen, dass sie mich durchaus ernst nehmen sollten, selbst wenn ich jünger bin als sie.“ Wie zufällig legte er seine Hand an die Stelle, an der er sein Tachi tragen würde, wenn er es denn gerade bei sich gehabt hätte. „Und scheinbar“, fuhr er dann fort, wobei er ebenfalls wie zufällig und für einen Sekundenbruchteil nicht mehr lächelnd in Richtung Ashitaka zurückblickte, „gibt es noch ein paar Menschen hier, die den gleichen Fehler begehen.“

Dann lächelte er wieder.

„Es ist eine der Grundregeln eines jeden Kämpfers, den Gegner niemals nach seinem Erscheinen zu beurteilen, und trotzdem begehen so viele diesen Fehler.“ Bei diesen Worten strich Jin-Roh über sein Schwert. Seine zweifarbigen Augen fixierten irgendeinen Punkt im Nichts. „Und an eine andere Regel muss ich sie auch immer erinnern, die wilden Jungen. Daran, innerhalb der Hikari no Jotei keine Streitigkeiten mit anderen anzuzetteln. Die Jungen balgen sich oft und provozieren sich gegenseitig, und hin und wieder merke ich auch, dass selbst die Älteren sich manchmal dazu hinreißen lassen, ein Gefecht auszutragen.“ Ganz kurz sah er Yukita direkt an, bevor er seinen Blick wieder von ihm abwandte. „Dabei wissen sie doch alle, welche Strafe darauf steht, diese Regel zu brechen.“

„Findet Ihr?“ Yukita lächelte weiterhin gut gelaunt. „Ich würde manche Streiterei eher als… Diskussion bezeichnen. Gut, wenn sich diese halben Kinder gegenseitig an die Kehle gehen, ist das natürlich etwas Anderes, aber…“ Eben in diesem Moment sah er Ashitaka über den Hof gehen. Er sprach weiter, verfolgte den in Schwarz gekleideten Mann aber mit seinen Blicken. „Aber manchmal wird in eine einfache, vielleicht etwas hitzige Unterhaltung auch zuviel hineininterpretiert.“

„Dennoch…“ Jin-Roh öffnete sich mit raschen, geübten Bewegungen sein doch etwas unordentlich gewordenes Haar, strich sich einmal mit den Fingern hindurch und band es sich dann wieder hoch. „Wer schon nicht im Wort an sich halten kann, der wird im Gefecht nur umso schneller eidbrüchig. Aber lasst uns das Thema wechseln, ich hatte heute genug Reibereien. Wie sehen Eure Pläne für die kommende Woche aus?“

„Die kommende Woche?“ Yukita dachte einen Moment lang nach. „Nun, zuerst einmal habe ich frei… zumindest auf dem Papier. Danach kommt dann wieder Training, Training und nochmals Training, durchzogen von Patrouillen und diesen schrecklich langweiligen Besprechungen mit dem Vize.“ Er gähnte.

Jin-Roh zog seine Augenbrauen etwas zusammen.

„Ihr solltet nicht so abfällig über Euren Vizekommandanten reden, Ihr wisst doch, dass das Prinzip unserer Gemeinschaft auf Respekt beruht, und der bezieht sich nicht nur auf die einem niedrigen Amt Innewohnenden.“ Er wandte sich wieder ab. „Nun, ich möchte Euch nicht weiter bei Eurem Training stören und muss selbst auch noch einige Kleinigkeiten erledigen. Ich wünsche noch einen schönen Tag!“

Er verneigte sich, dann ging er in Richtung Ashitaka davon. Yukita sah ihm blinzelnd hinterher.

„Dem täte ein wenig freie Zeit auch mal ganz gut“, murmelte er kopfschüttelnd. „Die sind alle so… verbissen.“

Er hob seine Schultern, und im selben Moment stellte er fest, dass er sich schon wieder beobachtet fühlte. Einen Moment lang überlegte er, hinunter in die Stadt, nach Gharith zu gehen. Dann entschied er sich jedoch, zu seinem Zimmer zurückzukehren, das an den Platz angrenzte. Es war ein aufregender Morgen, und jetzt konnte er ein wenig Ruhe gut gebrauchen. Genau der richtige Moment also, um sich auf der überdachten hölzernen Veranda vor den Zimmern niederzulassen und den anbrechenden Tag mit den Klängen seines Shamisen zu begrüßen.
 

Es war der schlimmste Morgen seit mindestens einer Woche.

Und das wollte schon etwas heißen. Vor zwei Tagen hatte es bereits mit den ersten bleichen Sonnenstrahlen einen kurzen, aber heftigen Angriff einiger Ronin aus dem Norden gegeben. Und wieder zwei Tage davor war er nach einer langen, einer sehr langen Nacht im Hyakugetsu, dem Vergnügungsviertel Ghariths, mit mindestens fünfhundert kämpfenden Samurai hinter der Stirn erwacht. Aber dies hier, dieser Morgen, übertraf alles.

Ashitakas grauen Augen fixierten noch einige Sekunden lang Yukitas Rücken, während dieser langsam über den Platz von dannen schlenderte. Dann wandte er sich wieder seinem Shinobi Shôtoku zu – oder besser gesagt, dem Flecken Erde, an dem sich Shôtoku eben noch befunden hatte. Zunächst einmal sah er überhaupt nichts, und er fragte sich in Gedanken schon, ob der Shinobi nicht vielleicht doch eine gewisse Lebensmüdigkeit besaß, von der er bislang noch gar nichts geahnt hatte. Dann aber konnte er die halbtransparenten Konturen von Shôtokus Körper exakt vor dem Trainingsplatz ausmachen, auf dem gerade ein Nachwuchssamurai von einem der Truppenführer gequält wurde. Ashitaka zog unwillig seine Augenbrauen zusammen.

„Nicht schon wieder…“

Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als Shôtoku endgültig unsichtbar wurde. In Gedanken frage sich der Vizekommandant, wie es eigentlich kam, dass sich heute wirklich alles und jeder über ihn lustig zu machen schien.

„Shôtoku!“, rief er in einem Tonfall, der alles, nur nichts Gutes verhieß, und pustete ein wenig Rauch in Richtung seines Shinobi. „Lass diese Spielchen, wenn ich mit dir rede.“

Darauf folgte einen Moment lang Stille. Dann etwas, das wie ein scharfes Einziehen von Luft klang. Und dann konnte er Shôtoku zwar nicht wieder sehen, aber wenigstens wieder hören.

„Es tut mir leid! Das war keine Absicht!“

An der Stimme des Shinobi konnte Ashitaka hören, dass dieser sich verbeugte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Körper halb sichtbar, nur um sich dann sofort wieder vollkommen aufzulösen. Ashitaka sah Shôtoku noch einige Augenblicke lang bei seinen missglückten Rettungsversuchen der sowieso nicht mehr zu rettenden Situation zu, dann ließ er langsam eine Augenbraue nach oben wandern und sagte:

„Schon gut… komm mit.“

Der Vizekommandant trat von der Mitte des Platzes in eine ruhigere, abseits gelegene Ecke. Er hatte genug davon, in den Augen sämtlicher Betrachter Selbstgespräche zu führen, erst recht, wenn es dabei fortan um vertrauliche Angelegenheiten gehen würde. Wobei er sich auch jetzt immer noch etwas seltsam vorkam, weil er ja nicht einmal wusste, ob Shôtoku ihm tatsächlich folgte. Er konnte es nur hoffen. Für seinen Shinobi.

„Also schön“, begann er dann, während er prüfend nach allen Seiten blickte, ob sie auch wirklich ungestört waren, „ich habe jedenfalls einen Auftrag für dich. Es… Shôtoku? Bist du da?!“

„Ja“, war eine Stimme irgendwo dicht hinter ihm zu hören, „ich bin hier und höre zu, Tsukimori-fukuchô.“

„Gut“, entgegnete Ashitaka, und seine Stimme bekam einen gewissen sachlichen Unterton, den sie grundsätzlich nur bekam, wenn er über Berufliches sprach. Auch sein Gesichtsausdruck veränderte sich ein wenig von schlichtweg finster zu… ernsthaft finster. „Also, hör zu, ich habe keine Lust, mich zu wiederholen“, sprach er in etwa in die Richtung, aus der er Shôtokus Stimme gehört hatte. „Die Rebellen haben die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens eingesehen. Was allerdings kein Grund zur Freude ist, da sie sich deshalb neuen Wegen zuwenden und Hilfe von außen suchen, kurzum: Gewissen Gerüchten zufolge sollen just in diesen Augenblicken, während wir noch Zeit mit Reden verbringen, Rebellen zur Küste aufbrechen, um nach Dûnedja überzuschiffen.“

Ashitaka wartete einige Sekunden lang auf irgendeine Reaktion – sei es eine Nachfrage oder auch nur einen Laut der Überraschung bei der Erwähnung des Wüstenkontinentes. Silvania und Dûnedja waren seit vielen, seit sehr vielen Jahren befeindet. Er selbst hatte in seiner Kindheit miterlebt, wie die letzten Vertragsverhandlungen gescheitert waren, und seitdem herrschte Krieg. Für ihn selbst war die Vorstellung einer solchen Bündnisses etwas Unvorstellbares, aber aus dem Verhalten eines unsichtbaren Shinobi ließ sich natürlich noch ungleich weniger lesen als aus dem eines sichtbaren. So fuhr er mit noch etwas grimmigerer Miene fort:

„Du wirst am Besten sofort aufbrechen und sie abfangen. Dann mischst du dich unter das Pack und findest heraus, was sie ausgerechnet mit unseren Feinden zu schaffen haben.“

Erneut folgte einen Moment lang Schweigen – Ashitaka konnte sich mittlerweile denken, dass Shôtoku währenddessen nickte, was an sich ja zweifellos höflich, aber leider angesichts der momentanen Situation auch vollkommen sinnlos war.

„Ja, Tsukimori-fukuchô“, fügte Shôtoku hinzu, als auch er das zu bemerken schien.

„Gut“, nickte Ashitaka, und damit erklärte er das Gespräch für beendet. Er hatte schlichtweg keine Lust mehr darauf, sich noch länger mit der Morgenluft zu unterhalten, und so wandte er sich ab und schlenderte wieder zurück über den Platz.

Schon nach wenigen Schritten entdeckte er einen Menschen, den er zwar nicht unbedingt gesucht, aber nach dem er doch immerhin Ausschau gehalten hatte. Zugegebenermaßen mit nur mäßiger Motivation. Es war nicht so, dass er gegen Ishii Jin-Roh persönliche Antipathien gehegt hätte; genau genommen kannte er ihn kaum. Aber Ashitaka vermied den Kontakt zum zweiten Korps, wo das eben möglich war. Es war nun einmal eine Tatsache, dass auf Silvania und insbesondere in Gharith bei einem Krieger vor allem zweierlei geschätzt wurde: Weisheit und Erfahrung. Werte, die man für gewöhnlich nur älteren Männern zugestand.

Ashitaka war noch jetzt, mit seinen siebenundzwanzig Jahren, jünger als jeder andere, der jemals den Posten eines Vizekommandanten der Hikari no Jotei eingenommen hatte. Und niemand hatte sich gegen seine Einsetzung so vehement gewehrt wie Hashimoto, der Vizekommandant des zweiten Korps – nicht nur, aber vor allem wegen seines Alters. Manchmal hatte Ashitaka den Eindruck, dass diese herablassende Abneigung ausnahmslos jeder Angehörige des zweiten Korps teilte. Auch wenn er ihnen natürlich beigebracht hatte, dass es nicht unbedingt ratsam war, ihn diese Überheblichkeit auch spüren zu lassen.

Was Ashitaka allerdings momentan noch weitaus mehr missfiel, war die Tatsache, dass Ishii Jin-Roh ausgerechnet neben Yukita stand und sich offensichtlich mit ihm unterhielt. Da Ashitaka keine allzu große Lust auf eine weitere Begegnung mit einer gewissen Ratte verspürte, lehnte er sich erst einmal gegen die nächstbeste Wand, rauchte seine Pfeife und beobachtete dann und wann die beiden so unterschiedlichen Anführer. Erfreulicherweise endete deren Unterhaltung recht bald, Yukita verabschiedete sich und Jin-Roh kam allein auf Ashitaka zu, als ob er bereits von dessen Anliegen geahnt hätte. Der Vizekommandant ging ihm trotzdem nicht entgegen, sondern blieb gegen die Wand gelehnt und begrüßte Jin-Roh dann, als er in Hörweite war, in überflüssig lautem Tonfall:

„Gut, dass ich Euch sehe. Es gibt da noch etwas mit Euch zu besprechen.“

Jin-Roh ging ganz ruhig weiter und blieb erst neben Ashitaka stehen.

„Guten Tag, Tsukimori-san!“ Er drehte den Kopf in dessen Richtung und blinzelte, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien. „Ihr habt etwas mit mir zu besprechen?“

„Ja“, nickte Ashitaka, und er gab sich keine große Mühe, zu verbergen, wie wenig Lust er eigentlich auf diese Konversation hatte. „Im Grunde genommen nicht ich, sondern ich anstelle Eures Vizes. Da sich dieser aber gerade nicht hier am Hof befindet“ – glücklicherweise, wie Ashitaka aber nur in Gedanken hinzufügte – „darf ich in diesem Fall für Ihre Majestät den Dienstboten spielen, was mir selbstverständlich eine große Ehre ist.“

Jin-Roh musterte Ashitaka sehr ernst, was an sich schon schlimm und unverschämt genug war, aber dann verzogen sich seine Lippen auch noch zu einem Lächeln.

„Nehmt es mir nicht übel, Tsukimori-san, aber Ihr seid nicht sehr gut darin, Eure Launen zu überspielen.“ Dann wurde er aber sofort wieder ernst und strich mit der Hand vorsichtig über sein Schwert. „Das solltet Ihr aber, als Vizekommandant der Hikari no Jotei. Doch nun seid so nett und sagt mir, was mein Vizekommandant mir durch Euch sagen lassen will.“

Sieh an, dachte Ashitaka, während ein überaus boshafter Zug um seine Lippen spielte. Noch jemand, der schon so früh am Morgen das Bedürfnis hatte, zu sterben.

„Ich denke schon, dass ich sehr gut darin bin, Dinge zu verbergen, die ich auch wirklich verbergen möchte. Alles andere solltet Ihr schön mir überlassen. Es steht Euch im Übrigen auch nicht zu, gleich welche meiner Handlungen zu be- oder verurteilen. Und schon gar nicht, mir… Befehle zu erteilen.“ Er nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Kiseru-Pfeife und hielt einige Sekunden lang inne, nur um dann in deutlich kühlerem Tonfall fortzufahren: „Um es kurz zu machen: Der König hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Und da besondere Zeiten besonderer Maßnahmen bedürfen, haben wir beschlossen, gewisse Männer zu… sagen wir, außergewöhnlichen Zwecken einzusetzen. Also, macht Euch auf weitere Befehle gefasst. Ach, und…“ Er blickte betont auf Jin-Roh herab, und das nicht nur, weil er sowieso ein gutes Stück größer war. „Ihr solltet nicht vergessen, wo Ihr steht… und wo nicht.“

Jin-Rohs Blick blieb gelassen.

„Es lag mir fern, Euch zu be- oder gar zu verurteilen, aber wenn Ihr jedweden Kommentar in Bezug auf Eure Person gleich als Kritik an selbiger deuten wollt, so sollt Ihr damit glücklich werden.“ Er strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares hinter das Ohr, während sein Blick in die Ferne schweifte. „Soso. Das sind interessante, aber auch alarmierende Neuigkeiten. Es wird sich zeigen, was davon überwiegen wird.“ Seine zweifarbigen Augen wandten sich wieder Ashitaka zu. „Habt Dank dafür, es mir überbracht zu haben, Tsukimori-san.“

„Mir liegen auch viele Dinge fern, wenn der Tag lang ist“, sagte der wieder vollkommen ruhig. Was aber nicht bedeutete, dass er Jin-Roh jetzt weniger unerträglich fand als noch vor wenigen Sekunden. „Interesse ist gut und Alarmbereitschaft in diesen Tagen sowieso wichtiger als alles Andere. Die Rebellen brechen mit allem, was einem Menschen heilig sein sollte. Selbst dem Feind kriechen sie vor den Füßen herum. Es ist so erbärmlich.“

„Die Rebellen also wieder.“ Jetzt war es Jin-Roh, der einen bösen, finsteren Gesichtsausdruck bekam. Seine Finger schlossen sich um den Griff seines Schwertes. „Sie sind in der Tat eine Plage. Sie plündern und stehlen, sie rauben und zerstören, grundlos, sie entweihen Tempel und heilige Stätten, ganze Dörfer legen sie in Schutt und Asche. Erst, wenn sie alle vernichtet sind und in ihrem eigenen Blut liegen, wird endgültig Frieden im Land einkehren.“

„Wer sonst? Sie haben allein in den letzten Monaten schon weit mehr überflüssiges Unheil angerichtet, als so mancher ernst zu nehmende Feind. Es wird nicht zu vermeiden sein, sie auszurotten, wie man das mit Plagen nun einmal machen muss. Allerdings…“ Er hielt inne. Binnen weniger Sekundenbruchteile war sein Körper vollkommen angespannt, noch bevor er ganz begriff, dass und weshalb seine Instinkte Alarm schlugen. Er blickte nach allen Seiten, aber ohne etwas Verdächtiges zu sehen.

„Allerdings was?“, fragte Jin-Roh. Ashitaka antwortete mit einem Blick, der eigentlich nichts anderes ausdrückte, als dass er verdammt noch mal die Klappe halten sollte – das aber umso Unmissverständlicher –, und machte einige Schritte auf den Hof hinaus. Dann zog er blitzschnell sein Katana, schlug einige Male scheinbar sinnlos in die Luft, und im nächsten Moment ertönte ein leises Klappern. Auf den staubigen Boden des Platzes fiel ein dreigeteilter Pfeil.

Fast gleichzeitig zog auch Jin-Roh eines seiner beiden Schwerter und drehte es blitzschnell vor sich in der Luft, dass ein weiterer Pfeil davon abprallte. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und tasteten die Umgebung ab.

„Es geht doch nichts über etwas Bewegung“, fügte er diesem kleinen Kunststück mit der Klinge hinzu.

„…oder eine kleine Aufwärmübung vor den morgendlichen Kampfesübungen.“ Noch im Sprechen fuhr Ashitaka herum, lief auf einen Busch zu und enthauptete den daraus hervorschnellenden Mann mit einer fast schon beiläufigen Bewegung. Dieser einen Gestalt folgten jedoch binnen weniger Sekunden zahllose weitere, gekleidet in Grün und Braun und sonstigen Farben, deren tarnende Unauffälligkeiten von nun an vollkommen überflüssig war.

„Und ich dachte, dies würde ein langweiliger Tag werden.“ Jin-Roh sprang mit einem Salto auf die Wiese zwischen den Büschen, wo er sofort von drei der Bewaffneten umrundet war. Er zückte sein zweites Schwert und vollführte mit wirbelnden Klingen eine Drehung um die eigene Achse, womit er die Angreifer rasch in handliche kleine Stücke zerlegte. Dann teilte er einen weiteren Rebellen mit der einen Klinge mittendurch, während er mit der zweiten einen anderen seines Handgelenkes und somit auch seiner Waffe entledigte. Sofort rückten für jeden der beiden weitere Kämpfer nach. Jin-Roh brach einem von ihnen mit einem hohen Tritt das Genick, und ihm blieb nur wenig Zeit, mit einer abgehackten Schnittbewegung das Blut von seinen Klingen zu schleudern, bevor er sie wieder mit den Schwertern zweier Feinde kreuzte.

Ashitaka nahm von all dem keine Notiz. Er duckte sich unter einem hohen Schwerthieb hinweg und schnitt mit derselben Bewegung dem Mann die Sehnen in den Knien durch. Seine grauen Augen blickten kurz nach Rechts und Links, während er ganz nebenbei einen weiteren Rebellen hinter sich erstach. Dass ihm seinerseits mittlerweile ein Pfeil in der Schulter steckte, hatte er bislang noch nicht bemerkt. Stattdessen befreite er mit einem schnellen, präzisen Hieb zwei Angreifer von der seiner Meinung nach in ihrem Fall ohnehin vollkommen überflüssigen Last ihres Kopfes.

Und dann nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, ein kurzes Blitzen im Licht der aufsteigenden Sonne. Er fuhr herum, doch ein zweiter Rebell stürzte mit gezückter Klinge frontal auf ihn zu. Ashitaka schnitt ihm relativ mühelos die Kehle durch, doch damit verlor er wertvolle, möglicherweise entscheidende Sekunden. Er riss sein Schwert herum, wohl wissend, dass seine Parade eigentlich gar nicht mehr rechtzeitig kommen konnte – und hörte dann ein Klirren, das im Kampfeslärm beinahe unterging.

Tatsächlich stand unmittelbar hinter ihm ein Rebell – wenigstens noch ein oder zwei Sekunden lang. Dann folgte er, die Augen und den Mund weit aufgerissen, seiner Waffe auf den kalten Boden. Hinter ihm stand eine Gestalt in einem Kimono, dessen Weiß nun von etlichen dunklen Flecken beschmutzt wurde. Von dem Tachi, das sie in ihrer Hand hielt, tropfte Blut. Ihr Gesicht wurde von einer weißen Kabuki-Maske mit schwarz umrandeten Augen bedeckt, aus der ein kleines Stück herausgebrochen war, sodass nur ein Teil des Kinns und der Lippen zu sehen war.

Einen Moment lang war Ashitaka aus dem fließenden Rausch des Kampfes gerissen, und er fixierte den Maskierten mit einer irritierten Beunruhigung, die er sich jetzt eigentlich gar nicht erlauben konnte. Natürlich hatte auch er die… Geschichten gehört, die man sich über einen gewissen Menschen am Hof erzählte. Die Feststellung, dass diese Geschichten in einem krasseren Widerspruch zu der unliebsamen Bekanntschaft, die er in den frühsten Stunden dieses Morgens gemacht hatte, gar nicht mehr hätten stehen können, berührte seine Gedanken nur ganz oberflächlich, während er zwei der Rebellen den Bauch aufschnitt.

„Sag Ihrer Majestät Bescheid, aber schnell!“, rief er einem Diener zu, der dem Geschehen wie erstarrt zusah. Dabei streifte sein Blick die Gestalt im blutig weißen Kimono. Hinter dem Bruch in der Maske konnte Ashitaka ein Grinsen erkennen, ein unbeschreiblich wahnsinniges Grinsen sogar. Dann war diese alptraumhafte Erscheinung, die sich ihm erst kurz zuvor mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen als Yukita vorgestellt hatte, mit einem Satz mitten im Kampfgeschehen und begann… zu schlachten. Ein anderes Wort fiel Ashitaka für das, was er da nur relativ kurz betrachtete, beim besten Willen nicht ein.

Neben ihm hatte sich Jin-Roh gerade tief auf den Boden geduckt und trennte zwei Angreifern die Füße ab, um sie so im wahrsten Sinne des Wortes flachzulegen. Ashitaka sprang über einen der schreienden Männer hinweg und schnitt ihm noch im Fallen die Kehle durch. Zwei weitere Rebellen näherten sich ihm von Links, die Waffen hoch erhoben. Sie schrien ebenfalls, allerdings vor Wut. Zu einem Schmerzensschrei blieb ihnen dann auch keine Zeit mehr, da Ashitaka sie kurzerhand enthauptete. Er drehte sein Schwert blitzschnell in der Hand und zog es wieder nach vorne, wobei er einem in schmutziges Braun gewandeten Rebellen seinen ebenso schmutzigen Bauch aufschnitt.

Der Boden zu seinen Füßen war mit Blut befleckt, selbst die Morgenluft war schwer von Blut. In seine Seite bohrte sich ein weiterer Pfeil, aber das bemerkte Ashitaka überhaupt nicht mehr. Seine Sinne waren derart geschärft, dass er alles um sich herum nur in einzelnen Sequenzen wahrnahm, auf die er jeweils blitzartig reagieren konnte. Langsam bewegte er sich rückwärts auf den Platz, in Richtung des Hofes. Über den Kampfeslärm legte sich das laute, irrsinnige Lachen des Maskierten, während dessen Klinge einem Rebellen die Brust aufschlitzte. Noch mehr Blut spritzte auf das Weiß seines Kimonos, seiner Maske, seiner Haut.

Trotz seiner totalen Konzentration lief über Ashitakas gespannten Körper ein kurzes, aber eisiges Schaudern, von dem er sich jedoch keinesfalls im Kampf stören ließ. Jeder seiner Schläge besaß eine schnelle, zielgerichtete, fast schon chirurgische Präzision. Er ließ sein Schwert nicht wirbeln, um die Feinde niederzumetzeln, wie Jin-Roh es just in diesem Augenblick irgendwo zu seiner Linken tat. Er führte nicht eine einzige überflüssige oder schmückende Bewegung aus. Er kämpfte, um zu töten. Dabei glitt sein Blick schnell und abschätzend über den Platz zu den Unterkünften der Hikari no Jotei hin. Dort entdeckte er einige Männer aus der dritten Einheit seines Korps, die ihnen offenbar gerade zu Hilfe eilen wollten.

„Deckt die nördliche Front und geht auf Distanz“, rief er ihnen zu, während er ganz automatisch weiterkämpfte. Fast so, als ob sein Katana den Weg über die Kehlen und Bäuche seiner Gegner ganz von selbst finden würde. Zwischen den Kämpfenden sah er Yukita, über und über mit Blut befleckt, der wie in einem Rausch alles niedermachte, das den Fehler beging, ihm vor die Klinge zu kommen. Ashitaka hielt sich von ihm fern, sicherheitshalber. In Gedanken positionierte er binnen weniger Sekunden seine Samurai an allen wichtigen Stellen des Platzes und vor den Eingängen, und gab ihnen dann die entsprechenden Anweisungen, ohne ein einziges Mal im Kämpfen innezuhalten.

Es vergingen nur noch wenige Minuten, bis von den Angreifern nicht mehr allzu viel übrig geblieben war. Einige ächzende und stöhnende Halbleichen, kaum mehr zu einer Regung fähig, waren alles, was unter den zahlreichen Rebellen überhaupt noch als lebendig bezeichnet werden konnte. Inmitten dieses Teppichs aus Leichen, Blut und Körperteilen stand Yukita, schwer atmend, zitternd und blutbeschmiert. Er machte keinerlei Anstalten, sein Schwert zu senken. Lauernd glitten seine Augen über die Umgebung. Ashitaka, ebenfalls schwer atmend, betrachtete ihn einige Momente lang, dann sah er sich noch einmal prüfend um. Kurz streifte sein Blick auch seine eigenen Hände, deren helle Haut unter dem Blut der Feinde gar nicht mehr zu erkennen war. Ein kaum merkliches Zucken lief durch seinen Körper und er wandte sich hastig wieder ab.

„Yukita!“, rief er diesem zu. „Es ist vorbei!“

Langsam, ganz langsam hob Yukita seinen Kopf in Richtung von Ashitakas Stimme. Sein Atem ging immer noch schwer, fast schon keuchend. Und auch das Schwert hielt er noch fest in seinen Händen. Dann ging er, immer noch auf diese beängstigend langsame Weise, auf den Vizekommandanten zu. Instinktiv schlossen sich Ashitakas Hände um den Griff seines Schwertes.

„Yukita?“, sprach er ihn mit eindringlicher Stimme an, während er sich lauernd einen Schritt auf ihn zubewegte. Dann atmete er noch einmal tief durch und rief dann noch einmal, diesmal aber laut und befehlend: „Yukita!!“

Der Schwarzhaarige zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Dann riss er sich ganz plötzlich und ziemlich hektisch die Maske von seinem Gesicht und starrte diese einen Moment lang entsetzt an. Wieder ging sein Atem keuchend, diesmal aber auf eine gänzlich andere Art und Weise.

„Ist es… ist es vorbei?“, fragte Yukita sehr leise, während er die Maske sinken ließ. Ganz kurz und unvermutet lief wieder ein Schauer über Ashitakas Körper, obwohl er nicht einmal genau sagen konnte, weshalb. Er nickte.

„Sie sind tot. Na gut… mehr oder weniger, aber keiner wird uns noch in irgendeiner Form gefährlich werden können.“ Ashitaka fiel übrigens erstmalig auf, dass ihm das aufrechte Stehen Mühe bereitete, aber er beschloss, das zu ignorieren.

„Gut“, sagte Yukita und steckte seine Maske zurück ins Innere seines blutgetränkten Yukata. „Wir sollten…“ Er brachte den Satz nicht zuende. Stattdessen trat in seine Augen eine gewisse Spur des Entsetzens. „Tsukimori-san… ich glaube, wir sollten zu einem Heiler gehen. Genauer gesagt solltet Ihr zu einem Heiler gehen, und zwar möglichst schnell!“

„Wir sollten uns vielleicht erst einmal waschen. Blut ist so hässlich, wenn es getrocknet ist.“ Während er sprach, folgte Ashitaka mehr zufällig Yukitas Blick. Seine grauen Augen wanderten seine Brust hinab zu seiner Seite. Und von dort aus wieder hinauf zu seiner Schulter. Jetzt sah er auch die beiden Pfeile, die dort in seinem Körper steckten – und bemerkte im gleichen Moment leider auch den Schmerz, den sie damit verursachten. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen und er taumelte einen Schritt nach vorne, wo er gerade noch an der Schlosswand Halt fand. „Vielleicht… sollten wir wirklich gleich zu einem Heiler gehen.“

„Ja, wie ich bereits sagte.“ Yukita trat auf den Vizekommandanten zu und nahm seinen Arm, offensichtlich in der Absicht, ihn zu stützen, was in Anbetracht der Größenverhältnisse natürlich mehr schlecht als Recht gelang. Kurz überlegte Ashitaka, was seinen Stolz wohl schlimmer treffen würde – sich jetzt ein wenig helfen zu lassen oder irgendwo auf halbem Wege zusammenzubrechen. Dann nahm sein verräterischer Körper ihm diese Entscheidung ab, als ihm beinahe die Beine nachgaben. Mit aller Selbstbeherrschung hielt er sich trotzdem, so gut es eben ging, noch aufrecht – alles war besser, als noch einmal gemeinsam mit Yukita zu Boden zu gehen! – und wankte dann mit starrem Blick in Richtung des Heilerzimmers.
 

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon lange überschritten, als Ashitaka beschloss, dass er lange genug rastlos in seinem Zimmer auf- und abgegangen war. Seine Wunden schmerzten noch, aber damit konnte er gut leben. Schlimmer war, dass ihn eine merkwürdige Unruhe befallen hatte, die er jetzt einfach nicht mehr loswurde. So öffnete er die Schiebetür seines Zimmers, trat hinaus auf die überdachte hölzerne Terrasse, die dem Platz zugewandt war, und rauchte erst einmal. Als ihm das auch nicht weiterhalf, holte er einige Bögen Papier und begann, sie zu falten. Wenn er sich beruhigen wollte, war er stets besonders produktiv. Trotzdem wählte er für den Einstieg einfache Formen, einige kleinere Blumen – Kamelien –, bevor er sich an Größeres und Aufwändigeres wagte.

Von irgendwoher hörte er den Klang einer Koto. Sie spielte ein schönes, ruhiges Lied, und Ashitaka fand es beinahe ein wenig schade, als sie wieder verstummte. Obwohl er gegen Stille natürlich auch nichts einzuwenden hatte. Er faltete gerade den zarten Kopf eines Kranichs, als er sich plötzlich beobachtet fühlte, allerdings nicht auf eine bedrohliche Weise. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Yukita, seine Ratte auf der Schulter, der schweigend hinter ihm stand. Ashitaka betrachtete ihn kurz, dann wandte er sich wieder seinem Werk zu.

„Solch eine Unverfrorenheit hätte ich nicht einmal ihnen zugetraut…“

„Meint Ihr die Rebellen?“, fragte Yukita, während er zu Ashitaka auf die Terrasse stieg. Dann beantwortete er sich seine Frage aber gleich selbst: „Natürlich meint Ihr die. Nun, ich hätte es ihnen auch nicht zugetraut. Allerdings eher, weil ich erwartet hätte, dass sie nicht so blöd sind, uns auf eigenem Gelände anzugreifen. Mit so wenig Männern.“

Dass er allein schon so viele Rebellen getötet hatte, dass man von wenig beim besten Willen nicht mehr sprechen konnte, ließ er dabei freilich außer Acht.

„In diesem Fall kann man unverfroren übrigens auch als Synonym für dumm verstehen, aber man soll sich ja seinen Respekt vor dem Gegner bewahren.“ Ashitaka schnaubte kurz und abfällig. „Sie hätten mit halb Gharith anrücken können. Hier können sie uns nicht besiegen. Ihr kämpft übrigens gut. Besser, als ich erwartet hatte.“

Yukita setzte sich auf das Geländer der Veranda. Der Wind strich ihm durch sein schwarzes Haar, das er jetzt offen trug, und er baumelte mit den Beinen.

„Danke für das Kompliment“, lächelte er. „Ich kann es zurückgeben, allerdings habe ich erwartet, dass Ihr gut kämpfen würdet. Ich muss zugeben, ich kann nicht wirklich stolz darauf sein, aber es nützt der Hikari no Jotei. Nun ja… meistens zumindest.“ Er kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf.

„Hm“, machte Ashitaka, während das Papier unter seinen Händen langsam wirklich die Gestalt eines Vogels annahm. „Worauf man stolz sein kann und worauf nicht, ist immer so eine Sache. Aber es ist müßig, darüber zu diskutieren oder auch nur nachzudenken. Momentan geht es nicht um Stolz, sondern um Zweckmäßigkeit.“

„Das mit der Zweckmäßigkeit ist so eine Sache…“, entgegnete Yukita, und fügte murmelnd hinzu: „Aber der war auch selber Schuld.“ Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Wenn man Euch so zuhört, könnte man denken, dass Ihr jede Diskussion müßig findet.“ Er zuckte mit den Schultern, während sich seine Augen neugierig auf den kleinen Kranich richteten. „Was macht Ihr da eigentlich?“

„Origami“, antwortete Ashitaka, vollführte die letzten Handgriffe an seinem Papiervogel und streckte ihn Yukita entgegen. „Es gibt keinen besseren Weg, sich zu entspannen. Und dass die meisten Diskussionen tatsächlich müßig sind, lässt sich nicht leugnen.“

„Das sieht schön aus.“ Yukita nahm ihm den Kranich aus der Hand und betrachtete ihn näher. „Aber auch sehr kompliziert. Ich glaube, zum Entspannen bleibe ich lieber bei der Koto.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen gab er den Kranich wieder zurück. „Und ich würde nicht sagen, dass die meisten Diskussionen wirklich so müßig sind. Manche können ganz interessant sein, um sich mal ein wenig abzulenken.“

„Man kann es lernen. Und natürlich gibt es auch noch viele andere Wege, sich zu entspannen“, nickte Ashitaka und beschloss beinahe noch im selben Augenblick, dass er für heute genug gefaltet hatte. „Die meisten Diskussionen halte ich allerdings schlicht und ergreifend für ermüdend.“

„Natürlich. Man kann alles lernen. Wenn man die Geduld dazu hat… aber ich glaube, für das da“ – und bei diesen Worten deutete Yukita auf das kleine Kunstwerk aus Papier – „würde mir die Geduld fehlen. Ich würde einfach alles irgendwann in den Papierkorb werfen oder anzünden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ihr findet die meisten Diskussionen also ermüdend? Gut, ich hätte Euch auch nicht für jemanden gehalten, der den Leuten ein Gespräch aufdrängt. Und apropos müde“, fügte er mit einem Gähnen hinzu, streckte sich dabei – und sollte diesen Satz niemals zuende bringen, denn noch im Strecken verlor er das Gleichgewicht. Yukita stieß einen erschrockenen Schrei aus und ruderte wild mit den Armen, um nicht vom Geländer zu fallen.

„Ich finde, es ist eine schöne Tradition“, entgegnete Ashitaka ganz ungerührt, während er den verzweifelten Kampf des schwarzhaarigen Samurai gegen die Schwerkraft einige Momente lang dezent und höflich nicht beachtete, „und ich könnte es nicht einfach wegwerfen. Zumindest manches nicht.“ Bei diesen Worten ließ er ganz kurz seinen Blick zu den Kamelien schweifen. „Ich sollte wohl hinzufügen, dass für die meisten Menschen eine Diskussion bedeutet, mit leeren Worten zu rechtfertigen, den eigenen Standpunkt um keinen Millimeter verrücken zu müssen. Und außerdem…“ Genau in dieser Sekunde verlor Yukita seinen Kampf. Ganz reflexartig griff Ashitaka nach seinem Kragen, bekam ihn tatsächlich noch am Stoff zu fassen und zog ihn zurück auf die Veranda. „Ihr solltet Euch ins Bett legen, wenn Ihr schlafen wollt. Das ist weniger hart als der Boden, mit dem Ihr um ein Haar Bekanntschaft geschlossen hättet.“

„Danke.“ Yukita atmete erleichtert auf und warf dabei einen Blick über die Schulter. „Ja, da lässt es sich bestimmt nicht gut schlafen. Aber… ich will gar nicht schlafen. Eigentlich wollte ich schon lange etwas essen gehen, aber dann… kam etwas dazwischen. Beziehungsweise jemand.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Wollt Ihr mitkommen?“, fragte er dann lächelnd. „Oh, und man kann sich auch einfach über irgendetwas Interessantes unterhalten. Das kann auch eine Diskussion sein. Ich mag dieses Gefechte mit leeren Worten auch nicht.“

Ashitaka dachte nach – einen, zwei Augenblicke, jedenfalls nicht besonders lange, und dann bemerkte erst, wie hungrig er eigentlich war. Also nickte er eben und stand auf. Bevor er in sein Zimmer ging, sammelte er erst einmal vorsichtig die Kamelien vom Holz der Veranda auf, trug sie dann hinein und schob eine Tür beiseite, hinter der sich ein Schrank verbarg. Dort suchte er unter vielen, sehr vielen Kamelien und einigen anderen Papiergeschöpfen einen Platz für die neuen Blumen und den Kranich. Dann schloss er den Schrank wieder und wandte sich Yukita zu. „Sicherlich gibt es auch interessante Unterhaltungen, aber ich sehe da einen gewissen Unterschied.“

„Natürlich gibt es da einen Unterschied. Aber genau das habe ich auch gemeint.“ Yukitas Lippen verzogen sich zu einem selbst für seine Verhältnisse überaus breiten und fröhlichen Lächeln. In Anbetracht der Ereignisse des vergangenen Morgens war seine unverschämt gute Laune schlicht und ergreifend grotesk. „Wo sollen wir hingehen. Mögt Ihr Soba-Nudeln? Ich kennen einen guten Laden mit Soba-Nudeln.“ Er nickte, wie um seine Worte zu bekräftigen, und schlenderte dann schon einmal los. Statt eines weißen trug Yukita jetzt einen zartblauen Kimono. Er hatte keine Waffen bei sich, und mit seinem langen, offenen Haar, das sanft ihm Wind wehte, sah er wie so ziemlich alles aus, nur ganz bestimmt nicht wie ein Samurai.

„Soba-Nudeln?“ Ashitaka hob seine Schultern. „Warum nicht. Das hört sich gar nicht so übel an.“

Und so folgte er Yukita, der auf seinen hochhackigen Geta voranschlenderte. Es war kein weiter Weg vom Schloss hinunter in die Stadt. Nach Gharith. Wie ein kunstvoll gewobener Teppich breiteten sich die Dächer, die Tempel, Pavillons und Pagoden der Stadt vor ihnen aus, geschmückt von den vielfarbigen Kunstwerken der Parkanlagen. Durchzogen wurde dieser fein verwobene Stoff von den Fäden des Straßennetzes und den sich kreuzenden Flüssen Hyogairo und Shirotama.

Der Name Gharith stammte aus dem Litischen, einer uralten Sprache, die mittlerweile fast nur noch an traditionsbewussten Akademien gelehrt und gesprochen wurde. Gharith bedeutete Gold, und Ashitaka verstand sehr gut, weshalb man der Hauptstadt des Hei’ya, des ebenen Landes im Süden Silvanias, diesen Namen gegeben hatte. Es war eine prächtige Stadt, und tatsächlich waren einige Dächer und Kuppeln golden oder wenigstens mit Gold verziert. Vor allem bei den zahlreichen Tempeln hatte man nicht mit Edelmetall gespart, auch an den Fassaden, den Fenstern und Türen. Unter den Strahlen der Sonne wurde Gharith in ein ganz besonderes Leuchten gehüllt. Hier hatte Ashitaka beinahe sein ganzes Leben verbracht, in dem Schloss mit der goldenen Stadt zu seinen Füßen. Als er die zahllosen Häuser seiner Heimatstadt jetzt betrachtete, kam er nach einigem Überlegen doch zu dem Schluss, dass dieser kleine Ausflug eigentlich gar keine allzu schlechte Idee gewesen war.

Wenigstens noch nicht.
 

Gharith war eine riesige Stadt, und fernab der großen Prachtstraßen gab es zahllose kleine, verwinkelte Gassen, in denen man sich allzu leicht verlaufen konnte. Yukita kannte den Weg zu dem kleinen Lokal aber mittlerweile nicht nur im Schlaf, nein, er hatte von allen möglichen Wegen auch den schnellsten herausgefunden. So dauerte es nicht lange, bis die beiden Samurai ihr Ziel erreicht hatten. Yukita schlug den Vorhang vor dem Eingang des niedrigen Gebäudes zur Seite und trat ein.

Gut gelaunte begrüßte er den Wirt, dann nahm er vor einem der Tische Platz. Dort zog er aus einem Ärmel einen Fächer hervor und verschaffte sich damit ein bisschen Kühlung in der doch recht stickigen Luft des kleinen Raumes. Ashitaka bedachte ihn mit einem reichlich kritischen Blick. Dann nahm er ihm gegenüber Platz und begann, in der Speisekarte zu blättern. Das konnte Yukita sich sparen. Er kannte diese Karte längst auswendig, und er wusste auch schon, was er bestellen würde.

Seinem Gegenüber schien diese Entscheidung deutlich schwerer zu fallen. Er blätterte ein-, zweimal durch die ganze Speisekarte. Dann zog er seine Augenbrauen zusammen. Näherte sich mit der Karte unauffällig – nun ja, mehr oder weniger unauffällig, aber immerhin in dem Bemühen darum – seinem Gesicht. Blinzelte einige Male. Und zog die Augenbrauen noch ein wenig mehr zusammen. Yukita entging auch nicht, dass Ashitaka die Lippen ein ganz kleines bisschen fester aufeinander presste.

Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Handrücken und lächelte.

„Soll ich Euch etwas empfehlen? Eigentlich ist alles gut, aber manche Sachen sind doch sehr scharf.“

Ashitaka grummelte irgendetwas Unverständliches, aber Yukita strahlte weiter und bestellte schon einmal Sake, als der Kellner ihren Tisch passierte. Dann sah er den Vizekommandanten ebenso begeistert wie erwartungsvoll an.

„Was könntet Ihr denn empfehlen?“, fragte dieser betont beiläufig und bestellte sich ebenfalls einen Sake. Yukita fächerte sich weiterhin Luft zu.

„Oh, im Grunde genommen das meiste, aber die Haifischflossensuppe ist besonders gut. Und wenn man sehr robuste Geschmacksnerven hat, kann man auch Hummerkrabbenschwänze in Kokossuppe bestellen, aber das ist sehr scharf. Ach, und die Geflügelsuppen sind auch gut. Aber wie gesagt, im Grunde ist alles gut, weil sie überall diese tollen Nudeln reintun.“

„Haifischflossensuppe klingt gut“, nickte Ashitaka und bestellte sich dann auch genau das. Ein ganz kurzes Aufatmen konnte er sich dabei nicht verkneifen. Er versuchte, es mit einem anschließenden Grummeln zu überspielen, als das aber nicht so recht funktionierte, nahm er eben einen Schluck des warmen Sake, der bereits gebracht worden war.

Yukita bestellte sich ebenfalls eine Haifischflossensuppe, dann sah er Ashitaka doch ein wenig verwirrt an.

„Was habt Ihr?“, erkundigte er sich und sah sich ganz automatisch um, ob um sie herum vielleicht irgendetwas vor sich ging, das das Missfallen des Vizekommandanten erregt haben könnte. Als er aber nichts entdeckte, sah er stattdessen Ashitaka fragend an.

„Nichts!“, antwortete dieser etwas zu schnell und zu harsch, holte dann tief Luft und fügte in ruhigerem und auch deutlich bestimmterem Tonfall hinzu: „Nichts. Ich bin wohl noch etwas nervös. Man kann nicht wissen, auf welche Ideen Sie noch kommen.“

„Das sieht mir eigentlich nicht nach Nichts aus“, entgegnete Yukita stirnrunzelnd. „Braucht Ihr… eine Brille?“ Dann blinzelte er. „Oh, keine Angst, der Laden hier ist sauber und die Rebellen werden wohl kaum hinter der Theke lauern, um Euch zu vergiften – und wenn“, lächelte er, „würde der Wirt uns das sagen.“

„Warum sollte ich eine Brille brauchen?“, fragte Ashitaka mit… fast schon wieder verdächtig ungerührter Miene. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, hinter der Theke lauern sie bestimmt nicht. Aber wer sagt uns eigentlich, dass sie nicht hier arbeiten und genau in diesem Moment unser Essen zubereiten? Möglich ist alles.“

„Nein, das ist nicht möglich. Ich kenne die Besitzer dieses Ladens. Die sind dem König treu.“ Yukitas Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. „Gegenfrage: Warum solltet Ihr keine Brille brauchen?“ Er hob die Schultern. „Im Grunde sehe ich dabei kein Problem. Mein Meister trägt zum Lesen auch eine Brille und sieht damit aus wie eine alte Eule.“

„Warum sollte ich eine Brille brauchen, wenn ich gut sehe?“, beharrte Ashitaka und nahm einen weiteren Schluck von seinem Sake. „Euer Meister kann von mir aus aussehen, wie er will, ob mit Brille oder ohne!“

Während er sprach, schweiften seine grauen Augen übrigens immer wieder in Richtung der Küche ab. Offensichtlich war Yukita nicht der Einzige, der mittlerweile schon wirklich großen Hunger hatte.

„Ich glaube leider nur nicht, dass Ihr so unglaublich gut seht… aber gut, lassen wir das.“ Yukita sah ein, dass dieser Versuch, eine Konversation zu beginnen, gescheitert war. In Ermangelung einer besseren Ablenkung begann er, mit dem Finger Linien auf dem Tisch zu malen. Dann blickte er ebenfalls in Richtung der Küche, obwohl er ganz genau wusste, dass es hier gut einmal ein wenig länger dauern konnte. Die Wartezeiten lohnten sich, ohne Frage, und deshalb nahm er sie ja auch wieder und wieder in Kauf. Aber leider knurrte sein Magen deshalb nicht weniger.

„Glaubt, was Ihr wollt“, erwiderte Ashitaka noch, und dann schwieg er ebenfalls. In seinen Blick trat etwas… Nachdenkliches, und dann, nach einiger Zeit, fragte er ganz plötzlich, vollkommen zusammenhangslos und ohne aufzublicken: „Glaubt Ihr an so etwas wie Gerechtigkeit?“

„An Gerechtigkeit?“, wiederholte Yukita, und er blickte dabei sehr wohl auf. „Wie genau meint Ihr das?“ Er war froh, als gerade in diesem Moment das Essen gebracht wurde. Aus mehreren Gründen. Bevor er noch irgendetwas antwortete, nahm er erst einmal seine Stäbchen, brach sie auseinander und fing an, zu essen. „Meint Ihr, ob es so was wie Gerechtigkeit überhaupt gibt?“

„Dass jeder das bekommt, was er verdient. Auf die eine oder andere Weise.“ Ashitaka nippte an seinem Sake und begann dann ebenfalls mit dem Essen, aber er sah dabei immer noch ein wenig abwesend aus. „Es war nur eine Frage. Ich meinte nicht… die Gerechtigkeit an sich, sondern… vergesst es.“

Yukita sah ihn an und vernachlässigte dafür sogar einen Moment lang seine wie immer köstliche Suppe.

„Ob jeder bekommt, was er verdient?“ Er konnte plötzlich gar nicht mehr verhindern, dass seine Stimme einen doch recht bitteren Klang bekam. „Das kommt ganz darauf an. Manche Menschen bekommen wirklich irgendwann das, was sie verdienen.“ Bei diesen Worten klang er sogar noch ein bisschen bitterer. „Aber jeder Mensch? Manche bekommen etwas, das sie nicht verdient haben, ohne etwas zu tun.“

Dann aß er weiter.

„Hm…“ Ashitaka murmelte irgendetwas vor sich hin, das Yukita aber nicht verstand, und schüttelte den Kopf. „Es ist sowieso ein leidiges Thema. Die Dummheit der Rebellen scheint mir zu Kopf gestiegen zu sein.“

„Ich bezweifle ehrlich gesagt stark, dass Euch überhaupt irgendetwas zu Kopfe steigen kann“, sagte Yukita leise und mehr zu sich selbst. Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Ihr seid seltsam. Zuerst beginnt Ihr ein Thema, und dann lenkt Ihr plötzlich wieder davon ab und erstickt es, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.“

„Es schien mir allerdings auch nicht so, als ob Euch das Thema sonderlich behagt hätte.“ Ashitaka sah ihn mit kalten Augen an. „Und im Übrigen bin ich nicht der Einzige, den man hier als seltsam bezeichnen könnte.“

„Nur, weil mir ein Thema nicht auf den Kopf hin zusagt, heißt das nicht, dass ich nicht mit mir darüber reden lasse. Aber…“ Yukita blinzelte den Vizekommandanten mit einem Gesichtsausdruck an, dessen Aussage, von nichts, aber auch wirklich gar nichts zu wissen, in ihrer Unmissverständlichkeit selbst Shôtoku Konkurrenz gemacht hätte. „Was meint Ihr damit, Ihr wärt nicht der Einzige, den man hier als seltsam bezeichnen könnte?“ Er sah sich einen Moment lang suchend um. „Habt Ihr einen Rebellen gesehen?“

„Nun“, sagte Ashitaka, ohne beim Sprechen auch nur eine Sekunde lang die Augen von Yukita abzuwenden, wobei sein Blick eigentlich schon genug gesagt hätte, „Ihr lächelt die ganze Zeit und vielleicht ist das auch besser so. Ich möchte nur nicht wissen, was dahinter liegt.“ Er hob seine Schultern. „Und im Grunde genommen ist mir nur aufgefallen, wie sinnlos meine Frage gewesen ist. Ich jedenfalls kenne nur eine einzige Antwort darauf: Nein, nicht jeder. Nur mancher.“

Für einen einzigen winzigen Augenblick hörte Yukita bei Ashitakas Worten auf, zu lächeln, als ob jemand das Strahlen auf seinem Gesicht ganz einfach hinfortgewischt hätte. Stattdessen sah er den Vizekommandanten in diesem Moment unglaublich kalt und… gebrochen an. Aber dann, von einer Sekunde auf die nächste, lächelte er wieder wie zuvor, als ob nichts gewesen wäre.

„Und warum sollte ich nicht lächeln? Das Wetter draußen ist schön, wir sitzen bei gutem Essen und rein formell habe ich eigentlich noch immer frei.“

„Ja, aber das alles trifft auf mich nicht weniger zu und…“ Er stockte, und Yukita könnte ihm förmlich an der Stirn ablesen, dass ihm irgendein unschöner Gedanke durch den Kopf ging. Dass ihm seine Mundwinkel dabei halb bis zum Kinn hinabhingen, daran hatte sich Yukita mittlerweile schon gewöhnt. „Im Übrigen stehen wir an der Schwelle zum Bürgerkrieg und die Welt ist ohnehin schlecht genug.“

„Ihr sagt es.“ Yukita klang plötzlich sehr ernst, lächelte aber unentwegt weiter. „Die Welt ist schlecht genug. Warum soll ich da mit einer Laune bis zum Kern des Planeten herumlaufen und mir das auch noch ansehen lassen? Glaubt Ihr, es macht den Menschen um uns herum sonderlich viel Mut, wenn selbst wir, die wir sie doch beschützen sollen, aussehen wie drei Tage Regenwetter?“

Dann zuckte er mit den Schultern, als ob ihm das ganze aber im Grunde genommen egal wäre.

„Und diesmal sagt Ihr es.“ Ashitaka klang gewohnt finster, aber sein Blick wirkte wieder ein bisschen abwesend. „Es ist meine Aufgabe, die Menschen… dieses Land zu beschützen. Nicht, für sie einen kostenlosen Alleinunterhalter zu spielen. Wer mutlos ist, wird diese Zeit ohnehin nicht überstehen.“

„Und Ihr glaubt nicht auch, dass es Euch nicht umbringen würde, wenn Ihr mal versuchen würdet, ein wenig besser gelaunt auszusehen? Das würde vermutlich allen Beteiligten… ja, wie schon gesagt, mehr Mut machen. Gerade in Zeiten wie diesen.“

„Ich sehe keinen Grund, anders auszusehen, als ich es gerade tue“, entgegnete Ashitaka, und jetzt klang er sogar noch ein bisschen kälter. „Jeder soll sich um seine eigene Motivation kümmern. Ich bin Samurai und kein… Geistesheiler.“

Yukita kratzte sich am Kopf.

„Ich kenne die Regeln eigentlich… aber ich kann mich nicht erinnern, dass da irgendwo drinstand, dass ein Samurai gucken muss, als sei er gerade gestorben.“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Aber ich würde mir nie anmaßen, Euch Ratschläge zu erteilen.“

Lächelnd machte er sich daran, den letzten Rest seiner Suppe zu verspeisen.

„Ebenso wenig steht dort etwas von verpflichtendem Dauergrinsen. Und von mir aus könnt Ihr mir Ratschläge erteilen, solange dahinter nur ein Minimum an Logik zu erkennen ist.“ Er wandte sich ebenfalls seiner Suppe zu, um den letzten Rest davon zu verzehren. „Jeder begegnet der Welt auf seine Weise. Belassen wir es dabei.“

„Ich rede auch nicht vom Dauergrinsen“, murmelte Yukita und klang dabei ein bisschen schmollend. „Und da war eigentlich Logik dahinter.“ Dann sprach er wieder lauter weiter: „Gibt es denn nichts, was Euch ein wenig aufheitern kann?“

„Wer sagt, dass man mich aufheitern muss? Ich kann mich nicht daran erinnern, darum gebeten zu haben.“ Mit einem leisen Grummeln schob er seine Schüssel beiseite. „Außerdem seid Ihr sowieso nicht in der Lage, dies zu tun“, fügte er sehr viel leiser hinzu.

Yukita sah den Vizekommandanten verwirrt an.

„Warum sollte ich nicht dazu in der Lage sein? Sagt mir doch erst mal, was, dann sage ich Euch, ob ich es kann.“ Sein Lächeln wurde ein bisschen breiter. „Versteht mich nicht falsch, es ist nicht so, dass ich gar nichts zu tun habe, aber Ihr seht immer so miesepetrig drein.“

Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch, verschränkte die Finger und stützte den Kopf darauf. Ashitaka sah ihn an, als ob er einen Moment lang wirklich darüber nachdenken würde.

„Ja gut“, sagte er dann, „da gäbe es zwei Möglichkeiten. Natürlich könntet Ihr mir helfen. Und zwar, wenn Ihr entweder Wunder vollbringen oder die Zeit zurückdrehen könnt.“ Ganz kurz presste Ashitaka sein Lippen etwas fester aufeinander, nur um danach noch ein bisschen finsterer dreinzublicken. „Wie ich aussehe und wie nicht, ist meine Sorge. Es hat mir jedenfalls noch nie geschadet.“

Einen Moment lang starrte Yukita den Vizekommandanten an.

„Bitte“, sagte er dann. Plötzlich lächelte er nicht mehr, sondern sah sogar ziemlich kühl aus. Und das nicht ohne Grund. Auch seine Geduld hatte ihre Grenzen, und diese waren genau in diesem Augenblick sogar ziemlich rücksichtslos überschritten worden. „Dann eben nicht. Ich muss Euch enttäuschen, ich kann weder das eine noch das andere, aber scheinbar ist es sowieso vergebene Mühe, Euch irgendwie einen Gefallen tun zu wollen.“ Er stand auf und legte zwei Münzen auf den Tisch. „Meinetwegen versinkt für den Rest Eures Lebens in schlechter Laune.“

Dann wandte er sich um und verließ den dämmrigen Raum.
 

Yukita schlenderte ziellos durch Ghariths verwinkelte Gassen, und plötzlich kamen sie ihm furchtbar dunkel vor. Noch viel dunkler als sonst. Er fühlte sich traurig und unverstanden, aber natürlich schenkte er jedem Menschen, dem er begegnete, ein ebenso fröhliches wie freundliches Lächeln. Wie immer. Yukita hielt erst an, als sich das Labyrinth aus Mauern, vorspringenden Dächern, Fenstern und Schiebetüren, aus noch lichtlosen Lampions und Laternen auftat und den Blick auf einen Park freigab, der wie eine Lichtung in einem Wald aus Holz und Stein lag.

Wie die meisten Parks in Gharith, allen voran natürlich der riesige Schlossgarten, war dieses bunte Kunstwerk aber nur auf den ersten Blick ein kleiner Fleck Natur inmitten der Großstadt. Tatsächlich war auch in diesem Garten nichts dem Zufall oder den Launen der Natur überlassen worden. Es war ein bewegtes Gemälde, mit geschwungenen Steinpfaden zwischen perfekt aufeinander abgestimmten Farbenspielen des kurzen, intensiv grünen Grases, der Bäume und der Blumen. Zwischen diesen zarten, fragilen Pflanzen floss ein Bach über steinerne Treppchen hinab in einen See, gesäumt von Weiden, niedrigen Hügeln aus perfekt gestutzten Büschen und tiefrotem Ahorn.

Yukita überquerte eine kunstvoll gearbeitete Holzbrücke, die über diesen Bach führte, dann ließ er sich auf einer Bank am Ufer nieder und betrachtete das Wasser, das an ihm vorbeifloss. Er saß einfach nur da und starrte vor sich hin, bis er unweit von sich ein Geräusch hörte. Dann stand er wieder auf. Der Park war groß genug, um niemandem begegnen zu müssen, und Yukita sehnte sich nach ein bisschen, nur ein bisschen Ruhe und Einsamkeit.

Dann aber sah er, dass es niemand anderes als Ashitaka war, der sich offenbar ebenfalls in diesen Park verirrt hatte. Yukita glaubte nicht, dass der Vizekommandant ihm hierher gefolgt war. Er schien von seiner Gegenwart auch noch nichts bemerkt zu haben. Mit einem immer noch unglaublich finsteren, aber gleichzeitig irgendwie… abwesenden Blick trat er neben ein kleineres Blumenbeet. Kamelien, ging es Yukita durch den Kopf. Schon wieder. Ashitaka ging neben dem Beet in die Knie, pflückte eine der scharlachroten Blüten und fixierte sie mit starrem Blick. Es war eine absurde Szenerie. Yukita betrachtete sie – betrachtete Ashitaka einen Moment lang. Dann ging er hinunter zum Wasser. Ließ sich dort am Ufer nieder. Und blickte noch einmal in den lebendig plätschernden, klaren Strom.

Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme, die er zwar kannte, aber nicht sofort erkannte.

„So in Gedanken versunken? Kennt man gar nicht von Euch.“

Jin-Roh, natürlich. Aber er sprach überhaupt nicht mit ihm, sondern mit… ach, wahrscheinlich mit Ashitaka, sonst war hier ja niemand. Und schon im nächsten Augenblick dachte Yukita auch überhaupt nicht mehr darüber nach, sondern wandte den Blick vom Wasser ab und seinen Händen zu. Plötzlich fing sein ganzer Körper an zu zittern, und jeder einzelne Zentimeter davon fühlte sich furchtbar schmutzig an. Yukita presste seine Lippen fest aufeinander.

Dann drückte er mit einem Ruck beide Oberarme und den Kopf in den klar dahinfließenden Bach.
 

Ende des ersten Kapitels

Two - Seawind's Calling ~ Der Ruf des Seewinds

I’ve got to take it on the otherside… ja, endlich geht es weiter mit unserem zu Papier gebrachten Rollenspiel. Vielleicht anders als vermutet? Es gibt keinen Schatten ohne Licht und keine Seite ohne Gegenseite, und im Endeffekt ist doch alles nur eine Frage des Standpunktes. Im Folgenden sei jedem selbst überlassen, wessen Seite er als die Richtige empfindet und wem die ganz persönlichen Sympathien gelten…

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass ich den Anfang des Kapitels toll finde, und dass Ceara mit mein einziger weiblicher RPG-Chara und damit etwas ganz Besonderes ist. Viel Spaß beim Lesen!
 

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Eizawa no Sai ~ TiaChan

Yan Luo Wang-Wu ~ SonGokuDaimao

Ceara ~ YueKatou
 

...alle anderen Charaktere sind in das geistige des Eigentum des Admins (mir) übergegangen und werden daher nicht näher erwähnt
 

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Inari war so aufgeregt wie vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben. Der Morgenhimmel war unglaublich weit und auch schon unglaublich blau, von einer ganz zarten, weichen Farbe. Er hatte nur das notwendigste Gepäck bei sich, und seinen Strohhut band er sicherheitshalber noch einmal besonders gut fest, weil ein leichter, warmer Wind über das erwachende Land strich. Inari wäre gerne jetzt schon weitergewandert – es war der perfekte Morgen, um zu wandern, doch leider war er verabredet und somit zum Warten verdammt. Das Meer war nah und die Luft schmeckte wunderbar nach Salz. Inari malte mit seinem Wanderstab Muster in den Staub der Wegkreuzung.

Es waren kaum mehr als vier Wochen vergangen, seit er das erste Mal von DELIA gehört hatte, und er wusste auch nur dementsprechend wenig darüber. Dass der Name eine Abkürzung war und für Democracy, Liberty und Alliance stand, natürlich. Demokratie, Freiheit, Einheit – das waren für Inari ganz große, fast schon mystisch klingende Worte, die der Seewind aus Midgard nach Silvania getragen hatte. Mit ihnen kamen Geschichten von einer glorreichen Revolution, vom Tod des tyrannischen Monarchen, einer Herrschaft des Volkes. Und Menschen mit Ideen, mit Visionen und mit dem Versprechen, das solche Geschichten auch an jedem anderen Ort der Welt zu einer Wahrheit werden konnten.

Für die konservativen Silvanier war der Kontinent Nemesis, mit seiner fortschrittlichen Gesinnung und einer blasphemischen Wissenschaft, die sich Technologie nannte, der Feind schlechthin. Wenn Dûnedja verdorben war, dann war Nemesis das personifizierte Böse. Und nun regierte im größten Land und der gleichnamigen Hauptstadt des Kontinents, der ungeschlagenen militärischen Übermacht, dem Sündenpfuhl Midgard, neben Chaos und Sittenlosigkeit noch etwas ungleich Schlimmeres – das Volk. Bauern. Menschen ohne Werte, Anstand, und vor allem ohne adliges Blut.

Inari war selbst nicht gelehrt, nicht gebildet, hatte keine große Ahnung von der Welt oder gar von Politik. Aber er wusste, dass sein Dorf von der Hikari no Jotei niedergebrannt worden war, weil sie nach einem einzigen Deserteur gesucht hatten. Dass Midgard niemals besiegt worden war, das wusste er auch, und deshalb konnte er nicht glauben, dass dort Bauern auf dem Thron saßen, die alles und jeden ins Verderben stürzten. Als man ihm erzählt hatte, dass dort vielmehr die fähigsten Krieger, die gerechtesten Männer regierten, die den Willen des Volkes achteten, weil sie selbst ein Teil von ihm waren, hatte das für ihn nicht nur ungemein plausibel, sondern wie ein wahr gewordenes Wunder geklungen. Inari konnte sich einen Ort wie Midgard überhaupt nicht vorstellen, höchstens in seinen kühnsten, seinen allerkühnsten Träumen. Aber die Aussicht, dass er höchstpersönlich Silvania zu einem solchen Ort machen konnte, hatte jeden Zweifel beseitigt, und so war auch er ein Teil dieser so genannten Widerstandsbewegung namens DELIA geworden.

Dass man Inari jetzt schon, nach einer derart kurzen Zeit der Mitgliedschaft, zu den Küsten eines unbekannten Landes schickte, erschien ihm endgültig wie ein Märchen. Und dann waren da noch irgendwelche Verbündeten, die er treffen sollte. Die angeblich mehr über seine Mission und über… einfach alles wussten. Darum stand er nun also hier, während der Seewind nach ihm rief, und wartete, ohne so recht zu wissen, worauf.

Bis er hörte, dass jemand seinen Namen rief.

„Inari?“

Er hob den Kopf und erblickte eine Gestalt, die sich ihm langsam näherte. Ein junger Fremder mit struppigem schwarzem Haar und einfacher Kleidung. Vermutlich ein heimatloser Wanderer, genauso wie er selbst. Inari musterte ihn gleichsam neugierig und misstrauisch.

„Kotoko?“, fragte er dann. Mehr hatte ihm DELIA zur Identifizierung seines ersten Mitstreiters nicht mit auf den Weg gegeben. Allerdings hätte ihm selbst eine noch so detaillierte Beschreibung nicht weitergeholfen, denn das Gesicht des Fremden war nahezu vollständig von einem dunklen Tuch verhüllt.

„Wartest du schon lange?“, murmelte er anstelle einer Antwort in den schwarzen Stoff vor seinem Mund hinein.

„Sag mir erst die Parole!“, rief ihm Inari zu und verengte seine Augen zu zwei Schlitzen. Die Idee, nach einer nicht existenten Parole zu fragen, stammte übrigens von ihm höchstpersönlich, und darauf war er auch mächtig stolz. Dies war sein erster richtiger Auftrag, da wollte er sich natürlich keinen Fehler erlauben, sondern lieber gleich richtig Eindruck schinden. Der Fremde zeigte sich jedoch vergleichsweise ungerührt, lediglich eine Spur entnervter Verwirrung blitzte in seinen dunklen Augen auf.

„Was soll der Mist?!“, grummelte er. „Es gibt keine Parole, es wurde nur ein Treffpunkt vereinbart. Und woher kenne ich wohl deinen Namen, hm? Berühmt bist du ja nicht gerade!“

Inari blinzelte Kotoko ein wenig enttäuscht an. So hatte er sich seinen Weggefährten aber nicht vorgestellt!

„Da hast du aber noch mal Glück gehabt!“, fügte er umso unverschämter hinzu, verzog seine Lippen zu einem Grinsen und ließ seinen Stock gekonnt durch die Luft wirbeln. „Wenn du der Falsche gewesen wärst, hätte ich dich nämlich platt machen müssen!“

„Hör auf, so zu reden!“ Kotoko beantwortete das Grinsen mit einem kalten Blick. „Das ist gefährlich. Und jetzt komm lieber, sonst verpassen wir das Schiff.“

Dann wandte er sich um, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, und stapfte die staubige Straße hinab, die zum Hafen führte. Er schritt schnell aus, sodass Inari Probleme hatte, ihm zu folgen. Trotz der angenehmen Temperaturen lief ihm Schweiß über den Rücken, und auch das Atmen fiel ihm schwerer und schwerer. Aber immerhin erreichten sie auf diese Weise schon bald die Küste, und das machte die Anstrengung auf jeden Fall wieder wett. Zielstrebig steuerte Kotoko auf ihr Schiff zu. Es nicht sonderlich groß, ein Zweimaster aus dunklem Holz, der fast ein bisschen schäbig aussah, aber trotzdem… oder gerade deshalb ganz wunderbar nach Abenteuer roch. Inari näherte sich ihm mit einer gewissen Andacht. Verstohlen beobachtete er einen riesigen Matrosen mit entblößtem, ganz unglaublich vernarbtem Oberkörper, der damit beschäftigt war, Muscheln und anderes Meeresungetier vom Rumpf ihres zukünftigen Gefährtes zu kratzen. Auf seinem Kopf wucherte hellblondes Haar, und er sang mit rauer Stimme vor sich hin:

„Fifteen men on the dead man’s chest – yo-ho, and a bottle of rum!”

Ein Midgarder, schoss es Inari durch den Kopf. Er hatte gehört, dass die meisten Menschen dort blonde Haare und blaue Augen hatten, und seine Worte klangen auch nach Midgardisch und überhaupt war es ja nicht abwegig, dass auf einem Schiff nach Dûnedja ein midgardischer Matrose arbeitete. Midgard und Dûnedja waren schließlich alte Verbündete! Inaris grüne Augen blitzten auf. Wenn das kein gutes Zeichen war, was dann?

„Komm endlich, Inari, sonst können wir hier bleiben!“, zischte ihm sein Begleiter zu, der von all dem offenbar nicht ganz so begeistert war wie er selbst.

„Tut mir leid“, nuschelte Inari vor sich hin, ohne es so zu meinen, und beschleunigte seine Schritte noch ein wenig mehr. Er betrat das Schiff und ging sofort weiter an die Reling, um wieder zu Atem zu kommen und sich mit einem Blick auf das Meer zu besänftigen, bevor er von seinem merkwürdigen Gefährten ernstlich genervt sein konnte. Der Ozean war sogar noch ein bisschen blauer als der Himmel. Seine Farbe ging von einem intensiven Türkis in ein dunkles Tiefblau über, auf dem das Sonnenlicht glitzernde Bahnen zog. Der Anblick war überwältigend. Inari konnte es kaum mehr erwarten, endlich abzulegen.

Da hörte er eine Stimme.

„Ihr müsst Kotoko sein.“

Inari fuhr herum – und sah, dass zu seinem Mitstreiter eine weitere Gestalt getreten war, ein junger Mann mit schulterlangem schwarzem Haar und violetten Augen. Er war recht klein, kaum größer als Inari selbst. Unter seinen Arm hatte er ein Buch geklemmt. Als er sah, dass Inari sich umdrehte, nickte er ihm zu und lächelte.

„Und Ihr seid vermutlich Inari. Ich habe nach Euch gesucht.“

Kotoko musterte den Fremden mit strengem Blick.

„Und wer bist du?“

„Mein Name ist Eizawa no Sai. Und ich habe…“ Er unterbrach sich kurz und fuhr dann in deutlich leiserem Tonfall fort: „Ich habe den Befehl, Euch bei Eurer Reise nach Dûnedja mit einer geheimen Sonderaufgabe zu begleiten.“

„Geheime Sonderaufgabe, ja?“ Langsam wurde Kotokos Blick derart eindringlich, dass er den Fremden geradewegs zu durchbohren schien. „Und woher soll ich wissen, dass das die Wahrheit ist?“

Sai sah ihn einige Sekunden lang schweigend an, dann stieß er einen tonlosen Seufzer aus.

„Daher vielleicht?“, erwiderte er und zog ein Papier aus seiner Tasche. Kotoko nahm und las es, und auch Inari konnte einen kurzen Blick auf das Schriftstück werfen. Tatsächlich, ein Befehl. Unterzeichnet war er mit dem Namen Tadao, und diesen Namen kannte selbst Inari, auch wenn er über die betreffende Person nicht allzu viel wusste. Außer, dass sie ein verdammt hohes Tier in den Reihen von DELIA war. Inari hatte keine Ahnung, was er von dieser ganzen Sache zu halten hatte, dafür fuhr der Unbekannte umso bestimmter fort: „Aber was sind das für Manieren? Einen Älteren zu duzen! Man sieht gleich“, fügte er wiederum leiser hinzu, „dass das dein erster Auftrag bei DELIA ist.“

Jetzt sah Kotoko endgültig wütend aus, und Inari konnte nicht so genau sagen, ob sich diese Wut gegen ihre neue Bekanntschaft, gegen den Befehl oder doch gleich gegen Beides richtete.

„Schön“, sagte er mit eisig kalter Stimme. „Aber das ist nicht mein erster Auftrag, glaub mir. Ich regle die Dinge auf meine Weise, und das weiß der Chef.“

„Dann werde ich nach der Rückkehr wohl oder übel berichten müssen, was für ein Verhalten bei uns einfach so geduldet wird“, entgegnete Sai gelassen und zuckte mit den Schultern. „Eigentlich haben wir ja überhaupt keine Zeit für solche Kleinigkeiten. Aber trotzdem bleibe ich älter als du.“ Er seufzte leise und sah sich um. „Na ja, wie auch immer. Das Schiff müsste gleich ablegen, soviel ich weiß… von da an öffnet der Speiseraum. Wollt ihr mitkommen? Ihr hattet sicher noch kein Mittagessen. Dann können wir den weiteren Verlauf der Reise besprechen.“

Als ob er nur auf dieses Stichwort gewartet hätte, knurrte just in diesem Augenblick Inaris Magen, und zwar nicht unbedingt sehr leise und dezent.

„Also… ich hab schon Hunger“, murmelte er etwas verlegen und sah unsicher zu Kotoko.

„Pah“, machte der und musterte den Fremden noch einmal mit unverhohlenem Misstrauen. Dann aber war auch von seinem Magen ein protestierendes Knurren zu hören, und so machte sich die merkwürdige kleine Gruppe doch noch gemeinsam auf den Weg unter Deck.
 

Als Kotoko die Tür öffnete, begrüßte die Drei bereits ein köstlicher Duft nach Essen. Inari leckte sich über die Lippen. Erst jetzt stellte er fest, wie hungrig er eigentlich war. Die Tische und Bänke des erstaunlich geräumigen Speisesaals waren aus dem selben dunklen Holz wie das Schiff selbst, und es gab nur wenige Bullaugen, was die Atmosphäre des Raumes trotz seiner Größe unangenehm erdrückend machte. Kotoko setzte sich an einen Tisch, der förmlich in den Schatten versank, und betrachtete seine Umgebung. Inari nahm neben ihm Platz und zog sich seinen Hut tiefer ins Gesicht. Sai setzte sich zu ihnen und winkte eine Bedienung herbei, bei der sie – endlich! – Essen bestellten.

Dann wurde es still. Natürlich war draußen immer noch das beruhigende Lied der Wellen zu hören, und hier und dort auch das Lachen, Plaudern und Grölen der Mitreisenden und Schiffsmänner. Das Klappern von Besteck und von Rumkrügen. Schritte auf dem Deck über ihnen. Aber keiner in ihrer kleinen Runde sprach ein Wort. Inari fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Als das Essen nach erfreulich kurzer Zeit gebracht wurde, musste er feststellen, dass sein Appetit nicht mehr dasselbe war wie noch vor wenigen Minuten. Lustlos knabberte er auf seinem Spieß mit Fischpastete herum.

„Was ist?“, brach Sai endlich das Schweigen. „Du hattest doch gerade noch Hunger. Bist du krank?“ Bevor Inari reagieren konnte, legte er ihm eine Hand auf die Stirn. „Fieber hast du jedenfalls nicht. Du solltest gut essen. Die Schifffahrt ist lang, und auf Dûnedja solltest du auf keinen Fall krank ankommen.“

„Äh, nein, alles okay!“, versicherte Inari und zuckte zurück, nur um sich dann umso hastiger ans Essen zu machen. Als er erst einmal richtig damit begonnen hatte, meldete sich auch sein Hunger wieder zurück, und so verspeiste er seine Pastete bis zum letzten Krümel, um sich dann satt und zufrieden zurückzulehnen. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er etwas vergessen hatte. „Uhm… Kotoko? Sag mal… was genau haben wir denn für einen Auftrag?“ Ein Anflug von Röte legte sich auf seine Wangen. „Man hat mir gesagt, du würdest mich einweihen…“

Kotoko seufzte, und zwar sehr genervt.

„Warum eigentlich immer ich…“

„Entschuldigung“, murmelte Inari, obwohl es ja ganz bestimmt nicht seine Schuld war, dass man ihm in DELIAs Reihen offensichtlich noch nicht vertraute und ihn lieber unwissend auf irgendwelche Aufträge in Übersee schickte. Statt Kotoko sah er nun Sai erwartungs- und hoffnungsvoll an. Vielleicht war sein anderer Gefährte ja ein kleines bisschen mitteilsamer.

„Mh“, machte dann aber doch Kotoko. Er hatte sich mittlerweile das Tuch vom Gesicht gezogen, um ebenfalls essen zu können, und jetzt verzog er die Lippen zu einem finsteren Lächeln, das fast schon einem Zähneblecken gleichkam. „Du bringst mich auf eine Idee… testen wir doch mal unseren… Freund. Auch er müsste ja wissen, worum es geht… wenn er hier so plötzlich mitsamt Befehl auftaucht!“

„Du vertraust mir wohl immer noch nicht, was? Dabei habe ich Euch das Schreiben Tadaos doch schon gezeigt!“ Etwas leiser, aber doch noch gut hörbar, und in einem Tonfall, als ob er zu sich selbst sprechen würde, fügte Sai hinzu: „Oder… kann er vielleicht nicht lesen?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Jedenfalls wird das Schiff in ungefähr anderthalb Wochen nahe der Stadt Baharah an Dûnedjas Westküste anlegen. Was ihr dort großartig machen müsst, kann ich euch jedoch nicht erzählen. Ich bin ja nicht da, um euren Auftrag zu erfüllen, ne? In dem Befehl steht, wie ihr gesehen habt, dass ich mich euch anschließen soll, um von dem Hafen sicher in die Stadt zu gelangen. Ich muss dort jemanden treffen, der sich so kurzfristig gemeldet hat, dass es nicht mehr möglich war, euch noch über mein Kommen zu informieren. Sein Schreiben kam heute erst an, und es war Glück, dass ich nicht weit von dieser Hafenstadt war, sonst hätte ich es nicht mehr auf das Schiff geschafft. Ihr seht, es war keine Zeit für lange Gespräche.“

„Klingt ja wirklich alles ganz toll“, stieß Kotoko hervor, und wieder schienen seine Augen Sai förmlich zu durchlöchern. „Dumm nur, dass ich dir kein einziges Wort glaube. Ich vertraue dir ganz und gar nicht, und bisher hat mich mein Gefühl noch nie im Stich gelassen. Aber… wir werden ja sehen, wer du bist…“

Dann begann auch er zu essen und wandte seinen Blick wieder von Sai ab

„Wie du meinst“, entgegnete Sai ungerührt. „Jedenfalls hätten wir dann wohl erst mal besprochen, was wir zu besprechen hatten. Zumindest, was mich angeht. “ Er warf Kotoko einen letzten Blick zu, den dieser aber gekonnt ignorierte. Sai ließ sich davon nicht im Mindesten beeindrucken, sondern zückte ein dûnerisches Buch, wandte sich ab und begann, gleichzeitig zu lesen und weiterzuessen.

Inari fühlte sich einen Moment lang so hilflos, dass er wie gelähmt war. Dann atmete er tief durch, zwang sich ein Grinsen auf das Gesicht und begann, in seinem Beutel herumzuwühlen.

„Hey, soll ich euch mal was zeigen?“, fragte er, wartete aber gar nicht erst auf eine Antwort, sondern zauberte strahlend ein rostiges Messer, eine Uhr und einen schrumpeligen Apfel hervor. Dann begann er, mit seinen Fundstücken zu jonglieren. Zunächst warf er den Apfel hoch, dann die Uhr und zuletzt das Messer. Seine Hände bewegten sich immer schneller und schneller, bis er selbst kaum mehr mit bloßen Auge erkennen konnte, was er da gerade durch die staubige Schiffsluft wirbelte.

„Wow, nicht übel“, lächelte Sai und blickte nun doch wieder von seinem Buch auf. „Wo hast du das gelernt?“

„Selber beigebracht“, grinste Inari. Dann plötzlich hielt er inne. In seinen Händen hielt er nur noch das Messer und den Apfel. Einen Moment lang breitete sich ein verwirrter Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Er zögerte. Und grinste dann noch ein bisschen breiter, beugte sich vor und zog die Uhr hinter Kotokos Ohr hervor. „Tadaaa!“

Jetzt war es Sai, der überrascht dreinblickte.

„Oh“, sagte er, „einen Moment lang dachte ich schon, sie wäre runtergefallen und kaputtgegangen. Kannst du Magie?“

„Na ja… nicht wirklich“, murmelte Inari. Er spürte, wie ihm eine unangenehme Wärme in die Wangen stieg. „Nur ein paar Taschenspielereien und Zaubertricks. Mit wirklicher Magie hat das nichts zu tun. Bin ja schließlich kein Dämon oder so.“

„Wieso Dämon? Es können ja nicht nur Dämonen Magie.“ Sai zuckte mit den Schultern. „Ich bin übrigens ein Dämon, zumindest zur Hälfte. Und kann trotzdem keine Magie. Oder nicht wirklich.“

„Ah, stimmt natürlich“, nickte Inari hastig. Dann musterte er sein Gegenüber ausgiebig. „Du bist ein Halbdämon? Sieht man gar nicht.“ Er starrte Sai noch einige Momente lang an, bemerkte dann überhaupt erst, dass er starrte und wandte sich hastig wieder ab. Unbewusst band er seinen Hut noch ein bisschen enger fest.

„Stimmt, man sieht’s kaum. Höchstens an der Augenfarbe.“ Sai lachte und beobachtete Inari bei seinem Tun. „Du siehst aus, als wolltest du dich unter dem Hut verstecken. Oder hast du Angst, ihn zu verlieren? Keine Sorge, hier drin ist ja kein Wind.“

„Na ja…“ Zu seinem größten Missfallen merkte Inari, dass er noch ein bisschen roter wurde. „Er… er… ähm… ist mir einfach nur sehr wichtig.“

Er versuchte, sich so unauffällig wie möglich auf seinen Nachtisch zu konzentrieren – als wortloser Themenwechsel, sozusagen. Leider war der schon nach wenigen Bissen verspeist, und sofort breitete sich wieder diese peinliche Stille zwischen ihnen aus. Ganz kurz wagte es Inari, Kotoko einen unsicheren Blick zuzuwerfen, aber der blickte nach wie vor finster und missgelaunt drein.

„So“, brach dann endlich Sai das Schweigen, „ich gehe jetzt mal das Schiff anschauen. Kommst du mit?“

Bei diesen Worten sah er Inari an. Der zögerte einen Moment lang, aber als er Kotoko leise grummeln hörte, stand er doch lieber auf und schenkte Sai ein Lächeln.

„Gut“, nickte er, dann verließ er gemeinsam mit dem Schwarzhaarigen den Speisesaal. Kotoko folgte ihnen nicht. Das überraschte Inari nicht weiter, aber ein bisschen betrübte es ihn doch. Allerdings nicht sonderlich lange, denn als er dann erst einmal an Deck war, blieb ihm nicht mehr viel Zeit für trübe Gedanken. Die Kulisse, die sich ihm bot, war atemberaubend. In ganz weiter Ferne war das Land noch zu erkennen, aber alles andere war strahlend blau. Der Himmel. Die Wellen. Es war einfach unglaublich, wie die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzerte, die der Schiffskörper tanzen und springen ließ. Alles war in Bewegung. Inari hatte nicht gewusst, wie schön Wasser sein konnte.

Und dann das Schiff. Da waren überall Dinge, die Inari noch niemals zuvor gesehen hatte, dicke Taue und Kisten und merkwürdige… Arbeitsgeräte, zusammengerollte Segel und kleine Boote. Außerdem natürlich die Seemänner und die Reisende, all das hatte einen ganz eigentümlichen, fremdartigen Zauber, und die Luft roch nach Freiheit. Inari wusste gar nicht, wohin er zuerst sehen sollte, weil einfach alles so unglaublich spannend war. Auch Sai sah sich ganz genau um, und dabei wirkte er fast ein wenig abwesend. Inari fragte sich, ob auch er das erste Mal in seinem Leben ein Schiff aus der Nähe sah.

Im nächsten Moment dachte Inari dann aber überhaupt nichts mehr, als ihm ein heftiger Windstoß mitten ins Gesicht schlug. Instinktiv griff er nach seinem Hut, so schnell er nur konnte, und drückte ihn ganz fest auf seinen Kopf.

„Was war das denn?!“, fragte er und fixierte Sai starr mit seinen Augen, die von der salzigen Brise ein bisschen tränten.

„…was?“ Sai schreckte merklich hoch, als Inari ihn ansprach. „Oh… dein Hut… tut mir leid, ich hab nicht daran gedacht, dass er hier wegfliegen kann. Aber er ist ja noch da, zum Glück.“ Dann lächelte er, und seine violetten Augen blitzten auf. „Schau mal, was ich gefunden hab, hier kann man durch das Fenster in die Kabine des Kapitäns sehen. Ist das nicht interessant?“

Inari lugte durch das Bullauge und nickte eifrig.

„Willst du auch mal reinschaun?“, fragte er dann etwas schuldbewusst und machte Platz für seinen Gefährten.

„Gern.“ Sai warf neugierig einen Blick in den halbdunklen Raum. „Oh, da liegt ein Kompass auf den Tisch. Und eine Menge Sachen, von denen ich nicht mal weiß, wofür sie da sind.“ Er wandte sich wieder vom Fenster ab und seufzte. „Ich wüsste wirklich gern, wie so ein Schiff funktioniert, du nicht? Ich hab leider keine Ahnung davon.“

„Bestimmt interessant“, stimmte Inari zu, fuhr dann aber etwas verlegen fort: „Aber ehrlich gesagt… ich bin schon auch froh, wenn ich wieder hier runter bin.“

„Oh, bist du seekrank?“

„Das nicht, nein, aber… ich bin noch nie mit einem Schiff über das Meer gefahren und… es macht mir schon ein bisschen Angst“, murmelte er. „Dass man außer Wasser gar nichts mehr unter sich hat…“

„Ach so…“ Sai blickte über die Reling in den tiefblauen Ozean. Auf seinem Gesicht ließ sich rein gar keine Angst ablesen, sondern wiederum eine etwas gedankenverlorene Neugierde. „Na ja, es wird schon sicher ankommen. Schließlich haben wir ja etwas Wichtiges auf Dûnedja zu tun, ne?“

Inari nickte, und bei dem Gedanken an Dûnedja und an ihre Aufgabe spürte er sofort wieder eine durchaus positive Aufregung in sich aufsteigen. Eine neue Küste erwartete ihn – und das erste richtige Abenteuer seines Lebens. Was kümmerte es ihn es ihn schon, dass sein Begleiter nicht ganz den Vorstellungen entsprach, die er sich zuvor von ihm gemacht hatte? Über ihm breitete sich ein wolkenlos blauer Himmel aus, und aus der Ferne hörte er den Ruf des Seewinds.
 

Zugegeben – die kommenden Tage auf dem Schiff waren nicht ganz so spannend wie der erste. Der Ozean war und blieb tiefblau, der Himmel ungetrübt, der Wind nahm ab und zu, ohne jemals zum Sturm zu werden. Die Sonne begleitete die Reisenden, bis der Mond und die Sterne sie von ihrem Wachposten am Himmel ablösten. Es war eine ruhige Überfahrt, aber vielleicht kam gerade deshalb eine immer stärker werdende Unruhe unter den Reisenden auf. So schön der Anblick des endlos weiten Ozeans auch sein mochte, auf die Dauer verlor er eben doch an Unterhaltungswert. Und der Duft nach Abenteuer, der nach wie vor in der salzigen Luft lag, war wie ein Versprechen, dessen Einhaltung nun quälend lange auf sich warten ließ.

Als dann endlich die Küste Dûnedjas in Sicht kam, hielt es Inari kaum mehr bis zu den ersten Strahlen der Morgensonne in seiner kleinen Kabine unter Deck aus. Nervös schritt er entlang der Reling auf und ab, fixierte wieder und wieder den sich nähernden Streifen Festland, als ob er ihn damit zu größerer Eile antreiben könnte (dabei war es doch eigentlich das Schiff und nicht das Land, das sich bewegte!). Die Stunden vergingen qualvoll langsam, und auch als sich das Deck langsam mit Menschen füllte, konnte Inari kaum eine Minute lang stillstehen. Kotoko quittierte dies lediglich mit finsteren Blicken und hüllte sich darüber hinaus in Schweigen, aber seine düstere Grundstimmung konnte Inaris nervöse Vorfreude auch nicht weiter trüben.

Die Hafenstadt, in der sie anlegten, trug den Namen Al’Sharhay. Sie war weder besonders groß noch besonders klein und schon aus der Ferne betrachtet eine ganz typische Hafenstadt, mit all den Reizen, die eine solche eben ausmachten – viele Schiffe, viele Menschen und viele Verkaufsstände, an denen Spezialitäten aus aller Herren Länder feilgeboten wurden. Inari verfolgte das bunte Treiben am Hafenkai mit lodernder Neugierde – und übersah dabei um ein Haar eine Gestalt an Bord, die ganz ruhig an der Reling stand und auf das Meer hinausblickte.

Es war ein Mann, dessen ganze Erscheinung das genaue Gegenteil von Inari selbst ausstrahlte, nämlich eine tiefe innere und äußere Ruhe. Seiner großer, schlanker Körper war in eine schlichte graue Priesterkutte gehüllt. Unter seiner Kapuze blitzten grüne Augen und Strähnen grauweißen Haares hervor. Sein Gesicht allerdings verriet, dass er nicht älter als Ende zwanzig sein konnte. Er trug einen Stab bei sich und betrachtete die sich nähernde Stadt. Inari war sich nicht ganz sicher, ob der Fremde ihn und ihren beinahen Zusammenstoß überhaupt bemerkt hatte. So blickte er sich stattdessen nach seiner zweiten Bekanntschaft der jüngsten Zeit um, Sai. Frustrierenderweise konnte er ihn unter all den umstehenden Menschen nicht entdecken und blieb mit seiner Nervosität und einem einzigen missmutigen Mitstreiter allein.

Dieser kurze Anflug von Ärger währte nicht lange. Nur noch wenige Minuten vergingen, dann legten sie an. Ihr Schiff wurde am Hafen vertaut, über eine Holzplanke mit dem Land verbunden, und endlich, endlich konnten die Reisenden von Bord gehen! Inari hüpfte mehr dem festen Boden entgegen, als dass er ging. Er war wie berauscht von der Geruchssinfonie, die ihn empfing – Meeresluft, zahllose exotische Gewürze, der Geruch von Tieren und köstliche Essensdüfte, vermischt mit fremdartigen Parfums, feuchtem Holz, Weihrauch. Da waren so viele verschiedene Menschen, mit dunkler und heller Hautfarbe, mit bunten, verzierten Prachtgewändern, Uniformen, Schleiern und kunstvollen Frisuren. Inari entdeckte auch den Mann im Priestergewand wieder. Er stand an der Hafenmauer, dem Ozean zugewandt, und verbeugte sich vor den türkisblauen Fluten.

Da wurde Inari plötzlich unsanft in die Seite gestoßen.

„Wir sollten vorsichtig sein“, flüsterte Kotoko in sein Ohr. Inari suchte seinen Blick – musste aber feststellen, dass sein Begleiter überhaupt nicht ihn betrachtete, sondern in die Menge starrte. Auf seinem Gesicht lag ein angespannter, fast nervöser Ausdruck, und erst jetzt bemerkte auch Inari, dass er sich beobachtet fühlte. Aber wen hatte Kotoko da inmitten des bunten Hafentreibens entdeckt? Sai? Kotoko hatte ihm ja offensichtlich nicht getraut, aber wieso sollte Sai sie jetzt heimlich beobachten, wo er sich ihnen auf dem Schiff doch so freundlich, so zwanglos genähert hatte?

Doch dann fiel auch Inari eine Gestalt unter all der anderen Gestalten auf. Er sah nicht viel von ihr – einen schlanken Frauenkörper, der mit zahllosen schwarzen Stoffbahnen auf so geschickte Weise umwickelt war, dass man weder zuviel noch zu wenig davon erkennen konnte. Dazwischen schneeweiße Haut. Lange Beine in hohen schwarzen Stiefeln aus weichem Leder. Eine schwarze Kapuze, unter der kein Gesicht zu erkennen war, nur das kurze Aufblitzen eines hellen Auges mit stechendem Blick. Langsame, katzenhaft schleichende Bewegungen. Und dann war die Fremde wieder in der Menge verschwunden.

Kotoko sah sich suchend um, und Inari begriff sofort, dass sie es war, die seinem Gefährten aufgefallen war, die ihn beunruhigt hatte. Die sie beobachtet hatte. Aber weshalb? Wer war diese Frau? Eine Dûnedan wohl kaum, wenn Inari bedachte, wie hell ihre Haut gewesen war. Jedenfalls war sie ebenso plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Inari versuchte, sich mit diesem Gedanken zu beruhigen, aber es gelang ihm bei aller Neugierde, aller Vorfreude, aller wohligen Aufregung nicht vollständig.

Auf den sehnsüchtig erwarteten und anfänglich so perfekten Ankunftstag in der fremden, exotischen Welt war ein kühler Schatten gefallen.
 

Yan hatte es sofort bemerkt.

Einen Blick in seinem Rücken, kälter als der Nordwind auf hoher See. Ein Blick, der einzig und allein dem Zweck diente, gespürt zu werden. Er schloss die Hände etwas fester um seinen Priesterstab und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Seine Augen schweiften suchend über die bunte Menschenmenge, die ihn umgab. Sie wurden schon bald fündig: Da war eine Gestalt, gekleidet in ein Nichts aus schwarzen Stoffbändern, die sich betont unauffällig einer dunklen Gasse zwischen zwei der weißen Lehmhäuser des Hafenkais näherte, um dort in die Halbschatten einzutauchen. Er folgte ihr, schleichend, bedächtig. Eine dünne Schicht aus Sand bedeckte den hellen Steinboden und dämpfte seine vorsichtigen Schritte noch ein bisschen mehr.

Dankbar trat auch er in das Dämmerlicht, das wenigstens eine kurze Erholung von der erbarmungslosen Gewalt der brennenden Sonnenstrahlen am Wasser bot. Die Gasse war recht lang und schnurgerade. Trotzdem konnte Yan keine Menschenseele erkennen. Wo war die Unbekannte mit dem eisigen Blick? Er war sich sicher, dass sie genau hier zwischen den einfachen Häusern verschwunden war! Langsam machte er einige Schritte vorwärts und sah sich nach einer gut verborgenen Abzweigung um. Da spürte er, ganz plötzlich und unvermittelt, etwas sehr Kaltes und sehr Scharfes an seinem Hals.

„Shhh…“, hauchte ihm eine nicht minder kühle Stimme ins Ohr, „jetzt nur keinen Laut, mein Hübscher!“

Yan zuckte zusammen – doch schon im nächsten Moment entspannte er sich wieder.

„Ich habe nicht vor, Euch anzugreifen“, antwortete er gelassen, „geschweige denn, Euch anderweitig etwas anzutun. Ich sehe also keinen Grund für eine derart… unfreundliche Begrüßung.“

„Ich müsste nicht einmal nachdenken, um dir mindestens fünfzehn Gründe zu nennen, dir hier und auf der Stelle die Kehle durchzuschneiden. Und wer sagt dir eigentlich, dass nicht einfach einer dieser Gründe ist, dass ich gerade Lust dazu habe?“

„Wenn es wirklich so ist, dass Ihr nur töten würdet, um Eure unwürdige Befriedigung der Blutlust zu stillen, dann tut Ihr mir leid, denn das ist der niederste und unehrenhafteste Grund, den ein Mensch haben kann, selbst die primitivsten Tiere handeln nicht derartig.“ Tatsächlich lag bei diesen Worten keine Spur von Angst, sondern nur ein mitleidiger Zug auf Yans Gesicht.

Die Fremde lachte ein leises, eisiges Lachen, dann flüsterte Sie:

„Wofür kämpfst du?“

„Ich kämpfe überhaupt nicht“, entgegnete Yan, „zumindest nicht mit physischer Gewalt, sofern es sich vermeiden lässt. Mein Ziel ist eine Welt ohne das Geklirr von Schwertern und ohne sinnloses Blutvergießen.“ Er schloss seine Hände noch ein wenig fester um seinen Stab. „Also bitte ich Euch, mich nun loszulassen, damit wir wie zwei zivilisierte Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen können.“

„Welch naive Fantasie!“ Aus den Augenwinkeln konnte Yan wahrnehmen, dass die Fremde unter ihrer Kapuze den Kopf schüttelte. Dann aber trat sie tatsächlich einen Schritt zurück und ließ ihren Dolch sinken. „Nun liegt es an Euch, Euch herumzudrehen und mir in die Augen zu sehen. Und bitte – nehmt die Hand von Eurer Waffe, ich möchte sie Euch nicht abschneiden müssen.“ Sie lehnte sich gegen eine der staubig weißen Hauswände. „Also los – tun wir so, als ob wir zivilisierte Menschen wären.“

Yan räusperte sich, dann senkte auch er seine Waffe und wandte sich um. Er streifte sich die Kapuze aus dem Gesicht und lächelte sein Gegenüber freundlich an.

„Mein Name Yan Luo Wang-Wu. Es freut mich, Euch kennen zu lernen, und mögen die Götter euch geneigt sein!“ Er legte seine Handflächen aufeinander und verneigte sich, dann streckte er der Fremden seine rechte Hand entgegen. „Ich bin ein Schamane von der Insel Jigoku vor der südöstlichen Küste Silvanias.“

Ein kurzer Moment des Zögerns verging, und dann streifte auch seine seltsame neue Bekannte ihre schwarze Kapuze zurück. Unter dem dunklen Stoff und dessen Schatten kam ein sogar überaus schönes Gesicht zum Vorschein, das in der Tat perfekt zu dem nicht minder schönen Körper passte. Die schmalen Katzenaugen der Frau hatten die Farbe von Eis – ein sehr helles Blau, beinahe derselbe Farbton, in dem auch ihr langes Haar schimmerte, das sie zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt hatte, teils offen, teils geflochten. Ein nicht zu deutendes Lächeln lag auf ihren Lippen.

„Mein Name ist Ceara“, sagte sie, machte jedoch keinerlei Anstalten, Yans Hand zu ergreifen. „Und macht Euch nicht die Mühe, mir den Segen der Götter zu wünschen. Die haben mich schon lange vergessen.“

„Die Götter vergessen einen nicht“, entgegnete Yan und ließ seine Hand wieder sinken, ohne dass das Lächeln auf seine Lippen an Wärme verloren hätte. „Sie wissen nur, dass es nichts bringt, mit jemandem zu reden, der nichts hören will.“ Er strich sich eine Strähne seines hellen Haares aus der Stirn. „Darf man übrigens fragen, was Ihr hier macht und was Euch dazu veranlasst, derart… vorsorglich mit neuen Bekanntschaften umzugehen?“

„Es scheint wohl tatsächlich zu Eurem Beruf zu gehören, einen schier unerschöpflichen Vorrat an tröstenden Floskeln parat zu halten“, murmelte Ceara, während sie ihre Waffe endgültig wegsteckte. „Auch eine bewundernswerte Fähigkeit. Und natürlich ist dies kein zufälliges Treffen. Das dachtet Ihr doch nicht wirklich? Wir haben mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Offenbar auch ein gemeinsames Ziel.“ Sie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite. „Bedrückt es Euch, dasselbe Ziel zu haben wie ein Mensch, der schlimmer ist als ein Tier?“

„Wenn ich an den Zufall glauben würde, wäre ich kein Schamane“, lächelte Yan. „Dieses Treffen war durch die Götter vorherbestimmt. Und ich glaube, Ihr habt mich falsch verstanden. Ich sagte nicht, dass Ihr schlimmer seid als ein Tier. Ich sagte, dass Euer Grund zu töten nicht einmal eines räudigen Fuchses würdig wäre. Aber lassen wir das, wir waren gerade dabei, uns gut zu verstehen.“

„Dieses Treffen war vorherbestimmt durch unsere Auftraggeber, mein Hübscher!“ Die junge Frau löste sich von ihrem Platz an der Wand und beschrieb einen Halbkreis um Yan herum, wobei ihre lautlosen Bewegungen wiederum etwas Katzenhaftes an sich hatten. „Und ich habe nie behauptet, dass dies mein Grund ist, zu töten. Ich habe nur gesagt, dass er es sein könnte. Und überhaupt – wen habe ich denn eigentlich umgebracht? Ich sehe gar keine Leiche.“

Yan folgte amüsiert ihren eleganten Schritten mit seinen grünen Augen.

„Ich sehe schon, wir beide werden bestens miteinander auskommen“, sagte er und meinte es auch so. „Ah, aber was genau gedenkt Ihr jetzt zu tun? Wärt Ihr wohl so nett und würdet mir Auskunft darüber geben, wo genau sich unsere Auftraggeber befinden? Ich muss ehrlich gesagt eingestehen, dass ich mich in dieser Stadt nicht sehr gut auskenne.“

„Im Grunde genommen braucht Ihr genau eines zu wissen“, antwortete Ceara. „Wir sind auf dem Weg in den Palast des Königs von Melkaba. Er soll uns auf die eine oder andere Weise unterstützen. Für uns ist darüber hinaus ein Zimmer in einer nahe gelegenen Herberge reserviert.“ In ihre hellblauen Augen trat einige Momente lang ein amüsiertes Funkeln. „Ihr habt doch hoffentlich kein Problem damit, Euer Zimmer mit einer Frau zu teilen?“

„Na, das hört sich doch bestens an“, antwortete Yan lachend. „Ein weiches Bett, etwas Warmes zu essen und eine Audienz beim werten König, und das alles in angenehmer, unterhaltsamer Gesellschaft. Besser geht es gar nicht. Und keine Sorge – ich werde Euch sicherlich nicht belästigen, immerhin habe ich wie jeder Schamane ein Zölibatgelübde abgelegt.“

„Ihr scheint ja sehr genau zu wissen, worauf es im Leben ankommt.“ Mit einer fließenden Bewegung zog sich Ceara ihre Kapuze wieder ins Gesicht. „Und übrigens, Ihr versteht es auch erstaunlich gut, Komplimente zu machen. Und Witze. Ihr und mich belästigen? Ich zittere vor Angst. Wie gut, dass Ihr niemals Hand an eine hilflose Frau wie mich legen würdet.“

Dann wandte sie sich ab und trat ohne ein Wort des Abschieds wieder hinaus ins Licht, um dort in der Menschenmenge zu verschwinden. Yan sah ihr lächelnd hinterher, bevor er seinen Blick gen Himmel wandte.

„Ihr Götter und Geister der Vorfahren, steht ihr bei… und mir auch.“

Er schlug ebenfalls seine Kapuze hoch, dann tauchte auch er wieder in dem regen Treiben der Hafenpromenade unter, so ruhig und unauffällig wie eh und je.
 

Sai stand vor dem Tisch eines Händlers, der von einem intensiv purpurroten Baldachin überdacht war und eine unglaubliche Vielzahl an filigranem Goldschmuck präsentierte. Meisterhafte Arbeit, das war auch für einen Laien auf den ersten Blick zu erkennen. Schon mehr als einmal hatte er gespürt, dass er beobachtet wurde, doch er hatte gelernt, auf so etwas nicht allzu auffällig zu reagieren. Immer wieder musterte er ganz beiläufig seine Umgebung, und so bemerkte schon bald die schwarz… und ziemlich knapp bekleidete Frau, die sich ihm näherte. Es war keine Frage, dass sie verdächtig wirkte. Trotzdem blieb er an seinem Platz vor dem wundersamen Verkaufsstand und wartete ab.

Zunächst schien es, als ob die Unbekannte einfach an ihm vorübergehen würde. Doch dann kam sie unweit von ihm zum Stehen und betrachtete einen Stand, an dem riesige, frisch gefangene Fische verkauft wurden, deren Schuppen silbrig bis rötlich in der Sonne schimmerten. Sie verharrte dort einen Augenblick lang und schlenderte dann weiter, sehr nah an ihm vorbei.

„Komm mit“, flüsterte sie, so leise, dass es nur an ihn gerichtet sein konnte. Natürlich. Er spürte immer noch, dass sie ihn anstarrte, obwohl ihr Gesicht von einer Kapuze verborgen war und er es somit nicht sehen konnte. Es wäre ein ziemliches Armutszeugnis für ihn gewesen, wenn er es nicht bemerkt hätte! Einen Moment lang stritten Zweifel und Neugierde in seiner Brust, dann hob er kurz die Schultern, wartete noch ein bisschen und nahm unauffällig die Verfolgung der seltsamen Fremden auf. Diese schritt zielstrebig an einem Mann in Priesterkleidung vorbei – Sai erinnerte sich, ihn bereits auf dem Schiff gesehen zu haben – und folgte einer finsteren Seitenstraße, bis sie schließlich vor einer recht schäbigen, aber trotzdem irgendwie charmanten Gaststube zum Stehen kam.

Sai stellte mit wachsender Verwirrung fest, dass der Mann in der grauen Kutte ihnen ebenfalls gefolgt war. Die Frau in Schwarz blieb kurz vor dem Eingang der Herberge stehen – ein schmuckloses weißes Haus wie viele andere, mit einem flachen Dach, von dem aus Wäscheleinen zum gegenüberliegenden Gebäude gespannt waren. Mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung deutete sie, ihr in die Gaststätte zu folgen, und trat auch prompt selbst ein. Sai beeilte sich und konnte noch sehen, dass sie die über eine helle Steintreppe ins Obergeschoss hinaufstieg. Dort wartete sie an einer etwas schiefen Tür, bis ihre Gefolgschaft zu ihr aufgeschlossen hatte, und trat dann in den dahinterliegenden Raum.

„Sieht so aus, als würde diese Nacht angenehmer werden als die auf dem Schiff“, hörte Sai eine Stimme hinter sich murmeln. Natürlich, der Priester. Er schenkte ihm keine weitere Beachtung, sondern suchte sich lieber einen strategisch günstigen Platz in dem staubigen Halblicht des schmucklosen Zimmers, von dem aus er das ganze Geschehen überblicken konnte. Die Fremde setzte sich auf eines der Betten. Dort streifte sie ihren Umhang ab und gab so nicht nur den Blick auf ihr bildschönes Gesicht, sondern auch auf ein überaus tiefes Dekolleté frei. Sie winkelte eines ihrer Beine an und stützte sich mit dem Arm darauf, doch trotz dieser vermeintlich entspannten Haltung ließ die kühle Wachsamkeit in ihrem Blick Sais Instinkte Alarm schlagen.

„Ich habe dich bei Inari und Kotoko gesehen“, sagte sie dann ganz unvermittelt.

„Gut möglich“, antwortete Sai mit einem Schulterzucken. „Vor allem, wenn man nicht von der Tatsache absieht, dass wir zusammen gereist sind. Dich habe ich allerdings noch nie gesehen. Wer bist du?“

„Ihr wart auf demselben Schiff, ich weiß, aber das bedeutet noch nichts.“ Die Blauhaarige zückte einen ihrer zwei prächtigen Kampfdolche und vollführte damit einige nahezu spielerisch anmutende Bewegungen. „Und natürlich hast du mich noch nie gesehen. Dummchen. Ich stehe auf deiner Seite, belassen wir es dabei. Eigentlich sogar auf eurer Seite, aber ich hatte bislang noch keine Lust darauf, mich mit diesen… Kindern zu unterhalten.“

„Du stehst also auf unserer Seite.“ Sai warf der Frau einen zweifelnden Blick zu und nahm ebenfalls auf einem der Betten Platz – allerdings ohne auch nur eine Sekunde lang das Zimmer aus den Augen zu lassen. „Und worüber wolltest du dich unterhalten?“

„Genau darüber.“ Kaum hatte Sai sich hingesetzt, erhob sich die Fremde und schlenderte dem Fenster entgegen, das genau genommen nur ein halbkreisförmiger Durchbruch in der Lehmwand war. Sie wandte ihm den Rücken zu, aber Sai konnte spüren, dass sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. „Unsere Mission. Unsere Aufgabe. Wir werden noch heute Nacht aufbrechen und in die Stadt Melkaba ziehen. Dort werden wir den König treffen und ihn um Mithilfe bitten. Ach, und…“ Sie blickte über die Schulter und verzog ihre bleichen Lippen zu einem kühlen Lächeln. „Ich traue Euch nicht. Darum habe ich Euch das übrigens auch alles erzählt. Wenn Ihr jetzt eine Dummheit begeht, kann ich Euch wenigstens guten Gewissens töten.“

„Ich verstehe“, antwortete Sai, begleitet von einem leisen Seufzen. „Mein kurzfristiges Auftauchen erscheint eben verdächtig, da kann man nichts machen, ne? Allerdings habe ich dich nicht darum gebeten, mir das zu erzählen. Weil es mich nicht interessiert. Zu meiner Aufgabe gehört es lediglich, mit euch bis nach Baharah zu reisen, dort trennen sich unsere Wege. Ihr habt Eure Aufgabe, ich habe meine.“

„Man hat mich nicht über dein Kommen in Kenntnis gesetzt, das ist der springende Punkt.“ Die Blauhaarige sah ihm nun ganz genau in die Augen. „Und glaube mir, du wirst uns folgen, mein Hübscher. Ich kann doch nicht zulassen, dass du zu deinem Auftraggeber zurückkehrst. Wer schickt dich eigentlich? Das würde mich doch wirklich brennend interessieren.“

Sai erwiderte ungerührt ihren Blick.

„Wenn du mich dabei störst, meine Aufgabe auszuführen, widersetzt du dich direkt dem Befehl von Tadao. Von ihm habe ich diese Aufgabe nämlich bekommen. Beziehungsweise natürlich nicht von ihm persönlich. Einer seiner Männer hat mir den Befehl übertragen, du weißt ja selbst, was für ein Geheimnis er um seine Person macht.“

„Ah. Dann kann Tadao-sama ja auch persönlich zu mir kommen und mich für dieses Vergehen bestrafen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir sicher, dass er mein Handeln verstehen wird. Ich spreche viele Sprachen, auf denen ich es ihm erklären kann. Uns nach Melkaba zu folgen, ist für dich nur ein lächerlicher kleiner Umweg, kaum mehr als zwei oder drei Tagesreisen. Im Gegensatz dazu könnte ich all unsere Pläne gefährden, wenn ich dich jetzt gehen lasse. Welches Vergehen, glaubst du, wiegt schwerer?“

Sie war während dieser Worte wieder zu ihrem jüngst erst dazu auserkorenen Bett geschlendert. Dort legte sie sich ihren schwarzen Umhang um die weißen Schultern und blickte kalt auf Sai herab.

„Hm“, machte der, „das hört sich tatsächlich verzwickt an. Dann versuche ich wohl weiterhin, meine Aufgabe auszuführen, während du versuchst, mich zu überprüfen und mich somit daran zu hindern. Denn eine Verspätung macht den ganzen Plan zunichte. Aber natürlich“, fügte er hinzu, und bei diesen Worte trat ein nachsichtiges Lächeln auf seine Lippen, „hätte ich an deiner Stelle genauso gehandelt, und wahrscheinlich wird auch Tadao dafür Verständnis haben.“

„Du kannst mir ja später mehr über deinen Plan berichten, und dann liegt es an mir, ihn für gut zu befinden.“ Sie stieß ein leises, seltsames Lachen aus, dann schlenderte sie wieder zum Fenster hin und kletterte auf den steinernen Sims. Dort hielt sie noch einmal inne und wandte sich zu Yan um. „Pass gut auf ihn auf, mein Hübscher!“, wies sie den Priester zwar laut, aber dennoch in einem vertraulichen Flüsterton an.

Dann sprang sie mit einem Satz aus dem Fenster.

Einen Moment lang musste Sai sich beherrschen, seine Lippen nicht zu einem triumphierenden Lächeln zu verziehen. In genau diesem Augenblick hatte er den schwierigsten Teil seiner Mission bereits hinter sich gebracht, da war er sich so sicher, wie er nur irgendwie hätte sein können. Und glücklicherweise fiel es ihm als Gharither ja auch nicht allzu schwer, sich zusammenzunehmen und eine gleichmütige Miene zur Schau zu stellen. Ein ausdrucksloses Halblächeln, das alles und nichts hätte bedeuten können. Es war die perfekte Maske für seinen Beruf.

„Das gefällt mir gar nicht“, murmelte er, und dabei klang er durchaus ein wenig besorgt. „Sie behauptet, auf unserer Seite zu stehen, aber sie weiß nichts von Tadaos dringendsten Befehlen? Ich kann nur hoffen, dass sie Inari und Kotoko nichts antut. Mehr kann ich wohl nicht tun, denn…“ – und bei diesen Worten seufzte er – „denn ich darf diesen Raum darf ja nicht mehr verlassen.“

Er warf Yan einen bedauernden Blick zu, und dann verzog er die Lippen zu einem scheinbar erzwungenen, die Sorge überspielenden Lächeln, das er als durchaus befreiend empfand.

Eizawa no Sai, der in Kürze wieder Kagezaki Shôtoku sein würde, lehnte sich gegen die Wand und wartete ruhig, aber gespannt ab, ob seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren.
 

Es war wirklich deprimierend – da war Inari einmal in einer so schönen und ihm gänzlich unbekannten Stadt, die förmlich danach schrie, erkundet zu werden, aber ein missgelaunter Mensch an seiner Seite machte jeden derartigen Plan erfolgreich zunichte. Kotoko steuerte zielstrebig geradeaus. Jeder Schritt in Richtung eines Standes, jeder Blick auf das reichhaltige, vielfältige, faszinierende Angebot der Händler schien bereits zuviel zu sein und wurde mit einem strafenden Grummeln und einem wütenden Pfeilschuss aus zwei dunklen Augen quittiert. Dass in diesen kurzen Momenten der strafenden Unachtsamkeit durchaus der eine oder andere Passant angerempelt wurde, schien Kotoko herzlich wenig zu interessieren.

„Wir sollten uns beeilen, zur Herberge zu kommen, dass wir bald aufbrechen können“, erkläre er missgelaunt. Seine seltsame Unruhe machte auch Inari ganz nervös. Schon wieder fühlte er sich beobachtet. Das Bewusstsein, verfolgt zu werden, war so greifbar, so erdrückend, dass Inari nicht einmal mehr zusammenfuhr, als er dann auch tatsächlich eine Stimme hinter sich hörte – eine Frauenstimme, so kalt wie Eis. Inari wusste sofort, dass es die Stimme der Fremden in Schwarz sein musste, die sie schon am Anlegeplatz aus der Menge heraus angestarrt hatte.

„Andere haben den Weg zur Herberge längst gefunden, Kindchen.“

„Du?!“ Kotoko wandte der Frau ruckartig seinen Kopf zu und musterte sie eindringlich von Kopf bis Fuß. „Was… was soll das heißen?“

„Ich?“ Die Unbekannte ahmte auf unglaublich spöttische Weise Kotokos Tonfall nach. „Das klingt ja beinahe so, als würdest du mich kennen.“ Inari konnte förmlich hören, wie sich ihre Lippen, verborgen vom Schatten ihrer Kapuze, zu einem Lächeln verzogen. „Und ich will dir damit genau das sagen, was ich gesagt habe: Du wirst auf dem Hotelzimmer bereits jemanden antreffen, Kindchen, und zwar deinen hübschen kleinen Freund von Schiff.“

„Sai?“ Kotoko fixierte die Fremde mit eiskalten Augen. Dann verzog er die Lippen zu einem Grinsen. „Was kümmert es mich? Hast du mir vielleicht auch was Interessantes zu sagen, Süße?“

„Ja“, antwortete die Fremde und gab… ein noch viel kälteres Lachen von sich. „Von genau dem spreche ich. Vorausgesetzt, ihr kennt nicht noch mehr von dieser Sorte.“ Sie umrundete Kotoko langsam, schleichend, wie ein lauerndes Raubtier. „Hm“, murmelte sie, „habe ich dir sonst noch etwas zu sagen?“ Sie hielt kurz inne, und dann zückte sie ganz plötzlich und unvermittelt einen Dolch und zog ihn mit einer beinahe sanft anmutenden Bewegung über Kotokos Arm. Die Klinge hinterließ nur einen hauchfeinen Schnitt. Ein dünner Blutfaden sickerte aus der verletzten Haut. „Ja, mein Kindchen. Und zwar, dass diese Waffe mit einem hochwirksamen Nervengift bestrichen ist, das dich binnen fünf Stunden langsam und qualvoll töten wird.“

Kotoko starrte abwechselnd Ceara und die Wunde an. Sein Blick war nach wie vor wie gefroren, aber ansonsten verwundete es Inari, wie ruhig er blieb.

„Es wird mich töten?“, fragte er mit einer ganz eigentümlichen Stimme. „Wieso? Was willst du von mir?!“

„Ja, töten.“ Nun konnte Inari die blassen Lippen der Frau erkennen, und er sah, dass sie amüsiert lächelte. Er wollte eigentlich etwas sagen, wollte entsetzt und empört hochfahren aber der Anblick dieses Lächelns ließ ihm jedes Wort im Hals stecken bleiben. „Dieses Gift tötet alles, Dämonen, Menschen, Elben. Red Eve. Ein hübscher Name für so ein hübsches Ding. Und was ich will? Dich natürlich, Kindchen. Euch. Sonst wäre ich nicht hier. Immerhin stehen wir auf derselben Seite.“

„Und deshalb willst du mich gleich umbringen?“ Kotoko zog die Augenbrauen hoch. „Welch ein Empfang! Aber vielleicht… sollten wir nicht hier reden.“

„Dummchen!“ Die Frau lachte wieder, und diesmal ganz besonders kühl und abfällig. „Ich will dich nicht umbringen, sondern in der Hand haben. Zu beinahe jedem Gift gibt es ein Gegengift. Und außerdem mag ich es nicht, wenn man mich/ Süße nennt, Kleiner.“

„In der Hand haben?“, knurrte Kotoko und sah die Fremde verächtlich an. „Das werden wir ja sehen…“

„Ja, das…“, antwortete sie – und erstarrte. Nicht nur, dass sie mitten im Wort stockte, ihr ganzer Körper schien zu einer Statue aus Eis zu werden. Ihre Lippen öffneten sich leicht, und ein heftiger Schauer auf seiner Haut verriet Inari, dass zu der Kälte in ihrem verborgenen Blick noch etwas ungleich Tödlicheres getreten war. „Was um alles in der Welt macht Ihr hier?!“

Bei diesen Worten fixierte sie weder Inari noch Kotoko. Eine weitere Gestalt war hinter sie getreten – ein großer Mann, gehüllt in eine schlichte graue Priesterkutte. Auch er hatte eine Kapuze vor das Gesicht gezogen, aber es war noch genug von seinem Gesicht zu erkennen, um zu sehen, dass er warm und freundlich lächelte.

„Also hatte er Recht“, sagte er ganz ruhig. „Ihr hattet tatsächlich nichts Gutes im Sinn…“

Die Fremde schnaubte verächtlich. Dann zog sie sich mit einem Ruck ihre Kapuze zurück und spießte den Neuankömmling mit ihren eisblauen Augen förmlich auf.

„Nein“, entgegnete sie scharf, „ich hatte Recht! Und dieses eine Mal wünschte ich, dass es nicht so gewesen wäre. Ihr habt Ihn entkommen lassen!“

„Ich habe ihn im Zimmer eingesperrt“, antwortete Yan unbeeindruckt.

„…das ein offenes Fenster hat!“ Die junge Frau warf sich einen ihrer hellblonden Zöpfe über die Schulter und presste ihre Lippen einen Moment lang sehr fest aufeinander. „Wenn wir zurückkehren, ist das Zimmer leer. Und das nur, weil Ihr unbedingt selbst Shinobi spielen und mich beobachten musstet! Oh, man wird Euch noch dafür rühmen, glaubt mir! Einen Verräter ziehen zu lassen, ist wirklich ein großes Verdienst… wenn Ihr nicht sogar auf seiner Seite steht.“

Yan stieß das Ende seines Stabes geräuschvoll gegen den Steinboden und neigte seinen Kopf etwas zur Seite, wobei ihm sein grauer Zopf über die Schulter fiel.

„Oh, Ihr kränkt mich, werte Lady“, sagte er, aber er klang bei diesen Worten schlichtweg amüsiert. „Ob ich einen wirklich dummen Fehler begangen habe, werden wir dann sehen, wenn wir unser Herbergszimmer tatsächlich leer und verlassen vorfinden. Aber selbst wenn, Ihr dürft doch nicht gleich schlussfolgern, ich würde Euch verraten. Seid Euch bewusst, dass ich ganz auf Eurer Seite stehe, auch wenn wir gewiss unterschiedliche Methoden haben, unsere Ziele zu verfolgen.“

„Und deshalb habt Ihr mich auch beobachtet, hm?“ Die junge Frau stieß abfällig die Luft zwischen ihren Zähnen hervor. „Dass wir unterschiedliche Methoden haben, das stimmt aber auf jeden Fall. Zu meinen Methoden gehört es nicht, aus purer Dummheit, Unachtsamkeit oder was auch immer mein Ziel zu gefährden! Unser Plan mit der Übernachtung ist jedenfalls gestorben. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wer weiß, wen und vor allem wann diese Nachricht denjenigen erreichen wird…“

„Jetzt sehen wir erst einmal nach, ob er wirklich abgehauen ist“, entgegnete der Priester, und dabei wirkte er so zuversichtlich, so positiv wie eh und je. „Und natürlich verspreche ich Euch, dass mir in Zukunft keine derartigen Fehler mehr unterlaufen werden!“

„Aber…“ Endlich wagte es Inari wieder, sich zu Wort zu melden, zwar nicht sonderlich laut, aber doch irgendwie empört. „Was… was ist denn jetzt mit dem Gegengift?“

„Das Gegengift gebe ich euch beizeiten“, erwiderte die Blauhaarige, und jetzt lächelte auch sie wieder, auf ihre unbeschreiblich kalte Art und Weise. „Versteht mich nicht falsch, es ist nichts Persönliches. Ich will nur nicht zweimal denselben Fehler begehen.“

„Ja, aber…“, wollte Inari ein zweites Mal aufbegehren, doch der Priester fiel ihm einfach lächelnd und unglaublich freundlich ins Wort.

„Und was gedenkt Ihr dann zu tun, werte Lady?“

„Euer Gedächtnis scheint nicht das Beste zu sein“, erwiderte die Frau, und ihre Stimme triefte förmlich vor kaltem, unverhohlenem Spott. „Ich sagte doch bereits, dass unser Ziel der Königspalast von Melkaba ist. Aber wie solltet Ihr Euch das merken, wenn Euch selbst mein Name stets zu entfallen scheint?“ Sie wandte sich um und blickte über die Schulter zu ihren mehr oder weniger freiwilligen Mitstreitern zurück. „Ich hoffe, Ihr könnt reiten? Es dürfte schwierig sein, den Palast zu Fuß zu erreichen. Ah, und… eine werte Lady bin ich schon lange nicht mehr!“

Dann ging sie mit ihren leichten, eleganten Schritten davon. Yan und Kotoko folgten ihr – der eine lächelnd, der andere schweigend und ganz in sich selbst versunken. Inari schloss sich ihnen an, zögernd und deutlich langsamer.

„Ts“, murmelte er fast schon trotzig vor sich hin. „Blöde Ziege…“

Aber seine Wut, die langsam in Resignation und auch in eine unterschwellige Angst umschlug, richtete sich nicht nur gegen die eiskalte Fremde. Jetzt war seine erste Bekanntschaft plötzlich vergiftet und wirkte äußerlich sowieso schon wie tot. Seine zweite Bekanntschaft – dieser wirklich, wirklich nette Mensch! – schien in Wahrheit ein Verräter, ein Spion oder was auch immer gewesen zu sein. Und dann waren da noch dieser ewig freundliche Priester, der ihm auch nicht ganz geheuer war, und eine kaltschnäuzige Killerin. Wunderbare Aussichten! Natürlich klang es einfach herrlich, in ein Schloss zu reisen, ein Wüstenschloss mit Wüstenprinzen und edlen Pferden und Tänzerinnen und all diesen anderen exotischen Dingen, von denen er bislang nur gehört hatte.

Trotzdem wurde Inari das bedrückende Gefühl nicht los, dass es nicht einfach nur ein schönes Abenteuer war, das da vor ihm lag.
 

Ende des zweiten Kapitels



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Von:  Yvinna
2011-05-28T19:19:25+00:00 28.05.2011 21:19
Hi,

wirklich klasse Story.
Ist mal was anderes, was ich sonst lese.
Ich hoffe es geht weiter.

Lg Yvinna


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