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Die letzten Tage meines Lebens

von

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Tag 1

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Tag 1

Totenstille. Totenstille und das regelmäßige Ticken der Wanduhr. Das war das einzige was im Moment zu hören war. Da saß er nun, locker auf seine Knie gestützt, eine geladene und entsicherte Waffe ins einer Rechten. Vor ihm auf dem Boden saßen eine junge Frau und ein junger Mann. Während er in den Augen des Mann es Ungewissheit und auch ein wenig Verwirrtheit sehen konnte, strahlten die Augen der Frau nur eines aus – Angst. Sie hatte panische Angst, würde vermutlich am liebsten aufstehen und so weit weglaufen wie sie ihre dünnen Beine nur tragen würden. Doch sie wusste das, wenn sie das auch nur versuchen würde, sie eine Kugel in ihrem Kopf hätte noch bevor sie vollständig aufgestanden war. Und scheinbar hielt der Gedanke, aus dieser Sache irgendwie lebend hervorzugehen, sie am Boden. Zumindest waren beide so clever nichts zu versuchen.
 

Derjenige der beauftragt war sie beide zu töten, so wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte, saß jedoch einfach nur da und sah die beiden abwechselnd an. Offensichtlich verstanden sie das nicht – aber er selbst tat es auch nicht. Es war ein einfacher Job. Ein Job, wie er ihn schon so oft gemacht hatte, dass es für ihn zur Routine geworden war. Rein, zwei Schüsse, raus – und das alles in weniger als fünf Minuten und im Idealfall ohne gesehen zu werden. Es war so einfach und dennoch... dennoch wollte er es gerade einfach nicht. Er konnte nicht genau sagen wieso, oder welcher Teil sich dagegen sträubte – er wusste nur das er es einfach nicht wollte. Den einzigen Fehler den die zwei Personen vor ihm gemacht hatten war sich in die falsche Person zu verlieben, war es gerechtfertigt sie dafür zu töten?
 

Mit dem Daumen legte er klickend wieder die Sicherung der Pistole an. Nein... es war nicht gerecht. Und im Moment kreiste ihm hauptsächlich die Frage durch den Kopf, wieso er sich dies nicht schon viel früher gefragt hatte. So oft hatte er den Abzug gedrückt und einige Male davon hatten die Personen auf die er gezielt hatte es mit Sicherheit verdient. Einige Male hatte er es getan, um sein eigenes Leben oder das von jemand anderen zu beschützen. Aber... wie viele Male es nicht gerechtfertigt war, würde wohl auch ihm auf ewig ein Geheimnis bleiben.
 

„Ihr Zwei dürft einander nie wieder sehen.“, sagte er schließlich mit absolut ruhiger Stimme, „Ihr dürft nie wieder miteinander sprechen, euch nie wieder treffen, nie wieder küssen oder miteinander schlafen... ihr dürft euch nie wieder unterhalten oder euch auch nur zufällig über den Weg laufen. Streicht die Erinnerung an den anderen aus eurem Gedächtnis und vergesst alles was zwischen euch vorgefallen ist. Wenn ihr das tut könnt ihr am Leben bleiben... aber NUR dann. Es ist die einzige Möglichkeit für euch das Leben des anderen zu schützen. Andernfalls werdet ihr beide mit absoluter Sicherheit getötet werden... und ich weiß nicht wer von euch beiden den qualvolleren Tod bekommen wird, aber es wird für euch beide keinesfalls schön werden. Die Entscheidung liegt bei euch.“
 

Ohne die beiden auch nur noch eines Blickes zu würdigen stand er auf, steckte die Pistole wieder in das Holster unter seinem schwarzen Jackett und verlies die Wohnung. Vor der Tür steckte er sich im Gehen eine Zigarette an, ging zügig zu seinem Auto das er nur wenige Straßen weiter geparkt hatte und fuhr schließlich einfach los.
 

Ohne Ziel fuhr er den Rest des Tages durch die Stadt. Zum ersten Mal, zum allerersten Mal in seinem Leben, hatte er einen Auftrag nicht durchgeführt. Auf der einen Seite hatte er das Gefühl das Richtige getan zu haben... auf der anderen Seite rief ihm eine innere Stimme zu das er es einfach nur versaut hatte. Und er wusste das dies Folgen haben würde... das es ziemlich schief gehen konnte das Richtige zu tun.
 

Er betrachtete die untergehende Sonne, wie sie langsam im Meer zu versinken schien. Womöglich war dies der letzte Sonnenuntergang den er jemals zu Gesicht bekommen würde. Sein Blick fiel kurz auf das Mobiltelefon auf dem Beifahrersitz. Es wunderte ihn das er noch nicht angerufen wurde. Wusste sein Auftraggeber etwa noch nicht das er den Auftrag noch nicht durchgeführt hatte? Nein... er musste es wissen. Vermutlich hatte er bereits eine Gruppe von Cleanern ins Haus geschickt die die Sauerei, die er eigentlich hätte erzeugen sollen, sauber machen sollten. Und wenn sie kein Blut und auch keine Leichen vorfanden, würde er es wissen.
 

Mit einer lockeren Handbewegung schnippte er eine Zigarette aus dem Fenster des Wagens, legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Vielleicht wäre dies das letzte Mal für ihn das er so einschlafen könnte... vielleicht...

Tag 2

Tag 2

Als er die Augen wieder aufschlug fand er sich in einer alten, verdreckten Lagerhalle wieder. Seine Hände waren an seinem Rücken zusammengebunden und er wusste das es wohl keinen Sinn machen würde, Befreiungsversuche zu starten. Mit unglaublichen Kopfschmerzen sah er sich um. Scheinbar hatte man ihn etwas über dem Boden aufgehängt. Er wusste nicht wie er hierher gekommen war, dass letzte woran er sich erinnerte war das er in seinem Auto am Strand eingeschlafen war. Aber das er nun hier war und nicht wusste wie er hierher gekommen war, war ein eindeutiges Indiz dafür das sein Boss Bescheid wusste... dass er wusste was geschehen – oder viel besser NICHT geschehen – war...
 

„Du bist wieder wach, wie schön.“, meldete sich eine ihm vertraute Stimme aus dem Dunkel um ihn herum.
 

Tatsächlich realisierte er erst jetzt das er wirklich nur einen kleinen Teil der Halle sehen konnte und nur eine einzige Lampe direkt über ihm brannte. Schritte kamen näher und schließlich trat sein Auftraggeber in den Lichtkreis. Wie er es von ihm gewohnt war trug er einen Hut und seine Brille mit den kleinen, runden Gläsern. Sein Gesicht war von vielen Falten und auch einigen Narben geprägt. Die Hände hatte er in den Taschen seines braunen Mantels versteckt. Für einige Minuten stand er einfach nur da und sie sahen einander an, bis der Ältere schließlich das Schweigen brach.
 

„Was hast du dir dabei nur gedacht?“, wollte er wissen und begann kopfschüttelnd im Kreis um ihn herum zu gehen, „Du bist doch sonst nicht so... du hast noch nie einen Auftrag nicht erfüllt. Und dann, von einen Tag auf den anderen...“ Er seufzte. „Weißt du ich mag dich, ich habe dich schon immer gemocht. Du warst von all meinen Mitarbeitern immer der verlässlichste... der professionellste. Es kam selten vor das du mehr als eine Kugel für ein Ziel verwendet hast, du wurdest nie gesehen, du bist in der Masse einfach verschwunden wie ein Fisch im Ozean. Schnell, leise und präzise... genau so wie es sein muss. Warum... warum hast du mich hintergangen?“
 

Hintergangen...? Nun ja, in gewisser Weise hatte er das wirklich. Er wusste nur zu gut um das Vertrauen das sein Auftraggeber in ihn gehabt hatte. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, tausend Einsprüche die er hätte einlegen können... aber er schwieg. Denn er wusste das das alles keinen Sinn hätte. Dies war eine Welt in der die normalen Regeln und Gesetze nichts wert waren... nicht existierten. Es war eine völlig in sich gekehrte Welt und wenn man sie einmal betreten hatte, war es so gut wie unmöglich jemals wieder heraus zu kommen. Also was KÖNNTE er denn schon sagen, was auch eine Bedeutung hätte...?
 

„Ich wünschte wir müssten nicht auf diese Art und Weise auseinander gehen.“, fuhr der alte Mann fort, „Ich wünschte wirklich, dass du mich überlebt hättest... und nicht umgekehrt. Ich wünschte du hättest einfach nur deinen Job gemacht, wie an jedem anderen Tag auch. Ich weiß zwar nicht warum du sie nicht getötet hast, aber es hat nichts bedeutet... denn nun erledigt jemand anders diese Aufgabe an deiner Stelle. Du hast dein Leben völlig umsonst weggeworfen... und nichts bewirkt. Also bitte, sag mir... wieso?“
 

Nun stand er direkt vor ihm und sah ihm die Augen. Der Jüngere konnte so viele Dinge in den Augen seines Gegenübers sehen... und es kam ihm so vor als könne er all das Leid das er in seinem Leben erfahren musste selbst spüren.
 

„Gut...“, fuhr er nach über einer Minute fort, „Es tut mir wirklich leid das du diesen Weg gewählt hast... ich hätte dir einen schnellen Tod gewährt.“
 

Der alte Mann machte auf dem Absatz kehrt. Es war zu hören wie ihm jemand entgegen kam. An der Schwelle zum Dunkel blieb er stehen und legte einer Person, die der Gefesselte nicht erkennen konnte, die Hand auf die Schulter.
 

„Ich will nur wissen warum er es nicht getan hat.“, sagte der Alte, „Ich will nur den Grund wissen. Sobald ihr ihn habt, tötet ihn... ohne Umwege.“
 

„Alles klar Boss.“, entgegnete eine junge Männerstimme.
 

„Ich hoffe ich habe mich klar ausgedrückt.“, begann der Alte erneut mit scharfem Ton, „Nachdem er gesagt hat wieso TÖTET ihr ihn SOFORT. Er soll nicht mehr leiden als notwendig.“
 

„Ja.“, antwortete die Stimme dieses Mal mit deutlich mehr Respekt, „Wird gemacht, Boss.“
 

Der alte Mann entfernte sich und es trat ein wesentlich Jüngerer in den Lichtkreis. Er kannte ihn... es war Toshi, der Folterknecht seines Vorgesetzten. Natürlich war das nicht seine offizielle Bezeichnung, aber fast jeder nannte ihn so. Nur zu oft hatte er gesehen was Toshi anrichten konnte. Toshi war kein Mann, er war ein verfluchtes Monster. Es gab unzählige Möglichkeiten einem Menschen Schmerzen zuzufügen ohne ihn dabei zu töten... ohne ihn auch nur ernsthaft zu verletzen. Aber Toshi kannte jede einzelne Methode. Der kleine Japaner grinste ihn nur fies von unten an.
 

„Das ich DICH mal vor mir hängen habe... damit hätte ich wirklich nie gerechnet.“, gluckste Toshi vergnügt, doch er reagierte darauf nicht, „Oi, Hayate... bring mir doch bitte ein Blatt Papier!“
 

„Natürlich.“, drang eine andere Stimme die zu Toshis Assistenten gehörte aus dem Dunkel.
 

Schnellen Schrittes kam jemand näher. Ein ebenfalls noch relativ junger Mann trat in den Lichtkreis und reichte dem Folterknecht ein weißes Blatt Papier, dann verschwand er wieder im Dunkel. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen ging Toshi um ihn herum, zerriss ihm kurzerhand ein Hosenbein, setzte dann das Blatt Papier an und zog es langsam zur Seite hin.
 

Binnen Sekunden breitete sich ein brennender und beißender Schmerz in seiner linken Wade aus, doch er schrie nicht... er verzog nicht mal eine Miene.
 

„Weißt du warum Papierschnitte am meisten weh tun?“, fragte Toshi, bekam jedoch keine Antwort, „Papier schneidet nicht wie ein Messer. Ein Messer macht einen sauberen Schnitt, dass wars. Bei Papier jedoch bleiben Fasern in der Wunde zurück. Sie sind so winzig das man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann, aber sie sind da. Und genau diese Fasern die in der frisch geschnittenen Wunde stecken bleiben sind es, die diesen unsäglichen, brennenden Schmerz verursachen. Aber glaub mir, dass ist erst der Anfang. Ich habe dort so viele Spielzeuge im Dunkeln liegen, wir Zwei können noch eine Menge... Menge Spaß haben. Oder du spuckst einfach aus warum du deinen Kill versaut hast und wir bringen das Ganze schnell hinter uns.“
 

Er antwortete nicht. Die ganzen darauf folgenden Stunden sprach er kein einziges Wort. Genau wie zuvor, verzog er nicht mal eine Miene. Es spielte keine Rolle was für Geschütze Toshi auffuhr, ganz gleich wie er seinen Körper malträtierte. Messer mit gezackter Klinge... Lötkolben... Feuerzeuge... stumpfe Messer... Nadeln... Metallklemmen... Glasscherben... Gummihammer... was auch immer der Folterknecht benutzt, es brachte ihm dieses Mal keinen Erfolg.
 

Es musste schon später Abend sein als sich Toshi verschwitzt über die Stirn fuhr. Er selbst hatte jedes Zeitgefühl verloren, zumal es hier drin dunkel war. Seinen Körper konnte er kaum noch spüren, dass einzige was er schmecken konnte war der metallische Geschmack von Blut. Dennoch... er hatte nicht geschrieen und nichts gesagt. Toshi war sichtlich wütend darüber. Noch nie hatten seine Methoden versagt, noch nie hatte ein Opfer seiner Folter so lange Stand gehalten ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
 

„Du bist ein zäher Bursche, muss ich dir lassen. Ich werde jetzt etwas essen während Hayate den nächsten Teil vorbereitet. Mal schauen ob du ohne Beine auch noch so schweigsam bist.“
 

Wieder verstrich die Zeit. Dieses Mal verlor er für einige Zeit das Bewusstsein. Toshi hatte nicht gelogen, aber das hatte er auch nicht erwartet. Als er wieder zu sich kam lagen seine Unterbeine vor ihm auf dem Boden und bluteten still aus, während Toshi die Wunde von unten vernähte. Wie gut er dies konnte wusste er nicht, denn noch nie hatte er es erlebt das Toshi so weit ging. Aber der Folterknecht kannte kein Erbarmen.
 

„Du bist wieder wach wie ich sehe... erstaunlich bist du, wirklich erstaunlich. Ich bin nicht so gut im amputieren und das hier sind nicht die besten Bedingungen für eine OP... nun ja, du kannst dir sicherlich denken was die Folgen sind. Je länger du am leben bleibst, desto schmerzhafter wird es für dich werden. Aber sieh es als Gnadenfrist... für heute sind wir fertig.“
 

Toshi erhob sich wieder aus der Hocke in die er sich zum vernähen der Beinstümpfe begeben hatte und musterte ihn. Er hingegen konnte kaum noch die Augen offen halten, aber er wusste das wenn er nun einschlafen würde, er womöglich nicht noch einmal aufwachen würde. Und vielleicht fiele ihm ja irgendwie eine Möglichkeit ein doch noch zu entkommen... auch wenn er nicht wirklich daran glaubte.
 

Wie ein nasser Sack voll Sand fiel er zu Boden und Toshi machte sich kaum die Mühe, seinen Fall zu bremsen. Stattdessen löste er seine Fesseln und schleifte ihn dann aus dem Lichtkegel heraus. Quietschend wurde eine Tür geöffnet, dann zerrte Toshi ihn ein Stück weiter.
 

„Du bleibst über Nacht mal hier drin.“, erklärte er, „Nicht das es womöglich noch schaffst zu entkommen.“
 

Die Tür wurde wieder geschlossen und völlige Dunkelheit umhüllte ihn. Müde streifte Toshi sich die Gummihandschuhe ab, da lies ihn ein Klopfen halb auf dem Absatz kehrt machen. Das Klopfen kehrte in einem regelmäßigen Abstand wieder, so als ob jemand mit seiner Faust oder seinem Kopf gegen die Wellblechwand des Verschlags schlagen würde, in den Toshi ihn geworfen hätte. Hayate stieß zu ihm.
 

„Wie kann er jetzt noch die Kraft finden...?“, flüsterte dieser perplex, beinahe so als würde er sich nicht trauen lauter zu sprechen.
 

„Ich weiß nicht woher das arme Schwein die Kraft dazu findet... aber er sollte sie lieber sparen. Denn Morgen geht es weiter.“
 

Der Folterknecht und sein Gehilfe verließen die Halle und niemand hörte das regelmäßige Klopfen...

Tag 3

Tag 3

„Das... das... das ist unglaublich.“, stammelte Hayate mit weit geöffneten Augen, „Er wurde den ganzen Tag gefoltert... er wurde verstümmelt und misshandelt... ihm wurden BEIDE Beine amputiert... wie... wie konnte er das schaffen?!“
 

„Tja...“ Toshi zog an seiner Zigarette. „Das ist eine verdammt gute Frage.“
 

Er nahm seine Zigarette und schnippste sie durch das Loch, welches sich in der Wand des Verschlags befand und einen wunderschönen Ausblick auf das Meer offenbarte.
 

***

Als er wieder das Beusstsein erlangte war das erste was er sah ein grau verhangener Himmel. Über ihm kreisten ein paar Möwen und er hörte sie dumpf schreien. Nur dumpf deshalb, weil er immer noch im Meer schwamm. Wie ein Stück Abfall trieb er auf der See. Seine Beinstümpfe brannten so stark, dass es keine Worte gab diesen Schmerz zu definieren. Aber sein gesamter Körper schmerzte überhaupt unermesslich, weshalb ihm seine Beine kaum auffielen. Überhaupt bemerkte er nicht all zu viel, viel zu sehr hatte ihn die Folter mitgenommen. Er konzentrierte sich und hob den Kopf ein wenig und sah zur Seite.
 

Zwar konnte er es kaum erkennen, doch er sah tatsächlich den Hafen. Und als ob es ein Wink des Schicksals war, trieb die Flut ihn immer näher in die Richtung des Hafens. So gut es ging paddelte er mit seinen Händen noch in die Richtung, auch wenn er kaum in der Lage war seine Arme zu bewegen – geschweige denn richtig zu schwimmen. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war seit er ein Loch in die Wellblechwand geschlagen hatte, woraufhin er gut dreißig Meter tief gefallen war, nur in dem Glauben weiterhin am leben bleiben zu können.
 

Schließlich erreichte er den rettenden Steg. Sein ganzer Körper zitterte und das nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er von Kopf bis Fuß durchnässt war und es an der Grenze zum Winter war. Mit blutig roten Händen zwang er sich auf den Betonsteg und blieb erst einmal schwer atmend liegen.
 

Wie sollte es nun weitergehen? Er würde nicht mehr die Kraft finden – oder auch nur den Weg – um wieder in seine Wohnung zurück zu kehren. Und selbst wenn, er hatte den Schlüssel nicht mehr. Er wusste nicht ob er ihn erst im Meer verloren hatte oder ob man ihn ihm schon vorher abgenommen hatte, aber es spielte auch keine Rolle. Und auch auf Hilfe von einem Fremden brauchte er nicht hoffen. In dieser Metropole störte das Leid der anderen niemanden mehr. Es geschahen zu viele Verbrechen aus zu vielen Gründen, als das irgendwer noch irgendwem der am Boden liegen würde trauen oder gar helfen würde... selbst dann nicht wenn er eine Blutspur hinter sich her zog, so wie er es tat, als er die Treppen des Stegs hinaufkraxelte.
 

Qualvoll schaffte er sich Millimeter für Millimeter vorwärts zu ziehen. Auf seine Beine konnte er sich nicht mehr stützen, dass verstärkte den Schmerz nur in einem Maße, unter dem sein Körper einfach nachgab und er auf dem kalten Boden zusammensank. Der Glaube eine Decke oder ein Plane aus einer Mülltonne heraushängen zu sehen trieb ihn dazu sich in eine Seitengasse zu schleppen. Tatsächlich schien er erneut Glück im Unglück zu haben, denn er fand tatsächlich eine Decke. So gut es ging wickelte er sich darin ein, auch wenn er kaum noch Gefühl in seinem Körper hatte. Mit vor Kälte bebenden Lippen sah er auf.
 

Manchmal konnte es wohl wirklich Böse enden eine gute Tat zu tun. Hätte er einfach nur den Abzug gedrückt würde er nun vermutlich wieder in seiner Wohnung sitzen, würde ein warmes Essen genießen und irgendeine belanglose Sendung im Fernsehen anschauen. Vielleicht würde er auch mal wieder ein Buch lesen oder einfach nur länger schlafen. Doch was auch immer er tun würde, er würde nicht mehr tot als lebendig in einer Gasse liegen und sich mit einer Decke zudecken, die irgendjemand in den Müll geworfen hatte.
 

Aber er hatte ihn nicht gedrückt. Er hatte zwei Menschenleben verschont, die er eigentlich hätte beenden sollen. Zwar hatte er etwas gutes getan... aber er hatte er auch das RICHTIGE getan? Würde ihm diese Frage beantwortet werden, nachdem er in dieser dreckigen Gasse qualvoll zu Grunde gegangen war? Oder würde er einfach nur in ein neues Leben geschickt werden, dass mit noch mehr Fragen gefüllt war?
 

Im Verlauf des Tages wurde es kälter und der Himmel klarte auf. Über ihm funkelten Stumm die Ferne wie tausend kleine Kerzenlichter. Früher hatte er den Sternenhimmel immer gerne fasziniert angestarrt, aber dieses Mal hatte er nicht mal die Kraft um seinen Kopf zu heben. Er bemerkte das Sternenlicht über ihm nicht einmal. Stattdessen zitterte sein gesamter Körper und sein schwacher Atem stieg als eine kleine Dampfschwade nach oben hin auf. Er ballte seine zerschundenen Hände so gut es ging zu Fäusten. Langsam wurde es ihm schwarz vor Augen und es fiel ihm immer schwerer seine ohnehin schon halb zugefallenen Augen offen zu halten, aber er durfte nicht einschlafen. Schlafen bedeutete womöglich nie wieder aufwachen.
 

Ein leises Quietschen ließ ihn seinen Kopf heben. Im fahlen Licht der Straßenlaterne erkannte er eine kleine Katze. Der Größe nach zu urteilen konnte sie nur wenige Wochen alt sein. Offenbar nach ihrer Mutter schreiend, oder nach sonst jemandem der sich ihr annehmen würde, tapste sie unbeholfen über den kalten Boden.
 

„Komm her…“, wollte er sagen und bewegte auch dementsprechend seine Lippen, aber kein Ton verließ seine Kehle.
 

Er konnte einfach keinen Ton mehr herausbringen… er hätte nicht mal um sein Leben schreien können, wenn er es gewollt hätte. Dennoch schien das Tier ihn verstanden zu haben. Er hob seine zitternde Hand und öffnete ihr einen kleinen Gang unter die Decke. Mit einer Hand strich er leicht über ihren Rücken. Weil seine Hände so kalt waren fühlte sich jedes einzelne Haar wie eine Nadel an, welche eine tiefe Kerbe in sein Fleisch schnitt. Dennoch hörte er nicht auf. Es dauerte einige Zeit bis das Tier anfing leise zu schnurren, sich zusammenkugelte und schließlich einschlief. Müde lächelte er.
 

„Bist noch sehr jung, hm?“, dachte er und bewegte wieder passend die Lippen dazu.

Tag 4

Tag 4

Er schrak auf und es brauchte einige Sekunden bis er realisierte, dass es ein Sonnenstrahl auf seinem Gesicht war, der ihn geweckt hatte. Gerade als er sich strecken wollte überflutete ein unbändiger Schmerz seinen gesamten Körper und damit kehrten auch die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Tage wieder zurück. Mit aller Kraft biss er die Zähne zusammen um nicht zu schreien, dennoch drang ein gedämpfter Schrei hervor.
 

Der Himmel war fast vollständig von Wolken verhangen, aber dennoch gab es ein Loch in der Decke am Firmament durch die die Sonne direkt auf ihn schien. Es war beinahe so als wollten die Götter ihn verspotten. Schwächlich hob er eine Hand und sah sich die kleine getigerte Katze an, welche immer noch zusammengekugelt schlief. Als er jedoch die Decke für ein paar Sekunden gehoben hatte wurde sie wieder wach. Sie streckte sich so gut es ging, blinzelte ihn dann an und mauzte leise. Im Grunde war es gar kein richtiges Miauen, viel mehr ein hohes Quietschen.
 

Er lächelte sie an und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Kein Wunder, seit zwei Tagen hatte er nichts mehr gegessen. Den Schmerz ignorierend drehte er den Kopf zur Seite. Scheinbar war es Schicksal das er in einer Seitengasse gelandet war, in der es einige Mülltonnen gab. Und gleich aus der Ersten neben ihm ragte halb eine Pizzaschachtel heraus.
 

So gut es ging fischte er sie heraus und hatte Glück. Tatsächlich war noch ein Rest der Pizza in der Schachtel zu finden.
 

„Keine Angst Kleine.“, flüsterte er so leise, dass es niemand hätte hören können – lauter konnte er nicht sprechen, „Hier.“
 

Ein Stückchen Schinken hatte er von dem aufgeweichten Teig abgekratzt und hielt es dem kleinen Tier hin. Zwar hatte sie schon kleine Zähnchen, dennoch fiel ihr das Kauen schwer. Doch die Katze schien das nicht zu stören, denn nach ein paar Bissen schien sie satt zu sein. Auf jeden Fall fraß sie nichts mehr. Er ließ das Stückchen Schinken auf seinem Bein liegen damit sie es später essen konnte und aß selbst den Rest der Pizza, so gut er konnte. Jede Bewegung schmerzte und das Schlucken fühlte sich an, als ob er Kies seine Kehle hinunterzwingen würde. Aber er MUSSTE etwas essen, dass wusste er. Die Katze hatte sich derweil schon wieder hingelegt und war bereits wieder am schlafen.
 

Während der Tag verstrich begann er wieder über sein Leben ins Grübeln zu bekommen. Das einzige was er seit Jahren getan hatte, war die Drecksarbeit für seinen ehemaligen Auftraggeber zu erledigen. Er hatte nie etwas anderes getan und nie etwas anderes gelernt und wenn er ehrlich mit sich selbst war, wollte er es auch gar nicht anders. Diese Arbeit hatte ihn immer versorgt. Sie war gefährlich und schmutzig, aber wenn er sie nicht tun würde, würde es jemand anders. Also warum sollte er nicht derjenige sein der die fünfstelligen Beträge für eine Kugel einsackt? Warum jemand anderen reich werden lassen?
 

Sicherlich würden ihn Viele für sein Leben verurteilen und wenn er jemals vor ein Gericht gestellt werden würde, dann würde er am Galgen hängen – so viel wäre sicher. Aber es gab wenig was er bereute. Das einzige was ihm spontan einfiel war, dass ihm die Einsicht zu der er vor drei Tagen gekommen war, schon viel eher hätte kommen sollen.
 

Etwas kaltes lies sich auf seiner Nasenspitze nieder und er sah nach oben. Kleine Schneeflocken rieselten auf den Asphaltdschungel hinab, in dem er lag.
 

„Hey Kleine… es schneit.“
 

Wieder hob er die Decke etwas, doch die Katze reagierte nicht. Er stubste sie mit einer Hand – keine Reaktion. Für einige Zeit schaute er das junge Tier in seinem Schos an. Es kam ihm so vor als ob ihm zum ersten Mal wirklich schmerzhaft bewusst wurde, dass ein Lebewesen aus dieser Welt gegangen war. Minutenlang blieb sein Blick auf dem kleinen Tier haften.
 

„Schätze du warst wohl einfach zu jung, huh?“, wisperte er.
 

Er griff nach der Mülltonne neben sich und riss sie um. Laut scheppernd verteilte sich der Müll neben ihm auf dem Boden. Mit einer Hand wühlte er durch den Unrat so gut es ging, bis er schließlich einen verbogenen und leicht rostigen Löffel fand.
 

„Schätze... du warst einfach zu schwach, huh?“
 

Zitternd aber so behutsam er konnte legte er die tote Katze neben sich auf den Grund, bevor er all seine Kraft zusammennahm und sich ein Stück nach vorne zwang. Dann rammte er den Löffel in den Grund. Immer wieder schlug er ihn in den Boden und vergrößerte das Loch. Es dauerte bis kurz vor dem Sonnenuntergang, bis er so weit war das er die Katze in das Loch legen konnte.
 

„Schätze die Welt war... war einfach zu hart für dich, huh?“
 

Mit Händen die nun noch viel zerschundener waren als vorher, schob er die kalte Erde wieder auf das kleine, notdürftige Grab. Erschöpft sank er wieder nieder. Sein Blick blieb auf der Stelle haften, die er gerade umgegraben hatte.
 

„Schätze das Leben ist nicht fair... huh?“
 

Ohne das er es wirklich bemerkte oder wollte, löste sich etwas Wasser aus seinem Augenwinkel und er begann einfach so zu weinen. Er hatte seit Jahren nicht mehr geweint, er könnte nicht mal mehr sagen wann er sich überhaupt daran erinnern konnte geweint zu haben – aber in diesem Augenblick konnte er nichts anderes tun. Zum ersten Mal trauerte um ein Lebewesen das von diesem Planeten gegangen war. Zum ersten Mal war ihm klar wie es sich anfühlte um jemanden zu trauern. Er blickte auf seine blutigen Hände. Wie viele Leben hatte er damit schon beendet? Wie vielen Leuten hatte er das gleiche oder gar schlimmeres Leid beschert als das, was er gerade empfand.
 

„Nein... das Leben ist wirklich nicht fair.“
 

Seine Augenlider wurden wieder schwer und Stück für Stück, sank er an der Wand nach unten bis er schließlich ganz auf dem Boden lag. Er war müde... er musste schlafen... und lies sich von der Dunkelheit umarmen.

Tag 5

Tag 5

Langsam und nur unter Schmerzen öffnete er seine Augen. Der gefrorene Tau auf seinen Lidern hatte die Augen verkrustet und machte das Öffnen noch unangenehmer. Er konnte nur noch den Himmel sehen und fühlte sich noch erheblich schwächer als am Vortag. Zwar wollte er sich wieder aufrichten, aber er schaffte es nicht mal mehr einen Muskel zu bewegen. Über ihm hing wieder eine dicke, graue Wolkendecke die nur wenige Löcher aufwies. Langsam und gemächlich zog sie über ihn hinweg und schließlich war eines der Löcher so platziert das ein wenig Licht auf ihn fiel. Schmal lächelte er.
 

Das Leben konnte wohl manchmal wirklich unfair sein. Auf der anderen Seiten: er hatte so viele Leben vorzeitig beendet, er hatte so viele Leute getötet... war dies vielleicht die gerechte Strafe dafür? Hatte er dies verdient?
 

Schwach konnte er die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht spüren, aber der Schmerz und viele andere, unangenehme Gefühle dominierten seinen Körper. Aber das Sonnenlicht legte sich auf ihn wie eine angenehme, warme Decke – auch wenn sie nur dünn war. Aber dennoch war glücklich. Auch wenn er physisch seit Tagen unglaublich am leiden war, er hatte seinen Frieden gefunden. Vor einer Woche noch hätte er nie geglaubt das es jemals so kommen würde, aber nun... hier, auf dem Boden dieser verdreckten und kalten Stadt, hatte er endlich seinen inneren Frieden gefunden.
 

Erneut schloss er die Augen. Es war ihm vorgekommen als wäre er nur wenige Minuten wach gewesen, aber in Wirklichkeit waren es Stunden gewesen. Er hatte das Gefühl als würde sein Bewusstsein Stück für Stück abschalten, so als würde sich sein Körper ganz langsam einfach auflösen bis nur noch der Kopf übrig war. Und schließlich schlief er ein. Inmitten dieser kalten, unbarmherzigen Stadt... in einer kleinen, schmutzigen Seitengasse.

Tag 6 - Epilog

Tag 6 - Epilog

Als die Sonne wieder das nächste Mal über der Stadt aufging, machte sich eine Prostituierte auf den Weg nach Hause. Die ganze Nacht über hatte sie gearbeitet und es war eine lange Nacht gewesen. Sie wollte nur noch in ihr Bett. Vor einer kleinen Gasse blieb sie stehen und zündete sich eine Zigarette an – ihre letzte bevor sie ins Bett ging. Doch dann stieg ihr ein unbekannter Geruch in die Nase. Er war irgendwie angenehm und wohlriechend, aber sie hatte etwas vergleichbares noch nie gerochen. Von dem Geruch angelockt ging sie in die Gasse hinein und blieb vollkommen verwundert stehen.
 

Vor ihr am Boden ragte eine Blume neben einem frisch umgegrabenen Stück Boden aus dem Grund. Sie kannte Blumen nur aus Filmen und von Bildern, noch nie hatte sie so etwas hier in der Stadt gesehen, in der sie schon ihr ganzes Leben verbracht hatte. Aber sie empfand den Anblick als etwas Wunderschönes dem kein Bild gerecht werden konnte.
 

„Was... ist denn HIER passiert?“
 

Ende



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2007-05-05T20:57:12+00:00 05.05.2007 22:57
Nabend!
Ich glaub, heute kann ich gar keinen "normalen" Kommentar zu deiner Story abgeben... Ich weiß nicht, aber ich hatte beim Lesen echt einen Kloß im Hals... Am Anfang fand ich heftig, wie du beschrieben hast, was Toshi mit der Hauptfigur anstellt, aber danach, wie du das ganz langsame Sterben geschildert hast~~...
Ich muss dazu sagen, dass, während ich die letzte Hälfte gelesen hab, hier Emily im sterben lag und um jede Minute gekämpft hat. Tja, und dann lese ich davon, wie erst die kleine Katze und dann die Hauptfigur sterben... Das war jetzt ein bisschen viel sterben für einen Tag. - Das mein ich jetzt nicht böse oder so, ich kann nur irgendwie diesmal keinen vernünftigen Kommi abgeben, weil ich immernoch nen Kloß im Hals hab, tut mir Leid. Der Schluss deiner Fiction war einfach so sad (für mich). Das hast du echt mitfühlend rübergebracht.

bis dann


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