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Chrysalis Soul

Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]
von

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Revelation

-"Hat unsere Seele nur einmal Entsetzen genug in sich getrunken, so wird das Aug' in jedem Winkel Gespenster sehn.-"

(Friedrich von Schiller)
 

~~
 

Früher Morgen. Halb sieben, wenn man es ganz genau wissen wollte.

Eine bleiche Mondsichel stand hoch oben am nachtblauen Himmel und wurde immer wieder von den Wolken gestreichelt.

Es lag Schnee in der Luft, und obwohl auf der Allee, die zur Bruce Springsteen- Oberschule hochführte, immer noch alle Straßenlaternen an waren, drückte einem das Gewicht der klirrend kalten Dunkelheit auf die Schultern.

Stirnrunzelnd beobachtete Shaolan den Dunst seines Atems, der hinter seinem Schal hervor in die kalte Luft aufstieg.

Dann wandte er sich um. "Hey, Sakura! Komm schon, mach hinne, Mann!"

"Bin-... ja... schon da", keuchte seine Freundin atemlos und beschleunigte ihren Schritt, sodass sie den Abstand aufholte.

"Was denn los?", erkundigte sich der brünette Schlacks und legte ihr die Hand auf die Schulter, "Noch müde von gestern?"

"Naja, wann backt man schon mal die ganze Nacht hindurch Kuchen?", fragte das Mädchen grinsend zurück, bevor sie ihre Schultasche neu schulterte, "Aber dass sogar Kurogane-san mithelfen würde, hätte ich nicht gedacht!"

"Er ist in Ordnung", meinte Shaolan achselzuckend, " 'n bisschen wortkarg vielleicht, aber ansonsten..."

"Stimmt. Aber er war so süß am Telefon..."

"Was?!", fragte der Teenager misstrauisch, sodass Sakura lachen musste.

"Ach komm, du weißt doch, was ich meine! Als er mit Fye-san telefoniert hat!"

"Schon klar. War lustig, ihn mal so zu sehen, Mann."

"Stimmt. Irgendwie erinnern mich die beiden, wenn sie zusammen sind, an-... an eine Nuss und einen Pfirsich."

"Eh??"

"Das Thema hatten wir doch mal in Sozialkunde. Wie war das nochmal mit den Nüssen?"

"Wenn man da draufhaut, tut es den Männern weh."

Sakura prustete los. "Ach, Idiot! Ich meine doch die Sozialkunde-Nüsse!"

"Die Sozialkunde-Nüsse...hmh... genau: eine Nuss ist stur. Sie hat eine dicke, spröde Schale. Aber..."

"... aber wenn man's tatsächlich schafft, sie zu knacken, dann ist man durch", ergänzte das Mädchen, "Es ist nicht leicht. Manchmal tut es der Nuss sogar weh, geknackt zu werden. Aber dann ist man-... eben durch."

"Stimmt. Und wie war das mit den Pfirsichen?"

"Die Pfirsiche? Pfirsiche sind weich und sehr zart."

"Verletzlich?"

"Genau, verletzlich", nickte Sakura, "Sehr sogar. Aber man kommt leicht durch. Und man stößt auf ganz viel süßes, weiches Fruchtfleisch... das einen nährt. Es nährt dich ohne Widerspruch, bis es aufgebraucht ist."

"Jepp. Aber irgendwann..."

Mitten in seinen Worten hielt Shaolan inne.

Denn plötzlich wurde ihm klar, wer von ihren erwachsenen Freunden Nuss und wer Pfirsich war.

Fragend starrte er seine Freundin an. Diese starrte zurück. Beide hatten die gleichen Worte im Kopf.

Aber irgendwann kommt der bittere, harte Kern.

Nach einem langen, unangenehmen Schweigen wandte Shaolan den Blick ab.

Dabei erhaschte er etwas aus dem Augenwinkel. Unauffällig linste er schnell über die Schulter.

"Sieh dich nicht um", sagte er leise zu Sakura, "Wir werden verfolgt."

Seine Freundin hob schlagartig den Blick. "Was?", fragte sie erschrocken, "Wo?"

"Vierzig oder fünfzig Meter hinter uns. 'n dunkelblaues Zivilauto. Fährt hinter uns her."

"Ist es Desmond?", erkundigte sich das Mädchen leise und schielte ebenfalls über die Schulter- tatsächlich, da war ein Wagen.

Er fuhr im Schritttempo hinter ihnen her und bemühte sich offensichtlich um Abstand.

"Nein, der hat ein anderes Auto. Aber wie ich den kenne, wartet er wieder vor der Schule."

Sakura starrte mit glasigen Augen ins Leere. "Dann müssen wir-..."

Shaolan nickte. "Dann muss ich heute wohl wieder schwänzen. Ich geh zum alten Versteck, komm nach der Schule auch."

"Vergiss es, ich komm jetzt gleich mit! Und keine Widerrede, kapiert?"

Der Teenager seufzte. Mit seiner Freundin war in dieser Hinsicht einfach nicht zu verhandeln.

Schicksalsergeben nahm er sie bei der Hand. "Dann komm."

Das Mädchen nickte. Mit klopfendem Herzen warteten beide, bis das Auto wieder eine Sicherheitspause einlegte.

Dann rannten sie los.
 

"... Nun die Neun-Uhr-Nachrichten. In der gestrigen Nacht fand die ebenso grauenvolle wie ungeklärte Mordserie an stadtsinternen Persönlichkeiten ihre Fortsetzung. Bei dem Betroffenen handelt es sich um den Finanzanwalt Ronan Chardonnay. Zeugenaussagen zufolge soll Chardonnay- wie die Opfer vor ihm- mit einem tiefen Einstich in Herzhöhe in seiner Wohnung vorgefunden worden sein. Ministerialrat Joshua O'Connor teilte den Behörden heute morgen mit..."

Die junge Frau vor dem Thresen runzelte die Stirn.

"Einfach schrecklich."

Fye nickte, bevor er kurzerhand einen anderen Radiosender einstellte.

"Sie haben Recht. Da mag man gar nicht hinhören. Hier, bitte sehr, Ihr Espresso!"

"Vielen Dank. Also, dass sich diese Bruchbude eines Tages zu so einem hübschen Café mausern würde!"

Fye strahlte. "Zuviel der Ehre! Der Kuchen und der Espresso machen dann zusammen drei zwanzig. Mit Rabatt!"

"Ich war sicher nicht zum letzten Mal hier", meinte die junge Frau vergnügt, "Hier, bitte, der Rest ist für Sie."

"Tausend und einen Dank! Dort hinten ist die Kaffee-Ecke, machen Sie sich's ruhig bequem!"

Fröhlich sah Fye seiner neusten Kundin hinterher, wie sie mit ihren Einkäufen zu der weich erleuchteten Kaffee-Ecke in der Nähe des Schaufensters abwanderte, in der bereits schon fünf andere Gäste saßen und ihren Morgenkaffee tranken.

Er merkte auf, als die Glöckchen am Eingang abermals ertönten, und herein mit einer riesigen Schneewolke torkelte-...

"Na, was haben wir denn da?", fragte er fröhlich und legte seine Kuchenzange zur Seite, "Ein schwarzer Eisbär?"

"Sehr witzig", schnaubte Kurogane resigniert und schüttelte sich die Schneeflocken aus den Haaren, nachdem er schleunigst die Tür hinter sich geschlossen hatte, "Da draußen erkennt man kaum die Hand vor Augen!"

Emsig kam der junge Konditor hinter der Theke hervorgewuselt und nahm seinem Gefährten den Mantel ab.

"Möchtest du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?"

"Ach, ähh-... na, von mir aus."

Widerstandslos ließ sich der Schwarzhaarige am Handgelenk zum Thresen schleifen und stützte sich gähnend an der Kasse ab.

"Müde?", fragte Fye besorgt, während er sorgfältig Kaffeepulver in einen Filter löffelte.

"Ich hatte noch außerhalb der Stadt zu tun. Und, wie läuft's mit dem Geschäft?"

"Wuuuunderbar! Wir hatten schon elf Kunden!", legte Fye sofort los, "Und sechs sind sogar zum Kaffee geblieben! Die Blaubeer-Elefanten-Torte ist schon fast ganz aufgebraucht, und Mister Robinsons Pfefferkuchen auch!"

Der Schwarzhaarige konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen.

"Na dann. Freut mich."

"Und was hast du außerhalb der Stadt gemacht?"

"Meine Eltern besucht."

"Echt? Haben sie sich gefreut? Wie geht's ihnen?"

"So lala. Jedenfalls soweit ich das beurteilen kann."

"Schön! Und wo warst du noch? Arbeiten?"

Etwas an der Art, wie Fye das sagte, ließ Kurogane aufmerken.

"Was... ?"

"Ist dein Schwert noch im Auto?"

Misstrauisch starrte der Killer seinem Mitbewohner ins Gesicht. Diesmal war es nur sein Mund, der da lächelte.

In seinen Augen flackerte ein schwer zu deutendes Zwielicht auf. Sofort spürte der Schwarzhaarige, wie sich der Zorn in ihm regte.

Wortlos wandte sich Fye von ihm ab und schlüpfte lautlos ins Hinterzimmer, eine Art Mischung aus Küche und Büro.

Kaum, dass er die Tür geschlossen hatte, verkrallte er sofort eine Hand in Kuroganes Hemd.

"Wo bist du gewesen?", wiederholte er mit leiser, eindringlicher Stimme seine Frage.

"Als ob du das nicht im Radio gehört hättest!", entgegnete der Killer gereizt und packte das schmale Handgelenk seines Gegenübers, sodass dieser zusammenfuhr, "Warum fragst du dann noch so saudumm?"

"Warum? Weil du tötest, darum! Weil du unschuldige Menschen abschlachtest wie Vieh!"

Kurogane starrte Fye statt einer Antwort nur an. Da war es wieder, dieses Gefühl.

Ich bin nackt.

"Warum sagst du d-..."

"Warum ich das sage? Weil es die Wahrheit ist, die du nicht hören willst!"

Augenblicklich explodierte die Wut in dem Schwarzhaarigen, doch ihm fiel keine Erwiderung ein.

Mit starrem Blick beobachtete er, wie sich Fye mit beiden Händen an seinen Oberarmen festkrallte.

Auf seinem blassen, übermüdeten Gesicht prangte ein Ausdruck, den er beim besten Willen nicht deuten konnte.

"Was hat dir dieser Chardonnay getan?", flüsterte er so leise, dass er es kaum verstand, "Er war unschuldig!"

"Niemand ist unschuldig", erwiderte der Killer tonlos.

"Ach ja?", rief Fye wütend, "Und wofür beschuldigst du dann jeden? Was hat dir die verdammte Welt getan?!"

Der Pfeil ging voll ins Schwarze. In seinem Zorn agierten Kuroganes Hände schneller als sein Kopf.

Er packte den Blondling hart an der Kehle und riss ihn zu sich, sodass diesem ein fassungsloser Laut entwich.

"Ich tue, was ich tun muss", sagte er mit leiser, bebender Stimme und drückte noch fester zu, "Und ich tue es wieder."

In den eisblauen Augen flackerte ein Ausdruck der nackten Urangst auf.

Eine lähmende Stille machte sich breit, die beiden schmerzhaft auf die Ohren drückte.

"K-... kurogane-...", stammelte Fye kläglich, seine wisperleise Stimme zitterte wie dürres Laub.

Sein Atem duftete süß. Nach Mandeln und Nüssen. Kuroganes Herzschlag beschleunigte sich.

Doch plötzlich erklang eine Stimme- oder eher ein gereiztes Bellen- von der Theke und ließ sie hochschrecken.

"HE!! Wie lange soll ich denn noch warten?!"

"I-ich komme schon!", rief Fye schwankend zurück. Verzweifelt entwand er sich Kuroganes Griff und rannte nach vorne, floh regelrecht vor ihm wie ein kleines, schwaches Tier vor einem übermächtigen Fressfeind.

Sie hatten ihn verwirrt, diese sehnigen, entschiedenen Hände und die Bestimmtheit ihrer Berührung.

Er drehte sich nicht einmal um. Kein Wunder, denn als er sah, wer da vor dem Thresen stand, sank ihm das Herz ohnehin endgültig in die Hosen. Au weia.

"Aaaah, Sie sind das!", trällerte er augenblicklich in voller Begeisterung, "Wie schön, Sie wieder zu sehen!"

"Ach, lassen Sie doch Ihr hirnloses Geschwätz, Sie wissen ganz genau, weshalb ich hier bin!", raunzte der hagere, hoch gewachsene Rotbart, der vor einer Viertelstunde an der Theke Aufstellung genommen hatte. Er trug einen weiten, dunklen Wintermantel und seine markanten Gesichtszüge und kräftigen, fuchsroten Augenbrauen erinnerten an Vincent van Gogh.

Desmond Blake. Shaolans Vormund.

"Naja, ich hab ja gehofft, Sie kommen, weil Sie mich wieder sehen wollten! Ist das denn nicht so?", fragte Fye traurig und verzog schmollend den Mund. Der ungehobelte Van Gogh stieß einen bedrohlichen Kehllaut aus.

"Sie haben verdammt Glück, dass hier gerade potenzielle Zeugen anwesend sind", sagte er leise, "Und jetzt hören Sie mir gut zu. Ihr hirnweicher Koksdealer von einem Freund ist mir heute morgen schon wieder durch die Finger geschlüpft. Ich weiß, dass Sie regelmäßig Kontakt mit ihm haben. Also sagen Sie mir gefälligst, in welchen Winkel sich der Mistkäfer verkrochen hat!"

Fye hob die Augenbrauen.

Irgendwie konnte er mit jedem neuen Mal besser verstehen, warum sein jugendlicher Freund diesen Mann so mied.

"Sie, ähm-... Sie scheinen mich offenkundig nicht ganz verstanden zu haben, Mr. Blake!", sagte er daher freundlich, "Es ist da oben nicht angekommen! Ich kenne Ihren Schall Alam-... wie hieß er doch gleich?"

"Shaolan!"

"Na von mir aus. Ich kenne Ihren Adoptivsohn Shaolan nicht, wie oft muss ich's Ihnen denn noch sagen?"

"Ach ja, und wie kommt es dann, dass Sie einen Mitbewohner in Ihrer Irren-WG haben, der genauso aussieht?"

"Wer weiß?", fragte Fye ernsthaft, "Vielleicht hat er ja einen Zwillingsbruder, der beinahe gestorben wäre!"

"Ach, hören Sie mir doch auf mit diesem Gesabbel!"

"Es ist die lauterste Wahrheit, Mr. Blake. Denken Sie etwa, ich könnte Sie belügen?"

"Darauf können Sie Gift nehmen!"

Ehe sich Fye versah, hatte sich der Rotbart auch schon zu ihm nach vorne gelehnt und stierte ihn nun aus gereizten Kastanienaugen an. "Hören Sie. Allmählich habe ich genug. Ich hatte Geduld mit Ihnen, aber jetzt platzt mir langsam der Kragen. Ich werde wieder kommen, verstanden? Und wenn Sie sich nicht so langsam dafür entscheiden, mit mir zu kooperieren und zu verraten, in welchem Rattenloch sich dieser Nichtsnutz vor mir versteckt, werde ich mir wohl oder übel etwas einfallen lassen müssen..."

Der Blondling wurde blass. Er brauchte einige Sekunden, um seinen Faden wieder aufzunehmen.

"Naja, es tut mir allerwirklichst und alleraufrichtigst leid, aber ich kenne Ihren Schall Alam-..."

"Shaolan!!"

"Achso, ja. Ich habe ihn noch nie gesehen, und das sage ich Ihnen jetzt schon seit fast eineinhalb Jahren regelmäßig..."

"Ach kommen Sie! Bei dem Personenschlag, mit dem Sie sich abgeben! -... zum Beispiel der da!", keifte Blake offenbar am Ende seiner Geduld und zeigte anklagend auf Kurogane, der soeben aus dem Hinterzimmer zurückkam.

"Was soll mit mir sein?", knurrte dieser bedrohlich.

Fye jedoch packte die Chance am Schopf und ging auf seinen Mitbewohner zu, um ihm die Hände auf die Hüften zu legen.

"Ach... ich verstehe Ihre Eifersucht ja, Mr. Blake...", seufzte er reuevoll und strich dem Schwarzhaarigen leicht über die Seiten, "Aber-... aber es war unvermeidlich. Irgendwie hat's einfach... gefunkt. Es tut mir leid."

Kurogane blinzelte irritiert. Er hatte keine Ahnung, ob dieses mädchenhafte Näseln, das der Blondling soeben in seinen Tonfall eingebaut hatte, beabsichtigt war- seine Wirkung verfehlte es jedoch nicht.

Blake glotzte, als hätte man ihm einen drei Meter langen Kabeljau in den Hals gestopft.

"W-... wir sprechen uns noch!", stieß er nur noch sichtlich angeekelt hervor und war schneller wieder aus dem Laden draußen, als man Kreuzkruzifix sagen konnte. Mit einem glasigen Ausdruck in den Augen ließ Fye wieder los und lehnte sich an ein Regal.

Kurogane starrte ihn misstrauisch von der Seite an.

"... Und wer war das schon wieder?"

"Der Arschlochkönig", erwiderte der Blonde geistesabwesend, "Ach ja, und Shaolans Vormund ist er auch."

"Dieser Wichser? Sein Vormund? Ist Shaolan etwa vor ihm abgehauen?"

"Ja. Wenn ich recht verstanden habe, was dieser Blake von sich gegeben hat, ist er ihm vermutlich schon wieder entwischt. Das heißt dann wohl, dass wir heute nur zu zweit in die Kirche gehen werden. Sakura-chan bleibt sicher bei ihm."

Um ein Haar hätte sich Kurogane verschluckt. "Wir gehen wohin?!!"

"Was denn? Ich hab es dir doch angekündigt."

"Angekündigt oder angedroht?"

Der frischgebackene Konditor lächelte müde. "Nenn es, wie du's nennen willst. Aber immerhin hast du was zu beichten."

Mit diesen Worten begab er sich wieder nach hinten.

Und ließ einen komplett überforderten Kurogane zurück.

Der Schwarzhaarige stieß ein Ächzen aus. Es roch mal wieder nach Diskussion, aber das war ihm mittlerweile völlig egal.

Als ob's die nicht schon vorher gegeben hätte.

Seufzend drehte er sich auf dem Absatz herum und stapfte Richtung Hinterzimmer.
 

"VERDAMMTER MIST NOCHMAL!!!"

Mit lautem Getöse machte der mit alten Akten vollgepackte Karton mit dem Fußboden des Präsidiums Bekanntschaft.

Yukito stieß ein Seufzen aus.

"Toya... jetzt beruhig dich doch endlich! Kann ich denn was dafür, dass die beiden heute morgen abgehauen sind?"

Der Kommissar starrte seinen Kollegen mit einem Blick an, der wohl jeden Höllenhund aus dem Konzept gebracht hätte.

Es dauerte einige Zeit, bis er sich durch heftiges Schnauben und Hyperventilieren wieder einigermaßen auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht hatte. Mit einem resignierten Seufzen ließ er seine Arme müde herabhängen.

"Also schön, es tut mir leid, okay? Ich habe ja nicht einmal ein Recht, mich aufzuregen. Es dreht sich schließlich nur um meine Schwester, nach der ich mir schon seit zwei Jahren die Finger blutig suche!"

"Ich weiß, dass sie deine Schwester ist!", schimpfte Yukito und stellte seinen Aktenkarton mit einem Knall auf dem Schreibtisch von Toyas Büro ab, "Ich hab doch auch eingewilligt, dass wir nach ihr suchen werden! Und jetzt haben wir sie!"

"Das reicht mir aber nicht!", entgegnete der junge Mann und zog die linke oberste Schublade seines Schreibtischs auf, um den ganzen Inhalt in den Karton zu seinen Füßen zu leeren, "Ich will sie von dort wegholen! Jetzt, wo unser Vater schon mal einfach ohne Vorwarnung abgehauen ist, braucht sie jemand Volljährigen, der auf sie aufpasst!"

"Aber dieser Flückiger und sein Freund sind doch volljährig", gab Yukito zu bedenken.

"Willst du mir etwa vorschreiben, wer sich um meine Schwester zu kümmern hat?!", rief Toya erregt, "Das ist einfach nicht die richtige Umgebung für sie, kapierst du das nicht?! Hinter diesem brünetten Schlacks bin ich schon seit Ewigkeiten her, und ich wette mit dir hundert zu eins, dass Flückiger und dieses schwarze Ungeheuer auch schon ordentlich was auf dem Kerbholz haben, so suspekt, wie die sich benehmen! Am Ende wohnt Sakura mit einem Haufen Krimineller unter einem Dach!!"

Der junge Gerichtsmediziner starrte seinen langjährigen Freund an.

Er war seit ihrer gemeinsamen beruflichen Laufbahn ja schon einiges von Toya gewöhnt, aber so besessen hatte er ihn selten erlebt.

Es galt zwar schon eine Bürowette, wann der oberste Kommissar Kinomoto endgültig sein Hirn irgendwo am Tatort liegen lassen würde, aber dass das schon so früh eintreten würde, hätte er nicht erwartet.

"Du spinnst, Toya", sagte er, "Du spinnst total."

"ACH JA?!! Ich zeige dir gleich, wer von uns beiden spinnt!! Ich sag dir, wag es bloß nicht, mir in die Quere zu kommen!! Ich hol Sakura zu mir zurück und buchte diese Irren ein, das schwör ich dir! Ihre schiefe Laufbahn ist beendet! Ich will endlich das aus der Welt schaffen, was unser Vater verbockt hat, dieses aufgeblasene, gewalttätige Arschloch, und dann werde ich-..."

"Was für ein Mensch war euer Vater eigentlich?", erkundigte sich Yukito sachlich, wobei er sich von Toyas Gekeife nicht im Mindesten beeindrucken ließ, "Du hast fast nie von ihm erzählt."

"Doch, hab ich! Hättest du mir halt zugehört, Idiot!"

"Das hab ich versucht. Aber das Dreiviertel von diesen wenigen Sätzen hätte man genauso gut auspiepen können."

Der aufgebrachte Polizeibeamte starrte seinen Kollegen verständnislos an.

Dann seufzte er tief. Er brauchte einige tiefe Atemzüge, um sich wieder zu beruhigen.

"Unsere Mutter ist sehr früh gestorben", sagte er schließlich möglichst beherrscht, "Da war Sakura gerade mal vier Jahre alt, und ich zwölf. Danach ist unser Vater völlig ausgerastet. Er musste irgendjemandem die Schuld am Tod seiner Frau anhängen, weil es seiner Meinung nach einen Schuldigen geben musste. Aber er hatte offenbar keine Ahnung, wem er sie geben sollte, also gab er sie einfach Sakura und mir. Und das war für uns beide der Anfang der Hölle."

Stirnrunzelnd beobachtete Yukito, wie sich vor diesen tiefblauen Augen mit jedem Wort eine Art Schleier zuzuziehen schien, bis sie glasig wie zwei Murmeln wirkten. Glasig von all der Erinnerung.

"Und dann?"

"Viel mehr gibt es nicht zu sagen", erklärte der Kommissar einsilbig, "Wir konnten uns doch kaum wehren, weil wir noch so klein waren. Wir sind immer wieder zu Verwandten geflüchtet, aber er hat uns jedes Mal zurück geholt, und dann war der Terror natürlich noch größer. Vor allem Sakura hatte sehr darunter zu leiden, sie war viel kleiner als ich und hat das alles noch kaum verstanden. Nach ihrem zehnten Geburtstag ist sie bereits regelmäßig getürmt. Ein paarmal hab ich es noch geschafft, sie wieder einzufangen, weil ich mir fest vorgenommen hatte, diese Sache mit unserem Vater wieder ins Reine zu bringen. Ich wollte unsere Familie unbedingt retten, aber sie wollte das offenbar nicht. Und mit dreizehn ist sie dann endgültig abgehauen."

"Ihr habt euch nicht einmal telefonisch verständigt?"

"Nein!", sagte Toya zornig, "Ich hatte doch keine Ahnung, wo sie steckte! Und jetzt hatte unser Vater anscheinend einfach genug und ist auch ins Blaue gerannt! Meine Familie läuft mir vor meinen Augen davon! Lass mich wenigstens ein bisschen davon retten!"

Das auf diese Worte folgende Schweigen lastete tonnenschwer.

Yukito hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte- kein Wunder, denn jedes unbedachte Wort konnte nun wehtun.

"Mann, Toya", seufzte er schließlich und ließ sich auf den nächstbesten Bürosessel sinken, "In was für einen Riesenhaufen Mist sind wir hier eigentlich hineingeraten? In was für einen Müllberg? Kannst du mir das sagen, hmh?"

"Das frage ich mich auch", drang plötzlich die Stimme von Yukitos Vorgesetztem vom Gang her ins Büro, sodass beide vor Schreck aufbrüllten, "Also, ich persönlich würde diesen Müllberg ja höflicherweise als 'Polizeipräsidium' bezeichnen, aber dazu braucht man schon wieder viel Fantasie. Was ist los, haben Sie hier keine Putzfrauen, Kinomoto?"

"Ach, stopfen Sie sich doch eine Socke ins Maul, Johansen!", keifte Toya und winkte entnervt ab, als der hagere Gerichtsmediziner mit einem ganzen Stapel Aktenordner ins Büro gewankt kam.

"Ein Salatsandwich wär mir lieber", lautete die trockene Antwort, "Außerdem wäre ich mir an Ihrer Stelle etwas dankbarer. Immerhin hab ich Amen gesagt zu der ganzen Scheiße. Ich ahne jetzt schon, in was für eine Mistgrube wir fallen werden!"

"Tja, jetzt ist es zu spät", bemerkte Yukito treffend, "Also sollten wir nun schleunigst unser Zeug fertig packen."

"Das ist Ihre erste gute Idee seit langem, Tsukishiro. Hat einer von Ihnen überhaupt schon eine Idee, wo wir uns häuslich niederlassen sollen?", fragte Johansen und stapelte mehrere kleine, bis obenhin gefüllte Kartons, um sie hochzunehmen, "Denn ich für meinen Teil würde auch trotz unserer politisch-kriminalistischen Ausnahmesituation gern noch zum Essen und Schlafen kommen."

"Wie wär's mit Ihrem Haus?", schlug Yukito vor, während er den letzten Rest an umherirrenden Papieren einsackte.

"Erzählen Sie das erst meiner Frau. Und was von Ihnen übrig bleibt, klauben Kinomoto und ich dann zusammen."

"Sehr witzig. Ich wohne noch bei meiner Mutter, also geht das wohl auch kaum."

"Uns wird schon was einfallen", entgegnete Toya ungeduldig und nahm seinen Kartonstapel hoch, "Für unseren Ermittlungsplatz werden fürs Erste drei Bedingungen genügen. Erstens: unauffällig. Zweitens: von Zivilisten bewohnt. Und drittens: Räumlichkeiten zum arbeiten. Aber jetzt müssen wir erst den ganzen Krempel von hier wegschaffen, und das möglichst leise."

"Du glaubst doch wohl nicht, dass das auf die Dauer gut gehen wird?", erkundigte sich Yukito zweifelnd, "Fullright wird irgendwann merken, dass du nicht mehr ins Büro kommst!"

"Dann kreuze ich eben ein paarmal die Woche auf, das wird doch wohl genügen! Und jetzt lass uns dieses Zeug rausbringen. Gehen Sie schon mal vor, Johansen."

Der hagere Gerichtsmediziner nickte und lud sich- selten fügsam für seine Person- einen Teil der Kartons auf die Schultern und marschierte den Gang hinunter Richtung Fahrstuhl.

"Und was sollen wir dann tun?", erkundigte sich Yukito skeptisch, "Uns einen Schlafplatz suchen?"

"Nein. Dann suchen wir Sakura."

"Was?!! Toya, hör zu, das ist jetzt ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt, um Familienangelegenheiten regeln zu wo--..."

"Ich weiß", zischte der junge Mann erbost, "Aber das ist mir egal! Ich wette mit dir, dass wir in diesem verlausten Hippie-Viertel, wo sie jetzt mit ihren dubiosen 'Freunden' wohnt, sowieso genug zu tun kriegen! Dort hausen die Mörder, Giftmischer und Vergewaltiger doch wie die Ratten in ihren Löchern!"

Yukito seufzte. "Also schön, und was willst du tun, wenn du sie gesucht- und gefunden- hast?"

"Ich muss unbedingt mit ihr reden."

"Na fein. Und dann?"

"Und dann sehen wir uns nach einem Unterschlupf um. Also komm, lass uns gehen."

"Aber Fullright wird-..."

"Fullright ist mir scheißegal. Und jetzt mach hinne!"

Yukito blinzelte. Dann stieß er ein langes, lautes Seufzen aus.

"Mist", ächzte er und nahm seine Kartons hoch, "Mist, Mist, Mist. Wir sind geliefert. Gehen wir."
 

Es hatte wieder zu schneien begonnen.

In großen, wattigen Flocken rieselte der Schnee vom mittlerweile wieder dunkel gewordenen Himmel und hüllte alles in einen kühlen, aber weichen Mantel aus Stille.

In den Häusern am Johannesplatz wurden bereits die ersten Rollläden runtergelassen, die ersten Weihnachtsbeleuchtungen vorsorglich wieder ausgesteckt, Schindeln zugeklappt, Türen verschlossen.

Wenige hundert Meter von dem Platz entfernt begannen die bronzeisernen Glocken der Sankt Amadeus-Kirche ihr Acht-Uhr-Geläute.

Dieses volle, schwingende Geräusch, das von den meisten Leuten eigentlich als schön und erhebend betrachtet wurde, ließ Kurogane eine unwillige Schauer über den schmerzenden Rücken rieseln.

"Hast du's dann bald?", rief er ungeduldig Richtung Café de la Paix, wo Fye sich gerade damit beschäftigt wähnte, die Ladentür abzusperren, "Ich will das endlich hinter mich bringen!"

"Ja ja, gleich! Wieso hast du's denn immer so eilig?", erkundigte sich der Blondling, nachdem er zugeschlossen, den Schlüssel verstaut und seinen Mitbewohner eingeholt hatte, "Es hat doch gar nicht so lange gedauert!"

"Ach ja? Wenn überhaupt, dann hast du das mir zu verdanken! Seit wann mach ich den Laufburschen für dich?"

Der Blondling tätschelte Kuroganes Arm.

"Du hast aufgeräumt wie ein Ass! Ehrlich! Als hättest du nie was anderes getan! Und Pfefferkuchen, Blaubeer-Elefanten-Torte, Zuckernebelberge und Fudge hab ich auch noch schnell nachgebacken, also hat's doch wunderbar gepasst."

"Fadsch? Ach ja, dieses weiße,-... klebrige-..."

Stockend hielt Kurogane in seinen Worten inne. Weiß. Klebrig.

Die Worte erinnerten ihn an irgendetwas, aber es wollte ihm partout nicht einfallen.

"Ja. Morgen frag ich auch Sakura-chan und Shaolan-kun, ob sie mir im Laden helfen... allein ist es wohl einfach zuviel."

Der Schwarzhaarige runzelte die Stirn.

"Apropos... wie geht's den beiden? Noch am Leben? Überfahren? Erschossen?"

"Noch am Leben. Ich hab Shaolan angerufen, es geht beiden gut. Sie bleiben vorerst in ihrem Schlupfwinkel, verstecken sich dann bei einem ihrer Freunde und kommen morgen früh wieder heim."

"Darf ich fragen, warum Shaolan überhaupt diesen ganzen Knatsch mit Blake hat?"

Fye sah seinen Wegbegleiter fragend von der Seite an. "Hallo? Weil Blake ein unsäglicher Ignorant ist?"

"Wie du daherredest."

Trotz dem Ernst des Gesprächs musste der junge Konditor ein wenig grinsen.

"Okay: weil er ein Wixer ist."

"Aaah. Das ist Musik in meinen Ohren."

"Du bist ja so obszön."

"Ich weiß. Also, was ist jetzt mit Blake?"

Der Blondschopf senkte nachdenklich den Blick und hüllte sich ein wenig fester in seinen Wintermantel.

"Viel hat mir Shaolan nicht erzählt, weil er eben nicht gerne darüber spricht", erklärte er, "Seine Eltern waren ziemlich wohlhabend, als er noch klein war. Als sie dann gestorben sind, haben sie Blake- der muss damals ein Freund der Familie gewesen sein- das Sorgerecht für Shaolan übertragen, weil sie wohl geglaubt haben, er würde sich gut um ihn kümmern. Tja, Pfeifendeckel."

"Ach. Er will sich Shaolan also nur schnappen, um auf legitime Weise an das Geld zu kommen."

"Genau. Kein Adoptivsohn, kein Geld- denn die Papiere hat Shaolan sich alle unter den Nagel gerissen. Er möchte das Geld für seine späteren Studiengebühren ausgeben, so wie's seine Eltern auch für ihn beabsichtigt hatten."

"Aha", meinte Kurogane tonlos, "Na, kein Wunder, dass er nicht gern drüber spricht."

Fye zuckte die Achseln und starrte zu den warm erleuchteten Silhouetten der Kirche empor, die sich ihnen langsam näherte und sich aus der Ferne wie ein Dom aus weichem, goldglänzendem Licht gegen die Dunkelheit der Nacht abhob.

"Naja. Shaolan hatte es auch schwerer, weil er ein Einzelkind ist."

Kurogane zog seinen dunklen Schal ein wenig zurecht und musterte Fye von der Seite.

"Hattest du denn Geschwister?"

Der Blondling nickte flüchtig, wobei seine Augen wieder diesen seltsam traumverlorenen Ausdruck annahmen.

"Ja", sagte er leise, "Ich hatte einen Zwillingsbruder. Er hieß Yuui. Wir glichen uns wie ein Ei dem anderen, bis aufs letzte Muttermal. Sogar unsere Eltern haben uns manchmal verwechselt."

Angesichts von Kuroganes widerwillig erstauntem Gesicht musste er matt lächeln.

"Du-... 'hattest' ?", fragte der Killer schließlich, "Was ist mit ihm passiert?"

Der junge Mann senkte den Blick. "Vielleicht hast du bemerkt, Kurogane, dass ich eine ziemlich schwache Gesundheit habe. Yuui hatte von Geburt an genau das selbe Problem- nur hatte es ihn noch heftiger erwischt. Als wir beide neun Jahre alt waren, ist er an einem bösartigen Krebstumor gestorben. Für meine Eltern war das ein ziemlich heftiger Schlag, weil sie fast sämtliche Hoffnungen unserer Familie in Yuui gesetzt hatten. Er war immer der Begabtere von uns beiden."

Kurogane starrte seinen Wegbegleiter misstrauisch von der Seite an. Schon den ganzen Mittag über war der Blondschopf so seltsam labil gewesen und hatte kaum mehr gelächelt- einerseits kein Wunder, da er schon wieder kein Auge zugetan hatte- aber andererseits...

"Na, und für dich? War's für dich etwa kein heftiger Schlag?"

Fye erblasste sichtlich und wandte rasch den Blick ab. Seine hellen Hände krampften sich nervös in die Falten seines Mantels.

"... Und du?", fragte er schließlich nach langem Schweigen, "Hattest... hast... du Geschwister?"

"Nein. Meine Eltern hatten mit mir schon genug zu tun."

"Hatten?"

Kurogane seufzte unwillig. "Sie leben jetzt in einem Shinto-Schrein außerhalb der Stadt."

"Weil dir dein Morden zuviele Feinde bringt?", fragte Fye leise.

Dieser starrte nur zurück. Kaum zu glauben, wie einen der Blick dieser hellen Augen durchbohren konnte.

"Unter anderem", sagte er schließlich lahm.

Der Blondschopf lächelte traurig.

"Würdest du mit dem Morden aufhören, wenn ich dich darum bitte?", fragte er und sah sein Gegenüber sanft an.

Aus zwei spitzen Eisnadeln wurden warm funkelnde Kristalle. Kuroganes Herzschlag beschleunigte sich.

"Ich... kann das nicht beurteilen", entgegnete er tonlos, "Ich mach das immerhin nicht ohne Grund."

"Weil du dazu gezwungen wirst?"

"W-weil es nicht anders geht. Dieses... Morden hat einen Zweck, dem ich folgen muss."

"Hat dieser Zweck mit deinen Eltern zu tun?"

"Musst du mich-...", zischte der Schwarzhaarige gereizt, doch er hielt mitten in seinen Worten inne, weil er sie selbst nicht begriff.

Musst du mich immer durchschauen? Es tut weh.

Eine Zeit lang schwiegen sie beide, während sie allmählich das mit flachem, zugeschneiten Gras und dürren Sträuchern bewachsene Kirchengelände erreichten. Nur fünfzig Meter entfernt thronte die Sankt Amadeus-Kirche mit ihren Engelsstatuen, verziertem Stuck und beschienen von fünf Kegeln aus Licht wie eine mächtige, sakrale Schutzgottheit.

"Hör mal", sagte Kurogane nach einer Weile, "Du hast doch mal gesagt, du hättest Gott gesehen. Wie sah er aus? Nur für den Fall, dass er mir heute abend auch über den Weg hoppelt."

Fye überlegte für einige Momente. Er hatte gewusst, dass diese Frage eines Tages wieder auftauchen würde.

"Als ich ihn gesehen hab, sah er aus wie Shaolan", sagte er schließlich.

Kurogane fielen fast die Augen aus dem Kopf. "WAS?!!"

"Ja. Das ist schon eine halbe Ewigkeit her. Es war nur für einen ganz kurzen Moment. Für einen Augenblick war Shaolan Gott, und Gott war Shaolan... es war unheimlich. Aber es hat mir das Leben gerettet."

Der Schwarzhaarige bemerkte, dass er im Moment wohl glotzte wie ein Auto, also wandte er rasch den Blick ab.

"Ah ja. Also, wenn das so ist, wenn man Gott findet..."

"Ich hab Gott nicht gefunden. Ich hab ihn nur gesehen. Gott findet man in den Menschen."

"Aaaha", erwiderte Kurogane unschlüssig, "Und was muss man tun, um ihn dort zu finden?"

"Keine Ahnung", entgegnete Fye fröhlich, während sie nebeneinander her die Treppen zum Haupteingang der Kirche hochliefen, "Beichten ist aber sicher ein guter Anfang, immerhin ist bald Weihnachten!"

Sie standen nun in der Kirche. Ein wenig unsicher für seine Person sah sich der Killer nach allen Seiten um. Er war selten in einer Kirche gewesen und fühlte sich gerade mal so heimisch wie Mozart auf einer Rockbühne.

Das weitläufige Innenraum der Kirche war mit reichlich vergoldetem Stuck und Engelsstatuen verziert; in seiner vorderen Hälfte stand eine größere Anzahl an langen Bänken aus dunklem Holz, während in einer Art rundem Erker ganz vorne der mit Blumen geschmückte Altar platziert war, flankiert von einem mächtigen Christuskreuz. An der gewölbten Decke konnte der Schwarzhaarige einige Fresken erkennen, die vor allem die sieben Kardinalstugenden in ihrer weiblichen Menschengestalt darstellten.

"Schön, nicht wahr?", wisperte Fye, der dem Blick seines Freundes gefolgt war, "Siehst du die Schrift unter den Fresken?"

Mit gehobenen Augenbrauen betrachtete Kurogane den breiten Streifen aus goldenem Mörtel, der sich wie ein schimmerndes Band unterhalb der Fresken einmal um den gesamten Innenraum der Kirche zog wie ein hauchdünner Bildrahmen.

In das Gold war der Schriftzug Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam eingraviert.

"Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen", übersetzte Fye.

"Du kennst dich ja aus."

"Ich war schon öfter hier", erklärte der Blondling fröhlich, "Pater Edmond und ich kennen uns schon länger. Ich hab oft die Beichte bei ihm abgelegt, und er war immer freundlich zu mir."

"Wo ist er dann? Ich will endlich die Beichte hinter mich bringen!", brummte Kurogane und verschränkte die Arme.

"Einen Pater pfeift man nicht herbei wie einen Dackel, Kurogane, man wartet, bis er kommt und sich um einen kümmert! Hocken wir uns doch solange auf die Bänke!"

"Dass du immer die Etikette wahren musst", seufzte der Killer, dennoch tat er wie ihm geheißen und ließ sich schwer neben dem Blondschopf auf der Kirchenbank nieder, "Na, wenigstens sind keine anderen Leute mehr da."

Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Fye seine Finger in das Weihwasser zu seiner Rechten tauchte und sich bekreuzigte.

"Willst du's nicht auch machen?"

"Nun lass mir doch etwas Zeit. Wie sieht überhaupt so'n Beichtstuhl aus?"

Fye deutete auf einen großen, kleiderschrankähnlichen Holzkasten an der rechten Wand des Innenraums. Zwei Türen, eine links, eine rechts, über deren Rahmen jeweils ein kleines Kreuz angebracht war, machten ihn begehbar.

"In dieser Sardinenbüchse legt man die Beichte ab?!", erwiderte Kurogane skeptisch.

"Ja, tut man. Du sitzt vor einem Gitter, und hinter dem Gitter sitzt der Pater und hört dir zu."

Der Killer wurde zusehends unruhiger, als er bemerkte, dass aus einem Seitengang neben der mächtigen Orgel am hinteren Ende des Innenraums die beleibte, dunkel gewandete Gestalt eines Geistlichen sichtbar wurde.

"U-und... was sagt man so, wenn man beichtet?"

"Naja, es wäre ganz angebracht, wenn du zu Anfang sagst: 'Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt'."

"Und dann?"

"Und dann erzählst du deine Sünden."

"Alle?"

"Nein. So viel Zeit haben wir heute nicht mehr."

"Sehr witzig", ächzte Kurogane. Als ob der Blondling erwartete, dass er diesem Pater So-und-so einfach mal so ganz lässig und locker all seine Sünden aus dem Ärmel schütteln würde! Kein einziges Wort würde er von den Morden sagen!

Ihm würde schon irgendeine kleine, halbwegs verzeihliche Sünde einfallen. Aber was war, wenn der Pater ihm nicht verzieh?

Vielleicht reicht es, wenn ich ihm sage, dass-...

Nachdenklich ließ Kurogane seinen Blick über Fyes blasses, von hellblondem Haar umrahmtes Gesicht streifen, das gerade damit beschäftigt war, dem Geistlichen, der gerade auf sie zukam, fröhlich entgegen zu strahlen.

Vielleicht ging das, was er in letzter Zeit ausbadete, auch als Beichte durch.

"Pater Edmond!", trällerte der junge Konditor soeben und stand auf, um dem stattlichen Priester die Hand zu schütteln.

"Guten Abend, mein Sohn!", entgegnete Pater Edmond, ein Mann von wohlbeleibter Gestalt und kräftigen, eulenhaften Gesichtszügen. Er war in eine lange, dunkle Soutane gekleidet, und an seinem Hals baumelte ein Rosenkranz.

"Wie ich sehe, haben Sie heute neue Begleitung dabei!"

"Ja! Das ist mein Freund Kurogane! Er möchte heute gemeinsam mit mir die Beichte ablegen!"

"G-guten Abend, Pater."

"Freut mich! Also schön, ich habe heute Abend keinen Gottesdienst mehr. Wer von Ihnen möchte zuerst?"

"Kurogane fängt an!", erklärte Fye und versetzte seinem Kompagnon einen Stoß in den Rücken, sodass dieser überrumpelt einige Schritte nach vorne auf den Pater zutaumelte.

"Ähh, ich-..."

"Also, mein Sohn, dann kommen Sie mit."

Wortlos beobachtete der blonde junge Mann, wie Kurogane Pater Edmond offenbar ziemlich nervös zum Beichstuhl folgte und die Tür hinter sich schloss. Er musste den Kopf einziehen, um sich nicht anzustoßen.

Tja. Dann war er jetzt wohl vorläufig aus dem Blickfeld. Dann kann ich jetzt endlich-...

Nachgebend legte er den Kopf in den Nacken. Augenblicklich überkamen ihn die Krämpfe.

Die Krämpfe, die er schon den ganzen Morgen und den ganzen Mittag über unterdrückt hatte.

Eine widerwärtige Welle von Übelkeit kroch seine Kehle empor wie eine fette, schleimige Nacktschnecke, sodass er unwillkürlich würgte und eine Hand an den Mund presste, um sich nicht zu übergeben. In seinem Hinterkopf prickelte es, als würde jemand mit hunderten Nähnadeln seine Kopfhaut durchbohren, sodass er beide Arme um sich schlingen und den Kopf tief in seinen Jackenkragen einziehen musste. Gottseidank waren keine anderen Leute da.

Bebend und heftig atmend kauerte er sich in seiner Bank zusammen und wartete er darauf, dass der Schmerz endlich wieder abebbte.

Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt. Es hat doch fast eine Woche lang geklappt!

Wenn er sich nicht mächtig am Riemen riss, würde es heute abend nicht mehr klappen.

Es war allerdings auch seine eigene Schuld- wann auch immer er eine freie Minute gehabt hatte, hatte er diese nicht zum Schlafen genutzt, sondern zum Zeit totschlagen, als wäre sie etwas Lästiges, Widerspenstiges, das er nicht brauchen konnte.

Zeit, die sich dehnte wie ein Kaugummi. Jede einzelne Sekunde bohrte sich wie ein Nagel in sein Fleisch.

Hilflos kniff Fye die Augen zusammen, um seine Gedanken zu unterdrücken, die ihn jedesmal unerbittlich überkamen, wenn es Nacht wurde, und das so regelmäßig, dass er sich schon wunderte, warum er sich immer noch fürchtete.

Doch nachts wunderte er sich nicht mehr. Denn dann war alles anders.

Nachts war er allein. Allein mit sich selbst. Nachts konnte jeder kleine Schatten, jedes Knacken hinter der Wand und jedes Wispern vor dem Fenster ein-... ein Mensch sein. Alles, was sich in der Dunkelheit bewegte, konnte lebendig sein. Und auf ihn warten.

Lauern.

Die Dunkelheit bietet dir keinen Schutz- denn diejenigen, die du fürchtest, sind ein Teil von ihr.

Widerstrebend biss Fye die Zähne zusammen. Auf einmal wurde ihm kalt, klirrend kalt.

Er konnte nichts tun. Er war völlig hilflos- die Gedanken an ihn kamen Abend für Abend, Nacht für Nacht zurück, ohne dass er sich auch nur irgendwie dagegen wehren konnte.

Und es wurde offenbar immer schlimmer, wenn er sich jetzt nicht einmal mehr in der Kirche sicher vor ihm fühlte.

Mit angehaltenem Atem reckte Fye den Hals aus seinem Mantelkragen und sah sich in der riesigen, menschenleeren Halle um.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass die Schatten der Orgel so lang und dunkel waren. Die Kerzen in den riesigen Kronleuchtern an der Decke flackerten. Mit starren Augen blickte der Blondling zu ihnen empor.

Gehen sie aus? Wird es dunkel?

Er bekam Angst. Solche Angst, dass er heute nacht vermutlich wieder kein Auge zutun würde.

Müde senkte Fye den Blick.

Alles, was er hoffte, war, dass Kurogane es nicht bemerkt hatte.

Alles, was er hoffte, war, dass Kurogane es ihm schon längst angesehen hatte.

Und ihn dafür ausschimpfte. Willst du nicht mal schlafen? Ich bin doch bei dir, verdammt nochmal!

Wahrscheinlich konnte er bis zu seiner Beerdigung auf so einen Satz warten.

Außerdem, wieso wollte er überhaupt noch in die Nähe dieses Mannes? Er hatte selbst gesehen- und gespürt- wie gefährlich es werden konnte, wenn man dem grimmigen Schwarzhaarigen zu nahe kam. Ja, warum eigentlich?

In Kuroganes Gegenwart fühlte er sich immer wie eine Schnecke.

Eine kleine Gartenschnecke, die jetzt schon ganze Jahre in ihrem winzigen, dunklen Häuschen verbracht hatte, weil sie sich dort am sichersten fühlte. Und nach all diesen Jahre des Versteckens hatte sie schon längst vergessen, wie sich der Sonnenschein auf ihren kleinen, wehrlosen Fühlerchen angefühlt hatte, denn man hatte sie so lange geprügelt, bis sie die Hoffnung auf ein wenig warmes Sonnenlicht freiwillig aufgegeben und zuletzt sogar Angst davor bekommen hatte.

Ich will die Sonne nicht spüren, denn sie könnte mich ja verbrennen.

Doch jetzt hatte die kleine Schnecke etwas aufgeschnappt. Etwas, das sie daran erinnerte, dass es immer noch anderes Leben auf diesem Planeten gab. Und dieses Etwas machte sie neugierig. So neugierig, dass sie zaghaft die verletzen Fühlerchen aus ihrem Häuschen streckte, in der Hoffnung, dass dieses Etwas ein warmer Sonnenstrahl war, der ihr die wunde Haut ein bisschen wärmte.

So neugierig, dass sie nicht mehr zurückwich, selbst wenn sie statt Wärme nur wieder eins über die Fühler bekam.

Er setzte sich freiwillig dem Schmerz aus, den Kuroganes Gegenwart bei ihm verursachte. Und er hatte ihn nun schon lange genug beobachtet, um zu erkennen, dass dieser Schmerz keinesfalls auf Einseitigkeit beruhte.

Aber wieso? Wieso ertragen wir freiwillig diesen Schmerz? Vielleicht, weil-...

... vielleicht, weil der Schmerz sich lohnte.

Er hatte es gestern abend so deutlich gespürt- Kurogane wich ihm nicht aus. Er beobachtete ihn. Und obwohl es so wehtat, so ungerührt ausgewittert zu werden, tat es ihm so in der Seele wohl, ausgeschimpft und zurechtgewiesen zu werden für all den Blödsinn, den er trieb.

Und seit er diese Worte aus Soledads Mund gehört hatte, wusste er auch die Antwort.

Kurogane quälte ihn- aber das auf eine Weise, die er noch nie erlebt hatte.

Er quälte ihn sanft mit seiner ruhigen, stets beherrscht klingenden Stimme, die nur für wenige Sekunden ins Verächtliche hinabgleiten musste, um ihn wie einen gefangenen Hummer auf dem Hackbrett zappeln zu lassen.

Er legte ihn bloß, mit Worten und Blicken, die so klein und nichtig waren wie das Schneckenhäuschen, in dem er lebte- aber die sich von dem Schweigen nährten, das auf sie folgte, und ihn mit ihrem Gewicht zu zermalmen drohten.

Noch nie hatte er einen Schmerz gespürt, der so schön war- und der bewirkte, dass er sich in solch einem Maße zu einem anderen lebenden Wesen- einem Menschen!- verbunden fühlte.

Einem Menschen, der vermutlich ebenso gelitten hatte wie er, wenn nicht noch mehr. Ein Mensch, aus dessen Augen die Schönheit der Bestie sprach. Dieses Wilde, Bittere, das ihn so faszinierte- weil es in den tiefsten Abgründen seines verrotteten Selbst fast genau gleich aussah. Ich fühle mich verbunden zu ihm.

"Ich fühle mich verbunden zu ihm", probierte Fye diesen ungewohnten Satz flüsternd aus, sodass ihn eine Gänsehaut überlief. Mit vor Nachdenklichkeit glasigen Augen starrte er zu den flackernden Kerzenleuchtern empor.

Es hätte alles so schön sein können.

Wenn da nur nicht diese immer währende Angst wäre. Die Angst vor dem, was alles geschehen konnte. Sakuras Bruder war aufgetaucht. Desmond wollte sich Shaolan schnappen. Kurogane wurde von Unbekannten verfolgt.

Und er wurde immer hartnäckiger von ihm heimgesucht.

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du? Ich werde alles sehen, was du tust...

Nervös zuckte der Blondling zusammen. Er wird mich--...

"Hey! Genug geschlafen!"

Abrupt fuhr Fye aus seinen Gedanken hoch und blickte mit blassem Gesicht zu Kurogane empor.

"... W-wie?"

"Du bist ja kreideweiß", stellte der Schwarzhaarige stirnrunzelnd fest und musterte die flackernden Augen und die nervös zuckenden Hände seines jungen Kompagnons, "Ich wollte dir nur sagen, dass ich fertig bin. Du bist dran."

"J-ja? Und, was hast du so gebeichtet?"

Der Killer wandte den Blick ab. "Nichts von Bedeutung. Und jetzt los, der Pater wartet schon."

Mühsam erhob sich der junge Konditor von der Bank und stolperte eilends Richtung Beichtstuhl, noch halb benebelt.

Sein Nacken kribbelte, als er der nahezu leeren Halle den Rücken zuwandte.

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du?

Fye öffnete die Tür, um sich auf den hölzernen Hocker vor dem finsteren Gitter zu setzen.

Er schluckte schwer. Er hatte ganz vergessen, wie dunkel es hier drinnen war. Er fühlte sich wie ein Fremder.

Natürlich fühlst du dich wie ein Fremder. Du passt in kein Schema dieser Welt hinein.

Halb benommen wurde dem Blondling klar, dass er nicht einmal etwas hatte, was er dem Pater beichten konnte.

Völlig versunken in den Wirren seiner Überlegungen hörte er kaum, was Pater Edmond' schemenhafte Silhouette auf der anderen Seite des Gitters mit gedämpfter Stimme zu ihm sagte.

"Mein Sohn, wir sind heute zusammengekommen, um dir das heilige Sakrament der Beichte zu spenden."

"Va-... vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt", stammelte er unsicher und faltete pflichtschuldigst die Hände im Schoß.

"Sprich nur, mein Sohn. Welche Sünden quälen dein Gewissen?"

"Ich-... ja also, ich--..."

Es gab eigentlich so vieles, was er dem Pater eigentlich schon längst hätte erzählen müssen.

Wenn diese unsichtbare Wand, die all seine Sünden so eifersüchtig umschlossen hielt wie eine Muschel ihre Perle, nur nicht schon so undurchdringlich dick geworden wäre. So steinhart und verkalkt.

Und jetzt, wo Fye erst darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er Edmond all die Jahre über nur Blödsinn erzählt hatte.

Was hatte er ihm nur schon alles verschwiegen?

Hast du ihm erzählt, dass du so viele Men-...

"Mein Sohn, was hast du? Nur zu, sprich!"

Fye hörte kaum mehr zu.

Jeder hat etwas, worüber er nicht gerne spricht.

"Pater. Ich... fürchte, ich gehe auf einem sehr steinigen Weg", brachte er schließlich mühsam hervor und faltete seine Hände so fest, dass seine Fingerknöchel wie Bolzen aus seiner hellen Haut hervorragten.

Er wollte seine Stimme nicht mehr hören. Sie machte ihn wahnsinnig. Sie verfolgte ihn.

"Ich fürchte mich vor diesem Weg. Ich spüre den Schmerz, den er mir bereiten wird. Und ich fürchte mich, auf diesen Weg zu treten, denn mein Gewissen ist nicht rein. Es ist-... Gift in meiner Seele. Es war schon sehr lange Gift darin-... und ich habe Angst, dass sie dadurch nicht bei den Menschen anerkannt wird, deren Gesellschaft mir eine Bereicherung ist."

Du hast Gift in der Seele? Nein, im Gegenteil, du bist Gift für die Welt.

Irritiert merkte Fye auf. War es der Pater gewesen, der da eben gesprochen hatte?

"P-pater... ?"

"Deine Furcht ist begründet, mein Sohn", hörte er die ruhige Stimme des Pfarrers dicht neben seinem Ohr, "Neue Wege bringen immer Furcht und Schmerz, denn Irren ist der Menschen Art."

Und Töten auch.

Fye schluckte schwer. Da war sie wieder, diese bohrende Schwäche in seinen Kniekehlen, die er schon den ganzen Morgen über gespürt- und ignoriert- hatte. Ein schmerzhaftes Prickeln durchlief seinen Hinterkopf wie eine klirrende Schauer.

"I-ich... weiß. Und deshalb frage ich mich-..."

Ob ich immer noch am Leben bin?

Hastig schnappte der Blondling nach Luft.

"Pater?"

"Ja, mein Sohn?"

"Haben Sie das gesagt?"

"Was soll ich gesagt haben?" Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt.

Schweigen. "A-ach-... ach nichts."

"Dann sprich weiter."

Fye atmete dreimal tief durch, um seinen fliegenden Puls wieder zu beruhigen.

"Sie haben gesagt, Irren ist der Menschen Art. Aber ist es Sünde, wenn man glaubt, durch einen Mitmenschen alles Irrens ledig zu werden? Dass man sozusagen-... ein besserer Mensch wird als der, der man vorher war?"

Eine lange Stille machte sich hinter dem Gitter breit. Bis plötzlich-...

Natürlich ist es Sünde, was denkst du denn? Du wirst niemals aufhören zu irren, denn du hast Zeit deines Lebens nichts anderes getan. Es gibt Flecken, die nie wieder rausgehen. Sie haften an dir.

Fyes Puls setzte für wenige Sekunden schwirrend aus, um dann fast doppelt so schnell weiter zu schlagen.

Seine Hände vergruben sich schmerzhaft in die Ärmel seines Pullovers.

"P-pater- bitte, hören Sie auf, das zu..."

Es gibt keine Hoffnung für dich. Deine Hässlichkeit wird für immer bleiben.

"NEIN!!!"

"M-mein Sohn?", fragte Pater Edmond verwirrt, "Was ist mit Ihnen? Befinden Sie sich nicht wohl?"

Diese Stimme, seine Stimme, sie konnte nur hinter dem Gitter hervorkommen. Er war da, er war immer noch da, und er belauerte ihn.

In Fyes Augen begann es wild zu flackern.

"Sagen Sie das nie wieder zu mir, Pater, benutzen Sie diese Worte nicht, sonst-..."

Sonst was? Du bist total hilflos.

"... Sonst-...

"... mein-... ?"

"NEIN!! SEIEN SIE STILL!!"

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du? Ich werde dich töten. Aber vorher töte ich noch deinen neuen Freund...

Fyes Herzschlag setzte aus. Es war, als hätte jemand einen Hebel in seinem Kopf umgelegt.

Ehe er sich versah, hatte er auch schon die Tür des Beichtstuhls aufgerissen, stürzte zum Abteil des Paters und zerrte ihn aus der Kanzel. Warf sich über ihn. Rang mit ihm. Brachte ihn unter sich.

Und schloss die Hände um seinen Hals.

"NEIIIIIIIIIIIIIIIIIIN!!!"

Pater Edmond schrie wie am Spieß und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, doch Fye hielt ihn unerbittlich nach unten gedrückt und würgte ihn wie ein Rasender, presste ihm die Luft aus den fassungslos bebenden Lungen.

Auf den Zügen des jungen Mannes glühte der nackte Wahnsinn.

"Sie werden mich nicht-... Sie werden nicht-... NEIIIIIIIIIN!!!"

Nach wenigen Minuten spuckte der Pater bereits blutigen Schaum. Seine Arme und Beine zuckten wie bei einem Erdbeben.

Sein Gesicht färbte sich ins Bläuliche hinein. Doch Fye sah es nicht.

Alles, was er sah, war er. Es war er, den er da würgte.

Und er würde nicht eher loslassen, bis er tot war. Er hatte es schon so oft getan.

"Naaa?!! Was hast du denn, Ashura?!", zischte er mit vor Wahnsinn geröteten Wangen, "Als ob du das nicht schon kennst! Wir haben das doch schon so oft durchgespielt, einmal mehr oder weniger, zier dich nicht, komm schon--..."

"M-... m-mein-..."

Es schien hoffnungslos für den Pater zu sein. Doch bevor Fye seinen Griff noch fester um den Hals des Geistlichen schließen konnte, packte ihn auf einmal jemand von hinten an den Armen und riss ihn weg.

"WAS ZUM TEUFEL MACHST DU DA?!!"

"Lass mich", kreischte Fye wie von Sinnen und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorne, sträubte sich gegen Kuroganes Griff, trat um sich und kratzte über die Arme des Schwarzhaarigen wie ein wildes Tier, um wieder loszukommen, "LASS MICH!!! Ich muss ihn töten!!"

"Was hat er dir denn getan, verdammt nochmal?!!"

Die Nägel des Blondlings schmerzten wie glühende Kohlen auf seinen Armen, dennoch ließ er ihn nicht los. Er schlang beide Arme um seinen Brustkorb und hob ihn in die Luft, sodass seine Füße keinen Grund mehr unter sich hatten.

Pater Edmond lag wie ermordet auf dem kalten Steinboden und rang schwach nach Luft. Blut sickerte aus seinen Mundwinkeln, und er musste einiges an Kraft aufbringen, um sich auf die Knie zu erheben und schnellstmöglich Abstand zu den beiden zu suchen.

Mit fassungslosem Blick starrte er auf Fye, den er als einen fröhlichen, immer gut gelaunten Menschen kennengelernt hatte, lauschte seinem Schreien und Keifen, das ihn fast mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnerte, und beobachtete, wie er mit diesem schwarzhaarigen Riesen rang, als ginge es um sein Leben.

Sein Entschluss stand bereits nach wenigen Sekunden fest.

"Schaffen Sie diesen Verrückten hier raus!!"

"Pater--..."

"NEIN!! VERSCHWINDEN SIE!! ALLE BEIDE!! UND ZWAR JETZT SOFORT!!"
 

Filmriss. Aus. Ende.

Starr wie ein Toter ließ sich Fye hinter das erstbeste verschneite Pflanzengestrüpp sinken, das das Kirchengelände zu bieten hatte.

Mit brennenden Augen umschlang er seine Knie mit beiden Armen und versteckte den Kopf in seinem Mantel.

Schnecke. Kleine, hässliche Gartenschnecke.

Es schneite immer noch, und ein klirrend kalter Wind fegte durch den toten Park, doch er spürte das alles kaum.

Wahrscheinlich stehe ich unter Schock. Wahrscheinlich habe ich ein Trauma.

Kalter Schweiß begann sich bei diesem Gedanken in seinem verkrampften Nacken zu sammeln. In seinem Kopf hämmerte es, ihm wurde abwechselnd weiß und schwarz vor Augen, und seine Eingeweide wanden sich in seinem Leib umher, als hätte er lebendige Schlangen verschluckt, die ihn nun von innen heraus auffraßen.

Es dauerte nicht lange, bis es ihm hochkam.

Heiß und bitter wälzte sich alles, was er an diesem Tag gegessen hatte, seinen Rachen hinauf. Es brauchte seine Zeit, bis er alles hinter das frostüberzogene Gestrüpp ins verschneite Gras gespuckt hatte.

Keuchend und hustend stützte er sich auf seinen Knien ab und wartete bebend auf die nächste Welle, doch sie kam nicht, also ließ er sich kraftlos nach hinten in den Schnee sinken und verschloss die Augen, verschloss sie vor der Welt.

Ich sehe euch nicht, also seht ihr mich auch nicht.

Er hätte Pater Edmond getötet. Er hätte es tatsächlich getan, er hätte ihn erwürgt und ihm zehn Minuten lang während seines Todeskampfes unerbittlich in die Augen gesehen, wenn Kurogane ihn nicht aufgehalten hätte.

Allein dieser Gedanke reichte, damit es in seinen Eingeweiden wieder zu rumoren anfing. Wieder übergab er sich.

Ich bin krank. Ich bin vollkommen irre.

Als er plötzlich hörte, wie sich im Schnee knirschende Schritte nahten, kauerte er sich augenblicklich hinter dem Gestrüpp zusammen und machte sich so klein, wie es nur ging. Schwarze Stiefel wurden zwischen den dürren Zweigen erkennbar.

"Hau ab!", stieß er mit leiser, erbärmlicher Stimme hervor und presste hilflos die Augenlider aufeinander.

Keine Antwort. Die Stiefel ließen sich in ihrem Weg nicht beirren und hielten wenige Meter vor dem Strauch an.

"Ich weiß, dass du heulst", hörte er Kuroganes ruhige Stimme.

"Tu ich gar nicht!", stieß Fye sofort hervor. Doch als er sich mit zitternden Fingern über die Wangen fuhr, bemerkte er es auch- seine Nase lief, seine Kehle war verkrampft. Er war kurz davor zu heulen und würde vermutlich in wenigen Minuten schon nichts mehr dagegen tun können. Mit leeren Augen fühlte er die Hitze in seinem Gesicht aufwärts steigen.

Wieso weine ich? Ich konnte die Tränen immer zurückhalten!

"Heul von mir aus", sagte Kurogane achselzuckend und lehnte sich gegen den Baum, "Ich bleibe hier."

"Mir doch egal", presste Fye zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Er wünschte, Kurogane würde endlich abhauen.

Er war so froh, dass Kurogane da war.

Die Tränen krochen unerbittlich in ihm hoch, so wie Salzwasser gemächlich und unaufhaltsam am Bullauge eines Schiffs emporleckte, stiegen ihm heiß und klebrig in die Augen und rollten über seine totenblassen Wangen.

Kurogane seufzte und lauschte müde Fyes ersticktem Schluchzen. Leise und zittrig drang es wie das Wimmern eines schmerzgequälten Tiers zwischen den Zweigen des zugeschneiten Gestrüpps hervor.

Nicht wie ein einziger Schwall, keine Heullawine, so wie man das aus Filmen oder Romanen kannte, sondern eher wie ein tropfender Wasserhahn. Immer nur ganz wenig, ganz leise, ganz langsam. Tropf. Tropf. Tropf.

"I-ist-... der Pater-..."

"Der Pater ist in Ordnung. Er ist noch ein bisschen angeschlagen von deinem kleinen Austicker, aber er hat gesagt, wenn wir uns in der Amadeuskirche nicht mehr blicken lassen, erklärt er sich bereit, uns nicht anzuzeigen."

Schweigen.

Geduldig wartete der Schwarzhaarige, bis das Schluchzen soweit abgeklungen war, dass er einen zögernden Blick hinter die Sträucher werfen konnte. Der Blondling kniete wie ein Häufchen Elend im Schnee und wandte ihm den Rücken zu.

"Sieh mich nicht an", stöhnte er gequält und rollte sich zusammen, so wie geprügelte Hunde das taten.

"Wieso? Denkst du, mir bleibt bei deinem Anblick die Spucke weg?", fragte Kurogane ungerührt zurück, "Mir war klar, dass das eines Tages kommen würde, so wie du dich Tag für Tag selbst vergewaltigst. Was glaubst du denn? Etwa, dass ich keine Augen im Kopf habe? Erwarte nicht, dass ich mich so leicht von dir verarschen lasse wie die anderen."

Keine Antwort. Fye weinte immer noch.

Kurogane wusste, dass es jetzt vielleicht besser wäre, den Rand zu halten, aber so langsam konnte er sich einfach nicht mehr beherrschen. Diese ewige Geheimniskrämerei des Blondschopfs machte ihn völlig irre.

"Vor drei Tagen", sagte er leise, "Da habe ich mit dir geteilt. Weißt du noch? Ich habe dir erzählt, was mich belastet hat, und dir die Hälfte davon abgegeben. Aber jetzt frag ich mich, was zur Hölle ich denn noch alles tun muss, damit du mir endlich mal die Hälfte von deinem abgibst!"

Der Blondling zuckte ertappt zusammen. Kurogane verschränkte die Arme vor der Brust.

"Eins kann ich dir sagen: lange wirst du mich nicht mehr hinhalten können. Ich will Antworten, Fye. Zum Beispiel, warum du nachts nie schläfst und ich dich noch um fünf Uhr morgens im Haus herumwandern höre. Warum du jeden pausenlos belügst. Und vor allem, warum du mich belügst. Denn wenn du und ich schon so engen Kontakt miteinander pflegen müssen, will ich zumindest, dass es keine Unklarheiten zwischen uns gibt."

Offenbar hatte er zuviel gesagt. Wild wirbelte Fye zu ihm herum und starrte ihn aus glühenden Augen an.

Seine kalten Wangen waren tränenüberströmt und hochrot. Seine bläulich verfärbten Lippen bebten.

"Müssen?!", fauchte er und stand so abrupt auf, dass er beinahe gleich wieder hingefallen wäre, "Engen Kontakt pflegen müssen?!! Bist du denn noch nie darauf gekommen, dass ich diesen engen Kontakt vielleicht will?! Dass ich ihn mir verrückterweise sogar noch wünsche?!! Du verdammter schwarzer Riesenmuff, du bekloppter?!!"

Kurogane starrte Fye verständnislos an. Als sich der Blondling jedoch auf ihn stürzte und mit beiden Fäusten auf ihn losgehen wollte, packte er ihn bei den Oberarmen und hielt ihn sich vom Leib.

"Hör auf damit!", bellte er wütend und rang mit seinem jüngeren Gegenüber, "Was berechtigt dich, hier den neuen Rasputin zu spielen?! Bist du etwa so arm dran, dass du jemanden halb zu Tode würgen kannst und nachher keine Erklärungen abgeben musst?!"

"JA!!"

"Ach ja?!! Dann will ich dir helfen!"

Mit dem letzten Wort verabreichte er dem Blondling eine so harte Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite gerissen wurde wie der einer Puppe. Mit einem kleinen Aufschrei ließ Fye Kurogane abrupt los, sodass er das Gleichgewicht verlor und schmerzhaft auf dem verschneiten Rasen aufkam. Kaum, dass er aufprallte, warf er sich sofort zur Seite, zog die Knie an den Bauch, schlang seine Arme darum und rollte sich so eng zusammen, dass sein Körper kaum mehr genügend Oberfläche für einen Schlag bot.

Irritiert hielt Kurogane inne und ließ die Hand sinken, die er schon halb zur nächsten Maulschelle erhoben hatte.

Diese fast schon reflexhafte Reaktion des Blondschopfs hatte kaum mehr als drei Sekunden gedauert.

... Als wäre er es schon seit Jahren gewöhnt, Schläge zu bekommen.

Wie von weiter Ferne spürte der Schwarzhaarige, wie seine Füße nachgaben und er sich zu Fye in den Schnee kniete.

Eine Hand auf diese wie verrückt zitternde Schulter legte.

Ihn zu sich hochzog. Ihn bei den Oberarmen fasste und ihm ins Gesicht sah. So viele Tränen.

"Hau mich nicht", wisperte der junge Mann kläglich und verkrallte seine blassen, klammen Hände in Kuroganes Mantel.

"Es macht mir keinen Spaß, dich zu hauen", antwortete der Killer leise und hielt das Kinn des Blondlings fest, damit er seinem Blick nicht ausweichen konnte, "Aber wenn du mich so aufregst, zwingst du mich dazu."

Fyes Mundwinkel verzerrten sich, als ihm wieder die Tränen die Augen quollen.

Und auf einmal war es ihm, als könnte er nie wieder mit Weinen aufhören. Als müsste er alles aus sich hinausweinen, was sich während all der Jahre des Alleinseins in ihm angestaut hatte. So lange heulen und schreien, bis er vor Erschöpfung einfach tot umfiel.

Die Hände des Killers schlossen sich unerbittlich um die zitternden Schultern seines jüngeren Gegenübers und zogen ihn zu sich heran, so nahe, dass jeder den erhitzten Atem des jeweils anderen über sein Gesicht fließen fühlen konnte.

"Ich will nur, dass du mir endlich die Wahrheit sagst", sagte Kurogane so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war, "Wieso hast du den Pater angegriffen? Sag es mir. Jetzt sofort."

Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, doch Fye nahm sich vor, kein Wort zu sagen.

Und noch während er sich das vornahm, spürte er auch schon, wie ihm alles einfach aus dem Mund gerutscht kam.

"Weil er hinter mir her ist", stieß er verzweifelt zwischen seinen abgehackten Schluchzern hervor und krallte seine Hände so fest in Kuroganes Oberarme, dass es ihm in den Fingern wehtat, "Er ist immer noch da, er ist nicht tot, Kurogane-... e-er verfolgt mich am Tag, und er verfolgt mich in der Nacht! Das-... das ist, als ob sein Gesicht unter meiner Haut ist-... sein Gesicht ist unter meiner Haut, und es sieht alles, es blinzelt nicht, es beobachtet mich in jeder Sekunde--... und ich höre seine Stimme die ganze Zeit, ich höre sie in meinem Kopf, ich höre sie, wenn es dunkel wird-... ich, ich, ich-... ich entkomme ihr nicht-..."

Die Worte stolperten hektisch und zusammenhanglos aus seinem Mund, wirr, ungestüm, doch nun war es ihm egal.

All die Last, die bleierne Last, die mit jeder schlaflos verstreichenden Nacht schwerer wurde, löste sich auf seiner Zunge und kam zwischen seinen Lippen hervorgeplätschert, er selbst löste sich auch auf, er schwamm in seinem liquiden, ziellos umhertreibenden Selbst, ersoff darin wie eine Katze, der man den Kopf unter Wasser hielt.

"Wer ist 'er' ?", fragte Kurogane mit leiser, eindringlicher Stimme und ließ seine Schultern nicht los, "Ist 'er' Ashura? Du hast vorhin seinen Namen gesagt. Wer ist dieser Ashura?"

Die Antwort war ein gequältes Schluchzen. Hilflos schüttelte Fye den Kopf.

"Ich-... i-ich will nicht-... ich kann nicht mehr, lass mich los, ich-... lass mich los!!"

Mit einem Ruck kam wieder Leben in seinen Körper. Wild bäumte er sich auf und kämpfte gegen Kuroganes Griff.

"Beruhig dich-... verdammt nochmal, BERUHIG DICH!!", schrie der Schwarzhaarige ihn an.

"Ich hasse dich", zischte Fye mit einem irren Flackern in den Augen, "Deinetwegen ertrage ich es nicht mehr, allein zu sein!!"

Es geht nicht mehr. Ich bin entblößt. Ich bin völlig entblößt.

Entblößt... ?

Ebenso schnell, wie sein Wutanfall in ihm aufgebrandet war, verlosch er auch wieder.

Seine Augen weiteten sich. Fassungslos ließ er seine Hände sinken und starrte Kurogane an.

Seine Finger begannen zu beben.

Er sah ihn so ungläubig an, als sähe er sein Gesicht zum allerersten Mal.

"Spätestens im Moment deiner größten Blöße wirst du es erkennen. Wenn sich deine Seele in ihrer ganzen Nacktheit offenbart. Du wirst Angst haben, Angst, dass die Welt deine Seele entdeckt und zerbricht..."

"... Aber in diesem Augenblick wird dieser Mensch bei dir sein", flüsterte Fye mit einer Stimme, die so leise und käferklein war, dass er selbst kaum verstand, was er sagte.

"Was?", fragte Kurogane unschlüssig und sah den Blonden fragend an.

Dieser schien auf einmal jegliche Wut abgelegt zu haben.

Er starrte ihn aus riesigen, fassungslosen Augen an und sagte kein Wort.

"... wird dieser Mensch bei dir sein", wiederholte er tonlos wispernd.

Kurogane schnappte erschrocken nach Luft, als sich der Blondling plötzlich auf ihn stürzte und ihm so heftig um den Hals fiel, dass beide Hals über Kopf im Schnee nach hinten kippten.

"Was-... was soll das?!", fragte er entgeistert und ließ seine Hände vor Überraschung wie erstarrt in der Luft hängen.

"I-ich-...", hauchte Fye dicht neben seinem Ohr, sodass ihm das Blut in die Wangen stieg, "Ich hab dich gern."

Als er sich leicht über ihm aufrichtete, konnte Kurogane den Glanz in seinen Augen sehen.

"W-... was... ?"

"Ich mag dich", stieß der junge Mann gequält hervor und versuchte vergeblich, in eine andere Richtung zu sehen.

Doch der Killer packte ihn beim Kinn und hielt ihn unerbittlich fest.

"Was?", wiederholte er leise.

Der Blondling wand sich innerlich wie ein verwundeter Fisch. Man konnte es ihm ansehen.

"Ich mag dich", wisperte er mit kaum hörbarer Stimme, "Und ich will nicht mehr von deiner Seite weichen."

Klick.

Irgendetwas in Kuroganes Kopf befahl ihm als Reaktion auf diese Worte die absolute Funkstille.

Gehorsam schaltete er ab. Die Welt um ihn herum zerfloss zu einem liquiden Universum aus Schatten und Farben.

Sein Herz dröhnte dumpf und laut in seiner Brust, doch er hörte es nicht.

Fyes Atem glitt fließend an seinem Ohr vorbei, doch er spürte es nicht.

Alles, was er wahrnahm, war Fyes Gesicht.

"Hasst du mich jetzt oder magst du mich?", fragte er müde, "Kannst du dich mal entscheiden?"

Sein jüngeres Gegenüber presste die Lippen aufeinander. Dann bettete er sein Gesicht in beide Hände.

"Bitte", stammelte er hilflos und sah Kurogane so fest in die Augen, dass es beiden wehtat, "Bitte bleib bei mir."

Wortlos starrte der Schwarzhaarige zu seinem Freund empor.

Der Mond leuchtete zwischen den sich lichtenden Schneewolken hindurch und warf ein silbernes Glühen auf Fyes blonden Haarschopf, wie er so über ihm im Schnee kniete. Seine schlanken Schultern bebten. Seine sonst so blassen Wangen waren hochrot. Doch seine Augen glänzten wie Sterne.

Sanft und zugleich so voller Schmerz.

Und nach und nach spürte Kurogane, wie sich bei diesem Anblick etwas in ihm zu regen begann.

Also doch.

"Du Idiot. Du dummer, blöder Idiot", knurrte er erbost und schlang die Arme um ihn.



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Kommentare zu diesem Kapitel (15)
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Von: Maryhase
2011-08-29T22:29:40+00:00 30.08.2011 00:29
HUIIIIII ^^
Ja du siehst richtig!!
Lisa und ich haben heute drei Kapitel gelesen XD
Wobei...
So wie sich meine Kehle anfühlt...
Aber es war so spannend!!!
Also Sonja!!!
Fang schon mal mit Kapitel 21 an, es dauert nicht mehr lang bis wir dort sind ^^

Liebe Grüße,
Lisa (hat wieder zugehört und Sims gezockt)
Caro (hat jetzt Halsschmerzen XD)
Von:  Bito
2008-10-02T18:16:57+00:00 02.10.2008 20:16
...
*sprachlos da sei*
*mit Gänsehaut dasitz*
Das war einfach...
ich find gar keine passenden Worte.
Die FF fasst einen so in ihren Bann...
wahnisnn.
Von: abgemeldet
2008-09-21T20:33:04+00:00 21.09.2008 22:33
Gruslig dieser Aussetzter von Fye. So richtig...brrr *sich schüttel*
So was möcht ich ungern noch mal erleben.
Ich hoffe auf bessere Zeiten^^

Grüssle, Ildi
Von:  Soffel
2007-09-06T17:17:10+00:00 06.09.2007 19:17
OMG!
OMG!
ich weiß gar nicht was ich sagen soll Ö_Ö
diese letzten seiten
das war einfach der hammer
so traurig und dramtisch und überhaupt und aaaaaw~
>/////<
mir fehlen echt die worte ;____;
da merkt man mal was man verpasst wenn i-net kaputt ist
oh hilfe ich kann nciht mehr!!!!
ich werde sofort weiterlesen
das war einfach toll ;___;
ich bin so froh,dass es fye endlich geschafft hat sich jemanden anzuvertrauen >__<
dass er nicht mehrallein sein muss ;_;
wünscht sich das cniht jeder? x3
Von:  BabyTunNinjaDrac
2007-08-26T19:10:41+00:00 26.08.2007 21:10
*erstmal taschentücher auspacken muss*
Mou, ich hab grade erstmal geflennt... Als Fai versucht, Kuro von seiner Vergangenheit zu erzählen, als Fai versucht, den Pater umzunbringen... ich musste so weinen ;____________; aber das Ende ist so schön *_____________*v Einfach nur schön. Fai kann endlich zu seinen Gefühlen stehen... es ist einfach wunderschön. Und Kuro hat es auch geblickt... Du kannst durch deinen Schreibstil alles wunderbar vor den Augen von Menschen erscheinen lassen. Du hast Talent!

Touya tut mir voll leid ;_; Und Yukito auch ;_; (aber was tut man nicht alles aus liebe xDDD)... und Syao und Sakura auch TT___TT
Von:  Totorori
2007-08-26T16:34:43+00:00 26.08.2007 18:34
*vollkommen sprachlos*
Ich... Oh Gott!!!
Dieser FF is einfach der Hammer
Da vergisst man glatt zu atmen ._.
Oh Gott, das ist der Wahnsin >_<

Einfach Klasse, hervoragend, überwältigend, fantastisch, unglaubglich, spitze, klasse, unübertrefflich, und alles was du sonst noch hören willst! (ausser schlechtem >_<)

Ganz ehrlich, auf den letzten drei seiten hab ich fast nicht mehr geatmet.
Die ganze Szene in der Kirche, einfach nur der Wahnsinn...
Ich bin überwältigt.
Oh Gott...

Bitte bitte bitte mach schnell weiter !!
*auf knien bettel*

Das ist der beste FF den ich je gelesen hab! Oh bitte bitte bitte >_<
Himmel, ich sterbe!
Dieser FF is ja schlimmer als jede Droge!

Gruß
FUSel-Fai
Von:  Lady_Ocean
2007-08-26T00:50:43+00:00 26.08.2007 02:50
Oje, das war ja so traurig! Und dramatisch! Echt heftig! Das war richtig zum Angst bekommen, als Fye diesen Anfall hatte. Dass er Ashura ermordet hat, hatte ich ja vermutet. Und dass er dann nicht damit umgehen kann sowieso. Aber dass es dermaßen extrem ist...dass er deshalb wahrscheinlich sogar noch viel mehr Menschen auf dem Gewissen hat! Da läuft es einem echt kalt den Rücken runter. Ehrlich, damit hast du alles übertroffen, was ich mir so hätte vorstellen können.
Aber ich bin froh, dass er es endlich geschafft hat, Kurogane diese Last zu beichten - wenn auch erst nur teilweise. Spätestens jetzt hat ja auch der gemerkt, wie schlimm es um Fyes Psyche steht und dass er ihm dringend helfen muss, es wohl sogar als Einziger nur kann.
Diese Umstände, unter denen Fye sich über seine Gefühle klar geworden ist, sind insgesamt so sonderbar, dass ich nicht mal richtig weiß, mit welchem Adjektiv man diesen kurzen Schluss dazu beschreiben kann. Es hatte was Bewegendes. Und ich fand das echt toll, wie Fye in diesem Moment Chiis Worte wieder eingefallen sind. Man spürte richtig, wie sich plötzlich der Nebel vor Fyes innerem Auge verzog und er dann zwar immer noch Angst hatte, einen Schritt vor den anderen zu setzen, aber es dann immerhin versucht hat. Und sehr mutig durchgehalten hat er auch, als Kurogane ihn gezwungen hat, die ganze Zeit über direkt anzusehen.
Die Metaphern, die du zwischendrin gebraucht hast - also den Vergleich mit der Schnecke und dem mit dem Wasser später - die fand ich auch sehr schön. Und sie haben so gut gepasst. Extrem, aber dafür auch extrem passend.

Und ich muss immer wieder feststellen: Hut ab, was du für ein Schreibtempo drauf hast! Das ist echt beneidenswert. Zumal die Qualität deiner Geschichte nicht darunter zu leiden hat. Das ist das Allerbeste daran.

Lg
Ocean
Von: abgemeldet
2007-08-25T17:39:40+00:00 25.08.2007 19:39
Hmmm, was Kuro wohl gebeichtet hat...?
Von: abgemeldet
2007-08-25T17:38:36+00:00 25.08.2007 19:38
OMG!!!!!!!! Das ist so genial!!!!!!!!!!! *sprachlos*
ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diese FF liebe!!!
Einfach genial! Wie sich alles zusammenfügt...und die Bilder! (Pfirsich/Nuß z.B.) <3
Die letzte Szene war einfach herzzerreißen....;____; Bitte, bitte, bitte schreib schell weiter!
Von: abgemeldet
2007-08-25T14:10:39+00:00 25.08.2007 16:10
Es lässt sich schwer in Worte fassen, wie sehr mich diese FF mitnimmt...ich bin...sprachlos.
O________________O


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