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Pesce

von

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Prolog

Regen war wie blaue Farbe den Nachmittag hinab geschlittert und bald an die Pforten des Abends getreten. Mit bedächtigem Klopfen stieg er ein und verschwand fast geräuschlos in den dunklen Fluten der Nacht. Nur sein stetes Trippeln auf Solen war wie das unbeholfene Drücken auf Klaviertasten eines ungelehrten Kindes David bis in den Schlaf gefolgt. Dieser lag eingehüllt in Decken der Sehnsucht und in gleich Engelsflügeln gewobenen Armen seines Mädchens zusammengerollt im großen Futon, das wie ein Fremdkörper im pink angestrichenem Zimmer stand. Nun, mit der schmierigen Dunkelheit der kindlichen Nacht, erschien die Welt grau und fast tonlos.

David schlug die Augen auf. Das erste, was seine trüben Augen und der schlaftrunkene Verstand erfassen konnten, war die kahle Decke, deren schrille Farbe sich nicht hatte durchkämpfen können durch die Schwärze.

Er wand seinen Kopf nach rechts, wo Maddalena schlief. Ihre Züge wirkten im Schein der Nacht zarter, als sonst. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem verschmitzten Lächeln und damit erschien sie ihm wie ein zerbrechliches Kind in den Armen eines Vaters. Und David stutzte plötzlich über seine fast pädophilen Gedanken.

Er neigte seinen Kopf nach links, um in die türkisblaue Stille des Aquariums zu sehen. Das Rauschen des Filters beruhigte ihn, obgleich er nicht wusste, wovon. Die Fische schwammen dösige Züge und hatten eine sanfte Neigung eingenommen, die ihn an Engel erinnerten, schlafend auf den gleitenden Wolken an hellen Maitagen. Er glaubte fast den Wind in seinem Haar spüren zu können.

Träumend schloss er die Augen und stellte sich diese herrliche Wiese vor, die er im Schlaf so oft besucht hatte. In Gedanken beugte er sich hernieder, um das von Tau befleckte Gras auf seinen Handflächen zu spüren. Das Wetter war klar und blau. Die Wiesen weit und fern und der Himmel nicht mehr unerreichbar.
 

Als er erwachte, fand er den Platz neben sich leer vor. Die pinken Wände strahlten ihn fröhlich an. Er hatte Kopfschmerzen.

Es waren nicht diese Kopfschmerzen von der Art, dass man sich eine Tablette nahm, die einem zur Besserung verhalf. Vielmehr solche, die einen zum Morgen begrüßte und am Abend zu Bette trugen. David setzte sich auf und sah aus dem Fenster hinaus in die morgendliche Dämmerung.

Er wusste, dass sie fort war.
 

Der Kaffee schmeckte kalt und trocken. Kein Zucker im Haus, den hatte er gestern vergessen. Die Milch war sauer geworden, er hatte sie im bereits schon warmen Schein der Nachmittagssonne stehen gelassen. David seufzte und stützte seinen Kopf auf die rechte Hand. Vor ihm lag die Zeitung des heutigen Tages ausgebreitet, über Tisch und Boden verstreut. Die schwammigen Gesichter einiger Politiker grinsten ihn mit wulstigen Lippen von den Titelblättern an. In großen Lettern prunkte die Schlagzeile, „NSP gewinnt Wahlen!“

David las, las aber doch nicht und lies den Kopf auf den Tisch sinken. Er hatte noch Kakao im Schrank, aber was brachte das ohne Milch? Er seufzte bei dem Gedanken, dass er ums Einkaufen wohl nicht herumkam.

Sein Blick fiel wieder auf die Zeitungen rings um ihn. Ihm wurde übel bei der Erinnerung an das Desaster der Wahlen vor zwei Wochen. Hatte es so viele Probleme gegeben, dass die Auswertungen verschoben werden mussten. Der Anschlag steckte noch zu tief in den Gliedern der Menschen. Hatte der Tod des Präsidenten doch zu sehr den Nerv der Gesellschaft getroffen, als das man hätte weitergehen können in der Zeit. Und nun war eingetreten, wovor unoffiziell jeder angst gehabt hatte. Und hier erinnerte ihn nichts mehr an Maddalena.
 

Der Nachmittag zog sich dahin wie gleißendes Sonnenlicht, blendete David und lies seine müden Glieder zu Boden knicken. Er ging nur vor die Tür, um im Briefkasten nach der Post zu schauen. Einmal, zweimal. Das war noch unauffällig, als er jedoch beim Dritten mal die kleine Klappe zu seinem Postkasten öffnete, lag ein kleiner Zettel darin, sorgsam zusammengeklappt. Ohne Umschlag.

David zog es das Herz zusammen.

Das Papier raschelte leise, als lachte es auf, während er es in seine Hand nahm. Es war gefaltet kaum größer als seine eigene Handinnenfläche. David ballte die Faust und spürte den Zettel gefährlich in sich zusammenknicken. Er schloss die Tür hinter sich, ohne in den menschenleeren Flur des Hochhauses zu blicken. Maddalena war schon lange nicht mehr hier.
 

David stieg über die Zeitung, die er nur notdürftig zusammengefaltet hatte. Er lies sich auf einen Stuhl sinken und legte das Papier ungeöffnet vor sich auf den Tisch. Lange Zeit starrte er es nur an und hörte die Stille, hörte das Aquarium und fast das Pochen der Herzen der Fische, die stumm ihre Kreise zogen. Die Sonne tanzte im lauen Nachmittagwind vor seinen Fenstern und schickte einige Strahlen nach innen, um eine melancholische Stimmung zu verkünden. David schluckte, neigten seinen Kopf und strich behutsam, als sei es etwas zerbrechliches, über das kleine Papierstück. Dann lächelte er leise und dachte, dass es ihn irgendwie an ihn selber erinnerte, wie es da so zerknittert vor ihm lag. Hilflos und aufgebraucht, würde er den Inhalt gelesen haben.

Aufgebraucht … schmerzvoll wand er den Blick ab und sah auf die Wand, an der einige Bilder hangen. Sie stammten vom Vorbesitzer und zeigten bunte Blumenwiesen an friedlichen Tagen. Eine Gesellschaft machte Picknick. Das Gras wog sich mit der Schönheit der Welt. Er schloss die Augen, seufzte leise und gab sich dem Frieden für kurze Zeit hin. Was war Frieden schon wert ohne Maddalena?

Kapitel 2

Nichts mehr schimmerte in seinem Gesicht. Es war taub und leer.

Der Liebe entzogen glich er scheinbar einer bereits geformten Masse, von Kinderhänden grob geschändet und als etwas ausgegeben, was er nur zu sein zu glauben wagte, er aber davon überzeugt war, dass nichts von diesem in ihm Inne wohnte.
 

Der Spiegel vor ihm, der geheimnisvoll in der stillen Dunkelheit schimmerte, lies ihn erst bemerken, was er so lang verleumdet hatte.

Wenn die Augen das Tor zur Seele sind, dachte er und beugte seinen Oberkörper fast unbemerkt einen Zoll nach vorne, kann der Spiegel mir dann auch zeigen, was in mir ist?

Sein Gesicht war nur noch eine Handbreite von dem entfernt, was ihm gegenüber müde anblickte.

Nichts! Er schloss die Augen, öffnete sie und erkannte immer noch genauso wenig in den braunen Pupillen seines Gegenübers.

Gar nichts!

Vielleicht konnten nur andere Menschen anderen in die Seele blicken? Oder aber in ihm befand sich nicht minder etwas, als gähnende Leere.
 

Das Stück Papier, das trotz seines kurzen Aufenthaltes bereits derartig zerknittert war, lag wie verkümmert in seinen Händen. Davids Blick streifte es und sein Herz machte einen Satz. Er wog den Kopf zur Seite, die Augenbrauen schmerzlich zusammengezogen.

Diese schrecklichen Kopfschmerzen …
 

Könnte er?
 

Er schloss die Augen, öffnete sie und sah herausfordernd in die gleichen Augen, die ihn immer noch gegenüber anfunkelten.
 

„Könnte ich?“
 

Er schluckte. Die Kehle war trocken, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fror.
 

„Sicherlich könnte ich.“, sagte er leise und lächelte in milden Zügen. Der Mann, der ihm gegenüber stand, tat das Gleiche. Jedoch erkannte man nur in seinen Augen den Glanz des Taues einer zerstörten Seele.
 

Sein Blick streifte die Schrift auf dem Stück Papier. Sie glich bis ins kleinste Detail der von Maddalena. Er hatte es direkt beim ersten Augenaufschlag während des Öffnens des Briefes bemerkt.

Er runzelte die Stirn; solche umständlichen Albernheiten waren eigentlich nicht ihr Stil gewesen, denn Maddalena war ein sehr geradliniger und ehrlicher Mensch.
 

So war sie es auch damals gewesen, die die Initiative ergriffen hatte.

Zu dieser Zeit arbeitete David noch in dem kleinen Zeitungsstand.

Wenn er ehrlich war, hatte er sie nicht direkt bemerkt, obgleich sie nicht unauffällig war mit ihren blondierten, kurz geschnittenen Haaren.

Einmal hatte Maddalena deshalb mit säuerlichem Ton gesagt, „Siehst du? Die Menschen spazieren strahlend einfach so an ihrem Glück vorbei. Tag für Tag!“
 

Strahlend, das war wohl das perfekte Wort für sie. Alles, was sie umgab, strahlte, denn sie war ein gleichermaßen ein Ruhepol, als auch der Ort des Kräftesammelns für David. Sie war, nachdem er sich mit seiner Familie zerstritten hatte, alles für ihn.

Sein Leben. Sein Sinn dafür.
 

Im Prinzip war Maddalena das, was man allgemein als hübsch, oder süß ansah; schulterlanges weißblondiertes Haar, wache Augen und eine vielleicht etwas zu spitz geratene Nase.

David kannte viele Frauen, die ihm zusprachen und so lebte er ein Leben mit raschem Partnerwechsel, oft sogar mehrmals in der Woche. Er genoss es, denn so war er nicht allein, ohne sich großartig binden zu müssen.

Und David überspielte das Bedürfnis nach wahrer Liebe mit purer Lebensfreude.
 

Maddalena hatte die lästige Angewohnheit, jene versteckten Gefühle bei David aufzuwirbeln, die er gekonnt zu unterdrücken gewagt hatte. Mit ihrer weiblichen Art fühlte er sich dazu noch schuldig, selbst keine Wärme den Frauen auf einen längeren Zeitraum gegeben zu haben. Maddalena selbst schien nie die Furcht zu haben, er könne sie abrupt verlassen, wie es sonst Davids Art war. Vielleicht auch aus dem Grund, dass er sich jedes Mal entschuldigte mit dem Satz, es seihen eben nicht die richtigen gewesen, wenn er seine Liebschaften aufzählte, die schon lange nicht mehr auf zwei Hände passten. Sie lediglich lachte und zwinkerte mit einem Auge.
 


 

An dem Tag, an dem sie sich das erste Mal näher gekommen waren, glaubte die ganze Stadt, in einer Flut aus Regen zu ertrinken.

Es war ein heißer Sommer gewesen und das Wetter war so schnell umgeschlagen, dass die Erde nicht mehr in der Lage war, das zunächst noch freudig erwartete Nass aufzunehmen. Als die ersten Deckel der Kanalisation von dem Druck der Massen unterhalb der Straßen aufgesprengt wurden, verstummten die Schreie der Begeisterung und wichen der Angst.
 

David war Aushilfe und viermal die Woche am Stand, der aus einer kleinen Hütte bestand. Nachts wurde die Klappe zum Verschlag dichtgemacht, früh morgens wurden die Zeitungen geliefert. David war von Natur aus ein Langschläfer, aber nachdem er bei seiner Familie ausgezogen war, musste er sich irgendwie über Wasser halten. Und das war der beste Job, den er hatte finden können.

Der Regen hatte in den frühen Morgenstunden angefangen. Zunächst leicht als Nieselregen, nicht großartig bemerkenswert und David hatte ihn anfänglich auch gar nicht wirklich bemerkt, während er die Zeitungen auspackte und in die Ständer stellte.

Von Westen aus kamen dunkle Wolken auf, schwarze Soldaten, bereit, in den unfreiwilligen Kampf zu stürmen. Erst mit den ersten Strahlen der morgendlichen Sonne wurden sie sichtbar.
 

Als er mit dem Einsortieren fertig war, hatte platschender Regen eingesetzt und David musste sich säuerlich eingestehen, dass seine Arbeit umsonst sein würde, würde er seine Ware nicht direkt unter die schmale Überdachung vor der Hütte stellen. Er war derartig vertieft in seiner Arbeit, dass er nicht bemerkte, wie jemand hinter ihn trat.
 

„Entschuldige bitte?“
 

David überhörte die Anfrage, nicht aus Gründen der Unhöflichkeit, vielmehr rechnete er jetzt noch nicht mit irgendwelchen Kunden.
 

„Hey! Entschuldige!“, die Stimme wurde etwas lauter und David fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter, mit einem Schirm und einer kleinen roten Tasche bewaffnet. Trotz der Dämmerung blitzten ihre Augen auf. David stand wie versteinert, die Fremde runzelte die Stirn.

„Ich würde gerne Zigaretten kaufen, wenn’s möglich wäre!“, ihr sarkastischer Unterton verhielt sich gekonnt zurückhaltend zu ihrem Augenzwinkern.
 

„Ja. Klar.“, David war verwirrt und perplex zugleich. Behände schlüpfte er in das kleine Häuschen. Das Mädchen deutete auf eine weiße Zigarettenschachtel und reichte ihm das Geld. Als sie ihm die Packung aus der Hand nahm, strich sie fast extra ihren Finger an seinem.
 

„Der Rest ist für Dich!“, sie zwinkerte abermals und verschwand in der morgendlichen Dämmerung.
 

Wenn David heute über die Situation nachdachte, kam er nicht davor herum, sich einzugestehen, dass der Ausdruck «sich näher kommen» für diesen Tag weit übertrieben war. So war eben Maddalena` s Art.

Dennoch: ab diesem Zeitpunkt stand sie stets pünktlich um die gleiche Zeit vor ihm. Immer mit der kleinen roten Tasche unter dem Arm und dem leicht lasziv angedeuteten Verhalten; sei es ein Lächeln, ein Fahren mit der Zunge über die Lippen, das Berühren beim Übergeben der Zigarettenpackungen oder der geschickte Augenaufschlag. Maddalena beherrschte alle Arten des Flirtens unbewusst und dennoch meisterhaft.
 


 

David besaß eine Intuition, die bei Freunden oft als „weibisch“ abgetan wurde. Er konnte Dinge gut vorausahnen, da er eine gute Auffassungsgabe hatte und dazu flink kombinieren konnte. Doch das Aufeinandertreffen an diesem Abend hatte er nicht kommen sehen.
 

Seitdem er bei seiner Familie ausgezogen war, lebte er allein in einem Mehrfamilienhaus am Ende der Stadt. Die Nachbarn kannte er nur flüchtig, zudem war er nicht der Mensch, der gerne von selber auf die Leute zuging. Ihm waren seine Freunde vielmehr immer irgendwie wie von selbst in den Schoß gefallen, denn trotz allem hatte er ein angenehmes, ruhiges Wesen. Nichtsdestotrotz genoss er die Einsamkeit beim abendlichen Essen nach der Arbeit auf der viel bewegten Straße der Stadt. Viele Menschen machten ihm seit geraumer Zeit Angst.
 

Der Abend war lau und schön und da der Monat gerade erst begonnen und er somit sein Gehalt bekommen hatte, beschloss David in einem kleinen Pub in der Nähe etwas trinken zu gehen. Er begab sich aus dem Haus und trat hinaus in die wärmende Stille der hellen Dunkelheit, denn der Mond stand voll und rund am Himmel. Die Wolken am Horizont blieben ungesehen.

David neigte den Kopf, als wolle er ihn wiegen und schloss für kurz die Augen. In der Nacht war alles gleich, dachte er und musste lächeln. Dann ist es egal, ob man Mensch oder Tier ist, ob man laut oder leise redet, denn die Nacht verschluckt jeden und alles. Der Gedanke tröstete ihn und mit einem Gefühl der Zuversicht hinsichtlich der Zukunft beschritt er den kurzen Fußmarsch hin zu der Bar.
 

Er war offensichtlich nicht der einzigste, der Dunkelheit und Wärme zu kombinieren und lieben wusste, denn die Besitzer hatten Stühle und Tische nach draußen verfrachtet, sodass man nicht in dem stickigen kleinen Kneipenraum sitzen musste. David nahm das Angebot gerne an und lies sich an einem der vielen freien Tische nieder. Trotz der schönen Nacht war kaum Betrieb.

Es dauerte nicht lange, da erschien ein Kellner. Ein junger, recht gut aussehender junger Mann, dem die Müdigkeit jedoch ins Gesicht geschrieben stand. David bestellte und wurde wieder allein gelassen.
 

Die Straßen hier waren dunkel und fast bieder. Die Schönheit war mit dem ersten Erkennen der Nacht verschwunden.
 

Kurze Zeit später und der Kellner brachte ihm sein Bier. David bezahlte und nippte gedankenverloren an dem kühlen Schaum, dessen Weiß das Grau der Welt durchstach. Von drinnen war einiges Gelächter zu hören, fröhliche Stimmen und Gläserklirren. David verspürte keinerlei Drang dazu, sich ebenfalls hinein zu begeben.
 

Ein spitzer Schrei lies ihn aufhorchen, es folgte Gezänk und das Geräusch von zerbrechendem Glas. Dann flog mit einer nicht erwarteten Heftigkeit die Kneipentür auf und ein Mann erschien.

Breitschultrig, hoch gewachsen und mit tiefliegenden Augen, wankend und offensichtlich schon recht angetrunken zerrte er jemanden mit sich, eine Frau, wie David erkannte. Der Mann hatte sie an den Haaren gepackt und riss sie förmlich nach draußen, wo er sie mit einem gewiss schmerzhaften Ruck auf die Erde schleuderte.

Das Mädchen blieb kurz liegen, richtete aber dann den Oberkörper auf und fuhr sich mit einer raschen Bewegung die Haare aus dem Gesicht. Und David lies das Bierglas fallen.
 

Der Mann, der David bis jetzt noch gar nicht bemerkt zu haben schien, starrte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, erkannte den jungen Mann und rotzte verächtlich auf die Straße. Dann wand er sich dem Mädchen wieder zu, dass ihn angewidert anstarrte.
 

„Mit dir bin ich noch nicht fertig!“, zischte er drohend, verengte die Augen und begab sich wieder in die Kneipe. Sie blickte ihm mit einem undefinierbaren Ausdruck nach, einerseits aufgrund der Dunkelheit, andererseits, da ihr Gesicht bereits anfing anzuschwellen und sich teilweise bläulich verfärbte.

David, der aufgestanden war und seine Jacke, die durch und durch mit dem verschütteten Bier getränkt war, ausgezogen hatte, kniete sich neben sie und legte ihr sie sanft über die Schultern.
 

Das Mädchen zuckte nicht zusammen, oder tat sonstiges, das darauf hätte schließen können, dass sie David bemerkt hatte. Sie griff nur etwas an dem Saum der Jacke, um sie noch enger zu sich ziehen zu können. Erst dann wand sie ihren Kopf mit einer schier unendlich langsam wirkenden Bewegung David zu. Sie lächelte und es wirkte schmerzlich grotesk,

„Sie stinkt.“, sagte sie und David verstand nicht direkt, „Aber dein Missgeschick hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.“, und mit einem verbitterten Belag auf der Stimme fügte sie leise mehr für sich, als zu sonst wem gerichtet bei, „Fürs Erste jedenfalls.“
 

„Kannst du aufstehen?“, fragte David. Sie lächelte und nickte, versuchte aufzustehen, taumelte aber etwas und hätte er sie nicht am Arm gegriffen, wäre sie wahrscheinlich wieder umgekippt.
 

„Wo wohnst du?“, fragte David, nachdem sie sich auf eine der Bänke gesetzt hatten.

„Noch bei dem netten Mann.“, sarkastisch verzog sie das Gesicht und deutete kurz mit einem Nicken in Richtung Bar, aus der wieder lautes Grölen kam,

„Aber ich werde morgen meine Sachen packen und ausziehen.“

„Wo willst du denn hin?“, David war sich unsicher, wieso er das alles überhaupt wissen wollte.
 

Heute war er sicher, dass es einfach die Hoffnung auf das Stillen des Durstes nach Einsamkeit war.
 

Sie lächelte und strich sich blonde Strähnchen aus dem Gesicht, „Wir kennen uns jetzt schon eine ganze Weile, aber ich kenne immer noch nicht deinen Namen. Einerseits bringst du mich langsam um, weil du mir deine Zigaretten verkaufst, andererseits hältst du mich am Leben, indem du mich vor meinem besoffenen Freund rettest. Ist das etwa deine Absicherung, damit du deine Stammkunden nicht verlierst?“

„Reiner Zufall würde ich das eher nennen. - Wo willst du wohnen?“

„Hi. Ich bin Maddalena!“, sie reichte ihm die Hand und lächelte schief mit ihrem schönen Mund und dem verwischten Lippenstift.
 


 

In dieser Nacht fühlte David die Einsamkeit an seine Tür klopfen. Aber jemand hatte sie verschlossen und blickdicht gemacht.

Die Haut, die er berührte, war warm und tröstend. Die Morgendämmerung legte fast versöhnlich ihren rötlichen Schimmer auf die Körper, die zwar nah, aber nicht intim aneinander geschmiegt lagen.
 

Damals war David nicht bewusst gewesen, dass sie genauso berechnend an diesem Abend gewesen war, wie immer. Es stach ihm heute schmerzlich ins Herz.
 

Er öffnete die Augen und war wach. David blickte in das Gesicht des Mädchens, dass er durch diesen seltsamen Zufall mit nach Hause gebracht und nicht einmal angerührt hatte. Eigentlich nicht seine Art.

Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie wohl küssen würde. Sicherlich war sie sehr geübt darin.

In Gedanken zog er sie aus, sah die zarte Haut im Schimmer des fahlen Lichtes und berührte das weiße Fleisch, das unter dem langen T-Shirt, das er ihr geliehen hatte, verborgen lag.

Plötzlich mochte er sie fühlen. Jetzt!

Harmlose Gedanken fingen an, einen eigenen Willen zu besitzen und machten sich selbstständig, krochen in Finger und zwischen die Lenden, als er ihr Gesicht sachte mit dem Zeigefinger berührte. Sie schlief. Er spürte den tiefen Atem auf seiner Haut und es lies ihn angenehm erschaudern.

Gehende glitt er mit seiner Hand unter ihr T-Shirt und strich ihr den schmalen Hals entlang, fühlte ihre Brüste und die Warzen, die sich unter dem leichten Druck erhärteten. Er glitt den Bauch entlang und ertastete die kleine Falte mit dem wenig an Bauchspeck und fühlte die Scham zwischen ihren Beinen.

Fast wie unbemerkt näherten sich seine Lippen den ihrigen, stoppten aber kurz vorher. Er zog die Hand zurück und stand auf. Er verstand sich selber nicht.
 

Verwirrten Gedanken hinterher gehend schlich er ins Bad und sah sein Angesicht im Spiegelbild. Blass und beschämt. Er spuckte es an und wischte danach mit dem Handtuch die glatte Fläche sofort wieder sauber.

Dann setzte er sich auf den Rand der Badewanne und stützte die Arme auf die Beine. Der Kopf war ihm so unendlich schwer, die Lider brannten. Tränen tropften ihm auf die Boxershorts, als er plötzlich nach vorne kippte und bitterlich anfing zu weinen.
 

Schier eine Unendlichkeit umfasste ihn nagende Schwärze. Die triste Welt, die er um sich herum versucht hatte aufzubauen, war um ihn zusammengebrochen, wie ein morsches Kartenhaus.

Ein Hauch eines Flügelschlags berührte ihn, als ihn Arme umglitten und fest an warmes, lebendiges Fleisch zogen. Die kalten Fliesen, auf denen er wie leblos gekauert hatte, wurden ihm entzogen. Maddalena umschloss ihn ganz in ihrer Umarmung und wog den bebenden Körper mit leisem Singsang hin und her. David roch ihren Geruch und schluckte schwer.
 


 

Wenn er heute an diesen Tag zurückdachte, schmerzte sein Herz so sehr, dass er glaubte, er müsse sterben.
 

Kraftlos kippte er nach vorne, prallte mit dem Spiegel zusammen, sodass dieser gefährlich wankte. Er suchte nach Halt, während seine Beine unter dem Eigengewicht der Erinnerungen nachgaben, fing sich am Waschbecken ab und sank letztendlich mit einem zerrissenen Seufzer zu Boden.

Es schien seinen Kopf zu zermalmen, dehnte sich aus bis ins Rückenmark und ließ seine Glieder verkrampft zucken. Unter Schmerzen verdrehten sich die Augen, bäumte sich die Brust auf und wand sich der gesamte Körper, wie ein Fisch, der am Haken die letzten verzweifelten Versuche startete, sich in die rettende Freiheit zurück zu gewinnen.

Mit schwindender Kraft gruben sich die Fingernägel tief ins eigene Fleisch, schabten blutige Kratzer auf, immer tiefer, immer fester. Zerrten sich die Gedärme ineinander und schienen das Innere nach Außen zu kehren. Irgendwann gab David erschöpft auf und lies sich in die Schlucht fallen, in die er sich selbst gestürzt hatte.
 


 

„Hast Du so was öfters?“, Maddalena tupfte ihm vorsichtig den Schweiß von der Stirn. David neigte seinen Kopf unter der Kühle zur Seite.

Er konnte sich nicht mehr an alles genau erinnern, aber er wusste noch, wie sie sich um ihn gelegt hatte, um ihn im nächsten Augenblick die Arme unter die Achseln zu schlingen und hoch zu hieven. Er hatte ihren schweren Atem ganz dicht an seinem Ohr gefühlt, ihre Brüste drückten sich an seinen Rücken, der immer noch verkrampft gewesen war und schmerzte.

Sie sah ihn an und lächelte matt. Die Sonnenstrahlen des Morgens, die ihn blendeten, erleuchteten ihre weiße Haut in einem engelsgleichen Licht. Ihr linkes Auge hatte sich bläulich verfärbt. Der Bluterguss begann bereits, sich über die gesamte Wange zu ziehen.

Leicht nickte er und schloss wieder die Augen. Maddalena neigte den Kopf und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. David seufzte leise auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
 


 

Die Nacht war schon seit Stunden eingebrochen. David allerdings hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Die Glieder schmerzend, lag er auf dem Boden des Bades und blickte ins Leere. Das Gefühl des Krampfes ebbte allmählich ab und sein Körper begann langsam wieder, normal zu arbeiten.

Er wartete einige Zeit, um sich auch sicher zu sein, dass eine Bewegung nicht einen nächsten Anfall auslösen könnte, dann versuchte er, seine Finger zu spüren. Als er sie als funktional eingestuft hatte, wagte er mehr und zog vorsichtig seinen rechten Arm in eine für ihn angenehmere Stellung. Beruhigt stellte er fest, dass er wohl außer Gefahr war und bewegte nun sämtliche Muskeln mal nach-, mal miteinander.

Leben schlich sich endlich wieder ein in seinen Geist und Körper und erleichtert machte er einen Versuch, sich zu erheben. Er stemmte den einen Unterarm auf den kalten Boden und zog den anderen nach. In diesem Augenblick verschwanden die Kräfte abermals und er schlug hart mit dem Unterkiefer auf. Benebelt und geschlagen blieb er liegen und weinte.
 


 

Wie konnte sie bloß so freundlich zu ihm sein, wo er sie fast als etwas Materielles angesehen hatte?! Wie konnte nur jemand so offen mit einem umgehen; so viel Liebe vergeuden für ihn? In einer dermaßen absoluten Bedingungslosigkeit!

Er hatte sie benutzen wollen und nun war sie es, die nicht gegangen, sondern ganz im Gegenteil sich bei ihm eingenistet hatte.
 

Die Scham darüber trieb ihm die Röte ins Gesicht. Da er sich dessen bewusst war, drehte er seinen gesamten Leib der Möbelgarnitur zu. Maddalena war inzwischen in die Küche gegangen. Man hörte sie leise mit sich selbst reden, Gläser klirren und Schränke knallen.

So viel Leben, wie heute, dachte David, war noch nie hier drinnen. Und er lächelte ein wenig.

Maddalena trat aus der Küche und kratzte sich am Kopf, „Sag mal, wo hast du den Tee? Ich finde den einfach nicht.“, sie klang wirklich verzweifelt und da David Mitleid hatte mit ihr, wand er sich ihr zu und sagte,

„Ich habe keinen Tee. Ich habe nie Tee. Von ihm fühl ich mich krank!“

Maddalena lachte, „Das geht mir so mit Pfefferminztee, das stimmt, aber es gibt so leckere Sorten, die da wären:“, und sie fing an den Fingern abzuzählen, „Erdbeertee, Anistee, Weihnachtstee, Herbsttee, Schwarzer Tee, Grüner Tee …“, sie hielt inne und blickte angestrengt in eine Ecke des Zimmers. „Wenn ich mich recht entsinne, ist hier in der Nähe ein Teehaus. Da haben die noch viel mehr Sorten – und glaube mir, da fühlt sich wirklich niemand krank!“ Sie lachte und um ihren Mund zogen sich kleine Grübchen. David fühlte sich glücklich.

Kapitel 3

Der Tag eilte davon und David vergaß. In ihm schauderte die Beunruhigung der längst für tot erklärten Erinnerungen, denn wahrlich hatte er geglaubt, sie vergessen zu haben.
 

Heute besaß nichts mehr Bedeutung.

Der Wind klang an seinem Fenster und es glich einem hohlen Versprechen. Just in diesem Moment ward er wieder erinnert an Maddalena. Es durch glitt ihn ein widerwärtiges Beben, welches die Tasse in seiner Hand samt Inhalt auf den Boden schmetterte. David fluchte und bückte sich hinab, um die Scherben aufzusammeln. Die Keramik war nicht großartig gesplittert und so beinahe glücklich zerschellt. Er fischte sie müden Blickes aus dem Tee, der sich in einer breiten Lache auf dem Boden ergossen hatte. David erhob sich und warf die Überreste in den Mülleimer. Dann griff er nach dem bestnächsten Tuch und wischte den Boden provisorisch. Die Teepause war beendet.
 

Fast leidlich verzog er den Mund, wirkte es doch beinahe so, als wolle man ihm jegliches Genussmittel entziehen. Wahrscheinlich war er ohne es zu wissen in eine reale „Trumanshow“ geraten.

Die tatsächliche Welt außerhalb seiner Realität musste derartig sadistisch sein, dass sie ihn zum Selbstmord, oder – sehr viel schlimmer – zum Wahnsinn treiben wollten.

Ihm begann, diese Idee zu interessieren und schweifte in einen Gedankenstrom ab, während das Wetter zunehmend schlechter wurde. Dunkle Wolken waren vor einiger Zeit aufgetaucht, die sich nun immer bedrohlicher über die Stadt legten. In der Ferne war grollendes Tosen zu hören.

Konnte man solche Effekte tatsächlich nachahmen? David grübelte. Sicher. Beim Film konnte man es ja auch.

Aber was wäre, wenn die Filme die Realität und er eine Art Traumwelt darstellten? Wenn sie ihn verhöhnten, in dem sie ihm die Wahrheit quasi auf einem goldenen Tablett präsentierten und er zu ihrem Spott zu engstirnig war, um es zu verstehen?

Aber seine Gedanken konnten sie nicht lesen!

Oder?
 

Es traf David, wie ein Faustschlag. Sein Magen verzog sich schmerzhaft.

Was, wenn sie aber dennoch nur das zeigten mit der Realitätsdarstellung, was sie wollten, dass sie es zeigten? Dann hätten sie Denkanstöße, wie die „Trumanshow“ gegeben, ihm eine Surrealität vorgegaukelt und den Spott aufs Äußerste getrieben. Hätten sie es als Absicherung dafür getan, dass wenn er jemals hinter diesen Gedanken kommen würde, sie dennoch ein Ass im Ärmel hätten.

Denn im Film war das Gehirn nicht überwacht worden. Doch David war klug. Er wusste um die Gerissenheit der Menschen bescheid. Und in der realen Welt, draußen, war es wohl nicht anders, als hier. Denn mindestens einer war nicht manipuliert worden und genau an diesem jemand konnte er messen, wie klug oder dumm die Menschen waren: Er selber.
 

Eine durch den Himmel zuckende Blitzader zerriss die Dunkelheit des Gewitters und durchstieß zusammen mit den Wolken seine Gedanken.

Die wichtigste Frage von allen aber, dachte er und wand sich dem Fenster finster ab, wer sind «sie»?
 

Er durchstreifte in Gedanken versunken sein Zimmer, tigerte wie ein in einem Käfig eingesperrtes Tier auf und ab, zersauste sich Haar und fing am Ende gleich seiner alten Gewohnheit wieder an, an den Nägeln zu knabbern. Was für ein Elend.

Dennoch kam er zu einem Schluss:

Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, durfte er nicht mehr antastbar sein! Musste sich vollkommen abschotten und der Macht der Beobachtung wenigstens im Innern entziehen. Wollten sie ihn zum Gespött der Welt machen, so hatten sie nicht mit ihm gerechnet. So hatten sie sich geschnitten!

Wut und Hass vermischten sich und verdickten zu einer klebrigen Masse, die sich schmierig über ihn legte und einlullte, wie einen Embryo die Gebärmutter umgibt. Seine Muskeln verkrampften sich vor Entzückung und schmerzten.

Er musste unantastbar werden! Für jeden gottverdammten Preis auf dieser Welt!

Gleichsam mit diesem Gedanken durchsuchten seine Augen das Zimmer, strebend nach einem passenden Werkzeug; einer richtigen Funktionalität.
 

Sie blieben am Schrank hängen und er stürmte buchstäblich auf eine kleine blaue Kommode zu, die schon zwei Staubschichten zu viel hatte. Er hatte in der letzten Zeit das Putzen sehr vernachlässigt.

Ungestüm riss er sie auf und entleerte den Inhalt einfach über den Boden. Derartig erleichtert waren die Schubladen nicht mehr von Bedeutung, sodass er sie achtlos nach hinten warf. Als eine krachend gegen ein Stuhlbein flog und dieses abbrach, minderte David seine Brutalität den Gegenständen ein wenig und wühlte keuchend im klirrenden Haufen herum, nicht darauf achtend, dass er sich an Gabeln stach und Klingen schnitt.

Schließlich stieß er einen jauchzenden Laut aus und hielt das Messer, welches er gesucht hatte, in die Höhe, als wolle er es einer schaulustigen Menge vorführen. Seine Augen hatten einen feurigen Glanz angenommen.
 

Waren dort tatsächlich tausende von Beifällen, die ihn umringten in leichte Watte, oder flunkerte der Regen ihm bloß alles vor? David konnte es nicht unterscheiden. Aber das fast glaubhafte Zujubeln stieg ihm die Röte in den Kopf und den Wahn in die Glieder. Das Messer zuckte munter im Licht auf. Schwärze umzog sich seines Körpers.
 

Was er fühlte, als er das Messer ansetzte, konnte er später nicht mehr sagen. Er glaubte fast, er wäre in dieser Sekunde taub geworden für alles. Und der Schmerz empfing ihn feierlich.

Kapitel 4

Die Sonne blendete. Er hatte zum Erbrechen starke Kopfschmerzen. Sie pochten in den Schläfen und stießen unerbarmt in seinen Hinterkopf. Ihm war übel und die Backenzähne taten weh – eine für seinen Körper typische Antwort auf die Migräne.

Als er sich aufzurichten versuchte, schwindelte es ihm. Der Kreislauf war ganz offensichtlich am Nullpunkt angelangt.
 

David rappelte sich auf und suchte tastend in seiner Reichweite nach etwas, was ihm aufhelfen konnte. Er bekam ein Stuhlbein zu packen, zog mit Schwung daran, kam in die Hocke und stürzte wieder nach hinten. Hart prallte er mit dem Hinterkopf auf den Fliesenboden, was seinen Kopfschmerzen nicht wirklich gut tat. Das Stuhlbein hielt er nun in der Hand, der Stuhl krachte nach hinten und verfehlte ihn selber bloß um Haaresbreite.

Geschlagen blieb er auf dem Küchenboden liegen und seufzte.

Was war geschehen?

Er kratzte sich am Kopf und rümpfte die Nase. Seine Hand glitt hinab auf sein erhitztes Gesicht, kühlte die glühenden Wangen und lenkte sich dann abwärts gen Hals. David stutzte, sprang in einem plötzlichen Wall aus Kraft auf und hechtete ins Bad zum Spiegel.

Was er dann sah, verschlag ihn den Atem.
 


 

Die Tage verstrichen und Glück sammelte sich zu einem Tropfen, der verdächtig nach Liebe roch.

Wie warm die Welt sein konnte, wie schön der Schmerz der Nervosität, der im Bauch stach bei jedem Augenschlag. Jeder Berührung.

Miteinander geschlafen hatten sie nicht. David lag daran im Moment auch gar nichts. Er glaubte, würde er mit ihr intim werden, würde er seine Liebe verlieren. Denn Sex war schmutzig für ihn in irgendeiner Weise, jedenfalls in Anbetracht dieses reinen Wesens. Hätte sie den ersten Schritt gemacht, so hätte er sicherlich nicht abgelehnt, aber er selbst wollte sie nicht zu einer seiner Liebschaften erklären. Er wollte ihr nicht den Stempel der leibeigenen Hure aufpressen.

Maddalena ahnte davon nichts.

David hatte angeboten, auf der Couch zu schlafen, aber sie wollte das nicht. So nächtigten beide im gleichen Bett, Maddalena ihm meist zu Beginn der Nacht den Rücken kehrend, später sich dann unruhig wälzend. Nicht selten wachten sie eng umschlungen auf. Den letzten Schritt allerdings tat niemand.
 

So hatte das Schicksal – auch wenn David selbst diesem eher negativ gegenüberstand – zwei Menschen zusammen gebracht. Es hätte für immer so weiter gehen können, in einem herrlichen Kreislauf; einer Endlosschleife. David hätte nichts dagegen gehabt.
 

Am sechsten Tag – er hatte bis dato keinen weiteren Anfall erlitten – wachte David auf und fand sich alleine im Bett. Das war im Grunde nicht ungewöhnlich, dachte er, selbst, wenn er die Tage zuvor immer vor ihr wach geworden war, so konnte sie heute doch mal früher aufgestanden sein. Dennoch beschlich ihn ein seltsames Gefühl. So beschloss er aufzustehen.

Die Sonne schien und es versprach ein schöner Tag zu werden. Es war jetzt schon für die Jahreszeit ungewöhnlich warm.

Barfuss schlich David durch die Wohnung. Er wusste selber nicht wieso, denn im Herzen wusste er die Wahrheit bereits.

In der engen Küche fand er einen gedeckten Frühstückstisch vor, der schon eine ganze Weile dort stehen musste, denn die Eier waren kalt und der Kaffee in der Maschine bereits angebrannt. David setzte sich und starrte auf den Zettel. Er sah und sah doch nicht, während sich seine Augen mit Tränen füllten. Sie quollen aus den Lidern und rannen die Wange hinab, wo er sie sich schnell fortwischte. Dann nahm er das Papier, hielt es in der Hand und starrte auf den Fetzen:
 

Ich bin zu ihm zurück,

vielen Dank für alles.

Maddalena
 

Die Häuser der Stadt kamen ihm vor, wie Dornen, die ihn aufspießten, sich in ihn verfingen, zerrten, rissen und Gedärm auf dem verdorrten Boden verschütteten.

Er lief aus! Er würde zergehen im Lehm und Schleim seiner Selbst. David ekelte sich vor sich selber. Ein weiteres Mal zu weinen, wagte er nicht.
 

Der Tag zeigte sich von seiner gütigen Seite und endete schnell. David ergab sich demütig dem Schlaf und ertrank sich im Kissen. Wie eine Hülle legte sich tiefe Müdigkeit über sein Haupt und lullte ihn ein in Traum und körperhafter Einsamkeit.
 

Der Morgen kam und ging. Die Sonne schien auf ihn herab und durchflutete die Küche in hellen Strahlen. Sie brach sich in den Gläsern, die ungewaschen auf der Spüle standen. Selbst die kleine Blume in der Vase auf dem Tisch war heute nicht erblüht. Der Stuhl lag unberührt am gleichen Fleck, wie gestern. Es hatte keine Bedeutung mehr.
 

Er starrte aufs Fenster und fühlte sich klein. Die Wände zogen die Einsamkeit auf wie ein gigantischer Schwamm. Der Boden war überflutet mit blauer Farbe seines Selbst. Hätte er geweint, er wäre ertrunken. Dennoch waren seine Augen rot umrändert, das Gesicht geschwollen. Die Haut fahl. Nichts erinnerte mehr an Leben, das einst durch seinen Körper gesprudelt war. Der Anspruch, den die Liebe genommen hatte, hatte auch sein Herz aufgesaugt. Er war nicht länger imstande, zu existieren.

Wenn er sich zusammenkauerte wie ein Fötus, vielleicht würde er dann wieder in den Zustand der vollkommenen Unexistenz eines schutzlosen Kindes geraten. Er glitt auf den Boden und machte einen Versuch. Aber das Pochen in seinen Schläfen war zu laut, als dass er sich auf das Nicht-Leben hätte konzentrieren können.
 

So ergoss sich der Tag wie aus einem steinernen Krug. Die Stille der Wohnung erdrückte seinen Körper und brach Glieder die nicht vorhanden waren. Überall knackte es: in ihm, aus ihm, um ihn herum. David war es gleich. Er verschloss seine Seele und seinen Körper mit Medikamenten, die er in den Weiten seiner Schublade gefunden hatte. Dann glitt er hinab in den dichten Sumpf des traumlosen, erzwungenen Schlafs.
 


 

Nach dieser sehr kalten Nacht im Dämmerlicht seiner Wohnung wusste David nur noch, dass er befreit und erleichtert aufgewacht war. Es war so, wie nach einem schrecklichen Traum, aus dem man hochfährt und direkt weiß, dass er einem nichts mehr anhaben kann.
 

An diesem Morgen fand er seine Schlafzimmerwand pink vor. Heute war ihm die Erinnerung daran verschwommen. Die beißende Farbe strahlte ihn an und sagte nichts aus. Sie war einfach da. Und David erfreute sich nicht, noch ärgerte es ihn, dass es so war, wie es war.

Er wusste, dass sie es getan hatte. Er glaubte es zumindest, zu wissen. Er stand vor der Wand und starrte auf die Farbe. Sie sagte ihm nichts. Er erwartete aber auch nichts anderes. Er nahm es hin, ohne zu fragen.
 


 

Das Licht im Bad war dämmrig und kalt. Der Verband um seinen Hals fühlte sich weich an, als er ihn berührte, als wolle er testen, dass er tatsächlich nicht träumte. Es entfuhr David ein Keuchen.

Was war diese Nacht geschehen? Er erinnerte sich nur dunkel an die Ereignisse gestern. Er hatte das Messer genommen, das er gefunden hatte und sich in den Hals geschnitten. Er überlegte weiter. Wieso hatte er das getan? Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich ein Messer in die Kehle zu rammen? Und wieso lebte er noch?

Es war ihm mulmig. Er erkannte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, sah sich um und fühlte sein Herz gegen die Brust pochen.
 

Was geschah nur mit ihm? Er verengte die Augen und fühlte den kalten Spiegel, aus dem ihn ein Anderer anstarrte und die gleichen Bewegungen nachmachte, die er unternahm. Dennoch war es David so, als war nicht er es, der dort spielte und seltsame Grimassen schnitt. Fast glaubte er, der andere tat nicht dieselben Dinge, die er machte.

Verwirrt wand er sich ab. Hier war nichts mehr, was ihn halten konnte.
 


 

Der Tag verstrich, wie die anderen auch. Langeweile und Ödnis senkten sich über seine Glieder. David saß am Tisch und starrte aus den Fenstern, die stumm ihre Münder weit in die Welt hinausstreckten. Alles war so fern, sodass es ihm war, als könnte er nichts mehr greifen. Die Erde hatte das Grau und die Agonie angenommen, die er selbst immer gefürchtet hatte.
 

Sie war fort! Bei diesem Gedanken stach es ihn ins Herz und er schloss die Augen. David neigte seinen Kopf wie bei einem Wiegenlied und atmete die von der Heizung aufgewärmte Luft scharf ein. Dennoch war es eiskalt um ihn.
 

Er bestrich sich lustlos ein Toast mit Margarine und öffnete den Käse. Blaugrünlicher Belag starrte ihn stumm an. Schimmel! David fluchte leise und schmiss voller Ekel die gesamte Packung in den Abfalleimer.

Fast wie aus Zufall streiften seine Augen den Zettel, der auf der Spüle lag. Die einzelnen mit Kuli geschriebenen Buchstaben waren schon verwischt, der Zettel nass von den Resten des Spülwassers, das seine Rückstände auf der gesamten Arbeitsfläche verteilt hatte. David starrte auf ihn, fast so, als sei er giftig, straffte dann seine Schultern und griff nach ihm. Das Papier fühlte sich schmierig an und die Tinte färbte auf seine Finger ab. Er seufzte und schmiss ihn dem Käse hinterher.

Kraftlos lies er sich auf seinen Stuhl sinken.

Gott, was hatte er sich da nur angetan? Er hätte niemals erwartet einmal sich so einsam zu fühlen, wie heute. Er sah wieder zum Fenster hinaus und biss mit einem dunklen Gesichtsausdruck in seine karge Mahlzeit. Die in pink strahlende Wand hinter ihm lachte ihn fröhlich an.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von: abgemeldet
2007-07-24T14:21:22+00:00 24.07.2007 16:21
[Fanwork-Zirkel Rückkommentar]Ähm, ja. Also um ehrlich zu sein bin ich bis jetzt nicht über den Prolog hinaus gekommen, und das hat seine Gründe. Dein Schreibstil ist mir einfach viel zu blumig. Zu viele ungewöhnliche (und manchmal auch unpassende) Adjektive, zu viele Metaphern, die in ihrer Fülle meine Fantasie erschlagen statt sie zu stimulieren, zu viele Vergleiche, einfach zu viel. Sozusagen Poesie-Overkill.

Und noch dazu passen einige Sachen einfach nicht zusammen, jedenfalls für mich. "...lies seine müden Glieder zu Boden knicken." ist z.B. so ein Fall. Klar kann ich mir was darunter vorstellen, aber trotzdem klingt das für mich einfach nur falsch. Beine können einknicken, aber Glieder nicht zu Boden.

Oder sowas wie "...bereits schon warmen Schein der Nachmittagssonne..." Das ist nicht nur doppelt gemoppelt (bereits=schon) sondern auch ziemlich unpräzise. Sonnenschein ist immer warm, egal ob im Februar oder im August.

Ich stimme meiner Vorrednerin durchaus zu, wenn du diese Art von Sprache nur für die Träume oder Gedanken verwenden würdest und dagegen das kühl-sachliche des realen Leben setzt, wäre es auch für mich OK. Denn was du so an Handlungs- und Charakterisationsansätzen drin hast, gefällt mir ehrlich gesagt ganz gut. Vielleicht lese ich trotzdem noch ein bisschen weiter, du wirst es ja evtl. bemerken.
(Über deine Personalisierung des Regens in den ersten Zeilen lässt sich sicher streiten, aber ich finde es eigentlich auf den zweiten Blick hin ganz gelungen).

Nimms nicht persönlich, ich bin jemand, der klare Linien im Design und klare, präzise und trotzdem anschauliche Sprache bevorzugt und allen unnötigen Ausschmückungen eher skeptisch gegenübersteht.
lg
emar
Von: abgemeldet
2006-12-10T02:23:54+00:00 10.12.2006 03:23
Ich mag deinen Stil wirklich. Er ist das, was die Emo-Girlies immer versuchen aber niemals erreichen.
Sowohl spannend und "gefühlsbetont" als auch schillernd und in gewissem Maße poetisch.
Und das ist auch, was ich von dem Prolog halte. Ich würde sofort weiterlesen und werde mich aufmachen den Rest deiner Fanfiction zu erkunden und im Gegensatz zu "unbekannt" denke ich, dass es durchaus gut für eine Geschichte sein kann mit dem Ende zu beginnen.

Als einzigen Kritikpunkt könnte ich noch anführen, dass du es mit den Metaphern und der Poesie ein bisschen übertreibst. Du solltest dich vielleicht damit etwas zurücknehmen.
Besonders hat mir auch der Kontrast zwischen dem fiebertraumartigen Anfang und der Realität von Zeitung und Politik gefallen. Den hättest du noch verstärken können durch weniger blumige Ausdrucksweisen im zweiten Teil und einen distanzierteren, knapperen Stil.
Damit würdest du eine kleine Leserin sehr glücklich machen.
Von: Arianrhod-
2006-06-17T18:34:55+00:00 17.06.2006 20:34
So, da kriegst du gleich noch 'n Kommi von mir. ^^

Der Anfang hat mir gefallen und zwar sehr gut. Was ich von deinem Schreibstil halt, hab ich dir ja schon gesagt. Ich finde es toll, wie du diese Sachen umschreibst. *.* Das hört sich richtig lyrisch an.

Viel kann man jetzt noch nich sagen, weil die Story noch nicht richtig begonnen hat. Aber ich bin schon mal gespannt, was auf diesem Zettel steht. ^^

Hab ich das richtig verstanden, dass Maddalena seine Freundin war und ihn verlassen hat? O.o
David scheint ja ein richtiger Faulpelz zu sein. Oder macht er gerade einfach nur eine schwierige Phase durch?

Warum sind die Wände pink? Oo Wer wohnt zwischen pinken Wänden?

Zu kritisieren hab ich nix und die ein oder zwei Schreibfehler, die mir aufgefallen sind, fallen nicht ins Gewicht.

Bis dann
Silberwölfin
PS. Hat der Titel irgendeine Bedeutung? Oo
Von: abgemeldet
2006-06-03T16:22:59+00:00 03.06.2006 18:22
Hi
hab gerade deine FF gefunden und hab sie einfach mal gelesen. Bis jetzt hat sie mir gefallen, ich will jetzt z.b wissen was es mit der Maddalena auf sich hat aber vor allem was auf dem Papier da steht xD
Kannst du mir vielleicht bescheid sagen, wenn es weiter geht? Wäre echt nett von dir!

lg,
Cathy
Von: abgemeldet
2006-06-03T07:45:45+00:00 03.06.2006 09:45
Hallo Mieze007,
Ich habe ich mal durch deinen "Epilog" gelesen und nun mag ich es ein wenig einschätzen.
Erst einmal ist es vom Ausdruck und Inhalt sehr bunt und spannend gehalten. Man kann sich sehr gut in diese Welt hinein versetzen, auch wenn das ein oder andere doch noch unklar bleibt, es aber dafür spannend macht. Stellenweise sind ein paar kleinere Schreibfehler, welche aber nicht überhand nehmen und auch in meinen FF's sind.
Mir drängt sich lediglich die Frage auf, ob es sich lohnt ein Nachwort, oder eine Schlussrede zuerst zu schreiben, bevor man sich an die eigentliche Story macht. Wobei das natürlich dir überlassen ist und ich mich da keines Falls ungefragt einmischen werde. Aber es könnte ja sein das es mit dem Prolog verwechselt wurde und daher diese Frage.

Insgesamt ist es sehr schön und na hoffentlich ließt man noch ein wenig mehr zu diesem FF.

Mfg Garlant


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