Freundschaftsbande
Durch Alpträume geplagt, lag Natsume Hyuga auf dem Bett. Seine offenen Augen blickten schläfrig auf die kalte, weisse Wand über sich. Er war sehr müde, konnte aber dennoch nicht schlafen. Er konnte die ganzen Leute um sich herum kaum aushalten. Ständig mussten sie ihm helfen und immer mussten sie ihm Mitleid entgegenbringen. Das ganze brachte ihn noch um den Verstand. Seine Wangen waren rot; er fühlte es. Schon wieder hatte er Fieber bekommen. Er öffnete sein Mund um zu atmen, weil er dringend mehr Luft brauchte. Wieso war es hier so stickig? Er hatte doch die ganze Zeit das Fenster offen gehabt. Kein Laut entfuhr ihm, während er durch den Mund atmete. Er hatte das Gefühl, als ob seine Stimme fast absterben würde. Wochen waren seit Aoi's Tod vergangen und er hatte seit Mikans Umarmung damals kein einziges Wort gesagt. Nicht, dass er nicht wollte. Er konnte es einfach nicht. Jedes Mal wenn er es doch versuchte, starb seine Stimme ab und er schaffte es nicht, etwas zu sagen. Die Lehrer hatten dafür alle Verständnis gezeigt und erliessen ihm die lästigen Fragen im Unterricht. Am schlimmsten war jedoch Mikan gewesen. Jedes Mal wenn er sie traf (was übrigens nicht gerade wenig war) hatte sie ihn versucht zum Reden zu bringen. Sie hatte anscheinend versucht, erneut irgendein Gefühl aus ihm herauszuholen. Wut oder Trauer, Hauptsache war, er liess irgendein Gefühl raus, doch stattdessen ging er emotionslos den Gang hinunter. Es war für ihn immer schwierig sich jemanden anzuvertrauen.
Er hatte Ruka immer vertraut, er war sein erstes und bester Freund gewesen... Und jetzt redeten sie kaum miteinander und dass, weil er sich in Mikan verliebt hatte. Durch so etwas konnte ihre Freundschaft schon reissen? Kann etwas, woran man sich sein ganzes Leben lang gehalten hat, so schnell zerbrechen?
Aoi war gestorben... Vor seinen Augen... Sein ganzes Leben brach in Stücke. Sie war der einzige Grund gewesen, warum er es in der Alice Academy aushielt. Sie war der Grund, warum er die Qualen der Mitschüler und von Persona hat über sich ergehen lassen. Doch... war sie wirklich der einzige Grund, warum er seine Qualen aushielt...? Warum er nie auf den Gedanken kam, sich etwas anzutun? Viele Leute wären durchgedreht, wären sie er gewesen... Doch er war nicht wie die meisten Leute... Er wollte stark bleiben, denn er fand, dass der Tod der einfache Ausweg wäre... Nur die, die den Mut haben weiterzuleben, waren seiner Meinung nach starke Menschen. Und er wollte nicht den einfachen Weg beschreiten. Er wollte, auch wenn der Weg noch so steinig und schlimm war, weiterleben... Es kostete ihm eine Menge mentale Kraft; immer wenn er Schulschluss hatte, legte er sich gleich aufs Bett und dachte an Vergangenes nach. Er wusste, es war nicht richtig, immer über die Vergangenheit zu denken. Er konnte aber einfach nicht anders.
Schlussendlich tun einem die "Was wäre wenn's" Am meisten weh... Was wäre wenn... er Mikan nie kennengelernt hätte? Ständig dachte er nun darüber nach, ob es vielleicht doch besser gewesen wäre, hätte er Mikan nie kennengelernt... Er wäre nie in solche Probleme gekommen und hätte Aoi wahrscheinlich nicht verloren.
Danach kam er sich selber dreckig vor... Mikan liebte ihn und er sie... Hätten sie sich nie getroffen wäre sein Leben erst recht sinnlos geworden. Das ganze war einfach nur deprimierend... Er schlief nach diesem Gedanken endlich ein, obwohl es noch gar nicht Abend war. Dieser Tag war einfach zu anstrengend gewesen, um weiter wach zu bleiben.
"Nein...", sagte Hotaru zu ihrer Freundin Mikan. "Das ist keine gute Idee." Mikan hatte sie ständig gefragt, ob sie nicht doch Natsume besuchen gehen sollten.
"Du bist echt schon so nervig, wie in unserem ersten Schuljahr... Ich denke ehrlich gesagt, dass er lieber alleine bleiben möchte... Oder hast du keinerlei Taktgefühl? Es gibt Leute die getröstet werden wollen... Und es gibt Leute die alleine sein wollen, wobei Natsume einer der letzteren ist. Ein bisschen mehr Feingefühl, bitte, wenn das bei dir möglich ist." Der freche Unterton Hotarus war nicht zu überhören, doch Mikan tat jenes.
"Ich habe Feingefühl.... Trotzdem werde ich mal an sein Zimmer klopfen.", sagte sie stur. Hotaru klatschte sich mit der Hand auf den Kopf; sie mochte zwar nichts anderes von Mikan erwartet haben, war aber dennoch überrascht.
Mikan liess sie alleine und machte sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Was war, wenn er einfach die Tür vor ihrer Nase zuknallte und sie nicht anhören wollte? Was war, wenn er sie anschreien würde? Vielleicht wollte er wirklich alleine sein, sie wollte es aber nicht. Sie wollte jetzt unbedingt zu ihm und sie hoffte, dass er dieses Gefühl des "Zusammensein wollens" erwiderte. Da stand sie nun: Natsume Hyuga, Special Star. Sie nahm nochmal einen tiefen Atemzug und schloss dabei die Augen. Sie klopfte nicht, und klingelte auch nicht. Sie öffnete einfach die Tür, die merkwürdigerweise offen stand. Wie es aussah, machte er sich nicht die Mühe die Tür abzuschliessen.
Und da sah sie ihn: Tief schlafend im Bett. Auf der linken Seite liegend, so dass sie ihn von der Tür aus sehen konnte. Sie schloss die Tür und trat näher an ihn heran. Sie beugte sich ein wenig, wobei sie die Hände auf ihre Knie legte. Lächelnd beobachtete sie Natsumes Gesicht. Er lächelte. Zu gern wüsste sie, was er gerade träumte. Vielleicht von ihr selbst? Mikan kicherte über diesen verrückten Gedanken. Oder... Von Aoi und Ruka...? Ihr Lächeln schwand so schnell wie es gekommen war. Sie sass auf dem Bettrand und strich Natsumes Haare nach hinten, damit seine Stirn eher zum Vorschein kam. Er hatte Fieber! Dies wurde Mikan schlagartig klar, als sie seine Stirn berührte. Und doch lächelte er...? Sie wollte ihn nicht aufwecken... Ach was! Sein Fieber war sehr schwach. Ein paar Stunden Schlaf konnte er gebrauchen. Mit träumerischen Ausdruck in den Augen sah sie ihn beim schlafen zu. Es ist erstaunlich. Wenn ein Mensch schläft, kann man sich kaum von seinem Gesicht losreissen. So süss kann man dabei aussehen, und letztendlich mag doch jeder sowas. Schläft jemand, so träumt er auch meistens. Und in einem Traum ist man ganz sich selbst überlassen. Nicht immer nehmen die Träume die erhoffte Wendung und doch erheitern sie uns manchmal. Als Natsume sie damals als 10-jähriger umarmte (Kapitel 55), hatte er einen Alptraum gehabt. Er hatte es ihr Gegenüber mal erwähnt. Seine Schwester Aoi war es, die ihm oft Alpträume brachte. Als sie an diesen Tag zurückdachte, an den sie "zusammenklebten" (<-naja, nicht wirklich) wurde ihr immer ganz schwummrig. Er hatte sie damals umarmt und ihr Herz schlug damals so unheimlich laut. Allerdings war er auch zu süss, wie er da, schon fast an ihrer Brust gedrückt, lag.
Sie errötete heftig bei dem Gedanken.
>Ok, Schluss damit. Das ist eine abgeschlossene Episode deines Lebens!!<, dachte Mikan. >Oder auch nicht... Schliesslich wird wahrscheinlich eine neue Episode deines Lebens mit Natsume beginnen.<, sagte eine optimistische Stimme in ihrem Kopf. Früher war sie so laut, dass sie es nicht überhören konnte.
~*~*Natsumes Traum*~*~
"Onii-chan!! Sieh mal, da ist eine rote Rose. Ist die nicht hübsch?", rief Aoi in seinen Träumen. "Die ist genauso rot, wie deine Augen. Wie schön! Darf ich sie behalten?" Es schien, als ob sie alles sammelte, was wie seine Augen aussah. Das fand er immer süss von ihr.
"Sofern das nicht der Garten eines Besitzers ist, kannst du's ruhig nehmen." Aoi freute sich riesig darüber und pflückte sich und zwei andere. Genüsslich roch sie daran und trottete ihrem Bruder nach. Als sie ihn erreichte, lehnte sie sich müde an ihn heran. Natsume verstand, was sie damit meinte und hob sie auf seinen Schultern hoch.
"Müde, was?" Er lächelte leicht. So wie früher, so war auch dieser Traum. Nicht identisch, aber sehr ähnlich.
"Onii-chan...?", fing sie an und legte ihren Kopf mehr an die Schulter ihres Bruders.
"Was ist?"
"Versprichst du, immer bei mir zu bleiben...? Wirst du mich immer beschützen?", fragte Aoi müde.
"Natürlich, -nee-chan." Selbstverständlich würde er sie beschützen und bei ihr bleiben. Er liebte sie und er würde nie zu lassen, dass ihr etwas schlimmes passierte.
"Ich werde immer bei dir bleiben." Doch so etwas hätte er nie sagen dürfen. So ein Versprechen sollte man niemanden geben, weil man nie weiss, was in der Zukunft so passieren könnte.
Mikan sass still am Bettrand und beobachtete Natsume. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Es war überhaupt eines der ersten Male, in dem sie ihn Lächeln sah.
Vielleicht war dieses Lächeln der Grund, warum sie nun aus dem Zimmer ging und ihn in Ruhe liess. Ihn nicht mehr fragte, wie es ihm ging und nicht mehr darauf wartete, dass er ein Gefühl rausbekam. Sie musste abwarten. Sie musste warten, bis er selbst zu ihr kam. Er brauchte Zeit für sich, das wusste sie.
Tage vergingen, ohne dass er ein Wort zu ihr sagte. Oder besser gesagt: Ohne, dass er überhaupt mit jemanden sprach. Ihr kamen es eher wie Wochen vor. Sie vermisste ihn, auch wenn es merkwürdig war, einen Menschen zu vermissen, wo er doch ständig um einen herum ist. Hotaru blieb bei ihr, streichelte tröstend ihren Arm. Mikan brauchte Trost, im Gegensatz zu Natsume, der einfach nur allein gelassen wollte. Hayate liess sie für diese Momente ebenfalls alleine und ging seinem Studium nach. Die beiden Mädchen waren wieder einmal zusammen, Hotaru einen Arm um sie legend. Die beiden wollten wieder gemeinsam in ihre Zimmer gehen.
"Hey, Mikan...", rief eine Stimme hinter ihnen und sie drehten sich überrascht um. Vor allem Hotaru konnte nicht verstehen, was er jetzt von ihr wollte.
"Was machst du hier?", rief Mikan sofort zu dem Jungen rüber, der einfach nur dastand und sich anscheinend nicht getraute näher zu kommen…