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Von der Kunst, richtig zu sein

von

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Angst

Er schwebte wie auf Wolken. Es war warm und weich. Es roch gut. Und der leise Herzschlag des Anderen schlug in einem beruhigenden und einlullenden Takt.

...?

Erschrocken riss Shinji die Augen auf und drückte sich ans andere Ende des Bettes. Eine Aktion, die er augenblicklich bereute, als ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf zuckte. Mit einem gequälten Aufstöhnen massierte er sich die Schläfen und versuchte sich zu sammeln.

Sein Herz raste aus schierer Panik, aber er wusste, dass er ruhig bleiben musste. Kurz Bestandsaufnahme: Er hatte keine Hose mehr an, aber dafür noch den Pullover und seine Unterhose. Was er von Nathan sah, bestätigte, dass der auch nicht nackt war. Was zum Teufel war nur gestern passiert? Nach der dritten Runde Billard, die er dann endlich gewonnen hatte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Wie viel zur Hölle hatte er getrunken?

Er musste erst einmal dringend aus diesem Bett raus, bevor Nathan aufwachte. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Überhaupt nicht. Scheiße, jetzt wusste Nathan ja doch wo er wohnte!

Panisch schnappte er sich seine Hose, die über dem Bettende lag, schlüpfte hinein und verschwand dann aus dem Raum.

Das Hämmern seines Herzens war nicht synchron zu dem in seinem Kopf und zudem auch noch so laut, dass er Mühe hatte, sich selbst denken zu hören.

Ihm war schlecht und er war sich sicher, dass das nicht am Alkohol lag. Wenn Nathan ihn angefasst hatte, würde er ihm das niemals verzeihen. Und die Stadt wechseln! Er würde definitiv die Stadt wechseln!

Ob man sie beide gesehen hatte, wie sie hier angekommen waren? Ob schon jemand verdachte schöpfte? Was, wenn sein Chef das spitz kriegen würde? Müsste er sich dann auch einen neuen Job suchen?

Stopp! Nein!

Er zwang sich dazu tief durchzuatmen und rief sich ins Gedächtnis, dass es absolut nicht unnormal war, dass Männer in der Wohnung von anderen Männern übernachteten. Es war sogar normal, wenn sie mal gemeinsam im Bett lagen.

Nachdem er den kleinen Flur bis zur Wohnküche durchquert hatte, warf er einen Blick auf die Couch und runzelte skeptisch die Stirn. Die Klamotten, die gestern noch quer darauf verteilt gewesen waren, lagen jetzt auf einem kleinen Stapel daneben. Und plötzlich konnte er ahnen, was passiert war.

In ihrer beider Suff war wohl ihre Höflichkeit mit ihnen durchgegangen. Nate hatte sicherlich darauf bestanden, auf der Couch zu schlafen, aber da die viel zu klein für einen zwei Meter Kerl war, hatte Shinji das nicht über sich bringen können. Nach einer kurzen... oder vielleicht auch längeren Diskussion hatten sie sich dann wahrscheinlich darauf geeinigt, dass sie beide in Shinjis Bett schliefen. So würde es gewesen sein. Alles hetero... alles gut. Kein Problem.

Dennoch erklärte das nicht, warum er sich über Nacht an Nathan gekuschelt hatte. Hoffentlich hatte der das nicht bemerkt. Niemand durfte wissen, dass er diese Tendenzen noch immer hatte. Niemand. Nicht einmal er selbst. Er war sicher nur untervögelt. Er sollte sich mal wieder eine Frau suchen. Diese krankhaften Anwandlungen durften nicht wieder Überhand nehmen, auf gar keinen Fall.

Nein... nein. Es war alles gut. Er musste nur mal wieder vögeln, das war alles.

"Morgen." Shinji zuckte erschreckt zusammen, als Nathan hinter ihm aus dem Flur trat. Als er sich umdrehte, war sein Gast schon bei ihm. "Und? Wie geht's dir? Du warst ja ziemlich betrunken."

Und wessen Schuld war das bitte? Er hätte nie...

Schnell schlug er die Hand weg, die ihm gerade durchs Haar gewuschelt hatte.

"Lass das!"

Er konnte sich gerade nicht anfassen lassen und die Tatsache, dass Nathan es offensichtlich für vollkommen in Ordnung hielt, das zu tun, versetzte ihn in Schrecken. Was war gestern passiert, dass er das dachte?

Vollkommen aufgelöst eilte er zur Küchenzeile um sich einen Kaffee aufzusetzen. Am liebsten hätte er Nathan einfach rausgeworfen, aber sein Anstand verbot ihm das. Als er zwei Tassen mit eiskaltem Kaffee entdeckte, hätte er beinahe trocken aufgelacht. Offenbar hatte er Nathan gestern noch zu sich eingeladen. 'Auf einen Kaffee'. Ihm war so unsagbar schlecht.

Erst einmal angelte er sich ein Glas aus dem Schrank und eine Schmerztablette die er mit Wasser runter spülte. Da er sich sicher war, keine Tassen mehr zu haben, leerte er die beiden kaum benutzten aus und begann zu spülen.

Ihm war vollkommen bewusst, wie unhöflich es war, Nathan einfach so stehen zu lassen, aber er konnte gerade wirklich nicht mit ihm umgehen. Er brauchte Abstand. Viel davon.

"Ich muss los, aber... ist alles okay bei dir?" Der besorgte Tonfall tat Shinji fast körperlich weh. Warum war Nate nicht einfach sauer, dass er so ekelhaft zu ihm war? Warum ließ er nicht einfach einen genervten Spruch ab und verließ dann die Wohnung? Warum fragte er auch noch, ob es Shinji gut ging?

Aber trotz der unglaublich netten und freundlichen Reaktion, konnte sich Shinji nicht zu etwas ähnlichem durchringen. Er sah Nate nicht einmal an.

"Ja, sicher. Findest du selbst raus?"

Er presste die Lippen aufeinander, nachdem die Worte raus waren. Das klang noch viel schlimmer, als in seinem Kopf.

"Klar. Ich ruf dich später mal an." Und einen Augenblick später fiel seine Wohnungstür ins Schloss.

Fahrig strich er sich durch die Haare, nahm dann eine der gespülten Tassen und füllte sie mit Kaffee. Doch statt in sein Zimmer zu verschwinden und sich hinter seinem PC zu vergraben, ließ er sich zu Boden gleiten und drückte sich dort in eine Ecke zwischen zwei Küchenschränken.

Shinji spürte gar nicht, wie der heiße Inhalt seiner Tasse immer wieder über seine Finger tropfte, weil seine Hände dermaßen zitterten.

Er hatte so furchtbare Angst. Angst davor, dass irgendwer etwas falsch verstehen konnte, dass die Anwohner dieses Hauses etwas ahnten und dass, wenn es erst einmal raus kam und er Hassparolen an seiner Haustür geschmiert vorfand, es auch irgendwann an seinen Chef getragen würde. Und dann müsste er wieder von vorne anfangen. Dann müsste er wieder wegziehen, sich wieder einen neuen Job suchen, sich wieder so lange beweisen, bis man ihn guten Gewissens von zu Hause aus arbeiten ließ. Er würde sich wieder an seine neue Umgebung gewöhnen müssen und das dauerte Monate. Wieder neue Ärzte, neue Orte zum Einkaufen... alles wieder von vorne. Das war doch alles furchtbar.

Was hatte er denn getan, dass er das verdiente? Warum wurde er so bestraft? Er war doch nicht freiwillig so. Er wollte das doch selbst nicht. Er wollte doch normal sein und er war doch auch normal! Fünfzehn Jahre lang, war er ganz normal gewesen und er durfte nicht zulassen, dass sich das jetzt änderte. Es war abnormal, wenn er sich in den Armen eines anderen Mannes wohl fühlte. Das musste er sich nur immer wieder vor Augen halten. Es war abnormal und er musste sich das wieder abgewöhnen.

Wenn er Nate jetzt endlich vergrault hatte, konnte er wieder in den Zustand zurückkehren, in dem er vorher gewesen war. Und nach der Aktion heute, würde Nate bestimmt nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Und dass sein Herz jetzt so schmerzte, war nur die Scham über sein schlechtes Benehmen.



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