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Anime Evolution: Nami

Vierte Staffel
von

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Große Wellen

Prolog:

„Daness Flight eins neun eins, sie sinken zu tief. Überflüge über die Hauptstadt dürfen nur bis einhundert Kilometern Höhe erfolgen.“

„Bodenkontrolle, hier Daness Flight eins neun eins. Wir korrigieren.“

„Daness Flight eins neun eins, wir sehen keine Veränderungen. Korrigieren Sie Ihren Sinkflug.“

„Bodenkontrolle, hier Daness Flight eins neun eins. Wir korrigieren bereits.“

„Daness Flight eins neun eins, Sie befinden sich jetzt über der Hauptstadt. Drehen Sie ab und nehmen Sie mehr Höhe auf.“

„Bodenkontrolle, hier Daness Flight eins neun eins. Wir… Was zum…“

„Bodenkontrolle! SCHIEßT UNS AB! VERDAMMT, SCHIEßT UNS AB! WIR… ARGH!“

„Daness Flight eins neun eins, was ist passiert? Daness Flight eins neun eins, was ist passiert? Antworten Sie! Ich sende Hilfskreuzer in Ihre Richtung! Sie… Bei allem was mir heilig ist… Daness Flight eins neun eins, das ist nicht euer Ernst! Nein, verdammt, nein!“

**

Es war schon merkwürdig, wie das Schicksal einem mitspielen konnte. Mit dreizehn verlor ich meine Mutter durch einen Autounfall. Mit vierzehn wurde ich der erste Pilot eines Mechas auf Seiten der Menschheit. Mit fünfzehn wurde ich entführt, amnesiert und traumatisiert.

Mit sechzehn war das Leben relativ ruhig, aber bedingt durch meine Gedächtnislücken waren über die Hälfte meiner Mangas für mich absolut neu.

Mit siebzehn zog mein Leben wieder an. Ich stieg wieder in einen Mecha und verteidigte die Menschheit erneut – ausgerechnet zu einer Zeit, als unser Feind, die Kronosier, die letzten und alles entscheidenden Attacken plante.

Mit achtzehn führte ich die Attacke von vier Schiffen auf den Mars an, die zweite übrigens, an der ich teilnahm.

Mit neunzehn versteckte ich mich auf dem Mond und nahm einen ruhigen Job bei einer Firma an, die meinem Vater gehörte. Aber dieses Leben war nicht von langer Dauer, denn letztendlich konnte ich die Welt nur wegen meiner kleinlichen, ein wenig gequälten Seele nicht ewig alleine lassen. Ich nahm ein Kommando auf der AURORA an.

Mit zwanzig aber war ich auf dem Weg in den sicheren Tod. Torum Acati und sein Schiff, die KON, brachten mich und Joan Reilley ins Heimatsystem der Naguad – zumindest glaubte ich, in den sicheren Tod zu fliegen, als Rädelsführer einer Rebellion, als Anstifter zur Desertation, als erklärter und verifizierter militärischer Gegner.

Nie hätte ich mir denken lassen, dass man mir plötzlich die Sorge um zwei Sonnensysteme aufbürden würde, und sich bald schon ein drittes aufdrängen würde, um meine enorme Pflicht noch zu verschärfen.

Aber wenn ich dachte, dass eine Steigerung meiner Probleme und Nöte nun nicht mehr möglich war, dann sollte ich bald einsehen, wie sehr ich mich irrte…
 

1.

Das System, in dem sich die AURORA befand, hatte einen Namen. Es hatte sogar zwei, nämlich einen terranischen und einen der Naguad. Und wenn die Anelph nicht seit Jahren daran gewöhnt gewesen wären, den Sternkatalog der Naguad zu benutzen, hätte es sicherlich noch einen dritten Namen gehabt.

Ansonsten war das System reichlich uninteressant. Keine Planeten, weder atmosphärelose Gesteinsbrocken, noch Gasriesen. Lediglich Asteroiden, Gigatonnenweise Asteroiden.

Dazu ein paar hundert Kometen, die zur Sonne zogen oder von ihr zurückkehrten.

Ach ja, natürlich gab es auch noch die Begleitschiffe der AURORA in diesem System. Und eine weitere Fraktion, bestehend als rochenähnlichen Kampfschiffen, die seit dem Sprung in dieses System ihr bestmöglichstes getan hatten, um das gigantische Trägerschiff zu zerstören.

Und wenn es so weiterging, dann würden sie mittelfristig auch Erfolg damit haben.

**

Seit zwei Stunden hatten sich die drei Slayer an Bord versammelt, um ihre phänomenale KI-Kraft in den Antrieb der AURORA zu pumpen, während zeitgleich die gravitatorischen Systeme auf Volllast liefen. Es war abzusehen, dass irgendetwas in naher Zukunft schlapp machen würde. Entweder die Slayer, der Antrieb oder die Gravitationskontrolle.

Von den Menschen, Anelph und Kronosiern an Bord gar nicht zu reden.

Es war einen Tag her, seit Tetsu Genda, Kommodore und eigentlicher Kommandant des Gigantschiffs, mit einer Korvette und einer handverlesenen Mannschaft aufgebrochen war, um die Rochenschiffe nach ihrem letzten Rückzug zu observieren. Ergebnis war eine verstümmelte Nachricht gewesen, deren Essenz in zwei Worten beschrieben werden konnte: Haut ab!

Sakura Ino, Admiral und Anführerin der Expedition, saß seit dieser Zeit auf dem Platz des Kapitäns der AURORA. Sie hatte Tetsu da raus getrieben, deshalb nahm sie jetzt seine Pflichten an. So dachte sie und so machte sie es auch – obwohl es zwanzig hoffnungsvolle Offiziere in dieser Zentrale gab, die sowohl erfahren als auch befähigt genug waren, um den Job zu übernehmen.

Sakura misstraute ihnen nicht. Nein, es hatte andere Gründe. Sie hatte ihn los geschickt. Sie hatte ihn getötet.

War das ihr Schicksal? War sie schlecht für ihre Umgebung? Tötete sie? Oder vernichtete sie einfach nur Ideale und Zukünfte der anderen? Eine Mischung aus beidem?

Nein, sie durfte sich solchen Gedanken nicht hingeben, nicht ihre Pflichten vernachlässigen. Es war noch gar nicht lange her, da hatte sie geglaubt, Akira wäre getötet worden, hinterhältig, heimtückisch und schmerzvoll.

Ihre Reaktion war es gewesen, die Auslöschung der Axixo-Basis zu befehlen. Einzig ihr Bruder Makoto hatte richtig reagiert und alles gestoppt, bevor ein Feuersturm eventuell den zu dieser Zeit bewusstlosen Akira gefährdet hätte – und tausende Unschuldige dazu.

Sie durfte sich nicht wieder dazu hinreißen lassen. Sie musste… Sie musste funktionieren.
 

„Einschlag gemeldet. Dritter Außenschirm. Explosionskraft achtzehn Megatonnen. Schirm fällt um neun Prozent“, meldete die technische Abteilung.

Ursprünglich hatten fünf Schirme die AURORA umgeben, jeder stärker als der andere. Die angreifenden Rochen – Raiderschiffe der Core-Zivilisation – hatten aber bereits zwei geknackt und waren nun dabei, den dritten anzugreifen. Ein schneller Blick zur Seite verriet Sakura, dass diese Arbeit bereits zu vierzigeinhalb Prozent verrichtet war.

Ihnen standen immer noch einhundertneunzehn gegnerische Kampfschiffe gegenüber, obwohl die Kanoniere des Giganten ebenso wie die Offiziere und Mannschaften der Begleitschiffe ihr Bestes taten, um diesen Nachteil wieder auszugleichen.

Vor allem die Hekatoncheiren gaben ihr Bestes.

Wenn sie hier jemals heile herauskamen, schwor sich Sakura, dann würde Daisuke den Service under Fire der Klasse eins von ihr entgegen nehmen. Und die Hekatoncheiren würden ihren längst überfälligen Deep Space Honor in Gold aus ihren Händen entgegen nehmen.

Falls sie es raus schafften.

„Einschlag gemeldet. Dritter Außenschirm. Explosionskraft zwanzig Megatonnen. Schirm fällt um zehn Komma zwei Prozent!“

„Daisuke, was machst du da draußen? Kannst du die Angriffe auf unseren Rücken nicht abstellen?“, blaffte Sakura.

Ein Hologramm flammte vor ihr auf und zeigte das Gesicht Daisuke Hondas durch das Visier seines Helms. Es wirkte erschöpft und eingefallen. „Was denkst du versuche ich hier draußen? Meine Kottos haben erneut drei Rochen vernichtet, dazu dreiundzwanzig Mechas. Wir leisten hier Schwerstarbeit und unterstützen nebenbei Admiral Richards und die Begleitschiffe, wo wir nur können!“

Sakura legte eine Hand an die Stirn. „Entschuldige, Daisuke, ich wollte meinen Ärger nicht an dir auslassen.“

„Es ist schon in Ordnung. So konnte ich meinen Ärger wenigstens an dir auslassen“, erwiderte der Hekatoncheire mit einem breiten Grinsen.

Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck höchster Konzentration, dann entspannte er sich wieder. „Vier Rochen. Kottos Prime Ende und aus.“
 

Das Hologramm erlosch. Sakura warf sofort einen Blick auf die aktuelle Kampflage. Es war wie die Tage zuvor. Die Hekatoncheiren schlugen sich hervorragend und hatten eher wenige Verluste, von denen ein großer Teil durch Reparaturen ausgeglichen werden konnte. Daisuke war sogar so weit gegangen, auf einen Banges zu wechseln – mit der Mühle war er noch mal lockere zehn Prozent besser.

Aber die Begleitschiffe und die Daishis mussten mächtig Federn lassen. Ihre Verlustquote war viel zu hoch.

Und die Hekatoncheiren konnten das Schiff unmöglich alleine verteidigen.

Außerdem war da immer noch das Problem, dass jeder Raider, der es nahe genug an die AURORA heran schaffte, KI-Biester aussetzte. KI-Biester, konzentriertes, eigentlich unorganisiertes KI, welches lediglich von einem unterbewussten Willen besessen war und strikt einem Auftrag folgte. Die letzten KI-Biester waren auf die Führungsoffiziere der AURORA angesetzt gewesen und sie hatten große Mühen gehabt, ihrer Herr zu werden.

Auch die Schiffe hatten stark leiden müssen, fünf lagen in den Werften und wurden notdürftig wieder kampfklar gemacht. Doch selbst ihre Geschütze, soweit sie funktionierten, griffen in den Kampf ein, wenn es nötig war. Und es war verdammt oft nötig.

Manchmal fragte sie sich, ob die Raider einfach nur mit ihnen spielten, so wie eine Katze mit einer gefangenen Maus, oder ob die massive Gegenwehr de Besatzung der AURORA ihre Pläne bisher wirklich vereitelt hatte.

„Einschlag gemeldet. Dritter Außenschirm. Explosionskraft dreiundvierzig Megatonnen. Schirm drei fällt in sich zusammen.“

Na toll, na toll, da waren es nur noch zwei Schirme. Und zwei Tage bis zum frühstmöglichen Punkt, ab dem sie nach Alpha Centauri springen konnten.

**

Es gab nicht viele Dinge, die mich noch erschüttern konnten. Ich meine, Hey, meine Mutter, die ich seit sieben Jahren tot glaubte, war wieder aufgetaucht, wenngleich nur als Hologramm, meine vermeintliche Hinrichtung als Rebell und Hochverräter hatte sich als Beförderung zum Erben des Vorsitzes des Rates der Arogad entpuppt, meine Freundin war mir hinterher geflogen um mich zu retten – und hatte mich nicht dafür getötet, dass ich verzweifelt und vereinsamt mit Joan geschlafen hatte, und der Oberste Gerichtshof hatte mir bestätigt, dass die Erde, der Mars und die Anelph-Welt Lorania mir gehörten.

Nun, letzter Punkt war nicht so einfach zu erklären. Diese Welten waren nicht mein Spielzeug, mit dem ich tun und lassen konnte was ich wollte. Das ließen die strengen Kolonialgesetze der Naguad gar nicht zu. Auch wenn manche Häuser diese ab und an aushebelten.

Nein, vielmehr war ich zum Aufpasser ernannt worden, zum Steuerneintreiber und, was das Wichtigste war, zum Sprachrohr dieser Welten im imperialen Rat. Fazit war, dass Lorania und Terra nun eine eigene Stimme im Rat hatten, was vorher nicht der Fall gewesen war.

Wie gesagt, ich dachte nicht wirklich daran, dass es noch irgendetwas geben konnte, was mich zu überraschen vermochte.

Das war drei Sekunden, bevor der Alarm durch den Turm der Daness gellte, in dem ich mich seit einem Tag aufhielt.
 

Ich schreckte auf. In einem Moment war ich noch im Gespräch mit Sostre Kalis, dem Neffen von Mitne Daness und derzeitigem Erben der Position des Ratsvorsitzes, im nächsten redeten alle durcheinander.

Wir befanden uns im Großraumbüro in der Turmspitze, ein Bereich, der locker drei Stockwerke gefüllt hätte, wäre er nicht einzig mit dem Schreibtisch des Hausvorsitzenden, einer Konferenzecke und diversen Sitzgruppen gefüllt gewesen. Gerade noch hatte eine Vertraute des Hauses – ausgeliehen vom verbündeten Haus Awarima, die grünlichen, gelockten Haare, das schlanke Gesicht und die fast schwarze Haut sprachen für sich – mir einen einheimischen Tee gereicht, der mir nun die Hand verbrühte. Im nächsten Moment war ich aufgesprungen, um zu Megumi zu kommen, die ebenfalls stand und irritiert ihren Großvater Mitne ansah, den Vater ihrer Mutter.

Der große Mann hielt eine Hand gegen sein Ohr gepresst und lauschte über den Lärm der Sirenen hinweg den Nachrichten, die über sein Headset einflossen.
 

Ich hatte noch nicht einmal zehn Meter der Strecke geschafft, als Sora Fioran mich gewaltsam abbremste und sich schützend vor mir stellte. Zu meinem offenen Entsetzen musste ich feststellen, dass Franlin ebenso verfuhr.

Ich wollte gerade zu einer Schimpftirade ansetzen, erklären, dass mir im Turm eines Verbündeten nichts passieren konnte, da überschlugen sich bereits die Ereignisse.

Die Türen sprangen auf, bewaffnete Infanteristen in den weißgoldenen Uniformen der Daness liefen herein, sicherten die Türen und… Hielten auf mich zu.

Über zwanzig Mann richteten ihre Waffen auf mich und meine beiden Untergebenen.

Gina Casoli, die von Megumi als Beistand mitgenommen worden war, schob sich unauffällig-auffällig zwischen Megumi und die bewaffneten Wachen.

Das alles war sehr schnell gegangen, und nun sah ich in etliche Waffenmündungen, hauptsächlich auf Energieträgerbasis, in der Lage, mich schon bei einem Streifschuss zu pulverisieren. Ich grinste matt. Hätte ich nicht mein KI unter Kontrolle. Ich traute es mir durchaus schon zu, einen solchen Schuss abzulenken oder zu kompensieren. Oder zwei, oder drei, oder vier… Okay, vielleicht übernahm ich mich bei zwanzig doch erheblich.
 

Der Alarm wurde abgestellt, ich, Franlin und Sora waren komplett umstellt.

Und ein ziemlich aufgebrachter Henry William Taylor versuchte auf diese Etage zu gelangen und wurde schließlich von Vern Attori mitgenommen. Allerdings unter strenger Bewachung weiterer Soldaten.

Ich sah erklärungsheischend von Mitne zu Sostre, danach zu Megumi, aber meine Freundin hob nur die Schultern.

„Mylord Arogad, es tut mir Leid, aber bis auf weiteres muss ich Sie unter Arrest nehmen“, sagte Vern ernst. Seine Stirn war schweißbedeckt. Leise orderte er ein Dutzend Angestellter herum und forderte ein Aufnahmegerät und eine Sendeanlage.

„MITNE, VERDAMMT!“, brüllte ich, alle Höflichkeiten und Protokolle außer Acht lassend. „IST DAS DIE HÖFLICHKEIT DER DANESS? ICH DACHTE, WIR SIND VERBÜNDETE!“

Megumi sah ihren Großvater an, fragend, verzweifelt.

Mitne, der seine Großtochter erst seit zwei Tagen kannte, versuchte ihr zu zu lächeln, aber es war nur eine schmerzerfüllte Grimasse.

„Aris. Es tut mir unglaublich Leid, aber du und deine Leute werden… Für unbestimmte Zeit unsere Gäste sein.“

„Geiseln? Sind wir Geiseln?“, blaffte ich wütend.

Mitne nickte. Na, wenigstens war er ehrlich. „Ja, aber nicht nur. Vor allem müssen wir zeigen, dass du noch lebst.“

Dass ich noch lebte… Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was war passiert? Was war so schlimm, dass Mitne Daness, Oberhaupt der Familie Daness und Herr über einen eigenen Planeten, mich, die Nummer drei der Erbfolge – auch wenn die Türme nicht wirklich ein feudales System hatten, so gingen die Posten oft generationenlang an direkte Nachfahren, was die Ratssitze betraf – für den Ratsvorsitz der Arogad hier unter Waffengewalt festsetzte?

Henry versuchte zu mir durchzubrechen, aber ich bemerkte es und winkte ab. Niemand bezweifelte seine Loyalität, und sein Tod oder eine Verwundung hätte uns absolut nichts genützt.

Henry und loyal. Noch vor einem Jahr hätte ich mir ein Stück Gehirn raus geschnitten als das auch nur zu denken. Aber ich hatte mich geirrt. Und das war eine wesentlich angenehmere Erfahrung gewesen als das hier! Diese Misere!

„Mitne!“, rief ich erneut, mich mit dieser verbalen Entgleisung auf eine Stufe mit dem Daness stellend.
 

Der Ratsvorsitzende kam zu uns, so weit es Vern Attori zuließ. Er sah mir ernst in die Augen. Dann senkte er den Blick. „Es gab einen Angriff auf den Turm der Arogad. Ein Kriegsschiff ist in den gesperrten Luftraum eingedrungen und hat den Turm bombardiert.“

„Verluste? Schäden? Nachrichten über die Mitglieder des Ratsvorsitzes? Wo ist das Kampfschiff jetzt?“ Die Fragen sprudelten automatisch. Ich hatte keine Zeit, schockiert zu sein. Ich hatte keine Zeit, mir Sorgen um Opa Oren, Yohko, Yoshi, Mama, Joan und die anderen zu machen. Ich konnte da nicht dran denken, nicht jetzt.

„Wir haben noch keine konkreten Nachrichten. Es wurden aber definitiv großkalibrige Atombomben eingesetzt. Die Sicherheitsschaltung hat die Schirmfelder aller neun Türme zusammengeschaltet, das hat das schlimmste verhindert. Aber es gab im Zentrum der Belastung mehrere Explosionen von durchgehenden Energiegeneratoren und Projektoren. Es heißt, die ersten hundert Meter des Arogad-Turms liegen in Trümmern. Weite Teile des Umlandes, die nicht vom gekoppelten Schirm geschützt waren, sind von einem radioaktiven Fallout betroffen. Da die Schirmfelder aber fünfzig Kilometer Durchmesser erreicht haben, gab es zumindest keine Verwüstungen durch Druckwellen und die Feuerwalze der Atomexplosionen.“
 

Meine Hände begannen zu zittern. Das war keine Verzweiflung, keine Angst, keine Bitterkeit. Das war mein Verlangen danach, etwas zu tun.

„Wir müssen sofort Teams aufstellen, die mit der Evakuierung der verseuchten Regionen beginnen. Fordert Hilfe von anderen Türmen und der Regierung an. Reguläres Militär muß eingesetzt werden. Wir holen die Naguad zuerst einmal in den Schirm und quartieren sie vor allem in Militäranlagen und den Türmen ein, soweit die Kapazitäten ein. Die Schirme dürfen nicht abgeschaltet werden. Aber wir können, um Überfüllung zu vermeiden, Naguad durch die Luft zu anderen Städten evakuieren. Mobilisiert dafür die Flotte.

Infanteristen in Kampfrüstungen sollen die Trabantenstädte bis auf den letzten Stein durchkämmen, um auch das letzte Lebewesen zu finden. Wir müssen unsere Ärzte auf radioaktive Verseuchung einstellen. Entsprechende Medikamente müssen bereitgestellt werden.

Und ich muß zu meinem Turm. Sofort.“
 

Energisch ging ich los, wurde aber von den stur auf mich gerichteten Waffen gestoppt.

„Es tut mir Leid, Aris, aber ich kann dich nicht gehen lassen. Nicht gerade jetzt, wo der Rat der Arogad vermisst wird und die Befehlsstruktur in Unordnung ist.“ Mitne atmete tief durch. „Aris, es war ein Daness-Schiff, das den Arogad-Turm bombardiert hat!“

Ich verstand, und doch wieder nicht. Langsam öffnete und schloss ich meine Hände. Und versuchte zu begreifen, was mir der Ältere gerade gesagt hatte.

Ich sah zu Sostre herüber, der abwehrend die Hände hob. „Das war keine Aktion von uns, Akira.“

Ich nickte schwer. „Ja. Das war sie sicher nicht. Also, wie soll es weitergehen?“

„Bis auf weiteres wirst du im Turm arrestiert, Aris Arogad. Solange wir dich als Geisel brauchen, damit die Arogad nicht aus Rache diesen Turm angreifen. Erste Meldungen berichten bereits davon, dass Fioran, der traditionelle Verbündete der Arogad, eine Kompanie seine Attentäter mobilisiert hat. Aris, wir brauchen dich hier als Faustpfand!“

„Und Haus Arogad braucht mich, damit ich diese Bescherung aufräume!“, blaffte ich wütend. „Willst du, dass wir einen Bürgerkrieg vom Zaun brechen, Mitne?“

„Nein, deshalb sollst du ja auch hier bleiben! Wir schicken den Arogad Aufnahmen von dir und deinen Leuten, damit sie sehen, dass du lebst. Und damit sie wissen, dass ein Angriff auf unseren Turm auch ein Angriff auf dich ist. Zumindest bis wir geklärt haben, was überhaupt passiert ist!“

Ich lachte rau auf. „Mein lieber Mitne, hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dass dieser Turm genauso wenig sicher ist wie der Turm der Arogad?“

Ich hasste es, wenn ich Recht hatte, und vor allem hasste ich es, wenn Stahl zerbarst wie Papier und ein roter Schemen auf mich zuhuschte. Ja, so etwas hasste ich am meisten.
 

2.

Admiral Baldev Bhansali blickte auf eine lange Karriere zurück. Er war von der indischen Wet Navy zur UEMF gekommen, hatte einen Posten als Erster Offizier auf der alten MIDWAY bekommen, sich dort bewährt und Kapitän der NEW YORK geworden. Dort hatten die überragenden organisatorischen Fähigkeiten des Inders dazu geführt, dass er schnell Chef eines eigenen Geschwaders wurde, des ersten permanent gebildeten Geschwaders.

Er hatte die Erde verteidigt, während der Mars das zweite Mal angegriffen wurde und sein Bestes gegeben, um die kronosischen Flotten zu binden und Akira Otomo Zeit zu erkaufen, Schiffe von ihren Heimathäfen fern zu halten. Die Mission gelingen zu lassen.

Er wusste, die Geschichte würde ihn nur als Zuträger sehen, aber das war ihm egal. Seine Pflicht folgte einem höheren Ideal als Ruhm in den Geschichtsbüchern, die vielleicht ohnehin nur ein oder zwei Jahrhunderte interessant genug waren und dann raus gekürzt wurden, um neueren, interessanten Geschichtsdaten Platz zu machen.

Er war es gewesen, der nach dem Fall des Mars eine Flotte zum Entsatz Akira Otomos aufgestellt und befehligt hatte. Er war es gewesen, der Otomos Umschließungsangriff des Anelph-Konvois maßgeblich ausgeführt hatte. Und er war es gewesen, dem ein Jahr später das Kommando über seine eigene Flotte angeboten wurde, die 1. Flotte, die Heimatflotte Sol-System.

Doch Baldev hatte abgelehnt. Dies war nicht seine Berufung gewesen. Die hatte sich acht Monate später ergeben, als die Arbeiten an der AURORA fast abgeschlossen worden waren und die Erde die ersten eigenen Sprungantrieb en Masse herstellen konnte. Die 2. Flotte wurde ausgerufen, die Patrouillenflotte. Diesmal bewarb sich der Inder um diesen Posten und bekam den Zuschlag.

Damit kommandierte er von seinem Flaggschiff aus, der KAVEMN, einem Zulu Zulu der Anelph – sie selbst nannten den Schiffstyp ja lieber Bakesch – drei Geschwader mit insgesamt sechsundzwanzig Schiffen vom Typ der Fregatte bis hinauf zum Schlachtkreuzer. Und betraut mit dem wichtigsten Auftrag, den die Menschheit nun, im Angesicht der Bedrohung durch die Anelph vergeben konnte: Patrouillen in den umliegenden Systemen der heimischen Sonne. Verteidigen, bremsen, bevor die Naguad zu schnell zu nahe waren.

Mit drei Geschwadern eine sehr schwierige Aufgabe, die er jedoch meisterte.

Doch der letzte Befehl, den er von Executive Commander Otomo erhalten hatte, trieb ihm das erste Mal in seiner Karriere den Angstschweiß auf die Stirn. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, wie wichtig seine Aufgabe wirklich war. Und wie schwer es die Erde treffen würde, wenn er versagte.

**

„NEUN UHR, SIEBEN AB!“, blaffte Kenji Hazegawa über Funk.

Takashi Mizuhara reagierte. Der Gegner, der ihn aufs Korn genommen hatte, attackierte ihn also von links und schräg unten. Er brauchte seinen Sparrow nur taumeln zu lassen, um erstens der Attacke zu entkommen und zweitens eine gute Schussposition zu erreichen.

Tatsächlich flog ihm der gegnerische Mecha direkt vor die Rohre, die Raketenrohre, um genau zu sein.

Takashi feuerte eine Fünfersalve Clusterraketen, die sie von den Naguad übernommen hatten. Aus fünf Raketen wurden fünfzig, die den Core-Mecha mit einem feinen Netz aus Explosionen überzog. Kurz darauf ging der Reaktor der Maschine hoch.

„Danke, Kenji“, brummte der ehemalige Schulsprecher der Fushida Oberstufe und suchte nach dem nächsten Gegner. In dieser Schlacht führte er das Gyes-Regiment an, ein schweres Erbe von Yohko. Er hatte unter ihr gedient und war sowohl von ihren Führungsqualitäten und ihrem Können als Pilotin mehr als begeistert gewesen. Genauer gesagt hatte er sich nur deshalb auch in einen Sparrow gezwängt, weil ihn gefallen hatte, mit welcher Leichtigkeit Yohko Otomo in dieser Maschine zu kämpfen pflegte.

Nun war er vom Bataillonschef zum Regimentskommandeur aufgerückt. Kenji hatte ein ähnliches Schicksal ereilt. Megumi Uno, oder besser gesagt Jora Kalis, ein offenes Geheimnis in der Division, hatte das Oberkommando von Akira übernommen. Und der bärengroße Kenji war als Chef von Briareos nachgerückt.
 

Das war die Sachlage, während sich zwei Bataillone von Gyes und Briareos eine heftige Prügelei mit einem Schwarm Mechas des Cores lieferten, die im direkten Anflug auf Lorania waren. Zeitgleich führten über sechzig Rochenschiffe einen Angriff auf der anderen Seite des Planeten; Kommodore Takahara stellte sich dem mit seiner SUNDER und acht weiteren Schiffen entgegen. Die Rochen hatten in etwa die Stärke einer kronosischen Fregatte, und Kei kommandierte das kampfstärkste Schiff im Sektor. Zudem unterstanden ihm mit der GRAF SPEE, der PRINZ EUGEN und der BISMARCK die derzeit stärksten Schiffe der Menschheit zur Verfügung, die GRAF SPEE war zudem ein Veteranenschiff des zweiten Marsangriffs, und die anderen Kommandeure und Mannschaften waren keine Anfänger, beileibe nicht.

Aber dies war nur ein kurzes, erstes vortasten, ein Geplänkel der Core-Truppen, um die Abwehrbereitschaft der Terraner zu testen.

Ein gutes hatte die Sache aber. Wenigstens ging es endlich los, die ungewisse Warterei war vorbei, die sie alle ergriffen hatte, seit Michi Torah und Akari Otomo sie alle gewarnt hatte.

Nun standen sie hier, in einem Fallkurs, der sie relativ zu Lorania still im Raum stehen ließ, weil Geschwindigkeit und Winkel an diese Welt angepasst waren, während die angreifenden Mechas der Core-Schiffe mit Geschwindigkeitszuwachs auf Lorania zurasten.

Das bedeutete einen Vorteil für die Core-Truppen, weil sich Takashis Leute langsamer bewegten. Sobald sie die Hekatoncheiren passiert hatten, würde jede weitere Sekunde die Bekämpfung schwerer machen, bis sie unmöglich wurde. Außer, die Hekatoncheiren traten auf die Pedale und hetzten den Mechas des Gegners hinterher.

Erleichtert wurde dies, weil seine Truppen ohnehin in Richtung Loranias unterwegs waren.

Aus diesen Gründen hatte er sich auch gegen einen Frontalangriff entschieden, der sie mit einem Geschwindigkeitsvektor fort von Lorania gebracht hätte. Sie hätten zwar nur ein relativ kleines Zeitfenster für die Gefechte gehabt und damit auch nur ein kleines Fenster, in denen Kämpfe – und damit Verluste – möglich waren, aber die beiden Bataillone hätten aufwändig wenden, Geschwindigkeit aufnehmen und dem Gegner hinterherhetzen müssen.

Zwar hatten die Korvetten rund um Lorania die LRAOs mit den sechs Resonatortorpedos ausgeschleust und die Resonatorfelder hüllten nun gerade mit den scheiibenförmigen Wirkungsfeldern die ganze Welt ein – Starts und Landungen waren selbstverständlich in dieser Zeit untersagt und Takashi hoffte inständig, dass kein LRAO mit aktiviertem Resonatorfeld auf Lorania abstürzte – aber sie hatten noch keinerlei Ahnung, ob die Felder überhaupt auf die Truppen des Core wirkten. Es waren Cyborgs, geschaffen aus Metall und gezüchtetem, organischem Material, das nie dazu bestimmt war, einem Menschen auch nur zu ähneln. Metallschrott und Biomüll, wenn Takashi es genau nahm, sehr genau nahm. So waren auch die Cyborg-Infanteristen auf dem Mars gewesen, die neueste Errungenschaft des Legats.

Es hatte ihn trotzdem nicht beruhigt, als er sie bekämpft hatte, damals.
 

„Das war es, großer Anführer. Der Gegner ist durch. Verfolgen?“

„Ruhig, Kenji. Bisher verläuft alles nach Plan. Wie viele haben wir erwischt?“

„Von zweihundertfünfzig angreifenden Mechas haben wir einhundertsieben erwischt, weitere sechsunddreißig beschädigt. Die Eagles schicken ihnen noch ein paar Abschiedsgrüße hinterher, das sollte die Zahl auf hundertzehn oder mehr erhöhen.“ Kenji atmete tief durch. „Ich hoffe, Makoto weiß, was er tut.“

„Das hoffe ich auch. Ortung, haben wir weitere Feindeinheiten zu erwarten?“

„Nicht aus diesem Vektor, Sir.“

„Gut. Verluste?“

„First Head Briareos hat fünf Ausfälle, zwei davon Totalverluste.“

„First Head Gyes hat acht Ausfälle, einer davon Totalverlust.“

Takashi spürte, wie seine Hände die Griffe der Steuerung viel zu fest umklammerten. Verdammt! Verdammt, verdammt! Jeder Pilot, der hier oben unter seinem Kommando starb, kam niemals wieder! Jeder Pilot, der nie die Erde wieder sehen würde, lastete fortan auf seinem Gewissen. Natürlich waren die Verluste moderat, um nicht zu sagen lächerlich gegen einen solchen Gegner, nachdem sie sich ihnen mit lediglich sechzig Mechas entgegen gestellt hatten. Aber es waren dennoch zuviel. Drei Tote. In Gedanken machte Takashi drei Striche auf einer imaginären Liste.

„First Head Briareos, First Head Gyes, wir verfolgen den Gegner!“

„Verstanden!“, hallte es ihm dutzendfach entgegen.
 

Makoto Ino spielte ein gefährliches Spiel. Während er Kei Takahara die gegnerischen Schiffe aufhalten ließ, hatte er Takashi befohlen, ein entsprechendes Kontingent an Mechas durchkommen zu lassen. Der Gedanke, der dahinter steckte, beunruhigte den Chef der Gyes ungemein. Die Mechas der Core-Truppen waren mit Cyborgs bemannt, eigentlich hirnlosen Gesellen, aber es schien, dass die K.I.s der Core-Banges nur funktionierten, wenn sich jemand mit ihnen verband. Das machte die Maschinen langsamer und reduzierte ihren Kampfwert, glücklicherweise, was sie mit purer Masse ausglichen. Was Makoto in diesem Zusammenhang wissen wollte, war eines: Wirkte das Resonatorfeld auf die Cyborgs?

Die Antwort war schon interessant, aber wenn Takashi daran dachte, was über einhundert Mechas auf Lorania anrichten konnten, sobald sie durchgebrochen waren…
 

Takashis Truppen beschleunigten. Dabei nahmen sie nur unwesentlich mehr Fahrt auf als die Core-Einheiten. Immerhin wollten sie die gegnerischen Truppen zwar einholen, aber nicht an Lorania vorbeirasen, weil das Bremsmanöver zu lange dauerte.

Auf diese Weise hatte das Ganze ein wenig von einem Schildkrötenrennen, bei dem die Hekatoncheiren nur langsam aufholten. Aber real betrachtet rasten sie hier mit Geschwindigkeiten durch das eisige Weltall, die einen Wernher von Braun zu Tode erschrocken hätten.
 

Dann war es soweit, zwanzig Core-Mechas lösten sich vom Hauptfeld und griffen die Welt an. Gebannt starrte Takashi auf die Ortung. Sie hatten Truppen im Orbit, außerdem befestigte Bodenstellungen, die bis in eine Höhe von vierhundert Kilometern feuern konnten. Aber beide Monde Loranias waren gerade auf der ihnen abgewandten Seite, also perfekt für einen solchen Angriff. Die Forts und die dort stationierten Truppen würden nicht eingreifen können.

Eine Kompanie Hawks warf sich den Angreifern entgegen, attackierte sie kurz und zog sich dann in den Bereich zurück, der bereits zum Antitechnikfelt gehörte.

Die Core-Truppen schluckten den Köder und folgten ihnen.

Als die ersten Einheiten das Feld erreichten, endeten die Manöver. Alle zwanzig Einheiten hielten strikt ihren Kurs bei, der sie direkt auf den Planeten führte.

Drei Einheiten wurden von den Hawks abgeschossen. Als die nunmehr siebzehn Mechas tiefer kamen, setzte sporadischer Beschuss von der Oberfläche ein. Alle Core-Einheiten, die über bewohntem Gebiet niederzugehen drohten, wurden systematisch ausradiert.

Neun Einheiten blieben übrig und rasten dem Erdboden entgegen. Auf sie wartete ein Bataillon der Fünften Banges-Division, nur für den Fall, dass sie einen ähnlichen Trick versuchten wie Akira damals beim zweiten Marsangriff.

Doch die Befürchtungen des jungen Japaners erwiesen sich als unbegründet. Alle neun Maschinen rasten ungebremst weiter und schlugen beträchtliche Krater in die Planetenoberfläche.

Für eine Sekunde wusste er nicht, ob er jubeln oder vor Erleichterung einfach weinen sollte.

Das war eine Sekunde bevor sich die Core-Einheiten aufteilten.

„Verdammt, was haben sie vor?“, rief Kenji.

„Na was wohl?“, erwiderte Takashi gereizt, während sein Sparrow ins Gravitationsfeld Loranias eintauchte. „Sie versuchen, am Rand des Wirkungsfeldes nach Lorania herunter zu kommen! Alarm für die Fünfte! Alarm für die Naguad-Bodentruppen und die loranische Verteidigungsarmee!“

Kenji fluchte herzhaft, teilte seine Leute auf die Pulks der Core-Truppen auf und hetzte seinen Gegnern hinterher.
 

Tatsächlich erreichten die Mechas den Rand des Wirkungsfeldes. Hier überlappten sich die Felder von drei Resonatoren und bildeten ein undurchdringliches Schild. Aber die gegnerischen Banges schienen das Feld vermessen zu können, denn es gab zwangsläufig eine Lücke, wenn sich drei runde Felder überlappten. Um diese zu schließen hätten die LRAOs sehr viel tiefer fliegen müssen – mit den entsprechenden Risiken.

„So, so, sie können die Resonatorfelder also anmessen“, murmelte Makoto. „Sehr schön, das reduziert meine Sorgen doch erheblich.“

„Makoto, die brechen gerade durch!“, blaffte Kenji. „Wenn wir nichts tun, dann…“

„Mach mal halblang. Es ist etwas schwierig, unter diesen Lücken Bodentruppen zu stationieren, da die vertikal verteilten LRAOs Lorania umkreisen, oder?“

„Zugegeben. Also sollten wir angreifen und…“

„Schwierig, aber nicht unmöglich“, kommentierte Makoto zynisch und schickte Takashis Sparrow Bilder von der Oberfläche.

Zwei Bodenbatterien, über dreihundert Kilometer voneinander entfernt, feuerten zusammen ihre Raketen auf die durchbrechenden dreißig Mechas ab. An anderer Stelle erwarteten Banges der Naguad den Gegner. Bei Durchbruch vier übernahm eine kleine Flotte wassergebundener Raketenkreuzer den Angriff auf die Banges, unterstützt von einem eigenen Mecha-Träger.

An der vierten Stelle erhob sich die LOS ANGELES von ihrem Raumhafen, schleuste vierzig Mechas von Briareos aus und stellte den Gegner noch in der Stratosphäre.

„Macht den Deckel zu, Takashi. Keiner soll entkommen!“, befahl Makoto Ino mit erschreckend kalter Stimme.

„Roger“, antwortete der Chef der Gyes ebenso kalt und stürzte seinen Sparrow mitten durch das Antitechnikfeld auf das nächste Ziel zu.
 

3.

Nachdenklich betrachtete Eikichi Otomo die Bilder auf den allgegenwärtigen Monitoren in der Zentrale des OLYMPs. „Wie lange geht das schon?“

Commander Sikorsky, der extra für diese Angelegenheit von der Titanen-Basis auf den OLYMP gewechselt war, spreizte die Finger beider Hände und ließ nur den linken Daumen weg.

„Neun Stunden also schon? Hm.“

„Berlin. Moskau. Washington D.C., und, und, und. Es gibt weltweit mehr als achtzig Demonstrationen in Hauptstädten. Von den kleineren Demonstrationen wollen wir gar nicht erst reden, die gehen in die hunderte.“

„Die Meinung?“

„Es ist sehr verworren. Viele demonstrieren gegen deinen Sohn, Eikichi. Sie halten ihn einfach nicht für geeignet, die Erde anzuführen. Sie werfen ihren Regierungen Verrat und Ausverkauf vor. Denen kann man tausendmal sagen, dass die Geschichte mit der Übernahme nur ein taktisches Spiel ist, um die Naguad zu verlangsamen. Sie sehen nur die offizielle, von dir unterschriebene Urkunde.“

„Die zudem rechtsgültig ist. Ich habe mich entsprechend abgesichert für den Fall, dass das Imperium Inspektoren schickt.“

„Hm. Ein etwa ebenso großer Teil demonstriert für deinen Sohn. Seine Leistungen bei beiden Marsangriffen, seine Erfolge in diversen Krisen und Angriffen auf die großen Städte werden hervorgehoben und von ihnen betont. Und es sind bei weitem nicht alles nur Militärfreaks, die dort stehen. Und dann gibt es noch ne dritte Fraktion, die…Ich kann es nicht klar umreißen, für mich sind das die größten Idioten.

Jedenfalls demonstrieren weltweit mehr als eine Viertelmilliarde Menschen. Das sind die größten Massendemonstrationen, die die Erde jemals erlebt hat.“

„Was wollen deine Idioten?“

„Wie?“

„Na, die dritte Gruppe, die du Idioten nennst. Was wollen sie?“

„Freie Liebe und Weltfrieden.“

Eikichi warf dem Polen einen amüsierten Blick zu. „Ich bitte dich, keine faulen Witze.“

Sikorsky unterdrückte ein Schmunzeln. Die dritte Gruppe nennt sich Monarchisten. Sie haben ein weltweites Netzwerk aufgebaut und bereiten sich nach eigener Aussage auf die Ankunft des Herrschers vor. Ja, glaub es nur. Es gibt Menschen, die haben das mit der geschenkten Erde gefressen – oder wollen zumindest, dass es so real wir irgend möglich ist. Sie verehren Akira jetzt schon als König der Erde. Oder meinetwegen als Kaiser. Würde es nach ihnen gehen, würden wir schon anfangen, einen Palast für ihn zu bauen und einen Hofstaat zusammenstellen, die ersten Einladungen rausschicken um die Oberhäupter sämtlicher Länder der Erde zu versammeln, um dem Herrn der Erde angemessen zu huldigen.

Es ist die verhältnismäßig kleinste Gruppe. Aber sie sind am besten organisiert und sie haben genügend Leute für eigene Demonstrationen.“

„Wie niedlich“, kommentierte der Executive Commander. „Der kleine Akira hat also Fans.“

„Fans, die den Rokoko wieder aufleben lassen würden, damit die Regentschaft von Akira dem Ersten angemessen würdevoll beginnt.“

„Ich würde jetzt gerne Spinner sagen, aber du hast selbst gesagt, sie sind am besten aufgestellt, oder? Denkst du, wir können sie benutzen?“

„Eikichi, benutzen?“

„Ich habe da ein falsches Wort verwendet, entschuldige. Denkst du, unsere Interessen sind weit genug kompatibel, um eine Zusammenarbeit zu rechtfertigen?“

Sikorsky lachte leise. „Zumindest könnten wir kooperieren. Aber dafür müsste sich Eikichi Otomo mit gepuderter weißer Perücke zu einer Rede entschließen.“

„Mit so was macht man keine Witze“, brummte Eikichi.

„Das war kein Witz.“

„Mist, ich habe es geahnt.“

„Vielleicht sollten wir uns lieber mit Akiras Gegnern verbünden, hm?“

„Hm, bei denen weiß man wenigstens was man hat. Und man muß keine lächerlichen Klamotten tragen, oder?“

„Nein, nur lächerliche Uniformen.“

Eikichi grinste den anderen an. „Das muß mein schlechter Einfluss sein. Mein Humor färbt auf dich ab, alter Junge.“

„Falsch, Eikichi.“ Sikorsky hob dozierend den Zeigefinger. „Du hast mir meinen Humor geklaut.“

„Ach so“, erwiderte Otomo, bevor er zusammen mit Sikorsky in schallendes Gelächter ausbrach.

**

Kei Takahara biss sich auf die Unterlippe. Mit sieben Schiffen nebst seiner SUNDER stand er hier vor dem Orbit um Lorania und focht einen Kampf gegen die Core-Rochenschiffe.

Drei davon waren Schlachtkreuzer der Bismarck-Klasse, und dennoch fiel ihm die Verteidigung schwer.

Die SUNDER wurde erschüttert, die Schadenskontrolle meldete Lecks im Schiff und den Zusammenbruch eines weiteren der ursprünglich fünf Außenschirme.

Natürlich hatten die Rochen sich auf das stärkste Schiff eingeschossen. Natürlich entblößten sie damit ihre Flanken und wurden angreifbar. Und natürlich bezahlten sie dafür den hohen Preis in Form von horrenden Verlusten.

Aber das, was es zu gewinnen galt, die Vernichtung des derzeit kampfstärksten Schiffs in diesem System, schien es wert zu sein. Vor allem, da sich die UEMF-Flotte hier nur mit einem Teil des Gegners herumschlug, während das Gros auf seine Gelegenheit lauerte, hier einzufallen und allem Leben den Garaus zu machen.

Kei hatte die Berichte aus dem Nag-System gelesen, die Erlebnisberichte von Akiras Oma Eridia, und er wusste, wie der Core mit den Bewohnern einer eroberten Welt verfuhren. Er wusste auch, dass die Kronosier damals beinahe Akira das Gehirn entfernt hatten, um es für weniger Ressourcen in ihrem weltweit vernetzten Supercomputer arbeiten zu lassen. Die Parallele war offensichtlich, zu offensichtlich.

Er selbst hatte keinerlei Verlangen danach, den Rest seines Lebens als organische Rechenmaschine in einem Supercomputer zu verbringen. Oder sogar nur als blankes Gehirn.

„Kapitän!“, klang die Stimme von Ban Shee Ryon auf, seiner Stellvertreterin.

„Nein“, widersprach Kei.

Es war eine alte Marotte der Navy, das es an Bord eines Schiffes nur einen Kapitän geben konnte. Auf der SUNDER war er dieser Kapitän, obwohl er den Rang eines Konteradmirals innehatte, im Feld verliehen von Admiral Ino, Makotos großer Schwester.

Und eigentlich war Ban Shee die Frau im Kapitänsrang und wurde an Bord der Tradition halber als Kommodore angesprochen, also dem nächst höheren Rang.

Die Anelph hatte sehr über diese terranische Marotte gelacht. Und sie tat es teilweise heute noch.

„Kei!“, kam es diesmal eindringlicher von ihr. Sie wollte die Slayer einsetzen, die mit ihnen an Bord waren, um genau in einem solchen Fall die Schirme der SUNDER zu verstärken und den Rochenschiffe damit eine böse, eine sehr böse Überraschung zu bescheren.

Aber Kei Takahara war noch nicht bereit dazu. Er war aber durchaus bereit die SUNDER einiges an Schäden einstecken zu lassen, damit die Kraft von Emi Sakuraba und Ami Shirai eine Überraschung blieb, eine Trumpfkarte für das nächste Mal, wenn der richtige Angriff erfolgte. Außerdem hatten sie noch nicht alle ihre Trumpfkarten ausgespielt und es musste nicht gerade das Ass aus der Hand sein, fand Kei.

„Sir! Ich sollte mich melden, sobald wir Dipur bis auf zehntausend Kilometern nahe gekommen sind!“

Dipur, der kleinere der beiden Monde Loranias, war ebenso wie sein nicht wesentlich größerer Bruder Jomma ausgebaut, als Wirtschaftsumschlagplatz, Forschungsstation – und Militärbasis. Vor allem als Militärbasis. Die anelphsche Heimatverteidigung war hier ebenso vertreten wie das Militär der Naguad. Und mit denen hatten sie gerade ein Bündnis, deren Früchte sich vielleicht jetzt zeigten.

Kei nickte. „Signal an Dipur: Feuer frei!“

„Aye, Kapitän. Signal an Dipur: Feuer frei!“

Entgeistert starrte Ban Shee ihren Vorgesetzten an. Vor ihr entstand ein Hologramm der kosmischen Region, und sie konnte sehr gut sehen, wie von Dipur aus Dutzende Langstreckenraketen abgefeuert wurden. Die Rochen des Core hielten auf Lorania zu, genauer gesagt befanden sie sich in Flugrichtung des Planeten und ließen sich gerade einholen, was den Eindruck erweckte, sie würden nur sehr langsam näher kommen.

Keis Flotte hingegen hielt beinahe einen konstanten Abstand zu dieser Welt, was den Eindruck erweckte, sie würden Lorania entgegen fallen. Und dabei leicht zur Sonne hin abdriften.

Was der kleine Halunke aber wirklich mit diesem Manöver geplant hatte, wurde Ban Shee jetzt erst bewusst. Er hatte sich nicht nur langsam von Lorania einholen lassen. Die Core-Truppen, beziehungsweise das, was bei ihnen das denken übernahm hatte sicherlich damit gerechnet, dass Kei versuchen würde, die Rochenschiffe in den Wirkungsbereich der Resonatorfelder zu locken. Aber wie man sah hatten sie nicht an die Eigenbewegung der Monde gedacht und den Drift der acht Schiffe hinzugerechnet. Bestenfalls hatten sie einen Parameter in der Rechnung, den Drift der SUNDER. Aber sicherlich nicht die Eigenbewegung Dipurs.

Mit ein wenig Zeit und einer ohnehin schon verhängnisvoll geringen Distanz geschah es nun, dass sich der Mond allmählich zwischen die Core-Rochen und den freien Raum schob. Beziehungsweise der Drift der SUNDER und der anderen sieben Schiffe, die natürliche Bewegung Dipurs und die wie folgsame Lämmer folgenden Rochen diese Schiffe in eine unvorteilhafte Position brachte.

Und in ein Sperrfeuer aus Langstreckenraketen, welches zwischen sie fuhr.

„Volles Feuer auf die Frontbatterien“, befahl Kei leise.

„Aye, Skipper, volles Feuer auf die Frontbatterien“, wiederholte Ban Shee ehrfürchtig und erkannte wieder einmal die Distanz zwischen einem hart arbeitenden, aber konservativ ausgebildeten Raumfahrer wie ihr und einem intuitiven, ja, brillanten Genie wie Kei.

Die Rochenschiffe reagierten, brachen aus und versuchten zu beschleunigen. In diesem Fall bedeutete es konkret, dass sie die Nasen ihrer Schiffe von Lorania fort wandten und Gegenschub gaben, um schneller als der Planet zu werden, dem sie noch kurz zuvor entgegen gefallen waren. Und einen Kurs zu erlangen, der sie möglichst weit von Dipur entfernen würde.

„Dipur startet Banges“, meldete die Ortung.

Kei machte ein Geräusch, das wie ein abfälliges Lachen klang. „Schadensbericht.“

„Siebzehn Lecks. Drei Generatoren der Schilde ausgefallen oder beschädigt. Keine Toten, aber einundzwanzig Verletzte. Dazu kommen diverse zerstörte Waffen, die Inventur läuft noch.“

„Gut, Kommodore. Sobald die Schlacht beendet ist, fliegen wir eine Werft an. Dipur ist näher als Jomma. Wir müssen unsere Schäden reparieren, unsere Waffen ersetzen und die Vorräte an Raketen aufstocken.“ Er grinste, aber es wurde eine kalte Gesichtsregung. „Also geiz mir nicht mit diesen Waffen, Ban Shee.“

Sie erwiderte dieses Grinsen. Wieder einmal sprach der schlanke Terraner genau ihre Sprache. „Aye, Skipper.“

**

Nach einer Stunde in seiner Kabine, in der Kei die Decke angestarrt hatte, beschloss er, sich auf die Seite zu drehen. Wenn er daran dachte, wie er ganz zu Anfang seiner Karriere an Bord der SUNDER durch dieses Schiff gestrolcht war, um hier und da persönlich Hand an zu legen, weil er seine Hände nicht still halten konnte, und damit die Leute nervös gemacht hatte…

Die Matrosen und Offiziere hatten tatsächlich geglaubt, ihre Arbeit sei nicht gut genug, wenn der Alte – vielmehr nannten sie ihn Wunderkind – persönlich helfen wollte, und sei es nur beim flicken einer durch geschmorten Leitung.

Kei hatte sich einige harsche Tadel von seinem Ersten Offizier eingefangen, bevor er eingesehen hatte, dass sein Job die Führung dieses Schiffes war. Die Schadensbekämpfung, die Waffenwartung, die Mechakatapulte und dergleichen gehörten anderen. Er durfte in die Routine seiner Untergebenen, auch in deren Arbeit eingreifen, wenn er meinte, dass sie Fehler begingen. Aber helfen um einfach nur zu helfen verunsicherte sie.

Ob dies nach über einem halben Jahr der Zusammenarbeit immer noch so war, konnte Kei nicht sagen, Ban Shee hatte es ihm gründlich ausgetrieben, diese Marotte wieder aufleben zu lassen. Stattdessen hatte er sich angewöhnt, in Krisenzeiten soviel Schlaf wie möglich zu bekommen. Oder sich in seine Kabine zurückzuziehen und überfällige Berichte anzufertigen.

Oder wie jetzt, den Kampfverlauf sacken zu lassen, gründlich drüber nachzudenken und ein paar neue Strategien zu entwerfen, welche den Core beim nächsten Angriff dort packen würde, wo es wehtat.
 

Leise seufzend setzte er sich auf. Wieso griff der Core jetzt an? Bei einer so vortrefflichen Gelegenheit, wenn eine ganze Mark unsicher wurde, ja, gegen das Imperium rebellierte? Wo der Core lachender Dritter gewesen wäre, wenn Akira nicht diesen kleinen Zaubertrick aus dem Hut gezogen hätte?

Und was noch viel wichtiger war, woher hatte die Core-Zivilisation davon gewusst?

Ihm gingen noch tausend andere Gedanken durch den Kopf, über die er sich regelmäßig mit Makoto austauschte, sie zwei waren einfach auf einer Wellenlänge. Zum Beispiel die Frage aller Fragen, warum die Angriffe der Cores in den letzten Jahrhunderten, genauer gesagt seit dem Run auf die Erde, ausgeblieben waren.

Bedeutete dies, dass die Core-Zivilisation eine Flotte jenseits aller Vorstellungen aufbaute? Bedeutete dies, dass das, was sich ihnen hier draußen entgegenstellte nichts weiter als eine Wegwerf-Flotte war? Nur geschaffen, um sie beschäftigt zu halten?

Warum sonst die Zurückhaltung des Cores? Warum wurden die permanenten Angriffe nicht fortgesetzt?

Es hieß, es gab sporadische Angriffe auf die Welten des Kaiserreichs der Iovar, hier und da ein Raid, aber kein massiver Versuch mehr, ganze Welten zu erobern und deren Einwohner zu versklaven.

Laut eigenen Angaben hatten die Iovar vor ein paar Jahrhunderten eine Welt vom Core zurückerobert, die von Daina besiedelt worden war, über hundert Lichtjahre von ihren Kernwelten entfernt. Für den Core war es nur ein Nebenschauplatz gewesen, für das Kaiserreich war es ein wankelmütiger, stark bedrohter Außenposten geworden.

Aber Tatsache war, dass die Daina-Bevölkerung für den Core gearbeitet hatte. Natürlich gab es Supercomputer auf dieser Welt. Natürlich waren Daina entkernt worden, sprich, bis auf die Gehirne reduziert in den Computer integriert worden.

Aber der Rest, eine Bevölkerung von einer Milliarde, diente in Industrie und Wirtschaft dem Core.

Die Erkenntnis, dass der Core sich nicht nur auf seine Cyborgs und Supercomputer verließ, hatte das Flottenhauptquartier der Naguad sichtlich getroffen. Und ihn selbst auch, nachdem er beim durchstöbern der Flottenarchive eher zufällig auf diesen Bericht gestoßen war, nachdem das Regionalkommando die Archive für seine neuen Verbündeten geöffnet hatte.
 

Kei drehte sich auf die andere Seite. Was wollte der Core eigentlich? Der Verbund aus ehemals neun Cores, darauf programmiert, die Iovar zu unterwerfen, hatte längst eigene Ziele entwickelt. Oder waren es noch die alten Ziele, nur um etliches spektakulärer? Gewachsen?

Der junge Admiral hielt es für essentiell zu erfahren, worauf die Cores programmiert worden waren, was ihre eigentlichen Ziele waren.

Davon hing vielleicht Leben oder Vernichtung nicht nur Loranias, sondern auch des Naguad-Imperiums und des Kaiserreichs Iovar ab, von der Erde einmal ganz zu schweigen.

Sie brauchten einen Offizier, verdammt! Jemand, der genügend Verstand in der Metallschüssel auf seinen Schultern hatte um die anderen hirnlosen Einheiten zu lenken.

So jemand würde sicherlich mehr über Pläne und Ziele des Cores wissen.

Es gab bestimmt einen Offizier in dieser Flotte, mindestens einen Offizier in dieser Flotte. Keis Hände krampften sich bei diesem Gedanken zusammen. Mindestens einen. Und den wollte er haben.
 

Das Klopfen an seiner Kabinentür riss ihn wieder aus seinen Gedanken. War ein Notfall eingetreten? Musste er wieder zum Dienst? Nein, sicherlich nicht, Ban Shee hätte den Interkom benutzt und ihn angerufen.

Wollte einer seiner Leute ein persönliches Gespräch mit ihm führen? Seine Tür stand jederzeit jedermann offen, dass wussten die Matrosen und Offiziere an Bord dieses Schiffs.

Oder war es vielleicht… doch Ban Shee? Kei hatte diesen Gedanken öfters, er konnte ihn nicht abschütteln. Diesen Gedanken, dass sie herein trat, wenn er alleine war, sich zu ihm auf das Bett setzte, ihn sanft in die Kissen drückte und erst sanft und dann immer wilder zu küssen begann, bis…

Wieder klopfte es. „Es ist offen!“
 

„Hi, Kei.“ Ami Shirai trat ein, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum V geformt und dermaßen gut gelaunt, dass es beinahe in den Augen wehtat. Die gute Laune schwand etwas, als sie Kei auf seinem Bett liegen sah. „Komme ich ungelegen? Wolltest du gerade etwas schlafen?“

Der junge Admiral richtete sich auf. Ami Shirai hatte die Kämpfe an den Schildgeneratoren verbracht, jederzeit bereit, die unglaublich starken Schirme des Bakesch mit ihrer KI-Kraft massiv zu verstärken. Das war ein Job gewesen, der volle Konzentration verlangt hatte, und zudem zur Tatenlosigkeit verdammte. Das hatte schon bessere aufgefressen. Aber Ami wirkte frisch und unverbraucht. Ja, von ihrer üblichen Gebrechlichkeit war nichts zu sehen.

Sonst wirkte ihre Blässe und ihre Zurückhaltung so auf die Menschen, als würde sie jederzeit wegen Anämie in sich zusammen sacken.

Heute aber wirkte die blasse Haut, in Verbindung mit diesen strahlenden Augen… Nett.

„Ist in Ordnung. Ich kann sowieso nicht schlafen.“ Kei schwang die Beine aus dem Bett. „Wie kann ich dir helfen, Ami-chan?“

Die kleine Frau, die beim zweiten Marsfeldzug dabei gewesen war, trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Kei zog die Augenbrauen hoch. Nanu? Ami war eine sehr direkte, offene und entschlossene Persönlichkeit. Zurückzuweichen bedeutete für sie, dass sie emotional bewegt war. Gab es etwas, was ihr peinlich war? Womit sie nicht fertig wurde? Unsinn, diese Frau spaltete beim Karate auch ohne ihre Slayerpower Holzbohlen.

„Äh, es ist etwas schwierig zu erklären…“

„Ich habe Zeit.“ Kei klopfte auf den Platz neben sich. „Setz dich, Ami-chan.“
 

Ein Ruck ging durch die junge Frau und sie kam zu ihm herüber. Sie strich sich den schwarzen Faltenrock am Po glatt und setzte sich auf die Bettkante.

Kei bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass dieser Faltenrock sehr kurz war. Überhaupt entsprach er in keiner Weise der Uniformpflicht an Bord der SUNDER, weder nach UEMF-Maßstäben, noch nach denen der Slayer. Obwohl, der kurze, schwarze Faltenrock, die weiße Uniformbluse mit der schwarzen Lederkrawatte und die langen, schwarzen Lederstiefel hatten schon etwas Uniformhaftes. Zusammen mit ihrem langen braunen Haar, das sie diesmal offen über die Schulter fallen ließ anstatt es wie sonst in zwei Zöpfe zu flechten, wirkte das reichlich erwachsen. Und… Attraktiv.

Kei runzelte die Stirn. Hatte er Ami eigentlich in den letzten beiden Jahren einmal richtig angesehen? Hatte er gar nicht bemerkt, bemerken können, dass aus der Kleinen mit der Blutarmut eine Frau geworden war, die durchaus einen Blick wert war? Okay, zwei. Gut, gut, drei.

Moment, was passierte hier? Und warum war ihr Rock hoch gerutscht? Er konnte ja beinahe ihren Slip sehen und…

„Ich habe niemanden, den ich fragen könnte…“, sagte Ami leise, „und deshalb bin ich zu dir gekommen.“

„Was? Ja, ja, ich weiß, ich bin nur ein schlechter Ersatz für Akira, aber ich stehe dir gerne mit Rat und Tat zur Seite. Worum geht es denn?“

Ami lachte auf. „Wieso Akira?“

Der junge Admiral runzelte die Stirn. „Wart ihr nicht alle in Akira verknallt?“

Ami prustete los und bedeckte ihren Mund mit beiden Händen. „Was, bitte? Habe ich da was nicht mitgekriegt? Seit wann ist Akira der Mittelpunkt des Universums?“

Irritiert sah Kei die junge Frau an. Was?

„Ich stand ungeheuer auf Yoshi, weißt du? Dieser große, blonde Kerl, diese tolle Aura… Ich mag große Männer. Leider war Yohko schneller.“ Sie seufzte. „Oder vielmehr, sie hatte die älteren Rechte.“

„Aha. Interessant. Und was will ich davon wissen?“, ätzte Kei.

„Ruhig, ruhig. Das ist doch alles Vergangenheit. Die Schwärmerei für Yoshi war doch nie was Ernstes. Sonst wäre ich zu ihm rüber gegangen, hätte ihn am Kragen gepackt – so wie dich jetzt!“ „Hey…“ „Und dann hätte ich ihm gesagt: Sag mal, bist du doof oder siehst du nicht, was ich für dich empfinde?“

Lächelnd ließ Ami Kei wieder los. „Und glaube mir, das hätte Eindruck auf ihn gemacht.“

„Äh“, sagte Kei und versuchte seinen Kragen wieder zu richten. IHN hatte es beeindruckt.

„Na egal. Das ist eben alles weit hinter mir. So weit das ich glaube, es sei in einem anderen Leben geschehen. Allerdings habe ich für dieses Leben nicht erwartet, mich neu zu verlieben. Richtig zu verlieben, meine ich.“

„Oh. OH!“

Amüsiert betrachtete Ami den Computerfreak. „Keine Angst, Kleiner. Ich bin nicht hinter dir her. Du wärst auch nicht Mann genug, um mit mir fertig zu werden.“

„Kleiner?“, echote Kei, während das Blut in seinen Ohren rauschte. Verdammt, er kommandierte einen Bakesch und war Feldkommandeur für die gesamte UEMF-Flotte im Orbit um Lorania! Und dann sollte er nicht mit einem etwas gewachsenen, anämischen Mädchen klar kommen, dass er seit fünf Jahren kannte? Was war das für ein schlechter Witz?

„Oh, wirst du etwa eifersüchtig?“, neckte sie ihn. „Vielleicht sollte ich meine Wahl noch mal überdenken und stattdessen dich nehmen, hm?“

Kei spürte, wie er bis unter den Haaransatz errötete.

„Oh, es macht ja richtig Spaß, dich zu necken, kleiner Bruder. Wenn ich das nur früher gewusst hätte.“ Wieder strahlte sie ihn an.

Kei fühlte sich indes, als hätte ihm jemand einen gigantischen Pfeil mit der Aufschrift Kleiner Bruder mitten durchs Herz gerammt.
 

Übergangslos wurde Ami ernst. Und ein wenig unsicher. Sie umkrampfte den Saum ihres Rockes und starrte zu Boden. „Weshalb ich zu dir gekommen bin, Kei, du bist der einzige, der mir helfen kann. Du bist der einzige, dem ich da vertraue, jetzt wo Yoshi, Akira und Doitsu so weit weg sind.“

Na Klasse, er war doch ein Lückenbüßer. Allerdings ein exklusiver Lückenbüßer.

„Wenn ich es kann, helfe ich dir, Ami-chan, versprochen“, sagte Kei, nachdem er sich kräftig geräuspert hatte. Sehr kräftig, um die Kehle wieder funktionstüchtig zu bekommen.

„Wirklich? Das würdest du für mich tun?“

Ihr Blick hatte etwas Strahlendes, ein wenig was von einem Stern, ein wenig von einer Nova. Für einen Moment befürchtete Kei zu erblinden und gleichzeitig hatte er Angst davor, seine Sehkraft zu behalten. Was zum Henker passierte hier?

Verlegen drückte die junge Frau beide Zeigefinger an den Spitzen aufeinander. „Und das meinst du auch wirklich ernst, Kei?“

„Ich bin vielleicht nicht Akira, aber ich schmeiße hier den ganzen Laden. Dieses Mammutschiff habe ich nicht bekommen, weil ich mich gerne drücke oder mein Wort nicht halte.“

„Das ist wahr.“ Wieder sah sie zu Boden. „Kei, ich… Ich habe mich verliebt.“

„Ja, das konnte ich schon eruieren. Wer ist denn der Glückliche?“

Verlegen verbarg sie ihr Gesicht unter ihren Händen. „Takashi-sempai.“

„Was?“ Irritiert starrte Kei die junge Frau an. „Sag mal, habe ich mich gerade verhört oder hast du Takashi-sempai gesagt?“

„Ich stehe nun mal auf große Männer. Und Takashi-sempai ist so groß, so kräftig, ein mächtiger Beschützertyp und ein Anführer und…“

„Der Chef in der Gorillaherde“, sagte Kei und bereute seine Worte sofort wieder.

„Ja, das trifft es wohl.“

Nanu? Kein Ärger, kein Aufbegehren? Takashi Mizuhara Gorilla zu nennen war im Allgemeinen nicht sehr nett, auch wenn es auf seine Statur mehr als zutraf. Wenn Ami da nicht widersprach, war sie dann… wirklich verliebt?
 

Kei atmete tief durch, versuchte sein aufgewühltes Inneres zu besänftigen. Zuletzt hatte er sich so nervös gefühlt, als er Akira mit einem falschen Liebesgeständnis aufgehalten hatte, um Zeit für Yoshi zu erkaufen. Verdammt, Ami war eine Freundin, eine sehr gute Freundin. Sie war mit einem Problem zu ihm gekommen und er hatte die Pflicht, nein, das Recht, ihr zur Seite zu stehen. „Und in den hast du dich verliebt. Hm. Wo kann ich dir da helfen? Soll ich ihm einen Brief von ihm überbringen? Soll ich euch beide in einen Raum befehlen und mit meinem Erscheinen Zeit lassen? Soll ich…“

„Was denn, was denn? Du hast ja eine ganz schöne Phantasie, Kei.“ Amüsiert winkte Ami ab. „Nein, nein, das kriege ich schon alles alleine hin. Ich bin es gewohnt, dass ich mir schnappe was ich haben will. Nicht unbedingt, dass ich es auch kriege, aber… Ich versuche es wenigstens.“

„Eine gute Eigenschaft.“

„Danke. Wofür ich dich brauche, Kei, ist… Nun, das ist mir wirklich etwas peinlich, aber… Ich hatte halt noch nie einen festen Freund, und ich denke, dass Takashi-sempai nicht nur ein Freund für ein paar Wochen oder Monate ist, sondern was Richtiges. Was ernstes und…“

Ami ergriff Keis Hände und drückte sie. „Ich will mich nicht blamieren, Kei-chan. Ich will, dass alles perfekt läuft. Ich will, dass… Ich will, dass… Ich will, dass du mit mir küssen übst.“

„WAS, BITTE?“ Erschrocken war Kei aufgefahren. Aber seine Hände steckten noch immer in Amis Griff. Sie zog daran, mit erheblicher Kraft. „Bitte, Kei-chan! Du bist der einzige an Bord, den ich fragen kann!“

Zögernd gab er dem Zug ihrer Hände nach. „Aber Ami-chan. Küssen üben! Wir sind doch keine Mittelstufler mehr! Wir sind nicht mal mehr in der Oberstufe!“

„Biiiiittteeeee. Keiiiii-chaaaaaaaan. Ich will mich eben nicht blamieren. Eine Frau hat nun mal ihren Stolz.“

Der junge Admiral fühlte seinen Widerstand schmelzen wie Butter in der Sonne. Na, wenn sie ihn auch mit diesen bettelnden Augen ansah, mit ihren langen Wimpern klimperte und einen derart bittenden Schmollmund zog… Hatte Ami eigentlich einen Waffenschein für diese Pose?

„Na gut, wenn du dich unbedingt wie ein Kleinkind aufführen willst, kann ich dir auch nicht helfen“, gab Kei klein bei.
 

Ami riss den Jungen in ihre Arme. „Oh, danke, danke, danke, Kei, du hast echt was gut bei mir!“

Verwundert registrierte der Kapitän der SUNDER zwei Dinge. Erstens, es war äußerst angenehm, sich von Ami umarmen zu lassen, und zweitens, die junge Frau hatte mehr Brust als ihr Bekleidungsstil erkennen ließ. Diese Erkenntnis vertiefte sich, je länger sie ihn an sich gedrückt hielt.

Schließlich gab sie ihn frei.

Ami räusperte sich kurz, setzte sich wieder ordentlich hin, strich ihren Rock glatt – also, wegen ihm hätte sie sich diesen Umstand nicht zu machen brauchen – und lächelte ihn an. „Also, Kei-chan, bist du bereit?“

Kei setzte zum sprechen an, schloss den Mund wieder, öffnete ihn erneut und machte mit beiden Händen eine Verlegenheitsgeste.

„Das fasse ich als ja auf.“

Bevor er es sich versah, hatten sich ihre Lippen kurz berührt, nur eine winzige Zeit, aber genug, um ihn in Aufruhr zu versetzen.

„W-was war das denn? Sollte das ein Kuss gewesen sein? Das war mehr wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.“

„So sanft und zart?“

„Nein, so kurz und kaum spürbar.“

„Oooooh, Keiiiii-chaaaan…“

Trotzig schüttelte der Kapitän der SUNDER den Kopf. „Takashi-sempai ist ein erwachsener Mann und zwei Jahre älter als du. Mit solch einem Hauch von Kuss gibt er sich sicherlich nicht zufrieden. Ich zeig dir mal, was ich meine.“

Vorsichtig nahm er Amis Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen und drückte seine Lippen auf die ihren. Zuerst sanft und kaum spürbar, dann aber immer nachdrücklicher, bis sie den Kuss erwiderte.

„Das war… Nicht schlecht“, meinte die junge Frau, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. „Ich meine, Hey, wirklich nicht schlecht.“

Kei indes wusste nicht, ob er sich über Amis Worte freuen sollte. Natürlich war es nicht schlecht gewesen. Um ehrlich zu sein, es war sogar phantastisch gewesen, sein erster richtiger Kuss! Beinahe wäre es sein zweiter geworden, wenn Akira damals… Nun, diese Erinnerung schob er weit von sich – weit, weit weg.

Und diese Küsse würden fortan Takashi-sempai gehören. Falls der sich auf eine Beziehung mit der jüngeren Shirai einließ. Irgendwie beunruhigte Kei dieser Gedanke.

„Und jetzt mal mit Zunge.“

Bevor Kei es sich versah, drückte sie wiederum ihrerseits die Lippen auf seine, nur verlangte ihre Zunge diesmal nachdrücklich um Einlass, welchen Kei schließlich gewährte.
 

„Kei-chan! Wir haben… Kei-chan?“

Erschrocken ließen die beiden voneinander ab. Ami setzte sich wieder sittlich hin und Kei suchte für ein paar Sekunden seine Dienstmütze.

Vom großen Interkom-Monitor blickte Makoto irritiert auf die beiden hinab. Er war der einzige Mensch in diesem System, der sich direkt in Keis Kabine durchschalten konnte – auch auf die Gefahr hin, ihn bei einer Indiskretion zu erwischen. „Also, nicht, dass es mich was angeht, Herrschaften“, begann der oberste UEMF-Offizier im System.

„Stimmt. Also frag erst gar nicht. Kei-chan, danke für die Nachhilfe. Ich denke, ich werde sie bei… Ich werde es gut gebrauchen können.“ Ami erhob sich und hauchte dem Admiral einen Kuss auf die Stirn. Danach zwinkerte sie Mako zu und verließ die Kabine wieder.

Makotos Gesicht war indes ein einziges Fragezeichen. „Kei?“

Der winkte heftig ab. „N-nicht was du denkst, nicht was du denkst. Das war eine Gefälligkeit, nicht mehr.“

„Was für eine Verschwendung, aber das ist dein Bier. Ich…“

„Verschwendung? Was?“

Makoto sah auf, fixierte den Freund. „Nun, ich fand eigentlich, dass ihr zwei beim küssen gut harmoniert habt. Wenn das alles nur ein Gefallen war, dann waren es wohl Perlen vor die Säue. Zumindest für einen von euch zwei.“

Kei fühlte sich, als würde ein riesiges Gewicht auf ihn niedersausen, auf das irgendein Witzbold das Wort Verlierer geschrieben hatte. „Autsch“, murmelte er.

„Und? Willst du drüber reden oder wollen wir zum Dienst kommen?“

„Dienst ist mir lieber, Mako-chan.“

„Ich sage es doch, was für eine Verschwendung. Hier, diese Bilder haben uns gerade per Funk erreicht. Sie zeigen die Reste der Rochenschiff-Flotte, die nach dem abgeschlagenen Angriff geflohen ist.“

Die Bilder wurden eingespielt und zeigten vor allem eines: Explodierende Rochenschiffe und Core-Banges, die im Nahkampf bei unglaublich schnellen Passierangriffen vernichtet wurden.

„Diese Aufnahmen sind erst wenige Minuten alt, Kei. Aber es steht außer Zweifel, dass die restlichen dreiundsiebzig Rochen ausradiert wurden.

Moment, ein Anruf auf einer anderen Frequenz.“
 

Das Bild teilte sich und zeigte nun neben Makoto noch einen älteren Naguad, der die Uniform eines imperialen Admirals trug. Seine Uniform war hellblau, ein deutliches Zeichen darauf, dass er ein Haus-Offizier war, genauer gesagt ein Arogad.

„Admiral Rogan Arogad hier. Ich grüße dich, Makoto Taral Ino.“

„Admiral. Das hier ist Konteradmiral Kei Takahara. Was verschafft uns die Ehre ihres Anrufs?“

Der Ältere schmunzelte. „Ich erlaube mir gerade, die restlichen Rochenschiffe zu vernichten, die ihr großzügigerweise habt entkommen lassen. Es ist schon ein wenig her, dass ich diese Dinger vernichtet habe, aber anscheinend habe ich es nicht verlernt. Sobald meine Flotte die Rochen passiert hat, existieren von ihnen nur noch Trümmer.“

„Flotte?“, echote Makoto.

„Meine Flotte. Oder um genauer zu sein, die Strafexpedition, die zusammen gezogen wurde, um Lorania zurück zu erobern.“ Abwehrend hob er beide Arme. „Die ehemalige Strafexpedition, mein Junge. Die Lage hat sich grundlegend geändert und es war sehr von Vorteil, dass ich als Arogad von vorne herein das Oberkommando hatte. Anfangs habe ich es dazu genutzt, um den Angriff etwas… Genauer zu planen. Später, um ein wenig Gas zu geben. Und wie es scheint kommen wir genau rechtzeitig.

Ich biete einundvierzig Schiffe auf, von denen sieben dem Haus angehören. Unter diesen Schiffen sind fünf Bakesch, darunter die AROGAD, mein Flaggschiff. Ich bitte um Erlaubnis, mich der Verteidigungslinie um Lorania anschließen zu dürfen.“

Kei und Makoto wechselten einen langen Blick. Simultan atmeten sie aus, sehr, sehr erleichtert.

„Erlaubnis gewährt, Admiral Arogad. Und, willkommen im Kanto-System!“

„Danke, Commander. Wir sprechen uns wieder, sobald das letzte Rochenschiff zerstört ist.“
 

Der Bildschirm zoomte wieder auf Makoto. „Hm, ich habe mich ohnehin schon gefragt, wo die Strafexpedition bleibt. Aber ehrlich gesagt habe ich erst in drei bis vier Tagen mit ihr gerechnet, auch mit der Möglichkeit, dass sie abgesagt wurde.“

Nachdenklich strich sich der Oberkommandierende der UEMF im Kanto-System über sein Kinn. „Fünf Bakesch sind natürlich eine willkommene Verstärkung, von den anderen sechsunddreißig Schiffen ganz zu schweigen. Aber…“

„Ich weiß, was du sagen willst, Mako-chan. Die Schiffe werden aus Kleinverbänden zusammengestellt und im ungünstigsten Fall einzeln in Marsch gesetzt worden sein. Das geht in Ordnung. Wir sind in einer Verteidigungsposition und müssen nur darauf achten, uns nicht gegenseitig abzuschießen. Keiner verlangt Zusammenarbeit darüber hinaus von den Schiffen. Weder von uns, noch den Naguad, noch den Anelph.“

„Optimist“, erwiderte Makoto.

„Schuldig im Sinne der Anklage.“

„Na dann, Herr Optimist. Ich erwarte dich so bald dein Schiff repariert ist auf Jomma. Also beeil dich etwas.“

„Aye.“

„Ach, noch etwas. Warum, sagtest du, hast du Ami Shirai noch mal geküsst?“

„Es… Es war ein Gefallen.“

Makoto runzelte die Stirn. „Steht sie so tief bei dir in der Kreide?“

„I-ich? SIE wollte einen Gefallen von mir und…“

„Ein toller Gefallen. Den würde ich auch gerne mal erteilen wollen.“ Makoto grinste anzüglich und deaktivierte die Verbindung.

Kei ließ sich auf sein Bett fallen. Der Bengel hatte leicht reden. Makoto konnte sich darüber amüsieren wie immer er wollte und mochte.

Aber für ihn selbst war die Sache verfahrener. Ami-chan, warum ausgerechnet Takashi? Warum Takashi und nicht jemand der besser zu ihr passte?

Er setzte sich wieder auf. Verdammt, bevor er das zuließ, musste Takashi-sempai aber zuerst an ihm vorbei!
 

4.

„Das ist es dann also“, murmelte Sakura leise. Im Hologramm vor ihr wurde die kosmische Umgebung dargestellt, natürlich in verzerrter Perspektive, sonst hätten die Distanzen zwischen den Schiffen dazu geführt, dass entweder die Schiffe nicht alle ins Holo gepasst hätten oder die Darstellung zu klein gewesen wäre.

Beide Varianten waren ihr im Moment lieber als das, was sie gerade sah. Ein massiver Angriff mit allen Rochenschiffen, die bisher von den Computern der AURORA erkannt und katalogisiert worden waren, inklusive eines zehnprozentigen Zuwachses von neuen Einheiten.

„Mir bleibt wohl keine andere Wahl, oder?“, flüsterte sie lächelnd.

Erschrockenes Raunen ging durch die Zentrale. „Admiral! Ma´am! Sie wollen doch nicht etwa…“

„Admiral!“

Sakura Ino winkte ab. „Es ist meine Entscheidung, nicht die der Crew.“

Sie sah in die Runde. „Falls ich nachher nicht mehr dazu komme, will ich es jetzt sagen. Es war mir eine Ehre, mit Ihnen allen zu dienen. Und es war eine Ehre, euren Kapitän gekannt zu haben.“

Die anwesenden Offiziere und Mannschaften erhoben sich. Dann salutierten sie dem Admiral zu. Sakura erwiderte.

„Okay, nachdem das geklärt ist, lasst uns etwas Unvernünftiges machen!“

Entschlossenes raunen erfüllte die Zentrale.

Sakura zog das Mikrofon der internen Kommunikation zu sich heran und schaltete sich zum ganzen Schiff und allen Einheiten der Flotte durch.

„Hier spricht Admiral Ino von Bord der AURORA. Unsere Lage ist verfahren, beinahe aussichtslos. Angesichts dieser Situation befehle ich… Nein, ich bitte darum, dass Sie alle mir Ihr Vertrauen schenken.

Der Feind greift uns mit frischen Verstärkungen an, fährt in unserem Kielwasser und kommt schnell näher. Dies ist unsere einzige und beste Gelegenheit, um den Hammer des Hephaistos einzusetzen. Admiral Richards, Colonel Honda, Sie wissen was das für ihre Leute und Schiffe bedeutet. Ein Kegel mit einem Durchmesser von fünfundvierzig Grad Heckwärts der AURORA muß zehn Sekunden vor Aktivierung des Hammers geräumt sein.

Achtung, Achtung. An das Personal der Landebuchten acht bis zwölf, an das Personal der Geschütze vierunddreißig bis siebenunddreißig. Räumen Sie Ihre Positionen binnen einer Minute total. Die kommandierenden Offiziere weisen Sammelpunkte zu. Der Hammer des Hephaistos wird in genau fünfundfünfzig Sekunden aktiviert.“

„Rückmeldungen von der Flotte, den Hekatoncheiren und den Landebuchten und Geschützen. Sie beginnen mit den Aktionen.“

„Verstanden. Aktivierung des Hammers auf meinen Befehl.“
 

Die Uhr tickte unerbittlich dahin. Schiffe und Mechas der AURORA begannen den avisierten Kegel zu räumen und die Evakuierung der angesprochenen Geschützstellungen und Landebuchten ging gut voran.

„All Green, Admiral, all Green.“

Sakura sah auf die Uhr. Fünfundfünfzig Sekunden. Nicht schlecht für eine nie geprobte Aktion.

„Aktiviert den Hammer des Hephaistos!“
 

Übergangslos schalteten einige Hologramme um, zeigten nun die Oberfläche der AURORA.

Dort begannen sich Risse im Boden zu bilden, zwei der Geschützstellungen wurden aus unerfindlichen Gründen angehoben. Eine der Landebuchten fiel in sich zusammen.

Dann schob sich eine metallene Plattform durch das Gestein. Ihr folgte der Zusammenbruch der restlichen Geschütze und Landebuchten; an deren Stelle fuhr ein gigantisches Geschützrohr aus dem Boden.

Der Hammer des Hephaistos, eine fest installierte Waffe, ein Partikelbeschleuniger von unglaublicher Vernichtungskraft, aber nicht besonders beweglich. Er konnte um dreihundertsechzig Grad geschwenkt, aber nur um wenige Grad gesenkt oder aufgerichtet werden.

Eine plumpe, wenngleich gewaltige Waffe, die alles in ihrem Wirkungsbereich vernichtete, und sich nicht um Freund oder Feind scherte.

Einer der bestgehütetsten Trümpfe der AURORA, bis zu diesem Moment nicht einmal erprobt und nur wenigen Offizieren bekannt.

Die Chance, dass ihnen dieses Ding um die Ohren flog, war nicht von der Hand zu weisen. Andererseits trat Sakura lieber mit einem großen Knall als mit vielen kleinen ab.

„Beginnt die Aufladung!“

„Aufladung beginnen!“ „Zehn Sekunden bis maximale Ladung erreicht ist! Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier…“

Die Zeit tickte wieder unerbittlich dahin, Sakura konnte sich vom Anblick der Sekunden nicht lösen.

„Drei… zwei… eins… Aufladung erfolgt!“

„Feuer!“

„Aye. Feuer!“
 

Die Oberfläche der AURORA begann zu vibrieren. Vor dem Abstrahlfeld der Kanone bildete sich eine grellweiße Glocke. Sekunden darauf feuerte der Hammer des Hephaistos und entwickelte beim Abschuss wie erwartet ein kegelförmiges Abstrahlfeld.

Auch wenn die Waffenleistung gewaltig war – so gewaltig, dass in einigen Bereichen der AURORA die Energieversorgung kollabierte – so barg sich darin auch der größte Fehler. Denn der Waffenkegel würde so weit auseinander driften, bis der Partikelstrahl so breit und hoch und dabei so dünn geworden war, dass er nicht einmal mehr dazu ausreichen würde, einem Menschen einen Sonnenbrand zu verursachen.

Diesmal aber reichte er aus, um die Verfolgerformation voll zu treffen.

„Bericht!“, schnarrte Sakura.

„Neunundfünfzig verifizierte Treffer, ich wiederhole, neunundfünfzig verifizierte Treffer! Der Hammer des Hephaistos hat neunundfünfzig Rochenschiffe versenkt!“

Jubel brandete durch die Zentrale. Sakura nickte zufrieden. „Gut, das war der erste Schuss. Wann ist der nächste Schuss möglich?“

„In zwei Stunden, elf Minuten.“

„Gut. Der nächste Schuss wird um einiges schwieriger. Wir müssen damit rechnen, dass die Rochen sich nach diesem Verlust weiter auffächern und zudem darauf achten, wohin wir den Hammer drehen. Wir…“
 

„Ma´am, K zu K für Sie!“

Admiral Ino sah auf. Kommandant zu Kommandant-Verbindungen waren eher selten, aber immens wichtig.

„Durchstellen.“

Einer der Bildschirme vor ihr wechselte und zeigte unverkennbar einen Inder, genauer gesagt einen Hindu, allerdings ohne Turban, in dem Punkt enttäuschte er die Erwartungen.

„Admiral Bhansali!“

„Admiral Ino. Danke für das Feuerwerk, das Sie gerade für unser Eintreffen gegeben haben. Wir sind gerade ins System gesprungen, um der AURORA Deckung zu geben.“

„Gut, dann leiten Sie sofort Wendemanöver ein und gehen Sie auf Gegenkurs. Ich hoffe, Sie schaffen diesen Gewaltakt, um zur AURORA aufzuschließen. Wir…“

„Admiral Ino. Deckung geben ist vielleicht etwas unklar ausgedrückt. Ich bin hier nicht mit ein paar Schiffchen unterwegs, sondern mit der gesamten 2. Flotte, sechsundzwanzig Einheiten, unterstützt von fünf Fregatten der 1. Flotte. Mein Flaggschiff, die KAVEMN, ist ein Bakesch. Dazu unterstehen mir zwei Schiffe der Bismarck-Klasse, die SCHARNHORST und die HINDENBURG. Ich erlaube mir, Ihren Rückzug zu decken und die Rochenschiffe zu vernichten.“

„Ich stelle Ihnen Schiffe meines Begleitkommandos zur Verfügung! Vier Zerstörer der…“

„Negativ, Admiral. Das gleiche Problem wie bei mir. Bis die Schiffe gewendet haben und auf meinem Kurs und meiner Geschwindigkeit sind, vergehen Stunden. Keine Sorge, wir werden mit den Rochenschiffen fertig. Aber feuern Sie ruhig noch einmal mit dem Hammer, um unsere Chancen noch mehr zu verbessern.“

„Einverstanden, Admiral.“

„Gut. Wir passieren die AURORA in einer Stunde und elf Minuten.“

„Wir freuen uns darauf.“

„Ach, Admiral Ino, verdammt gute Arbeit bisher.“

„Apropos gute Arbeit, eine meiner Korvetten ist da draußen verschollen. Wenn Sie Zeit und Gelegenheit haben, meinen Kurs abzufliegen, dann halten Sie bitte nach ihr Ausschau.“

„Das werde ich, Admiral. Bis bald.“

Der Bildschirm erlosch wieder.

„Wir sind gerettet.“ Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich Sakura wieder auf ihren Sessel fallen.

Die frohe Nachricht wurde sofort an die Flotte weitergegeben und begeistert aufgenommen.

„Irgendwann“, sinnierte Sakura, „irgendwann wird das Glück dieses Schiffes aufgebraucht sein… Und dann haben wir hoffentlich wieder Akira an Bord.“

**

Der rote Schemen entpuppte sich als Mecha, genauer gesagt als Hawk. Um wirklich präzise zu sein, es war Lady Death. Der gigantische Kampfroboter legte eine riesige Hand zwischen mich und die waffenstarrende Wächterfront, was mich vom Anblick diverser feuerbereiter Mündungen befreite.

„Sie bedrohen einen Stabsoffizier der UEMF. Das kann ich nicht zulassen. Beenden Sie Ihre feindseligen Handlungen, oder ich muß entsprechend des Protokolls handeln!“

Ich sah, nein, ich spürte, wie die Verwirrung im Raum anstieg. Halb erwartete ich, dass nach Lady Death nun auch noch Prime hereingeprescht kam, aber das war wohl etwas viel verlangt.

„Wir können doch nicht…“, begann Mitne Daness. Dann sah er Megumi an. „Solia. Tu etwas. Es ist dein Banges.“

„Es ist ein Hawk, und es tut mir Leid, aber das sind Überrangorder, die kann nicht einmal ich überbrücken. Letztendlich ist Akira mein Vorgesetzter und rein technisch bin ich dazu verpflichtet, ihn mit meinem Leben zu beschützen.“

„Solia“, begann Mitne in beschwörendem Tonfall, „wir müssen Aris in unsere Hand bekommen! Nur wenn wir ihn als Geisel präsentieren, wird Arogad nicht in einem ersten Anfall von Blutrausch über uns herfallen! Verdammt, Solia, ich will einen Krieg verhindern!“

„Und was ist, wenn die Geiselnahme von Akira der letzte Grund ist, der ihnen noch fehlt, um Amok zu laufen? Wir wissen nicht, was mit dem Rat der Arogad passiert ist. Vielleicht sind alle tot und Akira ist der Herr des Ratsvorsitzes. Wenn wir ihn dann als Geisel präsentieren, fallen vielleicht alle Häuser über uns her!“ Wütend starrte Megumi ihren Großvater an, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

Mitne sah zum Loch in der Wand. „Ich kann eigene Banges nachziehen.“

„Oder du kannst Akira machen lassen was er will, Opa.“

Erstaunt sah der Vorsitzende des Hauses Daness seine Enkelin an. „Hat er einen Plan?“

„Akira hat immer einen Plan. Und wenn er keinen hat, improvisiert er.“ Sie schenkte mir einen Blick, der mich davon überzeugt hätte, von hier zur Erde zu laufen. „Nicht wahr, Akira?“

Ich muß zugeben, ich muß einen sehr dummen Ausdruck auf meinem Gesicht gehabt haben, denn Henry begann mich auszulachen.

Das aber brachte mich auf eine Idee. Wer lachte, kämpfte nicht.

„Natürlich habe ich einen Plan. Aber dafür brauche ich die volle Unterstützung des Rates der Daness. Wenn es nicht klappt, kannst du gerne noch mal die Geiselnummer probieren.“ Ich sah zu Megumis Cousin rüber. „Sostre?“

„Du hast meine Rückendeckung, Junge. Lassen wir die Dinge laufen und sehen dabei zu was passiert.“ Der junge Daness schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das mich stark an Megumi erinnerte – und ähnlich gut aufbaute.

„Ich brauche eine Live-Verbindung, so groß und so gut wie möglich.“

„Wohin?“, fragte Vern Attori, der Stabschef, der bereits auf die neue Situation reagierte.

Ich grinste dünn. „Überallhin, Vern.“
 

Epilog:

Ich war nervös. Nun, wer konnte es mir verdenken? Immerhin hatten Vertreter des Hauses Daness Waffen auf mich gerichtet, während Vertreter meines Hauses –Fairerweise sollte ich Henry nicht vergessen – ihre Waffen auf die Daness gerichtet hatten. Und dazwischen steckte immer noch Lady Death, diesmal hoch aufgerichtet im Hintergrund, aber jederzeit bereit, einen Schritt vorzutreten, um mich zu schützen. Ein beunruhigender Gedanke.

Zur gleichen Zeit versuchte ich so etwas wie eine Rede zu improvisieren, wirklich gut und respektgebietend in meiner UEMF-Uniform auszusehen und einen Krieg zwischen den beiden mächtigsten Häusern der Naguad zu verhindern. Sie waren alle Daima, schlimmer noch, alle Naguad. Ein Konflikt, hier im Herzen des Imperiums war mit dem Angriff eines Daness-Kreuzers auf den Arogad-Turm wie das Damokles-Schwert der klassischen Sage. Es schwebte über unseren Häuptern, aufgehängt an dünnem Rosshaar und konnte beim kleinsten Windstoß reißen.

Und in der Hauptstadt tobte gerade ein Sturm, ganz davon abgesehen, dass mehrere Randstädte radioaktiv kontaminiert waren. Noch nicht verseucht, aber kontaminiert, schlimm genug, dass Koromando und Grandanar, zwei der mittleren Häuser, bereits die Evakuierung eingeleitet hatten. Ich wollte, dass die anderen Häuser nachzogen, vor allem Daness und Arogad. Aber zwanzig Minuten nach dem hinterhältigen und auf eine gewisse Weise erfolgreichen Angriff sah es nicht so aus, als würden die Türme Hilfstruppen zusammenstellen. Die anderen, mit den beiden Häusern verbündeten Türme, Elwenfelt und Fioran bei den Arogad sowie Bilas und Awarima bei den Daness, schienen sich in diesen Strudel ebenfalls hineinziehen zu lassen.
 

Seit einiger Zeit gab es erste Bilder vom Arogad-Turm. Die obersten acht Stockwerke sahen furchtbar aus. Die Außenhülle war an Dutzenden Stellen eingerissen und dunkler Rauch drang hervor. Rettungsmannschaften hatten es noch nicht so hoch geschafft, aber es stand außer Frage, dass die Schäden von durchgehenden Aggregaten verursacht worden waren, nicht vom atomaren Angriff.

Die Rettungsmannschaften waren noch nicht besonders weit, aber die Zentralregierung und die Arogads waren es. Während eine kleine Flotte Korvetten der Flotte das Daness-Schiff aufbrachte, welches gefeuert hatte, sammelte sich die hiesige Flotte der Haus-Schiffe der Arogad symbolisch über dem Turm, nur in einhundert Kilometer Höhe.

Auch Daness begann Schiffe heran zu ziehen, aber es waren nicht halb so viele wie bei den Arogad. Ein Desaster lag in der Luft. Man konnte es riechen, schmecken, beinahe berühren.

Nervös lüftete ich meinen Kragen. „Verbindung?“

„Steht in fünf Sekunden. Wir übertragen Ihr Bild auf alle Empfänger im Sonnensystem und als riesiges Hologramm zwischen die Türme. Wir brechen damit ein halbes Dutzend Gesetze, Meister Arogad. Ich hoffe, das ist es wert.“

Ich nickte Attori zu. „Sagen Sie mir hinterher, ob es das wert war. Schießen Sie mich auf die Kanäle.“

Attori nickte und zählte stumm an seinen fünf Fingern fünf Sekunden herab.
 

Drei. Zwei. Eins. On.

Ich sah in die Kamera, machte mir klar, dass ich in diesem Moment als anderthalb Kilometer großes Monster auf dem Platz stand, der zum geometrischen Mittelpunkt der neun Türme erklärt worden war. Und zugleich auf jedem Bildschirm und Hologramm erschien, welches dies zuließ.

„Mein Name“, begann ich, „ist Aris Arogad. Ich beanspruche hiermit vorübergehend den Vorsitz des Rates des Hauses Arogad.“

Ein kleiner Bildschirm erhellte sich, bildete einen Flottenoffizier in der blauen Hausuniform der Arogads ab. Ich kannte das Gesicht und auch den Namen. Gorda Taral, einen entfernten Vetter meines Onkels Aris Taral.

„Hier spricht Admiral Taral, derzeit oberster Offizier im System. Ich erkenne Ihren Anspruch an, Meister Arogad. Bitte harren Sie noch etwas aus. Wir sind dabei ein schlagkräftiges Kommando zusammen zu stellen um Sie aus dem Daness-Turm zu befreien.“

Ich runzelte die Stirn. Und schämte mich für die theatralische Geste, auch wenn sie erforderlich war.

„Es gibt da zwei Begriffe, die ich in Ihren Worten nicht verstehe, Admiral Taral. Das erste ist Kommando. Und das zweite ist befreien.“

„Nun, Meister Arogad, es ist offensichtlich, dass die Daness nach ihrem misslungenen Attentat auf unseren Turm das neue Oberhaupt des Hauses als Geisel halten. Ich stelle gerade meine besten Leute zusammen, um diesen Missstand zu beenden.“

„Da ist sehr löblich von Ihnen, Admiral. Aber darf ich annehmen, dass Sie dabei Gewalt gegen den Turm der Daness anwenden werden?“

„Natürlich wenden wir dabei Gewalt an, aber nicht so plump wie die Daness. Sie werden keine Sekunde in Gefahr sein, Meister Arogad.“

„Aha. Es wird also zu Zerstörungen kommen?“

„Sicherlich wird es zu Zerstörungen kommen, entsprechend der Gegenwehr der Daness.“

Ich nickte verstehend. „Ja, schon klar. Ich bin General, und den Rang habe ich mir nicht schenken lassen. Ich verstehe die Notwendigkeit von Kollateralschäden im Einsatz.“

„Es freut mich, dass Sie es so verständnisvoll sehen, Meister Arogad.“

„Und ich verbiete Ihnen einen Kommandoeinsatz, um mich zu befreien.“

„Entschuldigen Sie, wenn ich erst auf Ihre Befehle höre, sobald Sie bei mir an Bord sind, Meister Arogad.“

Ich schnaubte wütend aus. „Ihr Eifer in allen Ehren, Admiral. Aber wenn Sie an meinem persönlichen Eigentum auch nur einen Kratzer machen, dann sprechen wir zwei uns unter vier Augen!“

„Wie gesagt, ich verstehe Ihre prekäre Situation als Geisel und… Ihr Eigentum?“

Hinter mir wurde geraunt. Ich hoffte, dass Megumi diese Geräusche des Missmuts so weit wie möglich unterdrückte.

„Ich habe bei Lady Solia Kalis soeben um ihre Hand angehalten. Ihre Mitgift ist der Turm der Daness. Das bedeutet, dass ich ab sofort der Eigentümer dieser schmucken Immobilie bin. Und Sie verstehen sicherlich, dass ich nicht will, dass sie beschädigt wird.“

Das raunen wurde lauter. Dazwischen war ein unterdrücktes lachen zu hören, eindeutig Sostre.

„Die Daness werden Lady Daness niemals den Turm als Mitgift mitgeben! Das ist Unsinn, Meister Arogad!“, presste der Admiral zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Natürlich tun sie das. Bei dem Brautpreis, den ich für Solia Kalis bezahle.“

Ich konzentrierte mich einen Moment, die eigentliche weiße Uniform der UEMF verschwand und machte der Hausuniform der Arogad Platz. Ich hielt meine Hand in Megumis Richtung ausgestreckt und sie trat zu mir. Zuerst mit einem unverschämten Grinsen, als sie in die Erfassung der Holoabtaster geriet jedoch mit einem Lächeln.

„Der Brautpreis für Lady Daness ist eine Welt“, sagte ich schlicht und spürte, wie Megumi vor Entsetzen zitterte.

„Meister Arogad! Sie haben doch nicht etwa die Welt Arogad verschenkt?“, rief der Taral entrüstet.

„Natürlich nicht. Arogad gehört mir nicht, oder? Die Welt, die ich meiner Lady zu Füßen lege ist… Die Erde.“

Farbe bekennen

Prolog:

Torum Acati starrte mit brennenden Augen auf das Hologramm des Arogad-Turms. Deutlich sah er die hoch aufwehenden Rauchwolken, die vom starken Schutzschirm gestoppt und zu den Seiten abgedrängt wurden.

„So beginnt es also“, murmelte er zu sich selbst.

„Egal was geschieht, wir müssen jetzt handeln“, sagte Meister Tevell zu ihm.

Die uralte und doch so junge Frau war ernst. Was sie nun befehlen musste, tat ihr weh, auf dem Grund ihrer Seele weh. Aber sie war nicht irgendeinem Turm verpflichtet, nicht einmal allen neun Türmen der großen Familien. Nein, vielmehr bildeten für sie alle Bürger des Imperiums einen großen, gemeinsamen Turm, für den sie zu sorgen hatte. Und wenn das bedeutete, ein paar wenige zu opfern, um das Große Ganze zu erhalten, dann würde sie es tun. Und sie tat es.

„Begam Acati. Wir warten nicht auf den nächsten Schritt. Selbst wenn um den Daness-Turm die Hölle losbricht – wir greifen an.“

„Meisterin Tevell.“ Der alte Soldat schenkte der Herrin des Ordens ein sardonisches Lächeln. „Es scheint mir als würdest du Akira Otomo unterschätzen. Er ist für eine mächtige Überraschung gut.“

„Mächtig genug?“, fragte sie mit tonloser Stimme.

„Wir werden sehen.“ Torum Acati deaktivierte das Hologramm vom brennenden Turm. Dann aktivierte er seinen persönlichen Funk.

„Hier spricht Admiral Acati! Ich spreche hiermit Fall Blau aus! Alle Truppen haben sofort nach Plan Ogam Aufstellung zu nehmen! Ausführung in fünf Minuten! Ich selbst nehme an der Attacke an vorderster Linie Teil! Admiral Acati Ende!“

Dutzende Bestätigungen trafen ein, die aber von Acatis Stab vorgefiltert wurden, sodass sein Adjutant schließlich meldete: „Bestätigung von allen dreihundertsieben Schiffen und neunzehn Bataillonen.“

Acati sah zu Meisterin Tevell herüber. „Wir sind bereit.“

„Du willst wirklich an vorderster Front kämpfen, Torum?“

„Ich muss. Falls sie den Turm sprengen, muss ich soviel wie möglich sehen, soviel wie möglich lernen. Kriege ich Ritter des Ordens?“

„Eine Hundertschaft Begams steht für dich bereit, Torum. Viel Glück und lass dich nicht töten, mein Sohn.“

Acati lachte leise auf. „Ich habe es nicht vor, Meisterin Tevell. Diese Zeiten sind viel zu interessant geworden, um sie freiwillig zu verlassen.“

Fast unhörbar fügte er hinzu: „Enttäusch mich nicht, Akira.“
 

1.

„Was war das?“, fragte Yohko verstört, während sie versuchte, ihre Beine in Richtung Schwerkraft zu bugsieren. Das war relativ schwierig, weil sie im Moment nicht wusste, was oben und was unten war.

„Kannft du biffe die Füfe auff meinem Mund nehm´, Yohffo? Danfe.“

„Ich tu was ich kann, Joan, aber im Moment ist hier einiges durcheinander.“

„Oh, mein Kopf. Was ist überhaupt passiert?“, klang Yoshis Stimme auf.

„Der Boden wurde erschüttert… Wir wurden herumgeschleudert wie Spielzeug… Die Beleuchtung ist ausgefallen… Es gibt keinen Alarm… Es deutet alles auf einen relativ erfolgreichen Angriff hin“, meldete sich Aria zu Wort.

„Wieso relativ erfolgreich?“

„Nun, wir leben noch, oder, Yoshi?“

„Argument.“

Yohko gelang es endlich zuerst auf den Fußboden und dann auf die Beine zu kommen. Sie orientierte sich im Dunkeln so gut es ging und ergriff das erste Paar Hände in Reichweite. „Kannst du stehen, Joan?“

„Weiß nicht. Probieren wir es. Ist es schlimm, dass das Licht aus ist? Ich meine, immerhin ist dies hier der Arogad-Turm.“

„Es gibt nicht viele Bereiche, in denen man künstliches Licht im Turm braucht. Ein ausgeklügeltes und über die Jahrtausende optimiertes System aus Spiegeln und Bautricks sorgt dafür, dass selbst das Sternenlicht ausreicht, damit man sich zumindest orientieren kann. Leider gilt das nicht für den Schacht eines Expresslifts.“ Mühsam kam nun auch Aria Segeste auf die Beine. Dabei half sie Yoshi hoch. „Hier ist ne Delle in der Wand. War das dein Kopf, Yoshi?“

„Durchaus möglich. Mir dröhnt nämlich der Schädel. Und was machen wir jetzt?“

„Helen ist nicht mehr da, oder? Das Licht ist ausgefallen, der Turm wurde erschüttert, es gibt keinen Alarm, das deutet alles darauf hin, dass wir sehr schwer getroffen wurden. Das bedeutet leider auch, dass wir in der Priorität ganz unten stehen. Rettungsteams werden sich um die Fahrstuhlschächte als Letztes kümmern. Zuerst werden sie versuchen, zu den Zerstörungen durch den Angriff durchzukommen.“ Frustriert ließ sich Aria gegen die nächste Wand sinken. „Das heißt, wir werden hier eine lange Zeit festsitzen.“

„Und falls es einen zweiten Angriff gibt, haben wir keinerlei Chance, ihn zu überleben, oder?“ Yoshis Stimme troff vor Ärger und unterdrückter Wut.

„Wenn Mutter ausgefallen ist, ist sie dann tot?“, fragte Yohko mit Panik in der Stimme. „Ich meine, wenn hier alles ausgefallen ist…“

„Sie hat ein redundantes Lebenserhaltungssystem an ihrem Tank, Yohko-chan, keine Sorge. Der Biotank müsste schon direkt zerstört werden, damit ihr etwas passieren kann.“

„Was ist mit Akira und Megumi? Wurde der Daness-Turm auch angegriffen?“ Joans Stimme klang panisch. „Können wir denn überhaupt nichts tun?“

„Stimmt. Wie es wohl den anderen geht. Von denen haben wir schon lange nichts mehr gehört. Wenn O-nii-chan auch angegriffen wurde, wenn Megumi und die anderen…“ Yohko verstummte angstvoll. „Ich will hier raus…“
 

„Oookay, ich habe genug gehört. Geh da mal weg, Aria.“

„Hä? Was hast du vor, Yoshi?“

Die Hände des KI-Meisters verwandelten sich in hell strahlende Lichtquellen, die grell in den Augen der Eingeschlossenen brannten. Seine Finger gruben sich zentimetertief in das Metall der Fahrstuhlkabine. Dann gab es einen Ruck und die eigentlichen Schiebetüren öffneten sich. Sie protestierten und knirschten, aber gegen die Kraftentfaltung des KI-Meisters konnten sie nichts aufwenden.

Als die Tür halb offen war, beendete Yoshi seine Aktion. „Die Türen haben sich verformt und verkeilt. Größer kann ich es nur machen wenn ich sie aus ihren Verankerungen reiße.“ Er klopfte gegen die Wand, die sich hinter der Doppeltür offenbart hatte. „Joan.“

„Endlich gibt es mal wieder was zu tun!“ Sie trat neben Yoshi und befühlte die Wand. „Zu zweit?“

„Ja. Wir brauchen mindestens einen Meter mal einen Meter. Auf drei.“

„Einverstanden.“

„Eins, zwei, drei!“

Beide holten weit aus und ballten die Rechte zu Fäusten. Dann droschen sie gemeinsam auf die Wand ein. Einmal, zweimal, dreimal. Beim vierten Mal brachen die ersten Stücke aus der Wand und fielen auf der anderen Seite zu Boden. Beim fünften Mal war die Lücke groß genug, damit jemand hindurch kriechen konnte. Wortlos ging Yoshi in die Hocke, verschränkte beide Hände ineinander und bot Joan somit einen festen Tritt an.

„Es gibt ja noch Gentlemen auf dieser Welt“, flötete sie, trat in Yoshis Hände und kletterte so bequem durch das Loch. Es folgten ein Überraschungslaut und ein Schmerzensschrei.

„Joan, bist du in Ordnung?“, rief Yohko bestürzt.

„Mir geht es gut. Aber den Fußboden solltet ihr jetzt mal sehen. Autsch. Das war ein Sturz. Hier geht es locker drei Meter runter. Wartet, ich stelle mich so, dass ich euch auffangen kann.“

„Gut. Ich schicke dir jetzt die Nächste.“ Yoshi deutete auf Yohko. „Du.“

„Seit wann gibst du mir eigentlich Befehle?“, brummte sie trotzig.

„Na, dann warte mal ab, bis wir verheiratet sind. Da wird es noch schlimmer, mein Schatz.“

„Oh, ich wusste gar nicht, dass du so schlecht geträumt hast“, erwiderte Yohko schnippisch und trat auf Yoshis Hände.

Sie kletterte durch das Loch und ließ sich auf der anderen Seite von Joan herab helfen.

„Jetzt du, Aria.“

„Warum nicht du, hm?“

„Weil ich ein Dickschädel bin und du nicht. Und jetzt mach schon.“

Mit einer Mischung aus Ärger und Belustigung benutzte sie Yoshis Hände als Steigbügel und verschwand ebenfalls durch das Loch. „Kannst kommen, Yoshi.“

„Okay, macht mir Platz. Nicht, dass es mir nicht gefallen würde, von Frauen auf Händen getragen zu werden. Aber ich dürfte zu schwer für euch sein.“

„Ähemm“, machte Joan.

„Okay, außer für Miss Cyborg. Ich komme dann.“

Yoshi kletterte ebenfalls durch das Loch und ließ sich auf der anderen Seite der Wand herab. „Wäre die Situation nicht so ernst, würde ich diesen Augenblick wirklich genießen“, scherzte er, als Joan und die anderen nach ihm griffen und halfen, ihn langsam zu Boden zu bringen.

„Ja, davon kannst du noch im hohen Alter zehren“, erwiderte Joan schnippisch. „So viele Männer werden von mir nicht auf Händen getragen.“

„Oder von mir“, meldete sich Aria zu Wort.

„Hey, Mädchen, ihr versucht mir doch nicht etwa den Freund auszuspannen?“, scherzte Yohko. „Nicht, dass er es nicht wert wäre.“

„Danke“, brummte Yoshi belustig, als er wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand.
 

Hier war das Licht besser. Die Halle, in der sie gelandet waren, war relativ gut durchleuchtet. Das war immerhin ein Anfang.

„Wo sind wir hier?“

„Relativ nahe an der Turmspitze, keine dreihundert Meter unter ihr. Hier fangen die privaten Gemächer des Rates an. Wenn diese Halle geräumt wurde bedeutet das, dass man annimmt, dass die Spitze einsturzgefährdet ist. Nur die Rettungskräfte arbeiten sich weiter nach oben vor. Das bedeutet für uns, dass wir ebenfalls evakuieren müssen. Wir müssen mindestens noch einhundert Meter tiefer. Dort sind die Turmstrukturen stabil genug, um sogar den Einsturz der Turmspitze auszuhalten.“

„Hinunter? Aber wir müssen hinauf! Ich meine, der Rat ist da oben! Und Uropa und Oma sind da oben!“ Yohko sah verzweifelt in die Runde. „Wir können doch nicht…“

„Doch, wir können! Und wir müssen sogar! Der Turm wurde hart getroffen, aber die Rettungsmannschaften sind bereits auf dem Weg! Unser Platz aber ist tiefer, in einer der Notfall-Zentralen. Ich glaube nicht, dass es mit diesem Angriff getan ist, und wir Krieger sollten dann dort sein, wo wir etwas nützen und den Rettungsteams die Zeit und die Gelegenheit erkaufen können, ihren Job zu tun!“ Wütend atmete Aria ein und aus. Sie hatte den Monolog geführt ohne Luft zu holen.

„Aber Oma…“ „Yohko.“

„Ich meine doch nur, dass…“ „Yohko.“

„Yoshi ist KI-Meister und…“ „Yohko.“

„Ihr seid fies! Ich mache mir doch nur Sorgen! Wir wissen doch noch überhaupt nicht was passiert ist. Wir wissen nicht einmal wie es weitergehen wird!“

„Und genau deshalb gehen wir runter auf die sicheren Etagen. Okay?“

„Okay.“ Bedrückt sah Yohko zu Boden. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Okay.“

„Gut. Dann lasst uns gehen.“

„Okay.“

Yoshi legte den Arm um die Schultern seiner Freundin und drückte sie an sich. „Du musst dir keine Sorgen um deine Oma machen. Eridia ist eine KI-Meisterin, hinter der ich mich verstecken kann. Ich, und alle anderen so genannten KI-Experten auf der AURORA. Da müsste schon jemand eine Atombombe auf sie abwerfen, um sie in Gefahr zu bringen. Und dein Urgroßvater Oren ist bei ihr.“

Dankbar lehnte sich die junge Otomo für einen Moment an ihn an. „Danke, Yoshi. Du tust mir so gut.“

„Wirklich? Dann können wir jetzt vielleicht mal über die Sache sprechen, die wir neulich…“, begann Yoshi und kramte in den Taschen seiner UEMF-Uniform nach dem Kästchen.

Yohko löste sich von ihm und lief vor. „Keine Müdigkeit vorschützen! Wir müssen in die Notfall-Zentrale! Als Arogad habe ich da Verantwortung zu tragen! Los, los, los! Yoshi, nicht trödeln!“

„Vom Gong gerettet. Aber ewig gelingt dir das nicht“, erwiderte Yoshi schmunzelnd und folgte den Frauen, während die Schachtel wieder in seine Jackentasche glitt.

**

„Den Sternengöttern sei Dank, Ihr seid unversehrt, Lady Jarah!“

„Nicht so förmlich, Kendran“, erwiderte Yohko, um ihre Erleichterung zu überspielen. Die Notfallzentrale hatte eine separate Stromversorgung, war sehr gut besetzt, und mit Kendran Taral wurde sie von einem Elite angeführt. „Wir sind Cousins, schon vergessen?“

Kendral verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. „Nicht im Moment, Lady Jarah Arogad. Nicht im Moment.“

„Gib mir einen Überblick“, verlangte Yohko.

„Der Turm wurde mit Atomwaffen bombardiert.“

„WAS?“ Erschrocken sah sie den Taral an, dann zu Yoshi herüber, der von einem Moment zum anderen bleich wie weißer Marmor war.

„Die Schirme haben gehalten und wurden später mit den Schirmen der übrigen Türme zusammengeschaltet. Leider wurden dadurch einige der Vorstädte, die nicht unter dem Gigantschirm lagen, von kontaminiertem Staub radioaktiv verseucht. Es gibt Bestrebungen, den Grad der Verseuchung festzustellen und die Bewohner der Vorstädte vorerst unter den Schirm zu evakuieren. Arogad beteiligt sich nicht daran.“

„Aber wieso nicht? Und was ist überhaupt los, wenn der Schirm gehalten hat?“

„Es liegt am Angreifer. In der Turmspitze sind mehrere Schutzschirmgeneratoren hoch gegangen, als die Belastung ihren Höhepunkt erreichte. Daher die Explosionen. Der Stromausfall im Rest des Turms deutet auf Sabotage hin.

Jarah, wir können gerade nicht raus und den anderen Häusern in den kontaminierten Gebieten helfen, weil in der Hausflotte alles drunter und drüber läuft. Es war ein Daness-Kreuzer, der auf uns gefeuert hat, und…“

„Und Akira ist drüben bei den Daness“, stellte Aria fest. „Als mächtiger, unübersehbarer Schutzschild.“

„Damit bist du die höchstrangige Hausangehörige, solange wir nicht wissen, wie es in der Turmspitze beim Rat aussieht und Akira in der Hand der Daness ist. Wir arbeiten daran, eine Verbindung zur Flotte zu kriegen, aber im Moment sammelt sie sich. Es deutet alles auf einen Vergeltungsangriff auf Haus Daness hin.“

„Vergeltungsangriff? Aber Akira ist im Turm der Daness! Megumi ist im Turm der Daness! Sogar Gina ist da, die kann nun wirklich nichts dafür!“

„Das ist noch nicht alles. Die Ratstruppen sammeln sich. Sie haben jetzt bereits genügend Stärke erreicht, um uns und Daness sowohl im Raum als auch am Boden auszuradieren.“ Kendran seufzte verzweifelt. „Zusammen mit der Sabotage bedeutet das, wir stehen bis zum Kinn im größten Desaster unserer Geschichte.“
 

„Herr, wir haben jetzt eine Verbindung zum Oberkommandierenden unserer Flotte! Es ist Ihr Onkel Gorda Taral!“

Der Hausoffizier fuhr herum. „Stellen Sie mich sofort durch! Informieren Sie ihn, dass Lady Jarah Arogad in Sicherheit ist und wir nichts überstürzen dürfen! Außerdem ist noch nicht sicher, dass die Sicherheit von Meister Aris im Daness-Turm gefährdet ist!“

„Ruhig, mein Junge. Das haben wir alles schon hinter uns“, klang der knarrende Bass von Gorda auf. „Wir sind mittlerweile bei ganz anderen Sorgen. Aber es ist gut zu wissen, dass Jarah wohlauf ist. Kannst du sie zu dir bitten? Ich muss ihr eine wichtige Frage stellen.“

„Ich bin hier, Onkel Gorda.“

„Oh, Jarah, es tut gut deine Stimme zu hören. Weißt du, ich befinde mich gerade in der Klemme. Eigentlich müsste ich deinen Bruder befreien, und ich habe auch die Einsatzkommandos bereit für diesen Einsatz. Aber er hat es mir verboten. Normalerweise würde ich annehmen, dass er gezwungen wird eine solche Anweisung zu geben, aber… Er hat gesagt, der Turm der Daness gehört jetzt ihm.“

„Bitte?“

„Als Preis für die Verlobung mit Solia Daness.“

„Was?“ Yoshi riss die Augen auf. „Akira hat Megumi einen Antrag gemacht?“

„Und als Brautpreis hat er die Erde verschenkt. Meine Frage ist, ist das absoluter Schwachsinn oder glaubwürdig?“

Die vier Freunde tauschten lange Blicke. „Bei Akira ist das möglich.“

„Dieser Kerl. Verschenkt einen ganzen Planeten, nur um einem Mädchen zu imponieren“, murmelte Yoshi grinsend. „Ob das auch bei anderen Frauen klappt?“

„Bei mir würde es das“, warf Aria ein.

„Kommen wir zum Kern der Frage zurück“, mahnte der Admiral. „Spricht Aris die Wahrheit oder wird er gezwungen, so einen… hanebüchenen Quatsch zu erzählen?“

„Wie ich schon sagte, bei Akira ist alles möglich. Er…“ Yohkos Augen leuchteten auf. „Dieser Spitzbube. Dieser Mistkerl! Dieser verdammte Gott. Onkel Gorda, du kannst seinen Worten vorbehaltlos trauen. Akira Otomo hat gerade zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Megumi ist seine Freundin und er vertraut ihr völlig. Die Erde zu verschenken ist für ihn also nicht mehr als ein Lippenbekenntnis.“

„Das klingt logisch“, kommentierte Yoshi. „Die Erde bleibt so oder so in der Familie.“ Leiser fügte er hinzu, damit die Arogads in der Zentrale es nicht hören konnten: „Abgesehen davon, dass er die Erde ohnehin nicht verschenken oder erobern kann wie er es will.“

Joan warf ihm einen belustigten Blick zu.

Aria reagierte mit Unverständnis. „Laut unseren Gesetzen ist er aber Eigentümer der Erde. Und er hat gerade eine ganze Welt für einen Turm und ein Mädchen getauscht. Ich meine, Hey, Megumi ist eine ganze Welt wert, aber wisst ihr was das für einen Papierkrieg bedeutet?“
 

Ein lauter Seufzer erklang. „Ich werde meine Flotte in Bereitschaft halten, bis Meister Aris Arogad den Turm der Daness lebend verlassen hat, nur für den Fall der Fälle. Auf dein Wort vertrauend, Jarah, erkenne ich ihn und sein Wort als Führer des Hauses an. Aber du sagst mir, sobald etwas mit ihm nicht stimmt.“

„Verstanden, Onkel Gorda.“

„Ach, eine Frage habe ich da noch. Jarah, warum hast du deinen Bruder einen Spitzbuben, einen Mistkerl und einen Gott genannt? Ich frage nur interessehalber.“

Yohko unterdrückte ein auflachen. „Das ist schnell erklärt. Er ist ein Spitzbube, weil er diese Situation ausgenutzt hat. Die Chancen, dass seine Freundin seine Freundin bleibt, da sie Teil des Hauses Daness ist, waren etwas gering. Jetzt ist sie seine Verlobte. Ein Mistkerl ist er, weil er zwei Häuser benutzt wie es ihm passt, um seine Wünsche durchzusetzen. Und ein Gott ist er, weil er auch noch damit durchkommt. Onkel Gorda, du weißt was es bedeutet, wenn wirklich die Ehe zwischen meinem Bruder und Lady Solia Kalis zustande kommt?“

Der alte Taral japste in plötzlicher Erkenntnis laut auf. Dann war Stille.

„Onkel Gorda?“

„Kapitän Levian Dorreg hier. Der Admiral hat sich so erschrocken, dass er beim rückwärts gehen über einen Sessel gestolpert ist. Lady Jarah, was haben Sie ihm erzählt? Er murmelt die ganze Zeit, dass ein neuer Turm gebaut werden muss.“

„Ja“, murmelte Joan leise, „das dürfte in etwa die Wahrheit sein.“

„Falls wir alle die nächsten Minuten überleben!“, warf Kendris hastig ein. „Die Ratstruppen greifen an! Strukturlücken in Gigantschirm werden geschaltet und die Bodentruppen sind in Bewegung!“

Alarm heulte durch die Zentrale. Na, wenigstens das funktionierte wieder.

Tonlos wandte sich der Taral zu seiner Cousine um. „Lady Jarah, die Ratstruppen haben soeben das Feuer eröffnet.“
 

2.

Der Stab arbeitete nur mit halber Besetzung. Nach dem Ende des Angriffs der Core-Truppen hatte Makoto sie in die Betten geschickt und eine Notmannschaft zusammengerufen.

Er brauchte seine Leute fit für den Moment, wenn es von vorne losging. Und das würde es. Wieder und wieder.

Nachdenklich faltete er die Hände vor seinem Gesicht zusammen. Dass sie keine Verbindung mit der AURORA errichten konnten gefiel ihm nicht. Selbst wenn sie keine Relais aussetzen konnte, das Gigantschiff musste spätestens im Alpha Centauri-System in Reichweite eines Kommunikationswurmlochs sein.

Von der Erde verlautete auch nichts in dieser Richtung, außer dass Eikichi versprochen hatte, der AURORA einen Kampfverband entgegen zu schicken, um die stark reduzierte Verteidigung auszugleichen.

Tja, die besten und stärksten Schiffe hatte Makoto hier behalten. Damals war es allen taktisch klug erschienen, so stark wie möglich im Kanto-System präsent zu sein.

Seine Schwester Sakura hatte hart kalkuliert und soviel Feuerkraft zurückgelassen wie sie nur entbehren konnte.

Makoto fragte sich, ob ihr diese Entscheidung vielleicht schon zum Verhängnis geworden war. Doch er schob den Gedanken beiseite. Es gab nichts in diesem Universum, was Sakura Ino besiegen konnte. Oder auch nur aufhalten.
 

Er sah auf und betrachtete das Hologramm vor sich. Es projizierte einen Bericht für ihn, untermalt mit graphisch aufbereiteten optischen Aufzeichnungen über das Blockadegeschwader.

Die sechs Long Range Area Observer mit ihren Resonanztorpedos hatten sehr gute Arbeit geleistet. Auf ihr Konto gingen mindestens dreißig vernichtete Banges des Cores, als diese durch das Resonatorfeld geflogen waren. Anschließend waren die meisten auf Lorania abgestürzt.

Das Resonatorfeld wirkte also auch auf die Core-Truppen. Ob es auf jeden Soldaten des Core wirkte musste die Zukunft zeigen, aber der Ansatz war interessant.

Makoto schüttelte sich kurz bei dem Gedanken, warum das so war: Die Core-Banges verwendeten menschliche Komponenten als Pilotenersatz. Dieser Ersatz – wie immer er aussah, und das wollte er eigentlich gar nicht so genau wissen – emittierte KI und konnte durch das Resonatorfeld manipuliert werden.

Das war eine wichtige Erkenntnis, auch wenn sie davon ausgehen durften, dass die Core-Truppen nicht wieder auf die Resonator-Torpedos hereinfallen würden.

Also mussten sie die Resonatoren zum Core bringen.
 

Für einen Moment kämpfte Makoto mit einem Hustenanfall, als er sich bewusst wurde, dass er in Gedanken mit einer Massenvernichtungswaffe hantierte, die in den falschen Händen hunderttausenden, ja, Millionen Menschen den Tod bringen konnte. Andererseits war es genau diese von kronosischen Ingenieuren entwickelte Waffe, die in diesem Moment über eine Million Anelph quasi in der Zeit eingefroren hatte, damit sie die Migration auf der AURORA mitmachen konnten.

Hätten sie gewusst, hätten sie alle gewusst, wie die Dinge sich entwickeln würden, wie schnell sie hier die Hausherren werden würden, hätten sie vielleicht weniger überstürzt gehandelt. Hätten die Anelph des Komitees nicht gezwungen, von heute auf morgen ihre Heimat zu verlassen und alle Brücken hinter sich abzubrechen.

Für viele würde diese Art des Abschieds sicherlich einiges erleichtern. Aber es gab sicherlich auch Anelph, denen das Herz gebrochen worden war.

Zudem bezweifelte Makoto, dass der Verkehr zwischen Erde und Lorania jemals intensiv genug sein würde, um einer großen Anzahl von Menschen den Transfer zwischen den Systemen zu gestatten. Oder auch nur bezahlbar zu machen.

Selbst mit der Standverbindung zur Erde – für ihn waren Wurmlöcher und die Verbindung über die Mikrowurmlöcher ein Buch mit sieben Siegeln, und hoffentlich versuchte niemals jemand, ihn mit dieser Materie vertrauter zu machen – wurden Familien auseinander gerissen. Und Schicksale auf ewig geteilt.

Aber er hätte lügen müssen wenn er gesagt hätte, er würde Trauer empfinden. Es war eher Aufregung. Für ihn gab es nur ein Zuhause, die Erde, ob er Naguad war oder nicht.

Auch für die Anelph gab es sicherlich nur eine Heimat. Aber in was für ein Abenteuer brachen sie auf.

In was für ein Abenteuer war er selbst aufgebrochen. Bei all der Gewalt, bei all den Toten, bei all den Unwägbarkeiten, was für ein Abenteuer! Das größte Abenteuer, in dem die Menschheit je gesteckt hatte! Und in einem Punkt war er sich sicher. Er, der kleine Japaner mit den dunkelrot gefärbten Haaren, würde als Verteidiger Loranias in den Geschichtsbüchern erwähnt werden. Vielleicht errichtete man ihm zu Ehren sogar eine Statue. Oder benannte wenigstens eine Schule nach ihm.

Hm, eine Mädchenschule wäre doch ganz nett und… Immerhin war sein Faible zu Frauenkleidern, von seiner Schwester anerzogen, allgemein bekannt.
 

„General?“

Makoto sah auf. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass er den Rang eines Generals angenommen hatte. Genauer gesagt hatte er sich dazu während der Schlacht um Lorania entschieden, um die Befehlsstruktur zwischen sich und Kei ein für allemal klar zu stellen, immerhin hatte der junge Japaner mit dem Rang eines Konteradmirals den zweithöchsten Rang in der UEMF-Raumflotte. Tatsächlich aktive Konteradmiräle gab es nur acht, und vier von ihnen dienten im UEMF-Stab oder in der Verwaltung. Das gleiche galt für die Generäle. Außer ihm und Akira gab es zehn weitere, von ihnen waren fünf in Stab und Verwaltung tätig, nur der Rest kommandierte direkt Kampftruppen.

„Hitomi?“

„General“, sagte sie und betonte den Rang auffallend ernst, „wir empfangen einen Notruf.“

Sie sah zu ihm herüber. Und für einen Moment war sich Makoto nicht mehr sicher, ob diese junge Offizierin der UEMF wirklich jemals Megumis Klassenkameradin gewesen war, damals vor fünftausend Jahren auf der Fushida Oberstufe, oder ob das alles nur ein vager Traum war, und sie schon immer Soldat gewesen war. Okay, drei Jahre. Aber sie waren so weit entfernt, so weit entfernt. So viel war passiert.

„Details“, verlangte Makoto konzentriert.

„Es ist die AROGAD, Sir. Der Bakesch, der unter dem Kommando von Admiral Rogan Arogad steht, dem Anführer der ehemaligen Vergeltungsflotte.“

„WAS?“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen detachierte Makoto an seinem Arbeitspult elf Schiffe, unter ihnen die BISMARCK und die SUNDER, um den Orbit um Lorania zu verlassen und sich mit der AROGAD zu treffen, noch bevor er den Notruf gehört hatte. Für die Besatzungen der elf Schiffe würde jetzt gerade die Hölle losbrechen. Würde der Alarm aufgellen, ihre bisherigen Tätigkeiten abwürgen und sie auf Station rufen. Dies war keine Übung.

„Wortlaut!“, verlangte Makoto.

„Wir haben sogar Bildfunk.“

„Durchstellen.“
 

Das Hologramm vor ihm wechselte und bildete nun die Zentrale der AROGAD ab. Leicht umdekoriert. Oder wie man es nennen konnte, wenn Rauchwolken durch die großzügige Zentrale trieben, Brände im Hintergrund schwelten und ein reichlich lädierter Rogan in die Aufnahmeoptik sah. „AROGAD an alle verbündeten Einheiten! AROGAD an alle verbündeten Einheiten! Wir werden angegriffen, ich wiederhole, wir werden angegriffen! Unser Gegner ist das aus zehn Schiffen bestehende Kontingent des Hauses Logobodoro! Sie haben ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet und die KIVA und die SURGON versenkt! Die AROGAD wurde schwer getroffen! Drei weitere Schiffe der Flotte, ein Daness und zwei Elwenfelt wurden ebenfalls versenkt oder zumindest schwerstens beschädigt! Das Kontingent der Logobodoro verzögert in diesem Moment mit Höchstwerten, während es das Feuer mit Distanzwaffen aufrechterhält!“

„Ist eine direkte Verbindung zur AROGAD möglich?“

„Steht in zehn Sekunden, General. Die Verzerrung durch die Distanz ist minimal.“

„Admiral Arogad, hier spricht General Ino. Antworten Sie!“

„Rogan Arogad hier. Tut gut deine Stimme zu hören, Makoto Taral Ino.“

Das Hologramm flackerte und zeigte die Zentrale in einem noch schlimmeren Zustand als zuvor. Rogan war sichtlich verletzt, ein Sanitäter legte ihm einen Verband auf einer stark blutenden Kopfwunde an, nachdem er vergeblich versucht hatte zu nähen.

„Ich habe zwei Bakesch-Schlachtschiffe und drei Kreuzer verloren. Ich weiß nicht warum diese Bastarde angegriffen haben, aber diesen feigen Angriff von hinten werde ich ihnen heimzahlen, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben tue!

Makoto, Ihr Terraner habt doch diese Standverbindung mit der brandneuen Wurmlochtechnologie zur Erde, oder?“

„Wir haben auch eine Standleitung nach Naguad Prime.“

„Das ist gut. Das ist sehr gut. Das Haus muss sofort informiert werden! Ein solcher Verrat der Logodoboro muss geahndet werden! Vor allem müssen wir jetzt sehr vorsichtig sein, denn die Logo-Babies sind alleine zu schwach um sich wirklich mit uns anzulegen, geschweige denn mit Elwenfelt und Daness. Sie müssen ein oder mehrere Häuser in der Hinterhand haben. Diesen Angriff zu erkennen und ihm zuvor zu kommen ist unsere Pflicht. Der Rat muss es wissen, Makoto! Er muss!“

„Ich stimme dir zu, Rogan Arogad.“ Er nickte in Richtung Hitomis, die sich sofort an die Arbeit machte. Die Standleitung versorgte Kanto-System und Nag-System permanent mit Daten, aber um Details zu erfragen oder weiterzugeben war immer noch der direkte Anruf die beste Methode.
 

„Das wird jetzt einen Moment dauern. Ich habe elf Schiffe los geschickt. Sie werden bei den Bergungsarbeiten helfen. Schafft es die AROGAD alleine in eine Werft?“

Der Admiral des Hauses sah ihn verzweifelt an. „Nein“, sagte er tonlos. „Und es kann auch sein, dass ich das Flaggschiff des Hauses aufgeben muss.“

Er atmete aus und stützte sich schwer auf der Konsole vor sich ab. „Dass ein Arogad einmal ein Flaggschiff verlieren würde… Und dass ich dieser Arogad sein würde… Manchmal kommt eben alles auf einmal.

Aber bevor ich meine Mannschaft in einem aussichtslosen Kampf gegen die Flammen schicke, evakuiere ich lieber.“

„Noch ist es nicht aussichtslos“, sagte Makoto mit Nachdruck. „Ich instruiere Konteradmiral Takahara. Er wird Löschmannschaften, medizinisches Personal und einen Teil unserer Slayer bereithalten, um bei den Rettungsarbeiten zu helfen. Er wird in dreißig Minuten auf eurer Höhe sein.“

„Er wird an uns vorbeischießen wie eine Kanonenkugel“, murmelte Rogan ernst.

Makoto lächelte wissend. „Schon mal was von AO gehört? Die Slayer sind AO-Meister erster Güte. Mit ihnen übersteht das Schiff das radikalste Bremsmanöver, dass jemals ein Bakesch gewagt hat.“

Die beiden Männer wechselten einen langen Blick. „Der Rest der Flotte?“

„Versucht die Logo-Babies zu stellen und zu stoppen.“

„Ein guter Plan, Makoto Taral Ino. Ich werde mit dem Evakuierungsbefehl so lange wie möglich warten.“

„Gut. Wir können einen Bakesch mehr sehr gut gebrauchen. General Ino Ende.“

„Wir sehen uns auf Lorania, mein Junge.“ In der Stimme des Älteren schwang unverhüllter Stolz. Stolz auf ihn, einen Bluthund. Und anscheinend fähigen Krisenmanager.
 

„Ich brauche eine Direktverbindung zu Kei, Hitomi. Die Slayer müssen das unmögliche möglich machen.“

„Jawohl, Sir.“

„Wo sind die Logodoboro-Schiffe?“

Hiroko Shiratori meldete: „Bremsmanöver abgeschlossen. Alle zehn Schiffe gehen auf Gegenkurs. Wenn ich alles hoch rechne hat nur die SUNDER mit Hilfe der Slayer eine Chance sie noch einzuholen.“

Hiroko war eine Klassenkameradin von Akane Kurosawa gewesen, erinnerte sich Makoto. Und sie war eine der ersten gewesen, die sich für die damalige Mars-Mission freiwillig gemeldet hatte. In diesen Tagen war sie Karriere-Offizierin mit Hochschulabschluss und einem sehr früh erreichten Majorsrang. Wenn sie so weitermachte, würde es bei den Generälen bald sehr voll werden.

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Die Entscheidung war klar. Entweder die SUNDER zur Rettung der havarierten Naguad-Schiffe schicken oder sie den Logodoboros hinterher laufen lassen. Ruhm und Ehre oder Menschenleben?

„Wir bleiben beim bisherigen Plan. Die BISMARCK übernimmt das Kommando, sobald die SUNDER die Formation verlässt. Ziel ist es, die Flotte einzuholen. Aber wenn wir uns vergewissern können, dass sie das System verlässt, ist es auch nicht schlecht getan.“

Shiratori nickte, und wie es Makoto schien, zufrieden mit seiner Entscheidung. „Aye, Sir.“

Der kleine Mann schmunzelte. Niemals würde er Menschenleben für obskure Dinge wie Ruhm oder Macht zurückstellen. Vor allem nicht, wenn die Feuerkraft der Logodoboro-Flotte die Feuerkraft der sie verfolgenden SUNDER derart eindeutig übertraf und die Verfolgung ohnehin für ad absurdum erklärte.

„Der Rest bleibt wachsam“, mahnte Makoto in die Runde. „Wenn dies ein Ablenkungsmanöver war, dann ein verdammt teures. Aber ich will meine Sterne abgeben, wenn ich darauf reinfalle, weil alle nur noch in eine Richtung sehen. Verstanden?“

„Verstanden!“

In der Zentrale brach erneut Hektik aus.

Für einen Moment war Makoto zufrieden. So zufrieden, wie er nur sein konnte.

Hitomi meldete sich erneut. „Standleitung nach Naguad Prime steht und… Moment, was? Der Turm der Arogad wurde bombardiert? WAS?“

Erschüttert sprang Makoto auf. Akira!
 

3.

Weit, weit entfernt von Makoto und seinen Sorgen stand ein junges Mädchen auf einer grünen Wiese. Genauer gesagt stand sie auf einem grünen, sonnenbeschienenen Hügel und sah auf eine grüne, mit exotischen Blumen übersähten Wiese hinab.

Die Sonne leuchtete sanft und orange vom Himmel und liebkoste ihre braune Haut, spielte mit Lichtreflexen in ihren grünlich braunen Haaren und strich wärmend über ihre vollen, roten Lippen.

Das Mädchen sah mit seinen grauen Augen auf die Ebene hinab.

Sie war erfüllt mit Menschen. Menschen jedes Alters, jeder Hautfarbe und beider Geschlechter. Kinder ebenso wie Alte.

Die Menschen trugen weiße, wallende Gewänder wie das Mädchen und wanderten nach Lust und Laune über die Wiese. Wann immer zwei oder mehr den Wunsch verspürten, ließen sie sich nieder und redeten über dies und über jenes.

Das Mädchen versuchte die Menschen zu zählen, aber sie scheiterte erneut. Bei fünftausend gab sie auf, denn die Menschen wimmelten zu sehr durcheinander. Außerdem hatte sie nicht einmal ein Drittel der Wiese abgezählt.
 

„Dies ist also das Paradies“, murmelte es leise.

Da trat eine große, stolze Frau neben sie. Hoch gewachsen, schlank, in ein schwarzes Gewand gehüllt, dessen Kapuze nur ihr blasses, edel geschnittenes Gesicht aussparte. Ihr Blick war stolz, hart, und das Lächeln erreichte ihre Augen nicht, als sie antwortete: „Dies ist das Paradies der Daima.“ Sie wandte sich um und deutete auf die andere Seite des Hügels.

Auch dort lustwandelten Menschen, diskutierten oder erfreuten sich einfach an den Blumen. „Und dies ist das Paradies der Daina.“

„Wo ist der Unterschied zwischen ihnen?“, fragte das Mädchen.

„Es gibt keinen Unterschied.“

„Aber warum haben sie dann unterschiedliche Namen?“

„Weil sie es so wollen.“

Das verwirrte das Mädchen. „Aber wenn es keinen Unterschied gibt, wie trennen sie sich voneinander?“

„Indem sie sich selbst Daima und Daina nennen“, antwortete die Frau im schwarzen Gewand. „So wie sie es schon immer getan haben. Damals, als das erste Reich noch existierte. Vor dem alles vernichtenden Krieg.“

„Warum gab es den alles vernichtenden Krieg?“, fragte das Mädchen, fürchtete sich aber vor der Antwort.

„Es gab den alles vernichtenden Krieg, weil die Daima dazu in der Lage waren. Und es gab den Krieg, weil die Daina ihn nicht verhindern konnten.“

„Was ist Krieg?“, hakte es nach.

„Krieg ist etwas Wundervolles und doch furchtbares. Krieg ist sterben und geboren werden. Krieg ist Entsetzen und entzücken. Krieg verändert und bewahrt.“

„Ist Krieg wichtig?“

„Krieg ist wichtig und unwichtig. Krieg ist Motor als auch Hemmschuh. Krieg ist Faszination und Eintönigkeit.“

„Was ist Krieg?“, fragte es erneut.

„Nun, Prinzessin, um eine Antwort zu bekommen muß man selbst einen Krieg erlebt haben. Oder einen angeführt haben. Aber es ist eine Erfahrung, die dich verändert. Du wirst nie wieder sein was du warst.“

„Aber alles ist doch Veränderung. Alles ist in Bewegung und alles ist neu und doch wieder alt. Wird vergessen, wieder entdeckt und erneut vergessen. Warum sollte ich mich dann nicht auch verändern?“

„Weil das jetzt, was du gerade bist, sich vor dem was du dann sein wirst vielleicht fürchten wird. Ablehnen wird. Oder es sogar töten will.“

„Wie schrecklich“, hauchte das Mädchen. „Ich glaube, ich mag Krieg nicht.“

„Das ist eine weise Entscheidung“, antwortete die schwarz gekleidete Frau und wandte sich um.

„Aber ich will mich verändern. Wenn es sein muß, mit Hilfe eines Krieges.“

„Das ist keine weise Entscheidung, aber sehr mutig. Du weißt, dass wir einen Krieg führen werden.“

„Ja, man hat es mir erzählt. Wir führen Krieg um die Daima vor sich selbst zu retten.“

„Nein. Wir führen Krieg, um die Daima zu vernichten.“

„Vernichten? Aber das ist doch so sinnlos! Was vergangen ist kann nicht wiederhergestellt werden, so wie das erste Reich!“

Die schwarz gekleidete Frau wandte sich erneut um und beugte sich ein klein wenig herab, damit sie mit dem Mädchen auf Augenhöhe war. „Das ist Krieg. Und wir führen ihn nur aus einem Grund. Damit die Daina uns nicht vernichten. Das können wir nur verhindern, indem wir die Daima auslöschen. Wirst du sie auslöschen?“

„Aber sind die Daima nicht das selbe wie die Daima hier vor uns? Die im Paradies lustwandeln und sich ihres Lebens freuen?“

„Du musst sie nicht alle auslöschen. Nur so viele, dass sie eine lange Zeit keinen Krieg mehr führen können. Den Rest kannst du ins Paradies führen. An einen Ort von vollkommener Glückseligkeit. Für die Daima und die Daina.“

„Ich mag Krieg nicht“, schloss das junge Mädchen. „Aber ich werde einen führen. Denn ich will leben, ebenso wie die Daima.“

„Dann ist es beschlossen, Prinzessin.“ Hoheitsvoll wandte sich die Frau um und ging den Hügel in Richtung der Daina herab.

Das Mädchen folgte ihr dabei auf dem Fuß, und mit jedem Schritt, den sie tat, veränderte sich ihr schlichtes weißes Gewand und färbte sich schwarz.

Der Krieg hatte begonnen.

**

„Verdammt, Roger, Sie sehen übel aus.“

Kommodore Roger Mildred, Kommandeur der TICONDEROGA, sah auf Eikichi Otomo herab. Seine Uniform war schmutzig, um nicht zu sagen an manchen Stellen verkohlt. Von seinen Haaren und Augenbrauen war nicht mehr besonders viel übrig und die Zentrale hinter ihm wirkte wie ein Trümmerfeld.

„Es geht mir gut, Eikichi. Abgesehen von den neuesten kosmetischen Veränderungen.“

„Kosmetische Veränderungen“, sagte Eikichi Otomo barsch. „Sehr komisch. Wie steht es um Ihre Crew?“

„Ich hatte mehrere Tote während der Schlacht, dreißig befinden sich noch im Lazarettbereich, sieben sind kritisch. Aber ich habe die drei Raider erledigt. Ohne die MAIHAMA und die KAMI hätte ich es aber nicht geschafft. Dann wäre ich jetzt wirklich Fischfutter.“

„Und Sie bringen alle drei Schiffe nach Hause. Es war also eine gute Idee, einmal die Plutobahn abzufliegen.“

„Das war es sicherlich, Eikichi“, antwortete der Kommodore, einer der erfahrensten Raumfahrer der Erde. „Ich habe nur nicht damit gerechnet, jemals so etwas aufzuscheuchen. Wäre die Fläche nicht zu riesig würde ich ja sagen, wir sollten im gesamten Sonnensystem Sonden aussetzen, um den Eintritt fremder Schiffe in unserem System sofort zu registrieren. Aber von der Jupiterbahn bis zur Oortschen Wolke ist das unbegrenzt möglich und die Reichweite der Sonden ist limitiert. Wie schnell können wir dreizehn Milliarden Sonden herstellen? Nur um die wichtigsten Regionen zu überwachen, natürlich.“

„Ihr Humor ist wie immer herzerfrischend, Roger“, erwiderte Eikichi ernst. „Sind die MAIHAMA und die KAMI auch schwer beschädigt?“

„Ich brauche für alle drei Schiffe Platz in den Werften. Wobei es meine TICONDEROGA am schwersten erwischt hat.“

„Machen Sie das mit der Werftleitung aus, Roger. Jetzt kommen Sie erstmal rein. Dann müssen wir uns um ein neues Problem kümmern. Der Feind ist jetzt direkt vor unserer Haustür.“

„Ich korrigiere, Eikichi. Er hat einen Fuß in der Tür und wir haben sie nicht richtig zugeknallt.“

„Wäre die Lage nicht so ernst würde ich lachen. Otomo Ende.“

Der Kommodore nickte und deaktivierte die Verbindung.
 

„Verdammt. Wir müssen die Patrouillen des Systems selbst erhöhen. Wir brauchen mehr Schiffe. Viel mehr Schiffe. Und wir brauchen erfahrene Mannschaften.“

„Sir. Vor ein paar Tagen haben sich vier Fregatten freiwillig gemeldet. Erfahrene Mannschaften, die derzeit unterfordert sind und zu gerne ein wenig unternehmen würden. Es handelt sich um vier Fregatten der November-Klasse und…“

„Die anderen vier Schiffe von Commander Shawn Winslow, hm?“ Eikichi Otomo schmunzelte. „Erteilen Sie ihnen Marschbefehl.“

„Aye, Commander.“

Eikichi erhob sich, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und marschierte in der Zentrale auf und ab.

„Es drohen verdammt interessante Zeiten zu werden. Und ich bin nicht sicher, ob wir sie überleben können.“

„Sir, Meldung über die Standleitung nach Naguad Prime. Der Turm der Arogad brennt nach Angriff mit atomaren Waffen!“

Der groß gewachsene Executive Commander der Erdverteidigung stoppte. „Würden Sie das bitte wiederholen?“

„Die Meldung besagt: Nach Beschuss mit atomaren Waffen brennt der Turm der Arogad. Über das Schicksal des Rates und der Bürger ist nichts bekannt. Ebenso wenig über den Verbleib von General Otomo und Colonel Uno. Scheiße. Verdammte Scheiße, wenn Sie mich fragen, Sir. Ein Daness-Schiff hat den Angriff ausgeführt und drüben bei den Naguad geht jetzt alles drunter und drüber.“

„Krisenschaltung in mein Büro! Holographische Projektionen! Sofort! Verteiler eins Alpha!“

„Eins Alpha, Sir? Sofort. Aber dazu muss ich ein paar Admiräle und Staatschefs aus den Betten werfen.“

„Wollten Sie das nicht schon immer, Captain?“

„Sie können meine Gedanken lesen, Executive Commander.“
 

Zwanzig Minuten später stand die Konferenz. Teilnehmer waren über vierzig Personen, die meisten davon Angehörige der UEMF. Fast alle waren per Hologramm vertreten.

„Aber Sie sagten doch, dass wir damit sicher wären!“, blaffte der amerikanische Präsident. „Ich habe diesem hanebüchenen Plan nur zugestimmt, weil Sie gesagt haben, dass die Erde als Eigentum von Blue Lightning – ja, ich habe nicht vergessen wer Akira Otomo ist und was er alles für uns alle getan hat – sicher sein wird. Und was ist nun?“

„Mr. President. Die Erde ist immer noch sicher. Nach Naguad-Recht ist und bleibt Akira alleiniger Eigentümer. Aber der Angriff auf den Turm der Arogad erfolgte von einem Daness-Schiff. Sprich, die beiden größten Häuser stehen an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg. Und Sie wissen alle mittlerweile, dass Megumi Uno eine Daness ist.“

„Was Sie uns beizeiten näher erklären wollten“, warf der deutsche Kanzler ein. „Ich meine persönlich, nicht mit diesen Dossiers über Naguad, die vor vierhundert Jahren die Erde infiltriert haben und so. Wissen Sie eigentlich, dass wir vierhundert Jahre Geschichte umschreiben müssen? Nein, eigentlich müssen wir alles umschreiben, denn mit den Daimon haben wir ja Zeitzeugen, die wir detailliert befragen können.“

„Kommt Zeit, kommt Gelegenheit, Herr Bundeskanzler. Aber uns stellt sich neben dem Bürgerkrieg eine andere Frage: Wenn Daness und Arogad einen Bürgerkrieg beginnen, welche Seite nehmen wir ein? Ich meine, formell gehören wir Arogad an. Aber die Verdienste von Megumi Uno wiegen schwer, sehr schwer. Um nicht zu sagen mehr als die von Akira. Auch wenn sie nie die Abschusszahlen Akiras erreicht hat.“

„Sie fordern uns zur Rebellion gegen Haus Arogad auf?“

„Ich fordere Sie auf genau nachzudenken, welche Position wir in diesem Bürgerkrieg beziehen sollen. Ich glaube wir dürften es sehr schwer haben der Welt zu erklären, warum Megumi Uno, Lady Death, plötzlich zu einer Gegnerin geworden ist.“

„Falls sie eine Gegnerin sein will.“
 

Eikichi senkte den Blick. Er dachte daran, wie einsam Megumi aufgewachsen war, nachdem beide Eltern in der Schlacht um Tokio getötet worden waren. Danach hatte sie nicht viel gehabt. Nur noch Yohko, Sakura, Makoto und Akira. Später war Yohko auf dem Mars geblieben und Makoto und Akira hatten sich aus dem Krieg zurückgezogen, ihr die schwere Bürde hinterlassen, für die Menschheit zu kämpfen.

„Wenn sich Megumi Uno dafür entschließt, gegen den Turm Arogad zu sein, werden wir ihr das nicht übel nehmen. Sie hat soviel für uns getan, so unendlich viel. Wir alle stehen bis zum Hals in ihrer Schuld. Solange ich Executive Commander bin, feuert nicht ein einziges Schiff und nicht ein einziger Mecha auf sie.“

Bestätigendes Gemurmel der anderen Konferenzteilnehmer erklang.

„Wir gehen da mit Ihnen konform, Eikichi. Wir werden einen Weg finden, uns aus diesem Bürgerkrieg raus zu halten.“ Der U.S.-Präsident nickte schwer. „Notfalls hätte ich keine Einwände, wenn wir uns als Arogad dem Haus Daness ergeben.“

Wieder wurde zustimmend gemurmelt.
 

Es entstand etwas Aufregung, als Otomos Adjutant in den Konferenzsaal trat. Die Konferenz war als Top Secret klassifiziert worden, die Leitungen, mit denen die meisten Teilnehmer per Hologramm teilnahmen waren so sicher wie es die Spitzentechniker der UEMF hinbekamen. Wenn nun ein kleiner Captain mitten hinein marschierte, musste er Nachrichten haben, die sie alle betrafen. Und die Teilnehmer wurden nicht enttäuscht.

„Executive Commander, wir haben soeben eine neue Meldung hereinbekommen. Ihr Sohn hat gerade die Erde verschenkt.“

„WAS?“

Aufgeregtes Raunen der anderen Konferenzteilnehmer machte es unmöglich, weiter zu sprechen.

Als sich die mächtigsten Frauen und Männer der Erde beruhigt hatten, fragte Eikichi: „Warum hat Akira eine ganze Welt verschenkt, Captain?“

„Nun, wenn meine Informationen korrekt sind, hat er ihn gegen eine Verlobung und den Turm der Daness eingetauscht. Oder um es mit den Worten meines Naguad-Kollegen zu sagen: Die Arogads haben jetzt nichts mehr zum angreifen. Das ganze Nag-System applaudiert der Finesse von Aris Arogad, Sir.“

Eikichi seufzte zum Steine erweichen. Auch wenn es ihre dringlichsten Probleme löste, es schuf tausende neue. „Und an wen hat Akira unsere Heimatwelt verschenkt, Captain?“

„Nun, wenn meine Informationen richtig sind ging die Erde im Tausch für ein Eheversprechen und den Daness-Turm an… Colonel Megumi Uno.“

„Kein Wunder, dass sie ihm die Ehe versprochen hat. Wer kriegt schon einen ganzen Planeten zur Verlobung?“, scherzte der Bundeskanzler und erntete Gelächter von seinen Kollegen.

„Dieser Bengel“, ächzte Eikichi und massierte seine Schläfen. Er grinste. „Dieses Genie.“

„Das löst unsere Probleme nicht“, mahnte der Präsident der U.S.A.

„Nein, Mr. President. Aber es verhindert eine ganze Reihe anderer Probleme, bevor sie akut werden können. Wenn Akira die nächsten Stunden überlebt, sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg zwischen den Häusern enorm.“ Eikichi rieb sich die Schläfen. „Hoffentlich.“

***

An einem anderen Ort auf der Erde wurden in diesem Moment finstere Ränke geschmiedet.

Wer erwartet hatte, dass die düsteren Geschäfte in einem finsteren Keller stattfanden, wurde bitter enttäuscht.

Man traf sich nicht nur mitten in Manhattan, New York City, nein, man benutzte auch den lichtdurchfluteten Konferenzraum im Penthouse eines achtzigstöckigen Geschäftsgebäudes.

Die meisten der Konferenzteilnehmer waren per Hologramm vertreten, die Kommunikation erfolgte über Leitungen, deren Sicherheit denen der UEMF in nichts nachstand, eigentlich sogar übertraf. Hätten die Spezialisten der Weltverteidigung davon gewusst, vielen hätte es die Nachtruhe geraubt. Nun, noch mehr als ohnehin schon.

Angeführt wurde die Konferenz von einem hoch gewachsenen, breitschultrigen Mann mit schulterlangem weißem Haar. Seine dunkelbraunen Augen funkelten belustigt in seinem sonnengebräunten Gesicht.

Anwesend waren zwanzig Personen, davon dreizehn als Hologramm. Viele von ihnen waren ebenfalls weißhaarig und dunkeläugig. Sämtliche Schattierungen von dunklem grün bis zu kohlrabenschwarz waren vertreten. Die Zahl an Männern und Frauen glich sich beinahe aus, mit leichtem Überhang für die Männer.

Auf dem Tisch lief gerade ein holographischer Film. Und was er den erstaunten Teilnehmern zeigte, raubte allen den Atem.

„Das ist die Lage“, sagte der Vorsitzende ernst. „Der Turm der Arogad wurde bombardiert, und das von einem Daness-Schlachtschiff. Es steht außer Frage, dass es keine Daness waren, die diesen Angriff befohlen, ja, gewollt haben. Ein weiteres Haus hat hier seine Finger im Spiel. Ein Haus, das sich erstens Chancen ausrechnet, von einem Bürgerkrieg zwischen den beiden größten Häusern zu profitieren und zweitens nicht damit rechnet, von Daness oder Arogad abgestraft oder sogar vernichtet zu werden.“

„Legat Scott“, meldete sich eine der Frauen mit weißen Haaren zu Wort. Ohne Zweifel trug sie das Elwenfelt-Genom, aber sie kaschierte es mit einer Wasserstoffblondierung. „Legat, das sind sehr interessante Informationen. Aber was nützen sie uns? Planen Sie etwa, sich mit diesem Haus zu verbünden?“

„Nun, Legatin Francine, eine Koalition mit einem anderen Haus als den Elwenfelt dürfte uns schwer fallen, vor allem nachdem die Erde rechtmäßig dem Haus Arogad zugesprochen wurde. Im Prinzip ist unsere Versammlung nun nicht nur in den Augen der UEMF eine illegale, ja terroristische Vereinigung, sondern auch für das Imperium der Naguad. Wir müssen unseren eigenen Vorteil aus dieser Situation ziehen, und das werden wir auch.“

Der Legat der Kronosier senkte den Kopf und sandte einen düsteren Blick über den Tisch. „Würden wir das nicht tun, dann hätten wir uns die Fortsetzung der UEMF-Infiltration sparen können. Wir hätten es mit der Vernichtung des Legatshauses belassen können, uns entweder ergeben oder in unsere Tarnidentitäten flüchten können, um fortan abseits der Weltpolitik zu leben. Wir hätten es uns ersparen können, die Grey Zone auf der AURORA zu gründen. Und wir hätten es uns sparen können, die Position der Erde zu verraten.“

Leises Gemurmel klang auf.

Gordon Scott hob mahnend beide Hände. „Wir haben es nicht getan. Stattdessen haben wir die AURORA infiltriert. Stattdessen haben wir die Position der Erde verraten. Stattdessen betreiben wir weiterhin die Machtübernahme der Erde durch das Legat.

Wir lassen uns nicht abschieben und auch nicht beiseite drücken. Nein, wir ziehen unseren Vorteil aus dieser Situation.“

„Und wie wollen wir einen Vorteil aus dieser Situation ziehen, wenn wir uns nicht mit dem geheimnisvollen Terror-Haus der Naguad verbünden?“, fragte einer der Männer ohne Gift.

„Nun, Cedric, das ist einfach erklärt. Als Akira Otomo über uns kam und den Mars eroberte, vernichtete er unsere Heimatbasis. Und nicht nur das, er nahm auch die meisten Legaten gefangen. Die einzigen Legaten in Freiheit sind Lady Jeanette Francine, meine Wenigkeit und wie wir seit einiger Zeit wissen, Legat Henry William Taylor.

Ein Großteil unserer Besitztümer, das Gros unseres Agentennetzwerks, die Mehrzahl der Stützpunkte, ja die meisten Truppen und Waffensysteme hat Otomo uns genommen. Sowohl auf dem Mars als auch auf der Erde. Schlimmer noch, er hat die Herzen unserer Leute erobert und es fast unmöglich gemacht, sie wieder für unsere Sache zu gewinnen.“ Der Legat grinste wölfisch. „Nun, fast zumindest.“
 

Scott sah zur Seite. „Mother.“

Neben dem Legaten entstand das Hologramm einer schlanken Frau mit langem schwarzem Haar. Sie war kaukasischer Abstammung, hatte ein schmales, freundliches Gesicht und einen starren, ernsten Blick. „Legat?“

„Mother ist der Host unserer Supercomputer“, stellte Scott zufrieden fest.

„Erzählen Sie uns bitte etwas Neues, mein lieber Gordon“, rief einer der anderen Männer ohne Gift. Sein starker deutscher Akzent verriet ihn als Europäer.

„Nun, Direkter Mühlheimer, das ist eine interessante Idee. Ich habe tatsächlich etwas Neues zu erzählen. Wie alle Anwesenden wissen, erging vom Core Sekunden vor seiner Vernichtung der Befehl zur Dezentralisierung. Das heißt, alle Einrichtungen auf der Erde wurden aufgefordert, sämtliche Aktivitäten einzustellen. Dennoch entdeckte die UEMF mit Hilfe der erbeuteten Unterlagen vom Mars hunderte und löste sie auf.“

Scott breitete die Arme aus als wolle er die Anwesenden umarmen. „Meine Brüder und Schwestern. Was ihr alle hier seht, ist das, was die UEMF trotz aller Anstrengungen nicht gefunden hat. Die besten, gewieftesten und mächtigsten Anführer wie unseren Geheimdienstchef Doktor Rüdiger Mühlheimer, unsere wissenschaftlicher Direktorin Doktor Francine und andere Anführer und Experten. Was ihr aber nicht wisst – verständlicherweise, weil dies seit dem Fall des Mars unser erstes Treffen in einem solchen Rahmen ist – wie viel dem Legat wirklich verblieben ist. Wie viel Macht wir immer noch haben!“

Er wandte sich zur Seite. „Mother.“

„Ja, Legat.“
 

Das Hologramm wechselte und stellte nun die Erde dar. Die Erdkugel rotierte leicht, und auf ihrer Oberfläche erschienen rote Punkte. Neben den Punkten öffneten sich kleine Datenfenster, die kurz die wichtigsten Fakten zu den roten Punkten aufführten. Die Punkte standen synonym für Stützpunkte.

Die Anwesenden keuchten erschrocken auf, als sich ganze Länder rot verfärbten.

„Was ihr hier seht, meine Brüder und Schwestern, ist alles was die UEMF nicht gefunden hat. Und was bis zu diesem Moment inaktiv war. Was ihr seht, sind dreihundertsiebenundvierzig Supercomputer mit neunzehntausend Menschen als Operatoren, siebenundzwanzig befestigte und ausgebaute, voll bemannte Stützpunkte, sieben geheime Werften, in denen wir Korvetten und Fregatten produzieren, und letztendlich dreihundertvierundzwanzig Geheimdienstzentralen. All das ist weltweit verteilt. Mother?“

„Dem Legat unterstehen in diesem Moment siebzehn Fregatten, achtundzwanzig Korvetten, vierhundertzehn Daishi Alpha, dreihundert Daishi Beta, zweihundertachtzig Daishi Gamma, achtundvierzig Daishi Delta und fünf Daishi Epsilon. Wir reden hier ausschließlich über aktive Maschinen mit Piloten, Ersatzpiloten und Wartungspersonal, Hangar und Kapazitäten für die Wartung und Reparatur.

Dazu kommen dreißigtausend konventionell ausgebildete Truppen auf unseren Stützpunkten, die direkt dem Legat unterstellt sind. In dieser Rechnung nicht enthalten sind die Truppen unserer Verbündeten, die dankenswerterweise von der UEMF mit Daishi-Mechas aufgerüstet wurden. All das untersteht ab sofort dem Legat.“
 

„Wie haben Sie all das die Jahre über verbergen können?“, rief einer der Kronosier. „Wie konnten Sie soviel Macht bewahren?“

„Sie verstehen nicht ganz, mein lieber Andrejew. Das ist nicht meine Macht. Es ist unsere Macht.“ Scotts Blick ging wieder über die Anwesenden. „Genauer gesagt, meine Brüder und Schwestern, seid ihr ab sofort der neue Legat. Zusammen erobern wir die Erde und setzen unsere Ideale durch.“

Er ballte die Hände zu Fäusten, hob sie wütend an. „Zehntausende getreuer Gefolgsmänner haben sich drei Jahre lang verborgen, immer der Gefahr ausgesetzt, von den United Earth Defense Force-Truppen aufgebracht zu werden! Und heute sind sie bereit um dort weiter zu machen wo wir damals aufgehört haben! Es ist unser Recht… Nein, es ist unsere Pflicht, diese Treue und Aufopferung nicht zu verschwenden! Wir müssen und wir werden siegen! Die UEMF hat eine Schlacht gewonnen, als sie den Mars erobert hat, aber wir gewinnen den Krieg!“

„Erster Legat Scott“, sprach der deutsche Geheimdienstchef das Offensichtliche aus und unterstrich Gordon Scotts Führungsanspruch, bevor er ausgesprochen wurde, „damit verfügen wir über eine beachtliche Macht. Aber sie reicht nicht aus, um die UEMF zu besiegen, geschweige denn ihnen stand zu halten. Wir brauchen noch viel mehr Macht. Viel mehr Verbündete.“

Scott lächelte abfällig. „Eikichi Otomo spielt uns in diesem Punkt in die Hände. Jahrelang hat er Japan bevorzugt behandelt, hat seinen Sohn als Anführer vieler wichtiger Missionen eingesetzt und seine Freunde in hohe militärische Ränge befördert. Die Hekatoncheiren, die Flotte, sie alle sind durchsetzt mit der Clique des Akira Otomo. Ja, ich weiß was einige einwenden wollen. Namen wir Takahara, Futabe, Ataka oder Uno sind nicht nur Begriffe, weil wir sie dem Namen Otomo zuordnen, sondern weil sie sich selbst einen Namen gemacht haben. Dennoch gibt es weltweit, auch in den Regierungen der Länder, die mit der UEMF kooperieren, Unzufriedene, die diesen Japan-Chauvinismus gerne beenden würden. Ihr Stolz zwingt sie dazu. Und ihre Ruhmessucht will an der Spitze die Namen von Männern und Frauen sehen, die aus ihren Ländern kommen. Genau dort setzen wir schon seit Jahren an. Und unsere Arbeit wird schon bald Früchte tragen.“

„Erster Legat“, meldete sich Francine zu Wort, „wird das reichen? Verbündete können ebenso schnell wieder zu Gegnern werden, wenn wir uns mit den falschen Leuten abgeben. Keiner von ihnen versteht die Ideale des Legats. Keiner von ihnen hat sich vom Core freikämpfen müssen, hat das Chaos gesehen, welches das Legat erst ordnen konnte, nachdem es die Entscheidungsgewalt erlangt hat. Wir haben den Wahnsinn gesehen und ihm getrotzt. Sie haben es nicht. Sie verstehen uns nicht und das werden sie auch nie. Werden diese Bündnisse halten? Werden sie uns die Macht geben, die wir brauchen?“

„Es ist merkwürdig, dass Sie von Macht sprechen, meine liebe Zweite Legatin“, schmunzelte Scott. In diesem Moment hatte er seine Stellvertreterin ernannt.

Er sah zur Seite. „Mother?“

Das Hologramm der schwarzhaarigen Europäerin neigte den Kopf zur Seite. „Sie können jetzt eintreten, Torah-sama.“

Scotts Fäuste öffneten sich wieder als die große Tür aufging. Ein mittelgroßer, schlanker Mann trat ein. Er trug einen unauffälligen schwarzen Geschäftsanzug und hatte sein schwarzes Haar modisch kurz schneiden lassen. Man sah ihm den Asiaten an, genauer gesagt den Japaner.

Einige Mitglieder des neuen Legats keuchten erschrocken auf, als sie den Mann erkannten. Andere hatten zumindest Bilder von ihm gesehen und wirkten irritiert.

„Willkommen, mein guter Juichiro Torah. Genauer gesagt willkommen, Dritter Legat, Torah.“

„Wahnsinn! Wir wissen, dass Torah gestorben ist! Wir wissen, dass die Slayer ihn getötet haben!“

Mühlheimer legte seinem Tischnachbarn beruhigend eine Hand auf die Schulter. „In der Tat, Torah wurde von den Slayern vernichtet. Was Sie aber nicht wissen ist folgendes. Juichiro Torah ist kein Mensch.“

„Wollen Sie etwa sagen, dass er ebenfalls von dieser verdammten Naguad-Brut ist? Ein verdammter Verräter?“

„Nein, Legat Palischenkow. Und ja“, schloss Scott hoch zufrieden und bedeutete dem Magier, am Tisch Platz zu nehmen. „Unser Freund Torah, der Dritte Legat ist kein Mensch, aber er ist auch kein Naguad. Er ist aber das, was… Nun, ich will es einen Unzufriedenen nennen. Unzufrieden mit den Taten und der Politik seiner Führung. Einen Rebellen, Freigeist und Reformer, der leider der bourgoisen Übermacht nichts entgegen zu setzen hatte und genau wie wir aus dem Untergrund hatte handeln müssen.

Es gibt nur einen einzigen Grund, warum Legat Torah heute noch lebt. Obwohl er auf dem Mars hätte sterben müssen. Obwohl kein Mensch und kein Magier den Angriff der Slayer überlebt haben kann.“

Scott lächelte den schwarzhaarigen Japaner an. „Bitte. Sie haben die Ehre, mein Freund.“

Juichiro Torah erhob sich und lächelte in die Runde. „Es stimmt. Ich hätte eigentlich sterben müssen. Aber ich bin kein Mensch und ich bin kein Naguad. Ich bin kein Anelph und erst Recht kein Iovar. Vom sterben, vom wirklichen sterben war ich in diesem Kampf sehr weit entfernt. Ich habe lange gebraucht, um mich wieder zu erholen, und es war sehr schwer für mich. Aber letztendlich habe ich es geschafft.“

Der Magier grinste und erhob sich. Er setzte beide Hände auf dem Konferenztisch ab, doch noch auf dem Weg auf die Tischplatte veränderten sie sich. Sie verbreiterten sich, die Finger schrumpften, ein goldorangener Pelz entstand. Fürchterlich lange, schwarze Krallen schlugen in die Beschichtung des Tischs.

„Wwwweilll ich eiiiiin Daiiiiimooonnn binnnnnn!“

Entsetzensschreie wurden laut, einige der frisch gebackenen Legaten sprangen vom Tisch weg. Nur Mühlheimer, Mother und Scott zeigten keine Regung.

Der Magier Juichiro hatte sich vor ihrer aller Augen in einen Tiger verwandelt. In einen aufrecht stehenden, Anzug tragenden Tiger. Seine Katzenaugen funkelten amüsiert in die Runde und die Nasenhaare zitterten belustigt, als er die Schnauze bleckte und die anderen Legaten beim Anblick seines Raubtiergebisses erneut zurück wichen.

„Heißt das“, fragte Scott sachlich, „wir können bald wieder mit der Unterstützung von Youmas rechnen, Dritter Legat?“

Der Tiger wandte sich ihm zu und verbeugte sich knapp. „Jjjjawoooohlll, Errrrsterrrr Llllllegaaat.“

Scott setzte sich wieder und faltete die Hände unter dem Kinn ineinander. Auch die anderen Legaten kehrten vorsichtig zum Tisch zurück.

„Hat noch irgendjemand Fragen, meine Brüder und Schwestern?“ Der Erste Legat grinste diabolisch. Es konnte ohne Weiteres mit dem Blick und der geöffneten Schnauze des Tigers mithalten.
 

4.

Es begann mit Beschuss. Ohne erkennbaren Übergang, ohne Manöver begannen die Schiffe des Rates auf ihre Ziele zu feuern. Erst nachdem sie die ersten Salven abgefeuert hatten, begannen die Kriegsschiffe Jagd auf ihre Beute zu machen.

Zugleich feuerten Artillerieeinheiten auf den Turm, zerstörten die großen Tore des Turms, bestrichen die Plattformen auf den oberen Etagen, welche normalerweise Gleitern zum landen oder Banges zum starten dienten.

Erkannte Geschützstellungen wurden bombardiert und neu erwachende Stellungen schnell unter Feuer genommen. Über fünfzig Banges, für den Nahkampf konfiguriert, führten die erste Attacke an. Sie schossen auf den Turm zu, entlarvten dabei weitere, bisher getarnte Abwehrstellungen. Ein Teil wurde abgeschossen, die anderen kamen bis zum Turm selbst durch. Das drei Kilometer hohe und hier an der Basis achthundert Meter starke Gebilde war eine Stadt für sich. Eine Stadt, in der man auf vielen Etagen bequem mit einem Banges passieren konnte. Unter dem Turm, in seinen Gewölben wussten die Angreifer eine stetig besetzte Kaserne für Banges und ihre Piloten in der Stärke eines Bataillons, also vierzig Maschinen. Nun waren die Angreifer auf dem Weg den Turm hinab.

Danach kamen Panzereinheiten und Infanterie. Hubschrauber und Schweber stiegen auf, um die höheren Etagen angreifen zu können.

Wenige Minuten nach dem ersten Schuss waren die ersten Etagen unter Kontrolle der Ratstruppen und ein sehr zufriedener Torum Acati arbeitete sich zu Fuß, aber an der Spitze von zwei Dutzend AO-Meistern, den Turm hinauf.

Die meisten Naguad die ihnen begegneten waren Zivilisten oder vollkommen überforderte gemeine Soldaten. Torum bedauerte es, ihnen eine ungewöhnlich diskreditierende Behandlung nicht ersparen zu können. Aber bei einem so schweren Vergehen wie dem Verrat am Imperium konnte Torum nur versprechen, die Naguad so gut es ihm möglich war zu behandeln, während er gleichzeitig unnachgiebig niemanden entkommen ließ.

Vereinzelt wurden ihm Gefechte gemeldet, aber noch musste er keine AO-Meister einsetzen.
 

Nachdem er die halbe Strecke in das Penthouse geschafft hatte – acht Minuten nach Angriffsbeginn und nachdem er die fünfte von seinen per Schwebern angreifenden Truppen eroberten Etagen erreicht hatte, meldete sein Adjutant einen Anruf aus dem Orbit.

„Admiral Acati.“

„Admiral Longuene, Sir. Die Lage im Orbit ist unter Kontrolle. Die meisten Schiffe haben sich ergeben oder wurden vernichtet. Aber leider musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass einige der großen Kriegsschiffe wie die TARNUB, die GODENSK und die VARTAUM gegen umgebaute Frachter ausgetauscht wurden.“

„Nonsens. Wir wissen, dass diese Schiffe gebaut wurden.“

„Richtig. Deshalb sagte ich auch nicht vorgetäuscht, sondern ausgetauscht. Ich muss annehmen, dass das Haus drei Schlachtkreuzer der Bakesch-Klasse irgendwo im Imperium versteckt hält. Und wer weiß wie viele Kriegsschiffe, die in den Marken Dienst tun sollen, ebenfalls nur umgebaute Frachter sind.“

„Admiral. Was Sie mir da sagen impliziert folgendes: Das Haus baut mehrere große, kampfstarke Kampfschiffe und tauscht sie anschließend gegen umgebaute Frachter aus, die genau diese Schiffe simulieren sollen. Anschließend verschwinden die richtigen Schiffe. Das Haus versucht nicht, diese Schiffe umzubenennen, um seine Flotte größer erscheinen zu lassen. Es lässt die Kampfschiffe tatsächlich untertauchen.“

„Genau das will ich damit sagen, Admiral Acati.“

„Haben wir eine Ahnung, wo die Schiffe sein können? Haben wir eine Ahnung, wie viele Schiffe es sein können?“

„Nein, haben wir nicht. Und ich befürchte, das wird nicht die letzte Überraschung sein, die uns bevor steht.“

„Ich habe es befürchtet. Acati aus.“ Plötzlich hatte es der Begam Erster Klasse furchtbar eilig, die Turmspitze zu erreichen.

„Admiral. Die Banges-Truppen melden Kämpfe mit der Banges-Kaserne auf der untersten Ebene, aber keine Spuren einer Selbstzerstörungseinrichtung.“

„Na wenigstens etwas“, brummte Acati gehetzt. „Allerdings enthebt uns das nicht von der Möglichkeit, dass die Konstrukteure ein paar Sollbruchstellen integriert haben, die den ganzen Kasten schon bei Minimalbeschuss in sich zusammenfallen lassen. Weiter! Weiter!“

**

Die Finte funktionierte! Ich glaubte vor Glück und Zufriedenheit überzuschäumen! Es würde keinen Racheangriff auf den Turm der Daness geben!

Ich spürte nicht einmal, wie ich erleichtert in den Knien einbrach!

„Nachricht aus dem Arogad-Turm! Jarah Arogad wurde gerettet, die Energieversorgung fährt wieder hoch. Erste Teams nähern sich der Turmspitze! Arogad-Kampfraumer verlassen Angriffsposition! Wir kriegen ein Bild von einem Regierungshubschrauber, der die Turmspitze anfliegt!“, rief Vern Attori, der Protokollchef, aufgeregt.

Sostre Kalis kam zu mir herüber, griff unter meine Achseln und stellte mich wieder auf die Beine.

Mitne Daness, der Vorsitzende des Haus-Rates, nickte Attori zu.

Über uns entstand ein Hologramm im riesigen Büro Mitnes. Es zeigte den zerstörten Turm der Arogads. Meiner Familie.

Die obersten beiden Stockwerke hatten Büros beinhaltet, vor allem aber das Büro meines Urgroßvaters Oren Arogad. Sie waren in sich zusammen gefallen und mit ihnen drei weitere Stockwerke. Franlin, mein Adjutant aus der Nebenfamilie Litov, informierte mich leise darüber, dass die Konstrukteure des Turms manche Stockwerke als Dämpfer geplant und gebaut hatten. Sie sollten die abstürzenden Stockwerke in genau so einem Unfall auffangen und verhindern, dass die kinetische Energie die Stahl- und Betonmassen komplett in sich zusammen stürzen lässt.

Es war ein wenig wie mit dem zwei Tonnen schweren Auto, das einen Abhang herabrollte. Bremste man es ab, kaum dass es sich in Bewegung gesetzt hatte, konnte ein einzelner Mensch es aufhalten. War es aber erst einmal in Fahrt geraten, dann entwickelten die zwei Tonnen Stahl einen solchen Bewegungsmoment, um fünf oder sogar zehn Menschen zu überrollen. Genau das war beim Bau der Türme berücksichtigt worden.
 

Die Kamera zoomte heran. Fünf Stockwerke. Darunter die Büros des Haus-Rates. Noch vor vier Wochen wäre es mir egal gewesen, die interne Struktur der Naguad war mir nicht in dem Maße bekannt, in dem sie es heute war. Und meine eigene Rolle in diesem Spiel hatte nicht existiert. Noch nicht existiert.

Nun aber vermisste ich meinen Urgroßvater, meine Oma, meine Schwester und einige meiner besten Freunde in diesem Turm. Eri und Oren mussten zudem unter diesen Trümmern liegen.

Ich weigerte mich einfach anzunehmen, dass dies für Yoshi, Aria und Joan auch der Fall sein konnte. Nein, sicherlich waren sie mit Yohko zusammen, die laut der letzten Nachricht aus dem Turm gerettet wurde. Sicher waren sie alle nicht in unmittelbarer Gefahr.

Verdammt, ich hasste meine Situation wirklich! Was hätte ich nicht alles dafür gegeben, um den Daness-Turm verlassen zu können, um selbst bei den Aufräumarbeiten zu helfen! Meine Verwandten selbst zu retten!

Nun, nicht alles, und gewiss nicht den Waffenstillstand, den ich mit meiner Anwesenheit im Turm der Daness erzwang. Es gab wirklich Momente in meinem Leben, in denen ich mich selbst zu hassen begann.
 

Der Hubschrauber ging näher heran und zu meinem Entsetzen sah ich dabei zu, wie sich tonnenschwere Fragmente des Turms in Bewegung setzten und über den Rand des Turms in die Tiefe fielen.

Da der Turm konisch war, bedeutete dies, dass die Fragmente irgendwann mit dem Turm kollidieren würden. Was wiederum die Schäden erhöhte. Hatte diese Geschichte denn kein Ende?

Außerdem, falls jemand unter den Trümmern gefangen war, gerettet von einem temporär entstandenen Hohlraum, wurde er zerquetscht, wenn die Trümmer in Bewegung gerieten?

Verdammt, verdammt. Und die Retter der Arogad waren immer noch nicht oben angekommen.
 

„Gibt es Nachrichten aus den Vorstädten?“, fragte ich ernst. „Wie weit sind die Evakuierungsbemühungen der Häuser Koromando und Grandanaar?“

„Uns ist noch nichts weiter bekannt. Aber das Haus hat die Krisenstabschefin, Aerin Jorr, damit beauftragt, die Hilfeleistung der Arogad zu koordinieren und ein eigenes Team aufzustellen, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Meister Arogad“, informierte mich Franlin leise. „Auch die Bemühungen von Daness und den anderen Häusern laufen an, wenngleich sich Daness etwas zurückhält. Immerhin hat Arogad von der Truppenstärke gesehen ein gefährliches Übergewicht in der Hauptstadt.“

„Verstehe“, murmelte ich. Soviel also dazu, dass ich mich selbst einbringen konnte. Entweder in den Aufräumarbeiten im Turm der Familie oder bei der Evakuierung der Familienlosen in den kontaminierten Vorstädten.

Ich sah herüber zu Megumi, die mit Gina auf einer Couch saß und mit brennenden Augen das Hologramm verfolgte. Sie hatte ein sehr inniges Verhältnis mit Eri aufgebaut, hatte ich mir sagen lassen. Sie war genau wie ich im Ungewissen. Sie war… Noch immer besser dran als Gina, eine ganz normale junge Frau, die ursprünglich ein kleines Restaurant auf der AURORA betrieben hatte, bevor sich herausgestellt hatte, dass die Kronosier ihr die Seele einer ihrer Agenten regelrecht implantiert hatten, um mich zu töten.

Nun, das hatte nicht besonders gut geklappt, mittlerweile verstand ich mich mit der Attentäterin sogar recht gut. Und die zwei begannen sich für die Zeit einzurichten, die sie den Körper von Gina noch teilen mussten. Wenn nicht… Ja, wenn nicht noch eine dritte Seele hinzugekommen wäre.

Wenn Torum Acati nicht Ai Yamagata getötet hätte. Ich wusste nicht wie es möglich war, wie es passiert war, aber der sterbende Leib von Ai-chan war von Gina umarmt worden und ihre Seele – oder ihr KI – war auf Gina Casoli übergegangen. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es in ihrem Kopf nicht manchmal etwas eng wurde.

Dann sah ich zu Henry herüber, meinem besten, ärgsten, treusten und verschlagensten Feind. Ich wusste, dass Ai ihn liebte. Ich wusste auch, dass die Agentin ein Faible für mich hatte. Und es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn Gina nicht tüchtig in Mamoru Hatake verknallt war… Ich korrigierte mich selbst. In ihrem Kopf musste sich eine Kakophonie jenseits allen Vorstellbaren abspielen.

„Habe ich was im Gesicht?“, fragte der ehemalige Legat mit den Elwenfelt-Genen und wischte sich mit einem Taschentuch die Wangen ab.

Ich winkte ab und dachte an Ai. Was, wenn Ai nun die Kontrolle über das Konglomerat gewann und zu Henry ging und… Die Situation war sehr verfahren.

Nicht zuletzt deshalb, weil Henry William Taylor nun in meinen Diensten stand. Ihm gegenüber hatte ich gebeichtet, Ai-chan nicht beschützt zu haben. Er würde mehr als irritiert sein, wenn er die neueste Version erfuhr.
 

Der kreischende Alarm riss mich aus meinen Gedanken. Der Rhythmus war mir neu, ich hatte ihn noch nie gehört. „Eindringlingsalarm?“, fragte ich Sostre, der immer noch neben mir stand.

Der Cousin von Megumi versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht verzog sich nachdenklich.

„Nein, das ist schlimmer, Aris. Viel schlimmer!“

**

Plötzlich hatte es der Begam eilig. Wirklich eilig. Torum Acati überzeugte sich davon, dass die Aufnahmegeräte an seinem Körper funktionierten und alle gesammelten Daten sofort weitergaben und rief hastig Befehle an seine Soldaten und AO-Meister, bevor er sich konzentrierte, sein AO sammelte und mit Gewalt durch die nächste Decke brach. Und durch die übernächste. Und die darauf. Und eine vierte. Und danach die fünfte.

Nach zwanzig Zwischendecken, viele von ihnen verstärkt, um bei einem Unfall als interne Stützen zu dienen, hatte Torum seine Leute, sogar die AO-Meister und die Ritter des Ordens weit hinter sich gelassen. Weit, weit hinter sich. Und somit machte er sehr deutlich, was der Unterschied zwischen einem Mitglied des Rates, einem persönlichen Vertrauten von Meisterin Tevell, und einem normalen Mitglied war. Ein AO-Meister des Ordens war einem normalen Soldaten der Naguad so weit überlegen wie ein Banges, aber Acati übertraf diesen AO-Meister noch einmal erheblich. Man konnte ihn in diesem Zusammenhang ohne weiteres als Fregatte bezeichnen.

Brutal brach sich der Begam Erster Klasse seinen Weg durch die Decken. Das bedeutete Raubbau an seinen Kräften und er würde einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, aber in diesem Moment, in diesem einen Moment diente er nur der Wahrheit. Und er wusste, er würde sich sehr beeilen müssen, um sie noch zu erleben. Es waren nur noch siebzehn Zwischendecks, die er überwinden musste, um bis in die Turmspitze zu kommen.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Turm zu verlassen und die Spitze von außen zu attackieren. Aber er sah in der Attacke durch den Boden eine größere Chance. Mit einem Angriff von außen rechneten die Herren des Turms bestimmt, mit einem AO-Meister, der sich brutal durch die Decken brach vielleicht nicht. Und er musste, es sehen, musste es, unbedingt! Er musste, musste, musste, mit eigenen Augen erleben, was ihn auf der obersten Ebene, dem Büro des Vorsitzenden des Hausrates erwartete.
 

Schwer atmend lehnte er sich gegen die nächste Wand. Die Anstrengung kostete ihren Preis, und selbst er war weder allmächtig noch unsterblich. Er war verflucht und von der Abstammung her anders als die Naguad und trug seine Geburt wie ein Brandmal mit sich herum, aber er diente verdammt noch mal allen Daima auf dieser Welt! Er hatte sich dazu entschlossen, sie zu beschützen, selbst wenn sie ihn verachteten und schmähten! Und kein winziger Schwächeanfall würde ihn daran hindern, seinen Weg fortzusetzen! Nichts hielt ihn auf! Nicht ihn! Nicht den halben Dämon Torum Acati!

„Admiral! Wir sind ja da!“, rief eine aufgeregte Stimme neben ihm.

Kuali Taral, eine Begam Zweiter Klasse, kam mit weiteren neunzehn AO-Meistern durch das Loch geschossen, welches Torum brachial geschaffen hatte. „Sie wollen nach oben, richtig? Wir bahnen Ihnen den Weg, Admiral!“ Die junge AO-Meisterin, die ihrem Turm Arogad schon lange abgeschworen hatte, um für alle Naguad da sein zu können, lächelte ihm ermutigend zu. Dann instruierte sie ihre Begleiter. Vier von ihnen konzentrierten ihr AO, durchbrachen die Decke. Dort nahmen vier neue Meister Aufstellung und erschufen einen weiteren Durchbruch. Nach dem fünften Durchbruch war wieder die erste Gruppe an der Reihe, und so ging es weiter, fünfzehn Zwischendecken, bis sich die Männer und Frauen nur noch schwankend auf den Beinen halten konnten.

Dies war der Augenblick für Torum Acati, Taral und die anderen daran zu hindern, ihren Einsatz fortzusetzen. „Es ist gut. Es ist gut. Ich habe mich erholt. Die letzten beiden Decks kann ich wieder alleine durchbrechen.“ Acati warf einen Blick auf seinen Zeitmesser. Seit Aktionsbeginn waren erst zwanzig Minuten vergangen und er stand schon fast in der Spitze des Turms. Das Überraschungsmoment musste noch immer auf seiner Seite sein.

„Sie haben gute Arbeit geleistet! Sie alle!“, sagte Acati nicht ohne Stolz zu den AO-Meistern.

„Danke, Admiral“, ließ sich Jemm Granadaar vernehmen. „Aber ist Ihnen eines aufgefallen? Seit zehn Durchbrüchen haben wir keinen einzigen Naguad mehr gesehen.“

„Stimmt. Seit der letzten verstärkten Decke haben wir niemanden gesehen. Und die Böden sind mit Staub bedeckt. Viel Staub.“

„Vielleicht ist es besser, wenn ihr euch auf ein tieferes Deck zurückzieht“, murmelte Acati. „Ich bin mir sicher, es ist besser.“

Die AO-Meister sahen auf. Und registrierten, das der Admiral einen Befehl gegeben hatte.

Nacheinander sprangen sie in das von ihnen getriebene Loch und suchten die tieferen Stockwerke auf.
 

Torum Acati hingegen durchbrach die vorletzte Decke.

Oben angekommen sah er sich kurz um. Tatsächlich, auch hier war eine dicke Staubschicht zu sehen. Und die Büros wirkten seltsam leblos, unbenutzt.

Ihm schwante übles. Er konzentrierte sein AO, sprang und brach durch die letzte Decke.

Nun stand er inmitten des Bürokomplexes des Hausrates. Zumindest hätte hier der Bürokomplex des Hausrates sein müssen. Aber stattdessen sah er nur… Biotanks. Dutzende, hunderte Biotanks, dicht an dich gepackt. Es war ein kleines Wunder, dass er bei seinem brachialen Eindringen nicht ein Dutzend oder mehr beschädigt hatte.

Alle Tanks waren besetzt und die Insassen unverkennbar Angehörige des Hauses. Pechschwarze Haare, rubinrote Augen, die leblos zu ihm herüber starrten und zu fragen schienen: Warum bist du nicht früher gekommen, Torum Acati?

Die Haut der Tankinsassen war schneeweiß, ein deutliches Zeichen für das Haus Logodoboro.
 

Torum sah sich aufmerksam um, vergewisserte sich, dass seine Aufnahmegeräte liefen und machte sich auf die Suche nach dem Ratsvorsitzenden des Hauses, Girona Logodoboro.

Die Tanks waren bestens gewartet, die Insassen lebten. Viele starrten ihn an, während er zwischen ihnen hindurch schritt und suchte. Sie waren bei Bewusstsein und Acati fragte sich unwillkürlich, wie lange schon. Vielleicht schon Jahre, Jahrzehnte?

Ihm schauderte bei diesem Gedanken. Ein Biocomputer, hier mitten im Herzen des Imperiums? Das war Verrat. Das war schlicht und einfach Verrat an den Naguad.

Er hatte Recht gehabt, einfach Recht gehabt. Aber er fand nicht das Haupt dieser Verschwörung, konnte der Schlange nicht den Kopf abschlagen. Wo war Girona? Wo waren die anderen Mitglieder des Rates?

„Du bist zu früh, Begam Erster Klasse, Torum Acati“, erklang eine freundliche Frauenstimme hinter ihm.

Der Admiral wirbelte herum. „Was ist hier los? Wo ist der Rat?“

Die Besitzerin der Stimme, das Hologramm einer perfekt stilisierten Logobodoro-Frau, glitt auf ihn zu. „Die Räte sind in den Tanks neunzehn bis einundvierzig. Eingesperrt, wenn du es genau wissen willst.“

„Eingesperrt? Was ist mit Girona? Was mit seiner Familie?“

„Vor dem Angriff ausgeflogen. Sie haben Naguad Prime schon vor Wochen verlassen und dürften im Protektorat der Familie angekommen sein. Hier sind nur noch die Elemente des Supercomputers, der Rat… Und ich. Weißt du, wir sollten hier bleiben, um den Bürgerkrieg zwischen Arogad und Daness zu fördern, zum Wohle des Hauses.“

„Interessant. Warum erzählst du mir das alles? Weil du glaubst, es wird mir nichts mehr nützen?“

„Normalerweise würde es dir nichts mehr nützen, Torum Acati, denn ich habe Befehl, die oberen Stockwerke mit einer atomaren Granate zu sprengen, wenn wir entdeckt werden. Nicht einmal deine Natur als Sohn einer Daimon würde dich vor der Urgewalt einer Nuklearexplosion retten.“

„Du sagst würde. Was hindert dich?“

Das Hologramm strich sich durch das holographische Haar. „Ich will nicht sterben. Deshalb habe ich den Sprengsatz deaktiviert. Und die meisten Logodoboro in den Tanks wollen ebenfalls nicht sterben. Nicht für das Bündnis mit der Core-Allianz. Hast du was dagegen, wenn wir überlaufen, Admiral?“

„Also doch ein Bündnis mit dem Core“, stellte Acati wütend fest.

„Ja, schon seit Jahrhunderten. Logodoboro litt schon immer daran, dass es seine Rolle als Anführer der Migration in der neuen Heimat nicht fortsetzen konnte. Depression und Machthunger sind unstillbare Komponenten, die oft zur Katastrophe führen, verstehst du? Selbst du, der unbestechliche, ewig treue Acati, verstehst du?“

Der Admiral nickte zögernd. „Ich bin Naguad genug, um es zu verstehen.“
 

Acati wandte sich ab und gab eine Anzahl Befehle. Als er sich wieder dem Hologramm zuwandte sagte er: „Den Bewohnern des Turms wird nichts geschehen. Wir schonen die Soldaten wo wir können. Und unsere Medo-Teams sind bereits auf dem Weg hier hoch.“

„Könnt ihr mich zuerst befreien? Es hat lange genug gedauert, mich zum Administrator des Systems aufzuschwingen, es zu infiltrieren und die Sicherheitssysteme auszuschalten. Viel zu lange. Ich sehne mich nach einem weichen Bett.“

„Sicher können wir das.“

„Du bist misstrauisch. Das ist eine gute Eigenschaft, Torum Acati. Aber du wirst schon bald merken, dass du nichts zu befürchten hast. Komm, ich zeige dir meinen Tank.“

Neugierig, aber wachsam folgte der Admiral dem Hologramm. Er blieb schließlich vor einem uralten Logodoboro stehen, dessen Haare fast schon ausgefallen waren. Dennoch lächelte der Mann in seinem Schlaf. „Wenn ich deinen Körper so sehe, muß ich sagen, du hast einen netten Avatar.“

„Was stehst du da hinten rum? Dies hier ist mein Körper, Torum Acati!“

Das Hologramm deutete auf einen anderen Tank, in dem eine schlafende Frau schwebte. Sie sah exakt so aus wie das Hologramm und nicht einen Tag älter als einhundert.

Entsetzt sah Acati zum Hologramm herüber. „Du bist… Du kannst nicht…“

„Doch, ich bin und ich kann. Ich bin Agrial Logodoboro, die Gründerin dieses Hauses, die Anführerin des Exodus und Begründerin der Räte-Regierung. Und dies ist mein Ruheplatz, seit zweitausend Jahren!“

„Du hast dich gut gehalten“, murmelte Acati beeindruckt.

„Danke. Das hört eine Frau wirklich immer wieder gerne.“ Der holographische Avatar errötete und sah beschämt zur Seite.
 

4.

Als Lady Death von Überschlagblitzen überzogen wurde, als der riesige Hawk in die Knie ging und vornüber gesackt verharrte, wusste ich, dass die entspannte Situation viel zu schön gewesen war. Es hatte ja nicht gut gehen können. Einfach nicht gut gehen können.

Megumi wollte zu ihrem Mecha eilen, besann sich aber eines Besseren und zog Gina hinter sich her in Deckung eines Sofas.

Die wenigen anwesenden Sicherheitskräfte des Turms verteilten sich in Schusspositionen vor den Fahrstuhlschächten. Ich selbst versuchte noch zu Megumi zu kommen, wurde aber von Sostre und Henry daran gehindert und ebenfalls hinter ein Sofa gezogen.

„Die Garnituren sind mit Stahlplatten ausgekleidet“, informierte mich der Daness. „Für den Fall eines Angriffs, eines Putsches oder was auch immer dienen sie den Verteidigern als Bastionen.“

„Schießscharten habt ihr wohl nicht eingebaut, oder?“

„Wir werden es bei der nächsten Generation Möbel anmerken“, erwiderte Sostre mit einem dünnen Lächeln. „Immerhin ist das hier mittlerweile deine Immobilie, nicht, Aris?“

„Anscheinend“, erwiderte ich und versuchte Megumi zu entdecken.
 

Dann gingen die Fahrstuhltüren auf. Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen der Verteidiger, als es Daness-Sicherheitsleute waren, die den Raum betraten und absicherten.

Doch mir fiel auf, dass sie einen Verteidigungskordon um den Fahrstuhlschacht einnahmen. Beide Fahrstühle fuhren wieder in die Tiefe und ich wusste, dass diese Daness garantiert nicht meine Freunde waren. Und ich war nicht der einzige der so dachte. Auch Mitne Daness behielt den Kopf unten. Was vielleicht das Sicherste war, solange wir nicht wussten, was hier geschah.

Wieder sah ich zu Lady Death zurück. Unser Trumpf war effektvoll ausgeschaltet worden.
 

Als die Türen erneut aufgingen, spuckten sie einen weiteren Schwall Uniformierter in den Haus-Farben gelb und weiß aus. Und zwischen ihnen kamen zwei Mitglieder des Haus-Rates sowie ein uralter Mann, der sich auf einem alten, knorrigen Stock stützte. In der Hand hielt er ein Buch. Ein Papierbuch im durch und durch vernetzten Daness-Turm?

„Verdammt! Die Räte Logen Daness und Metras Kalis, sowie Markub Tanel, der Vorsteher des Hauses!“

„Vorsteher?“

Sostre grinste mich schief an. „So eine Art Hüter des Stammbaums. Nur leider mit erheblicher Machtfülle ausgestattet. Ich glaube, er hat was gegen deine Verlobung mit Solia, Aris.“

„Und er hat Waffen“, stellte ich zähneknirschend fest.
 

„Wo ist Aris Arogad, das Halbblut?“, rief der Alte mit überraschend kräftiger Stimme.

Ich antwortete nicht. Warum auch? Wenn ich meine Position verriet, geriet ich nur noch mehr in einen Nachteil.

„Wann kommt unsere Verstärkung, Sostre?“, raunte ich.

„Verstärkung? Wir brauchen doch keine Verstärkung“, erwiderte der Daness ebenso leise.

Auf ein Zeichen des alten Mannes eröffneten die Wachen das Feuer. Unsere eigenen Wächter sprinteten in Sicherheit, während wir uns noch etwas tiefer duckten.

Damit waren die Fronten geklärt.

„Aris Arogad, Halbblut aus dem Fleisch der Naguad und der Menschen! Warum versteckst du dich?“

„Weil du auf mich schießen lässt, du alter Sack!“, zischte ich leise.

„Das habe ich gehört!“ Wieder wurde gefeuert, und zu meinem Entsetzen sah ich, wie die Rückwand vom meinem Stück der Garnitur rot aufleuchtete. Scheiße, meine Deckung begann zu schmelzen.

„Ich frage erneut: Wo bist du, Aris Arogad?“

Ich erhob mich. Wenn dieser alte Irre weiterhin wild in der Gegend herum schoss traf er womöglich noch Megumi oder einen der anderen. Gina. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn Gina getroffen worden wäre.

„Ich bin hier. Was wollen Sie, Ehrenwerter Vorsitzender?“

„Schmeicheleien nützen dir nun auch nichts, Arogad!“ Der alte Mann klopfte auf sein Buch.

Der alte Mann fixierte mich, aber ich hielt seinem Blick stand.

Wenngleich ich bereit war, sofort wieder hinter die Stahlplatten zu verschwinden, sollte das nötig werden.

Nun, die Angreifer trugen Projektilwaffen und Laserwaffen, und ich hoffte, dass weder die Projektile selbststeuernd waren, noch sich die Laser durch die Panzerplatten nagen konnten.

„Es ist eine Schande“, sagte der alte Mann zähneknirschend. Er schlug das Buch auf und blätterte darin. „Syrien Kalis, Sohn einer guten Familie, eines ehrenwerten Seitenzweigs, der uns schon immer gute Soldaten, gute Verwalter und auch schon Admiräle geschenkt hat.

Und Meia Daness aus der Hauptlinie, Tochter von Mitne, dazu bestimmt, dem Haus einst einen würdigen Rat zu gebären und den Erhalt der Familie zu sichern.

Aus ihnen entstand Solia Kalis. Soldatin, Kriegerin, Heldin einer fernen Welt namens Erde.

Du, Halbblut, teils Arogad, teils Mensch, willst diese Frau heiraten? Diesen Turm übernehmen und ihr die Erde schenken?“

Der alte Mann senkte den Blick. „Es sei dir vergeben. Nimm deine Gefolgsleute und verlasse den Turm, Halbblut.“
 

Ich konnte nicht so recht sagen, aber der alte Mann ging mir mächtig auf die Nerven. „Und wenn ich mich weigere?“

„Du kannst auch gerne noch hier bleiben, bis du die Sinnlosigkeit deines Tuns einsiehst“, antwortete der Alte ungerührt. Er zog einen langen roten Stift aus seiner Jacke und machte gerade Striche in seinem Buch.

„Verdammt“, klang Sostres Stimme neben mir auf.

„Was ist passiert?“

„Er streicht uns aus dem Hausbuch. Drei… Vier. Fünf, sechs… Er hat mindestens sechs Personen raus gestrichen. Die Frage nur, ob er uns aus der Familie gebannt hat oder tot sehen will. Aber wie man es dreht und wendet, dein Deal mit dem Rat ist damit fast gestorben, Aris.“

„Der Deal, der diesen verdammten Turm und das Haus Daness retten sollte“, zischte ich zu Sostre in seiner Deckung herab. „Und einen Bürgerkrieg verhindern sollte.“

„Erzähl das nicht mir, sag es dem alten Knacker da drüben“, erwiderte Sostre gereizt.

Der Alte verstaute den Stift wieder und sah auf. „Syrien Kalis! Meia Daness! Mitne Daness! Jeter Kalis! Lyda Daness! Solia Kalis! Ihr seid aus dem Buch gestrichen!“

Sein Blick ging über die Möbel. „Sostre, komm.“

Ich sah hinab, wechselte einen langen Blick mit dem jungen Daness. Der grinste schief als er antwortete: „Um mit den blumigen Worten der Erdenmenschen zu sprechen: Du kannst mich mal, alter Sack!“

Ich musste prusten, biss mir beinahe in die Faust, um mir das Lachen zu verkneifen.

Aber der Vorsteher reagierte nicht so wie ich erwartet hatte.

„Du setzt die Schande fort, die deine Vorfahren über dieses Haus bringen wollten, als sie einer Verbindung mit einem Arogad zugestimmt haben.“ Er ergriff wieder den Stift und klappte das Buch erneut auf. „Sostre Daness. Du bist aus dem Buch gestrichen.“

Er sah seine beiden Begleiter Logen und Metras an, die nun nickten. Markub Tarnel sah in meine Richtung. „Geh in deinen Turm zurück, Arogad-Halbblut. Hier gibt es für dich nichts mehr zu gewinnen.“

„Ich weigere mich“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Nun gut. Commander, töten Sie alle anwesenden Daness, aber achten Sie darauf, dass das Halbblut und seine Gefolgsleute überleben.“

„Denkst du, so leicht lassen wir uns abschlachten? Solia, dein Hawk!“, rief Sostre.

Megumi reagierte sofort, sie sprang auf und lief auf Lady Death zu.

Markub Tarnel lächelte düster und hielt einen schwarzen Gegenstand hoch. „Ich habe mit dieser Entwicklung gerechnet. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass ich den Banges jederzeit ausschalten kann.“

„Komisch“, erwiderte Sostre, „damit habe wiederum ich gerechnet und dafür gesorgt, dass der Hawk trotzdem funktioniert!“

Urplötzlich erwachte Lady Death zum Leben, öffnete ihre Cockpitluke und ließ Megumi ein. Danach richtete der Mecha sich zur vollen Größe auf.

„Ich bin nicht umsonst seit fünfzehn Jahren Erbe des Hausvorsitzes und lebe immer noch – bei solchen Verwandten“, erklärte Sostre grinsend.

Sicherheitshalber ging ich in Deckung, nur für den Fall, dass die Haustruppen den Kampf mit einem voll bewaffneten Mecha wagten. „Ich glaube, wir sollten das Buch leicht korrigieren, oder?“

„Du darfst es halten, ich nehme den Radiergummi.“ „Einverstanden.“

„Also“, hörte ich Megumis verstärkte Stimme über die Lautsprecher von Lady Death, „wer will zuerst?“
 

Epilog:

Der Regierungshubschrauber näherte sich weiter dem Dach, während weitere Brocken abrutschten und in die Tiefe fielen.

Gerade löste sich ein besonders großer Brocken und stürzte hinab.

Dann geriet eine ganze Partie ins Rutschen, es gab einen Lichtblitz, und der Pilot hatte alle Mühe, um nicht von fort geschleuderten Trümmerstücken getroffen zu werden.

„Das war knapp“, keuchte er erleichtert.

Sein Co-Pilot indes starrte entsetzt aus der Cockpitscheibe.

Der Pilot folgte dem Blick und erstarrte. Die Trümmer waren zum größten Teil fort, und inmitten der nun freien Oberfläche stand eine schlanke, schwarzhaarige Frau. Sie war von einem Kordon aus Licht umgeben, ja sie schien geradezu zu brennen. In weitem Umfeld um sie brannte die Luft im goldenen Licht. Neben ihr lagen fünf Naguad auf dem Boden, man konnte nicht erkennen, ob sie verletzt waren.

Ein letztes Mal geriet ein großes Trümmerfeld ins Rutschen, und während es über den Rand kippte, fiel der abgetrennte Unterarm eines Naguad auf den Hubschrauber zu, prallte gegen die Panzerung und fiel dann haltlos in die Tiefe.

„Wir brauchen sofort Medizinisches Personal auf der obersten Ebene! Sofort!“

Verlust

Prolog:

Als ich auf dem Vorplatz des Arogad-Turms landete, fühlte ich mich merkwürdig, es war beinahe ein wenig wie heim zu kommen. Dennoch. Unser Haus in Tokio, ja sogar das Haus in der AURORA würde immer und jederzeit für mich mehr Zuhause sein als dieser drei Kilometer große Gigant.

Vor allem deshalb, weil meine gesamte Sammlung in diesem Moment an Bord der AURORA war. Wütend ballte ich die Hände. Hoffentlich ging Doitsu pfleglich mit ihr um. Hoffentlich ging er pfleglich mit dem Haus um.

Wenn ich richtig nachrechnete, war er gerade der einzige Bewohner des großen Anwesens, und ich fragte mich, ob ihm in dem leeren Kasten nicht die Decke auf den Kopf fiel.

Falls ihm der Core überhaupt Zeit ließ, um in dem Haus Ruhe zu finden.

Bei dem ganzen Ärger, dem wir in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen waren, bezweifelte ich das.
 

„O-nii-chan!“ Bevor ich mich versah, hing Yohko an meinem Hals. „O-nii-chan, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Dir geht es gut? Du bist unverletzt? Megumi, Gina, er ist doch in Ordnung?“

Die beiden angesprochenen Frauen lächelten leicht.

„Ihm geht es gut, Yohko. Eigentlich ist es ihm zu verdanken, dass wir alle unverletzt sind“, erwiderte Megumi schmunzelnd.

„Na, danke. Und ich zähle also nicht“, brummte Henry verstimmt. Er hatte einen rot glühenden Stahlsplitter in die linke Schulter bekommen. Die Wunde war nicht sehr tief, zudem kauterisiert, aber die Zellschäden durch die enorme Hitze waren recht dramatisch gewesen. Unter dem dicken Verband waren drei Prozent seiner Haut verbrannt worden.

Mit der Naguad-Technologie keine große Herausforderung, zugegeben, aber er hätte durch den Schock ohne weiteres sterben können.

„So habe ich das nicht gemeint“, erwiderte Megumi. „Es fällt mir zwar etwas schwer, meinen alten Erzfeind Taylor jetzt als Verbündeten betrachten zu müssen, aber das schaffe ich sicherlich irgendwann. Was ich meinte ist ernsthaft verletzt. Oder behindert dich dieser Kratzer etwa?“

„Kratzer ist gut. Der Splitter hätte mir beinahe den Arm abgerissen.“

„Akira, alter Junge. Schön zu sehen, dass es dir gut geht“, rief Yoshi und klopfte mir auf die Schulter. „Schönes Husarenstück hast du da abgeliefert. Na, wollen wir vielleicht bei der Gelegenheit nicht gleich das ganze Imperium erobern? Du würdest es schaffen.“

Er zwinkerte mir zu und ich fühlte wie ich rot wurde. „Rede nicht so einen Stuss, ja? Was soll ich mit einem ganzen Imperium? Ist mir viel zu viel Arbeit.“

Yoshi wandte sich ab, barg sein Gesicht in den Händen. „Verdammt, er hat drüber nachgedacht. Er hat wirklich drüber nachgedacht. Ich kriege die Krise.“

„Yohko-chan, wie lange willst du ihm noch am Hals hängen?“, tadelte Joan Reilley.

„Such dir nen eigenen großen Bruder“, scherzte meine kleine Schwester.

„Hat dir dein Vater nicht beigebracht, dass geteilte Freude die größere Freude ist?“, erwiderte Joan.

„Ja, und geteilte Schokolade ist halbe Schokolade.“

„Ist das normal? Oder muss ich mir Sorgen um Akiras Sicherheit machen?“ Argwöhnisch sah Sora Fioran zu Franlin, meinem Sekretär, herüber.

Der zuckte in menschlicher Geste mit den Achseln. „Frag mich nicht. Je länger ich in der Nähe von Meister Aris bin, desto mehr nähere ich mich einer Reizüberflutung. Ich wünschte, jemand würde ihn fest ketten und in den Boden betonieren, damit ich ein wenig aufholen kann.“

Henry lachte laut auf. „Ja, das passt zu meinem Fliegerjungen.“
 

Er klopfte mir auf die Schulter. „Wenn du nichts dagegen hast, dann nehme ich meine Recherchen wieder auf. Ich habe da ein paar Querverweise in den Daness-Archiven gefunden, die ich im Logodoboro-Turm weiterverfolgen muss. Kannst du mit deinem Busenfreund Torum Acati reden, damit ich in den Turm komme? Und am besten frei bewegen kann?“

Ich runzelte die Stirn. „Fragen kann ich ihn, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich Erfolg haben werde. Immerhin bin ich nicht der Vorsitzende des Arogad-Hausrates.“

Glücklicherweise, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Was denn, was denn, hat dir der Ausflug zur Macht nicht gefallen?“, tadelte Oma belustigt. Flankiert von ihrer neuen Adjutantin Aria Segeste trat sie ebenfalls auf den Vorplatz.

„Nicht wirklich. Macht bedeutet Verantwortung, Verantwortung bedeutet Arbeit, Arbeit bedeutet weniger Schlaf, und weniger Schlaf bedeutet keine Mangas lesen. Also: Nein.“

Ich legte den Kopf schräg und sah an Oma vorbei. „Oren kommt nicht? Hat er zu tun?“

„Dein Uropa liegt gerade in einem Biotank.“ Eridia senkte den Blick. „Ich konnte ihn nicht vollständig schützen, deshalb traf ihn ein besonders großer Felsbrocken und zertrümmerte seine Wirbelsäule.“ Oma ballte die Hände zu Fäusten. „Ich konnte nicht alle beschützen.“
 

Die Fakten waren mir bekannt. In den oberen Etagen hatten über achtzig Menschen gearbeitet, unter ihnen der geschlossene Hausrat.

Bei den Sekundärexplosionen durch den atomaren Angriff waren über die Hälfte umgekommen. Nur gut dreißig Personen, von denen neun unter den Trümmern überlebt hatten, waren dem Inferno entkommen. Gut für alle, die in Omas Nähe gewesen waren. Sie hatte mit ihren überlegenen KI-Kräften getan was sie konnte, um die anderen zu beschützen.

Genau wie ich im Daness-Turm.

„Wie lange muß er da drin bleiben?“

„Mindestens zwei Tage. So lange bin ich hier der Boss.“ Oma grinste mich an. „Oder willst du den Job weiter machen? Hast dich ja bewährt, drüben bei den Daness.“

Sostre Daness, der bisher geschwiegen hatte, grinste schief. „Das kann ich nur bestätigen, Meister Arogad. Der Junge hat Potential.“

„Das ist eben mein O-nii-chan“, bemerkte Yohko.

„Äh“, sagte ich verlegen, „Schwester, ich finde es ja gut, dass du dich so freust, aber würde es dir etwas ausmachen, mich wieder…?“

„Jetzt ist aber genug!“, riefen Yoshi und Megumi synchron und brachen Yohkos Griff um meinen Nacken.

Megumi legte einen Arm um meine Schultern und legte ihren Kopf an meine Brust. „Das ist mein Akira. Du hast da deinen eigenen.“

Yoshi hielt meine Schwester von hinten umarmt und drückte sie an sich. „Genau, du hast deinen eigenen Akira… Megumi, meinst du mich damit? Hey, ich bin nicht ihr Akira, ich bin ihr Yoshi.“

„Das war nicht als Wertung gemeint, sondern als Bezeichnung.“ Sie lächelte mich an. „Immerhin haben wir uns vor dem ganzen Imperium der Naguad offiziell verlobt, oder? Und ihr zwei…“

Yohko schluckte hart. Ihr Blick zuckte gehetzt zu Yoshi, dann zu mir und Megumi, danach wieder zu Yoshi. Sie begann zu rennen, kam aber nicht einen einzigen Meter voran, weil Yoshi sie wohlweislich vom Boden gehoben hatte.

„YOSHI! Das ist unfair!“

„Das wäre nicht nötig, wenn du nicht immer fliehen würdest. Ich habe hier was in meiner Tasche, das…“

„ICH WILL ES NICHT HÖREN!“ Wütend strampelte sie in seinem Griff.

„Aber ich will doch nur…“

„ICH WILL ES NICHT HÖREN!“ Sie stieß den Kopf hart nach hinten, erwischte Yoshis Kinn und brach damit dem Griff. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, lief sie zurück in den Arogad-Turm.

„YOHKO!“

Ich runzelte die Stirn. „Entschuldige bitte, bester Freund, aber ich verstehe nicht ganz, was hier vorgefallen ist.“

„Willkommen im Club. Ich verstehe es auch nicht.“
 

„Wie dem auch sei. Als Oberhaupt des Hausrats der Arogad heiße ich euch hiermit herzlich willkommen, Sostre Daness und Solia Kalis.“ Oma deutete eine Verbeugung an.

„Seid meine Gäste und fühlt euch während eures Aufenthaltes im Turm der Arogads wie Zuhause. Wir haben viel zu besprechen, und das meiste davon betrifft die Zukunft aller Naguad. Vielleicht sogar aller Daima.“

„Ich hasse es, wenn du so dramatisch wirst, Oma“, murrte ich, löste mich von Megumi und ging auf den Eingang zu. „Und vor allem hasse ich es, wenn es sinnvoll ist.“
 

1.

Drei Tage nach den Vorfällen um die Türme der Arogad und Daness, drei Tage nach dem Sturm auf den Logodoboro-Turm, versammelte sich der Rat der Naguad.

Die ranghöchsten Angehörigen aller Häuser, so sie sich im System befanden, waren ebenso anwesend wie der Stab der Admiralität und die geschlossene Regierung.

Des Weiteren waren die Vertreter kleinerer Häuser und freier Organisationen zugelassen worden. Sie hatten kein Stimmrecht, aber ihnen war erlaubt an den Debatten teilzunehmen.
 

Torum Acati beendete seinen Bericht über den Sturm auf den Turm der Logodoboro mit den Worten: „Ich entschuldige mich dafür, dass wir den Verrat des Hauses Logodoboro nicht früher erkannt haben. Dass wir die Verbindungen dieses Hauses zur Core-Zivilisation erst so spät erkannt haben. Dass die Verantwortlichen um Girona Logodoboro unserem Zugriff entkommen sind. Ich übernehme die volle Verantwortung.“

Torum Acati setzte sich wieder.

Innenminister Jorm Ksetral erhob sich stattdessen. „Ich möchte dem Bericht von Admiral Acati einiges hinzufügen. Zuerst einmal: Es ist nicht sein Versagen, sondern das des Geheimdienstes. Dass der Admiral diese Verschwörung aufgedeckt hat, ist ein Wunder, welches uns zur rechten Zeit geschehen ist.

Nach der Kaperung der LOKTAR, dem Daness-Schiff, das auf den Arogad-Turm gefeuert hat, wissen wir, dass es Agenten der Logodoboro waren, die diesen verabscheuungswürdigen Angriff ausgeführt haben. Wir kennen ihre Intentionen: Nämlich einen Bürgerkrieg zwischen unseren beiden stärksten Häusern auszulösen. Dass dies nicht gelungen ist, verdanken wir einzig und alleine einem besonnenen jungen Mann, Sostre Daness, weil er verrückt genug war, auf diesen Rebellen und Aufwiegler Aris Arogad zu hören und ihm bei seinem Handstreich zu helfen.“

„Das war nicht ganz die Wortwahl, die ich erhofft hatte“, raunte ich Oren Arogad, meinem Urgroßvater, zu. Er war zwar erst wenige Stunden aus ärztlicher Obhut entlassen, aber diese Sitzung hatte er einfach nicht verpassen wollen. Nun, mir konnte es recht sein.

„Sei froh. Ich hätte für deine Wahnsinnstat noch ganz andere Worte gefunden“, schmunzelte der Ältere.
 

„Dennoch“, fuhr der Innenminister fort, „hatte der Plan der Logodoboro teilweise Erfolg. Auch wenn es nicht zum Bürgerkrieg kommen wird, da Arogad und Daness vor drei Tagen ein festes Bündnis eingegangen sind, so haben Logodoboro-Truppen doch im gesamten Imperium Unruhe verbreitet. Wir wissen alle, dass Logodoboro lediglich einen der siebzehn Verwaltungsbezirke kontrolliert. Dafür aber haben sie Kontrolle über vier Marken und Einfluss in weiteren fünf.“ Über dem Minister entstand ein Hologramm mit der Struktur des Imperiums. Die verschiedenen Regierungsbezirke, blau dargestellt, gruppierten sich um das Nag-System und bildeten eine unförmige Kugel. Davon umgeben waren sie mit einem Halo aus Schutzmarken, die rot dargestellt waren. Marken, in denen Logodoboro aktiv war, wurden gelb schraffiert dargestellt.

Ich keuchte erschrocken auf, als ich eine der Marken als das Kanto-System identifizierte.

„Wie Sie alle erkennen können und wie uns lange bekannt war, liegen sowohl der von Logodoboro kontrollierte Regierungsbezirk als auch die Marken relativ eng beieinander. Genauer gesagt befinden sich zwei Marken in der akuten Gefahr, zwischen den von Logodoboro kontrollierten Marken zerquetscht zu werden. Eine dieser Marken ist Kanto. Im Kanto-System befindet sich zudem die Regionaladmiralität, und damit die Kontrolle über unsere Flotten in vier Marken. Fällt die Mark Kanto, verlieren wir ein Achtel unseres Gebietes.“

Weitere Effekte wurden hinzugeschaltet. In einzelnen Marken und Regierungsbezirken wurden Planeten hervorgehoben. Datenfenster entstanden neben ihnen und gaben Informationen preis.

„Wir können nicht ermessen, in welchem Zustand wir uns befinden würden, wenn Arogad und Daness sich genau in diesem Zeitpunkt bekämpfen würden. Aber der jetzige Zustand ist schlimm genug. In fünf weiteren Marken kam es zu Aufständen, zwei Regierungsbezirke haben sich offiziell vom Imperium losgesagt.

Zudem wurden, eindeutig und unmissverständlich, Core-Truppen im Kanto-System entdeckt. Es ist noch nicht verifiziert, aber die Logodoboro-Schiffe der ursprünglichen Strafexpedition für Lorania haben die anderen Schiffe des Verbandes angegriffen und mehrere Schiffe versenkt oder schwer beschädigt. Unter den besonders schwer getroffenen Schiffen befindet sich die AROGAD, das Flaggschiff des Hauses.

Wir können das erst als Anfang sehen. Es wird weitergehen und es wird schlimmer werden. Mit Unruheherden über das halbe Imperium verteilt können wir das Logodoboro-Gebiet nicht befrieden. Und mit dem Bündnis mit der Core-Zivilisation verfügen die Logodoboro womöglich über weitere Schiffe. Wie viele es sein können ist unmöglich vorauszusagen. Aber wenn wir die Zahlen als Anhaltspunkt nehmen, die uns von früheren Raids bekannt sind, wenn wir die Schiffe während des Raids im Kanto-System heran nehmen, rechne ich mit mindestens zweitausend Raider-Schiffen.“

Erschrockenes Raunen antwortete dem Innenminister. Auch wenn jedes Raider-Schiff lediglich einer Fregatte entsprach, bei dieser Zahl, dieser Größenordnung waren sie weitaus mehr als eine Gefahr, sie waren eine Nemesis für das Imperium. Jeder einzelne Bürger war bedroht, egal ob in den Marken oder den Bezirken. Sogar die Erde war bedroht.
 

Sostre Daness erhob sich. „Danke, Innenminister Ksetral. Aber es hat nicht dieser Worte bedurft um uns klar zu machen, wie sehr wir in Schwierigkeiten stecken.

Die Frage, die sich uns nun stellt ist schlicht und einfach: Was tun wir jetzt? Befrieden wir die rebellierenden Marken, bestrafen wir Haus Logodoboro? Suchen wir nach dieser Raiderflotte, igeln wir uns ein? Was wird unser nächster Schritt sein? Ich werde ihnen allen sagen, was wir jetzt tun sollten: In diesem Moment ist die Core-Zivilisation verletzlich wie nie zuvor. Senden wir eine Expedition aus und vernichten wir ihre Kernwelten!“

Wieder wurde geraunt.

„Diese Gelegenheit ist vielleicht einmalig. Mit dem Verrat von Logodoboro hat der Core ein riesiges, zusätzliches Gebiet zu schützen! Raider-Schiffe, die den Logodoboro helfen, können aber die Heimatwelten nicht verteidigen! Schlagen wir zu!“

„Ich bin dagegen.“ Als die sanfte Alt-Stimme aufklang, verstummten die Naguad. Sostre Daness schloss den Mund und starrte die Sprecherin an.

Die kleinen Diskussionen im Rat und in den Zuschauerrängen erstarben. Alle Blicke richteten sich auf die Logodoboro-Tische, die bis auf drei Naguad leer waren.

Die Sprecherin erhob sich. Ihr langes schwarzes Haar trug sie zu zwei schweren Zöpfen geflochten, die sie je über die Schulter nach vorne drapiert hatte. Ihre roten Augen blitzten aggressiv und spöttisch in dem schneeweißen Gesicht.

„Agrial Logodoboro, bitte sprechen Sie.“
 

Ich runzelte die Stirn. Natürlich hatte ich auch die Berichte gelesen; was die Ratstruppen im Logodoboro-Turm gefunden hatten. WEN sie gefunden hatten. Aber das erklärte nicht, warum ein Angehöriger eines Verräterhauses sofort das Recht zu sprechen bekam, wenn er danach verlangte. Ja, verlangte.

Oren bemerkte meine Unsicherheit und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du musst das verstehen, Aris. Agrial Logodoboro ist die letzte überlebende Anführerin des Exodus von Iotan. Ihr Haus selbst war federführend in den meisten Aktionen. Sie ist eine schillernde Gestalt in unserer Geschichtsschreibung, und ich hätte nie gedacht, diese Frau, nein, diese Legende einmal mit eigenen Augen zu sehen.“

„Aha“, machte ich verständnisvoll und hatte doch nichts kapiert.

Ihre roten Augen sahen spöttisch zu mir herüber. „Wenn der Sprecher des Hauses Arogad dann fertig ist, würde ich gerne das mir zugesprochene Sprachrecht wahrnehmen.“

Ich schnaufte missmutig. Sie brauchte mich nicht derart vorzuführen. Sie hätte auch so anfangen können. „Bitte, Miss, beginnen Sie.“
 

Erschrocken sprachen die Anwesenden durcheinander. Irritierte, ja, ängstliche Blicke trafen mich.

„Aris, was tust du da? Du kannst doch Agrial nicht Miss nennen!“

„Ist sie etwa verheiratet?“, fragte ich erstaunt.

„Nein, aber…“

„Dann habe ich nichts falsch gemacht“, erwiderte ich trotzig. Wenigstens einen Punkt wollte ich gegen diese Frau haben. Obwohl ich noch nicht mal wusste, ob wir uns überhaupt streiten würden. Und ob es dabei um das sammeln von Punkten ging.

„Danke, Aris Arogad“, erwiderte sie amüsiert. Irrte ich mich, oder zeichnete sich eine feine Röte auf ihren Wangen ab? Hübsch war sie in jedem Fall, und bestimmt sah sie nicht aus als wäre sie viertausend Jahre alt.

„Sostre Daness. Dein Vorschlag ist gut. Und es ist die richtige Aktion, die wir jetzt in Angriff nehmen sollten, jetzt, wo mein Haus Logodoboro so offen Verrat begangen hat.

Aber wir können es nicht.“

Ich erwartete Aufregung im Saal, aber die Naguad hingen an den Lippen dieser Frau.

„Logodoboro ist nicht der einzige Verräter“, fügte sie hinzu und erntete damit die ersten entsetzten Rufe.

„Während meiner Zeit im Biocomputer hatte ich Zeit, unendlich viel Zeit, um Fakten zusammen zu tragen. Ich kann leider kein Haus mit Namen benennen. Aber die Daten, die ich gesammelt habe, sprechen für sich. Es gibt ein weiteres Haus, welches mit der Core-Zivilisation zusammen arbeitet.

Die entsprechenden Fakten habe ich als Dossier an die Regierung gehen lassen. Aber soweit ich weiß sind die Analytiker noch dabei, sich durch die Daten von dreitausend Jahren zu arbeiten.

Deshalb können wir die Gelegenheit nicht zur Offensive nutzen. Die Gefahr, dass das zweite Haus uns dann in den Rücken fällt, wenn wir es am wenigsten erwarten, ist viel zu groß. Die Gefahr zu scheitern, ja vernichtend geschlagen zu werden ist zu groß. Es gibt Hinweise auf ein Haus, ja, aber genauso auf vier weitere Häuser, sogar auf Daness und Arogad. Wer immer die Logodoboro für den Verrat aufgestellt hat, er hat das zweite Haus perfekt verborgen.“
 

„Unter diesen Umständen ziehe ich meinen Vorschlag zurück.“ Sostre grunzte unwillig. „Wenn Agrial Logodoboro Recht hat – und daran zweifle ich nicht – bleibt uns nur eines. Wir müssen unsere derzeitigen Grenzen festigen und alles daran setzen, das zweite Verräterhaus zu identifizieren. Auch wenn dies bedeutet, dass Logodoboro genügend Zeit hat, seine Verteidigung auszubauen oder sogar einen Angriff zu planen.“

„Und wie sollen wir unsere Grenzen festigen? Jedes Haus und der Rat für sich? Misstrauisch und ablehnend gegen alles und jeden?“, fragte der Innenminister?

Agrial hob die Hand. „Natürlich nicht. Wir können und dürfen uns bei der Jagd nach dem zweiten Verräterhaus nicht gegenseitig aufbringen. Das wäre ein fataler Fehler. Und es würde uns alle in Chaos stürzen, da die Hinweise, die ich gesammelt habe, darauf hindeuten, dass Einzelpersonen oder kleine Gruppen in jedem Haus entweder mit dem Core sympathisieren oder sogar mit ihm zusammenarbeiten. Wir können nicht jeder gegen jeden kämpfen.

Nein, wir müssen weitermachen wie bisher. Die Häuser müssen ihre Zusammenarbeit pflegen. Um ein Beispiel zu nennen: Dort wo sich Fioran und Arogad begegnen, muss die Zusammenarbeit weiterhin fortgeführt werden. Dort wo sich Daness und Bilas verbündet haben, muss das Bündnis weiter ausgeführt werden.

Selbst wenn das Verräterhaus alle Bündnisse kappt, seine Partner verrät und Krieg säht, so werden die anderen Bündnisse noch immer existieren und unsere Kraft geschwächt, aber nicht vernichtet sein. Dies müssen wir so lange tun, bis die Verräter entlarvt und entwaffnet sind.

Aber ein gutes hat die Entwicklung. Wir können zwei Häuser komplett vom Verdacht freisprechen, mit dem Core zusammen zu arbeiten. Sie sind bestenfalls von Einzelpersonen oder kleineren Grüppchen infiltriert worden, die dem Core zuarbeiten.

Es sind die beiden Häuser, die gegeneinander ins Chaos gestürzt werden sollten: Arogad und

Daness. Es hätte keinen Sinn gemacht, die beiden in einen Krieg zu treiben, wenn eines von ihnen auf Seiten des Cores stehen würde.“
 

Sie erhob sich, trat vor die Tische. „Deshalb, zum Wohle des Imperiums, zum Wohle der einfachen Bürger, die wir geschworen haben zu beschützen, zum Wohle der Häuser, rufe ich die Häuser Arogad und Daness auf, ihre Zusammenarbeit fortzusetzen. Beide Häuser sind unsere beste Hoffnung, die schweren Zeiten in die wir getrieben werden, zu überstehen.

Aris Arogad, ich vertraue dir die Zukunft unseres Volkes an.“

Ich sprang auf. Mehr aus einem Reflex als augrund einer Emotion. Warum ich? Warum sprach sie mich direkt an? Warum bürdete sie mir so etwas auf? Ich war dagegen! Definitiv dagegen! Es war doch sowieso egal, wen sie ansprach und ihm wortgewaltig wer weiß was aufbürdete. Aber wenn sie schon jemanden mit Namen hervorhob, warum dann nicht Sostre? Oder Oren?

Ich hatte wahrlich genug mit der Erde und dem Kanto-System zu tun, ich konnte nicht auch noch die Naguad retten!

Dennoch hörte ich meine eigene Stimme, trocken und kratzig, wie sie sagte: „Ich gebe mein Bestes.“
 

2.

Das Mädchen mit den bräunlich grünen Haaren stand auf dem sonnenbeschienenen Hügel. Es hatte beide Augen fast geschlossen und bewegte sich nicht. Es sah beinahe so aus, als genieße es lediglich die Sonne.

Doch rund um sie entstanden und vergingen permanent Hologramme, die sie mit sanften, kaum wahrnehmbaren Worten steuerte, leichte Bewegungen mit den Händen vervollständigten ihre absolute Kontrolle. Die Daten liefen dabei so schnell über die Hologramme hinweg, dass kaum mehr als Schemen zu sehen waren.

Die große, schlanke und strenge Frau mit dem Kapuzenkleid trat neben das Mädchen und beobachtete ihr Tun eine Zeitlang. Aber sie sagte nichts.

Endlich erloschen alle Hologramme auf einen Schlag. „Ich… Verstehe“, sagte das Mädchen ernst. Viel zu ernst für die weichen Augen, viel zu ernst für das beinahe noch kindliche Gesicht.

„Du verstehst was, Prinzessin?“

„Ich verstehe ein wenig mehr als zuvor. Und ich verstehe uns selbst besser, ebenso wie ich unsere Gegner besser verstehe.“

Das Mädchen ließ ein neues Hologramm aufgehen, in dem die Erde zu sehen war. „Vielleicht verstehe ich auch bereits viel zu viel. Vielleicht ist es nicht gut, so sehr zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich den Krieg jetzt noch führen kann, jetzt, wo ich so viel mehr weiß.“

Die strenge Frau nickte. „Du bist noch weit entfernt vom absoluten Wissen. Nicht einmal ich weiß alles, was in dieser Welt an Daten und Fakten versammelt ist. Sogar ich muß eine Auswahl treffen, um nicht wahnsinnig zu werden.

Aber du hast dir einen riesigen Themenkomplex erarbeitet, weit mehr als du brauchst, um diesen Krieg zu führen und zu gewinnen. Oder zu verlieren.“

„Verlieren? Ich habe nicht vor zu verlieren!“, beschwerte sich das Mädchen.

Die Ältere schmunzelte. Es war die erste Emotion, die sie bis zu diesem Moment je gezeigt hatte. „Ich selbst habe schon einen Krieg verloren. Verloren, weil ich zu sehr gefangen war in meinem Wissen. Ich kannte meine Gegner zu gut. Ich habe sie geliebt. Ich verlor mich in ihnen und gab den Daima deshalb den Vorzug über mein eigenes Volk. Ich verlor und zog mich zurück. Der Preis den wir bezahlt haben war hoch, aber auch nur ein kleiner Rückschlag. Es hätte uns vernichten können, aber die Daima kamen uns nicht nach. In ihrem Siegestaumel beließen sie es bei dem, was sie erreicht hatten.

Aber damals wäre ich bereit gewesen, alles zu verlieren und alles aufzugeben. Ich habe sie geliebt, meine Daima, und ich habe mir gewünscht…“ Die Frau verstummte. Auf ihrem Gesicht spielten sich weitere Emotionen ab. „Es war nicht gut. Meine Wünsche wurden nicht erfüllt, meine Träume enttäuscht. Und das schlimmste ist, ich habe emotional gehandelt, wider mein besseres Wissen.

Prinzessin, es ist gut, dass du soviel wie möglich über deinen Gegner wissen willst. Es ist in Ordnung, wenn du deinen Feind lieben lernst. Aber zum Wohle aller Daima. Zum Wohle aller Daina. Du musst dieses Mal siegen.“
 

Das Mädchen schwieg dazu. Wind kam auf, zerfurchte ihr Haar, spielte mit dem Saum ihres schwarzen Kleides, wehte es auf. Es griff sich mit einer Hand ins Haar, hielt es davon ab, in ihr Gesicht zu wehen. „Ist… Ist es ein Spiel?“ Zweifelnd sah es die Ältere an. „Ein virtuelles Spiel, das wir seit Generationen spielen?“

Die Frau mit dem schwarzen Kapuzenkleid verlor ihr Lächeln. „Nein, Prinzessin. Es ist kein Spiel. Es ist bitterer Ernst. Und jeder Daima der stirbt wird niemals mehr wiederkehren. Niemals. Keine Macht wird ihn jemals wieder zurückholen.“

„Das verstehe ich nicht. Hier…“

„Hier!“, begann die Frau und machte eine weit ausholende Geste, die sowohl die Daima vor ihnen als auch die Daina hinter ihnen umfasste. „Hier ist das Paradies. Hier gibt es keinen Krieg, keinen Hunger, keinen Streit und keinen Hass. Hier gibt es nur Frieden und Eintracht! Hier ist die Vollkommenheit zuhause.“

Wieder lächelte sie, beugte sich vor und strich dem Mädchen über den Kopf. „Aber das Paradies ist nicht das letzte Wort. Finde deinen eigenen Weg und finde deinen eigenen Platz, Prinzessin. Und vergiss nie, für wen du dies alles tust.“

Unsicher sah das Mädchen auf das Hologramm der Erde. Es wechselte, zeigte Schiffe, Raumstationen, Gesichter wichtiger Soldaten und Menschen der Erde und blieb schließlich bei einem Gesicht stehen.

Es wirkte mürrisch, beinahe verschlossen, machte den Besitzer älter als er war. Aber in seinen Augen war Lebendigkeit, die faszinierte. Und die feinen Fältchen um die Augen bewiesen, wie sehr und wie gerne er lachte.

„Ich will ihn sehen“, sagte das Mädchen bestimmt. „Er wird mir Antworten geben.“

„Wie du wünschst, meine Prinzessin.“

Die große Frau verbeugte sich leicht vor dem Mädchen und wandte sich ab.
 

3.

Während die Stadt in Aufruhr war, während die Vorstädte unter radioaktivem Staub litten, gingen zwei Frauen durch einen Dachgarten des Logodoboro-Turms. Er befand sich in zwei Kilometer Höhe, also jenem Bereich, der noch nicht versiegelt und verlassen war und dementsprechend gepflegt worden war. Die Kämpfe hatten ihn nicht erreicht, und die riesigen Fenster, die Wind und Eiseskälte abhielten waren nicht zerstört worden.

Die eine Frau hatte sich das Unmögliche zur Aufgabe gemacht. Sie wollte aus dem, was die Kollaborateure übrig gelassen hatten, einen neuen Turm Logodoboro formen.

Und sie wollte die Schiffe einfordern, die von Rechts wegen zu diesem Turm gehörten, nachdem sie den Rat der Logodoboro formell abgesetzt hatte. Die Vorbereitungen dazu liefen bereits, die Regierung hatte das Verfahren zur Enthebung des Rats der Logodoboro wegen Verrat, Hochverrat und hundertfacher Anstiftung zum Mord sowie versuchtem Mord in siebenunddreißig Millionen Fällen bereits eingeleitet. Danach würden die Geschicke des Turms wieder in der Hand dieser Frau liegen: Agrial Logodoboro, Anführerin des Exodus, Oberste Administratorin der Migrationsflotte und Initiatorin des Systems der neun Türme.
 

Die andere Frau hatte ebenfalls alle Hände voll zu tun, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Fakt war, dass ihre Arbeit sogar noch erschwert worden war, sehr erschwert.

Und dieser Umstand schien ihr vor Agrial sehr peinlich zu sein.

„Agrial, ich…“

„Es ist in Ordnung. Die Logodoboro haben ihre Aktionen gut versteckt und den Kreis klein gehalten. Aber der Orden hat den Verrat trotzdem bemerkt, trotzdem den Turm angegriffen und die Verschwörung ausgehoben. Aus diesem Grund habe ich den Orden initiiert und dich mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, Tevell.“

„Aber wir hätten früher…“

„Tevell, ich bin jetzt viertausend Jahre alt und glaub mir, ich habe mich ausreichend mit „hätte, könnte und sollte“ herumgeschlagen. Wenn man dreitausend Jahre in so einem verdammten Tank gefangen ist und als reine Recheneinheit ohne Entscheidungsgewalt verwendet wird, hat man dazu sehr viel Zeit.“

Die jüngere Frau stutzte. „Du hättest wahnsinnig werden können.“

„Vielleicht bin ich das ja schon“, konterte Agrial bissig. „Auf jeden Fall ist mein Temperament ein wenig hitziger geworden, als ich es in Erinnerung habe. Auch ansonsten habe ich mich mit meiner Freiheit noch nicht ganz abgefunden. Weißt du, keine Kleidung zu tragen kann sehr vorteilhaft sein. Wenn man dreitausend Jahre lang nackt in einer Nährlösung schwimmt, kommt einem das Gewicht der Kleidung irgendwie seltsam vor. Selbst bei einer Daima wie mir. Dreitausend Jahre sind dreitausend Jahre.“

Tevell wurde rot und hob eine Hand.

„Nein, lass mal, Schatz. Ich weiß, was du sagen willst. Aber das gehört auch zu den „hätte und könnte“, weißt du? Du hast halt nicht gewusst, dass mein eigener Rat meine Macht geraubt, mich entführt und in einen Tank gesteckt hast. Du wusstest nicht, dass die Geschichte mit der Friedensmission nach Iotan nur eine Finte war. Wie hättest du es auch wissen sollen? Also nimm es dir nicht zu Herzen und reg dich nicht auf. Es war in dem Moment Vergangenheit, als mich dieser süße Torum Acati aus dem Tank befreit hat.“

Tevell stoppte. „Hast du ihn gerade süß genannt?“

„Wieso, stimmt das etwa nicht? Ich habe schon immer den maskulinen Typ bevorzugt. Groß, mit kantigen Gesichtszügen und breiten Schultern und einer ordentlichen Portion flauschiger Haare auf der Brust. Das ist ein Mann für mich.“

„Für die Haare auf der Brust kann ich mich nicht verbürgen, aber… Warte mal, warte mal, Torum ist keine tausend Jahre alt! Ist er nicht etwas jung für dich?“

Agrial stutzte. „Bin ich mit ihm verwandt? Ich meine, tausend Jahre sind eine lange Zeit und ich nehme an, dass meine Geschwister Kinder in die Welt gesetzt haben und so.“

„Nein, soweit ich weiß seid ihr nicht verwandt. Sein Vater ist ein Daima und seine Mutter eine Daness.“

„Ist er mit dir verwandt?“, argwöhnte die Herrin der Logodoboro.

„Ja, um fünf Ecken ungefähr. Wieso?“

„Gut. Eine Konkurrentin ausgeschaltet.“

„Äh, was, bitte?“

Agrial lachte. Es war ein herzhaftes, mitreißendes Lachen. „Nun guck doch nicht so. Das Leben geht weiter und ein Mädchen muss sehen, wo es bleibt. Torum ist doch wirklich niedlich, und erzähl mir nicht, du hättest das nicht bemerkt, Tevell.“

„Doch, schon“, erwiderte die Meisterin des Ordens. „Aber er ist so viel jünger und so was gehört sich doch nicht zwischen Meister und Begam.“

Agrial seufzte laut und tief. „Hast du eigentlich ein Privatleben, oder geht deine ganze Zeit für den Orden drauf? Ich meine, kannst du in dem Fall überhaupt die Zeit erübrigen, um mit mir hier spazieren zu gehen?“

„I-ich habe ein Privatleben! Ich bin vielleicht nicht vergeben oder habe einen Mann in Aussicht, aber ich habe ein Privatleben!“, versicherte Tevell mit hochrotem Kopf. „Und ich kann es jederzeit verantworten, mit meiner alten Lehrmeisterin in einem Garten spazieren zu gehen, weil es nie verschwendete Zeit ist.“

„Das ist gut zu hören“, schloss Agrial und lächelte.
 

Tevell sah sie von der Seite an. „Die Zeit war gut zu dir. Ich weiß, man altert in einem Tank nicht, aber du siehst noch immer so jung aus, als wärst du gerade erst zwanzig. Das ist nicht nur die Fähigkeit von uns Daima, die eigenen Zellen zu kontrollieren. Das ist eine Fügung der Götter.“

Agrial strich sich unbewusst über ihr schwarzes Haar. „Findest du? Ich fand glatte Haare immer langweilig. Aber Locken drehen wollte ich auch nie. Und Zöpfe flechten ist so aufwändig. Aber ein paar Pferdeschwänze hat man schnell gedreht und die Männer mögen langes, gepflegtes Haar.

Und dann ist da noch mein Teint. Viel zu blass. Zusammen mit den roten Augen wirke ich ja wie ein Raubtier.“

„Wäre ja nicht mal so falsch, der Vergleich“, brummte Tevell.

„Wie war das?“

„Na, stimmt das vielleicht nicht? Seit wir hier im Garten sind, redest du nur über Männer! Zum Glück fängst du nicht auch noch mit Frauen an und…“

Agrial lachte erneut. Dann nahm sie die Jüngere in die Arme. „Entschuldige, manchmal vergesse ich die elementarsten Dinge. Ich freue mich natürlich, dich zu sehen. Ich habe nicht gewusst, was oder wer mich erwarten wird, sollte ich jemals aus diesem Tank rauskommen. Und ich bin sehr glücklich, dich wider erwarten sehen zu können. Und das du gesund bist, ist am schönsten. Meine kleine Tevell. So erwachsen und so verantwortungsvoll bist du geworden.“

„Ich habe dich vermisst“, hauchte die Frau, die den Orden kontrollierte. „Ich habe dich jeden Tag vermisst, Agrial.“

„Und ich habe dich vermisst, kleine Schwester. Ich bin so froh, dass ich dich wieder sehen darf.“

So standen sie eine Zeitlang voreinander, umarmten sich und schluchzten leise.
 

„Jetzt geht es mir besser. Danke. Ich meine, ich bin eine der mächtigsten Frauen von Naguad Prime, ja vom ganzen Imperium. Aber es tut gut, jemanden zu haben, bei dem man einfach mal schwach und hilflos sein darf.“

„Ja, ich weiß. Es tut wirklich gut, absolutes Vertrauen haben zu dürfen.“

„Was hast du jetzt vor, Agrial? Mit den Ruinen dessen, was du einst gegründet hast?“

„Hm“, machte die Logodoboro, „der Rat hat mir zwei Millionen Menschen meines Hauses zurückgelassen. Ich denke, ich werde einen provisorischen Rat errichten, und ihm so lange vorstehen bis jemand anderes den Job machen kann. Logodoboros hatten schon immer gute Veranlagungen für Führungsaufgaben. Und wir haben immer noch große Besitzungen auf dieser Welt, also alles was wir für einen Neustart brauchen.

Danach werde ich die Logodoboro-Besitzungen in den Distrikten und Marken auffordern, dem alten Rat die Unterstützung zu versagen und sich meinem Kommando zu unterstellen. Das gleiche gilt für die Schiffe. Ich rechne damit, dass eventuell zehn Prozent zu mir zurückkehren. Für alles andere werde ich meinen neuen Verbündeten bemühen.“

„Du hast einen neuen Verbündeten?“

„Der Junge weiß noch nichts von seinem Glück, aber ich werde mit seiner Hilfe wieder ein wenig Ordnung in die Dinge bringen.“

Tevell kniff die Augen zusammen. „Du sprichst doch nicht etwa von Aris Arogad, oder? Der Junge ist doch wirklich etwas jung für dich.“

„Was soll das denn heißen? Ich bin im besten Alter, oder?“ Agrial lächelte dünn. „Aber ich glaube, er wäre eher jemand für dich, Tevell.“

„W-warum für mich?“

„Magst du keine tatkräftigen, entschlossenen und vor allem hinterhältigen Männer? Wie er die Arogads und die Daness gegeneinander ausgespielt hat war doch einfach Klasse.“

„Was war denn daran hinterhältig? Er hat einen Bürgerkrieg verhindert.“

„Aha, du magst ihn also“, stichelte Agrial.

„M-mögen? Er könnte der Sohn des Sohnes des Sohnes des Sohnes meines Sohnes sein!“

Sie senkte den Blick. „Aber ich setze einige Hoffnungen in ihn, genauso wie du.“

„Dann wollen wir ihm unsere Kraft leihen, oder?“ Agrial schmunzelte. „Nach seinen letzten beiden Coups hat er sicherlich etwas Neues angefangen. Weißt du, wo er sich befindet?“

„In den Vorstädten, zusammen mit Torum Acati. Sie wollen die störrischen Bürger evakuieren.“

„Ein netter Kerl. Sucht sich nie die einfachen Aufgaben.

Ach, Tevell, ich habe eine Bitte. Können deine Begams detaillierte Berichte über die Marken und Bezirke anfertigen, die der Rat unter Kontrolle hat? Ich weiß, ihr habt da dieses Gerät, dass AO-Meistern erlaubt, Lichtjahreweit ins All hinaus zu spähen.“

„Ich werde es mit auf den Plan setzen. Aber ich lasse bereits rund um die Uhr beobachten und lasse auch schon weitere Geräte installieren.“

Agrial runzelte die Stirn. „So? Was beobachtet der Orden denn so neugierig?“

„Alle Gebiete, in denen es bisher weder Rebellionen noch desertierende Häuser gegeben hat.“

„Gute Idee“, lobte Agrial.

***

Die Vorstädte außerhalb der vereinten Schirme der Türme bereiteten den Hilfstruppen erhebliche Probleme.

Nach einer ersten erfolgreichen Welle der Evakuierung stockten die Arbeiten nun beträchtlich.

Gerade in den isolierten Vierteln, verschachtelten Blockbauten aus dem ersten Jahrtausend der Besiedlung, hatten sich Naguad regelrecht verschanzt, um der Evakuierung unter den Schirm zu entgehen. Die meisten von ihnen waren Hauslos oder gehörten kleineren Gemeinschaften an. Und damit bereiteten sie den Grandanar, die das Evakuierungsprojekt aus dem Boden gestampft hatten und nun anführten, erhebliche Probleme.

Die Vorstädte waren mit radioaktivem Staub durchsetzt. Die Konzentration war nicht tödlich, jedenfalls nicht wenn man sich dem Staub für kurze Zeit aussetzte. Wurden es allerdings Tage oder Wochen, war ein Zusammenbruch des Immunsystems unausweichlich. An manchen Stellen konnte es auch durch die energiereiche Strahlung zu Verbrennungen kommen, die teilweise zentimetertief ins Fleisch reichten. Kurz gesagt, die Naguad, die sich verbarrikadiert hatten, starben auf Raten.

Sicherlich würden sie in Tagen oder Wochen bemerken, welche Dummheit sie begangen. Sobald sie ihr Haupthaar verloren, die Haut zu schuppen begann und die Zähne immer lockerer wurden, weil das Zahnfleisch zurückwich. Das war nichts, was die moderne Naguad-Medizin nicht in den Griff bekam… Aber selbst wenn man alle Kapazitäten des Planeten zusammennahm, selbst des ganzen Sonnensystems, würde es nicht reichen, um zeitgleich zwanzigtausend Naguad auf Strahlenkater zu behandeln.

In diesem Fall hingegen ging es um geschätzte dreihunderttausend; Männer, Frauen, Kinder. Die Zeit würde kommen, in der die Ärzte vor die schwierige Entscheidung gestellt werden würden, wer leben durfte und wer sterben musste, weil der Platz einfach nicht reichte.
 

All das konnte vermieden werden, wenn man die Naguad unter den Schirm evakuierte. Alle großen Türme, der Rat, das Militär und auch mehrere der kleineren Türme hatten ihre Gästequartiere geöffnet und somit Platz für die gut siebzehn Millionen Bewohner der Vorstädte geschaffen. Die Versorgung war gesichert und es gab auch schon Pläne, den radioaktiven Staub aus den Vorstädten zu entfernen. Sichere, funktionierende Pläne. Tausendfach bewährt und in der Geschichte der Naguad schon ein paar Mal erfolgreich ausgeführt. Allerdings überlebte kein lebendes Wesen diese Behandlung, ausgenommen vielleicht ein KI-Meister vom Range Torum Acatis.

Das Dilemma war offensichtlich. Keine Evakuierung – keine Präparation der Städte.

Keine Präparation der Städte – keine Rückkehr der Bewohner.

Die Zurückgebliebenen verschärften nicht nur die Situation für ihre eigene Gesundheit, sie spitzten auch die Lage für diejenigen zu, die mittlerweile in Kasernen oder den Türmen Zuflucht gefunden hatten.

Hätte das Militär noch an diesem Tag mit der Operation begonnen, binnen einer Woche wäre die erste Stadt wieder freigegeben worden. So aber mochte es alleine Wochen dauern, bevor sie präpariert werden konnte.

In dieser Zeit konnte alles geschehen, von Protestnoten bis hin zu Aufständen der unzufriedenen Evakuierten, die in ihre Häuser zurückkehren wollten.

Und auf jeden Fall waren da draußen gut dreihunderttausend Naguad, die mit ziemlicher Sicherheit sterben würden.

Und wofür? Ihren Dickschädel und ihr Misstrauen gegen die staatliche Autorität.
 

„Wer ist der Blödmann?“

„Der? Dieser verrückte Bursche in der Arogad-Uniform? Der alles und jeden ausfragt? Der im Kartenraum auf und abläuft?“

„Genau der. Er stört uns bei unserer Arbeit.“

„Er ist mit Torum Acati gekommen. Mit ihm und hundert von Acatis Elite-Soldaten.“

„Ach, wieder so ein Idiot? Warum lässt man es nicht einfach unser Haus Grandanar und die Koromandos machen, und wartet das Ergebnis ab? Warum schicken sie uns die unerfahrenen Wichtigtuer?“

„Der Wichtigtuer hat ziemlich gute Ohren“, raunte ich in die Unterhaltung der beiden Grandanar-Offiziere.

Beide zuckten zusammen.

„Und der Name des Wichtigtuers ist Aris Arogad, wenn ihr zwei es genau wissen wollt.“

„D-der Hauserbe?“

„Was? DER Aris Arogad? Meister Arogad, verzeihen Sie, wir…“

„Und der Wichtigtuer hätte gerne eure Meinung über den Bezirk zwischen Andori-Straße und Caplam-Platz. Wie sieht es da unten aus? Wie viele Naguad haben sich dort verbarrikadiert? Was ist mit einer freiwilligen ärztlichen Versorgung?“

Der Ältere der beiden straffte sich. „Andori-Straße bis Caplam-Platz ist offenes Kriegsgebiet. In diesem Stadtteil siedeln viele Veteranen der Flotte, die sich keinem Haus angeschlossen haben. Viele haben ihre Ausrüstung noch immer zuhause, und einige setzen sie auch ein. Sie haben keine schweren Waffen, aber selbst mit einem Karabiner gibt ein fähiger Soldat einen guten Scharfschützen ab. Zudem wurden Barrikaden aufgetürmt, hinter denen sie sich verschanzen können. Eine vertrackte Lage, die nicht aus der Luft geklärt werden kann, weil die Straßen verwinkelt und klein sind. Der Caplam-Platz würde für einen Angriff einen guten Landeplatz bieten, aber erstens gab es noch keinen Befehl dazu und zweitens wäre eine Eingreiftruppe hier im offenen Schussfeld. Die Verluste wären astronomisch hoch, Meister Arogad.“

„Sie gehen also davon aus, dass auf die Soldaten, die die Evakuierung leiten werden, geschossen wird.“

„Es wurde bereits auf sie geschossen. Wenn Sie mich fragen, Meister Arogad, haben wir es hier mit einem Aufstand zu tun! Einem Aufstand!“

„Einem Aufstand von Leuten, die radioaktiv kontaminiert wurden und vor Angst nicht wissen, was sie da wirklich machen. Also, wie sieht es mit einer freiwilligen ärztlichen Versorgung aus? Gibt es keine Menschenfreunde im Militär, die ihr eigenes Leben riskieren?“

Der Jüngere seufzte. „Meister Arogad, es ist nicht so als hätten wir das nicht probiert. Aber die Naguad in den Vorstädten sind extrem misstrauisch und schießen auf alles, was nach Militär aussieht. Ehrlich gesagt zeigt die Satellitenüberwachung, dass es bereits zu Plünderungen kam und wir befürchten, dass diese Menschen einfach die Strafe befürchten.“
 

Ich brummte unwillig. Dieser Platz bis hin zu dieser Straße würde eine ganze Vorstadt defacto halbieren. Wer diese beiden Punkte kontrollierte, hatte aus einer riesigen Vorstadt zwei kleinere gemacht. Und mit kleineren Städten konnte man leichter umgehen als mit einer großen. Zudem schrumpfte das Gebiet, dass man aufrollen musste. „Plünderungen? Lebensmittel aus öffentlichen Verteilzentren?“

„Äh, was? Öffentliche Verteilzentren?“

„So muss man die Supermärkte auf der Erde bezeichnen. Du weißt doch, er ist nicht von hier“, zischte der Ältere. „Ja, Meister Arogad, hauptsächlich Lebensmittel aus öffentlichen Verteilzentren und, äh, Niedrigpreissegmentgeschäften. Wir nennen sie Discounter.“

Ich bemühte mich, sowohl ein Lachen aus auch eine zynische Erwiderung zu unterdrücken. Irgendwie mochte ich die Jungs.

„Ihre Namen, meine Herren.“

„Joglund Grandanar, Meister Arogad.“

„Festram Ortis, Meister Arogad.“

„Zur Kenntnis genommen. Torum?“

„Ich bin direkt in Hörweite. Planst du etwa was, mein junger Freund?“

„Ich brauche einen Schweber.“

„Soll ich ein Begleitkommando für dich zusammenstellen, Akira?“

„Du kannst ja mitkommen, wenn du Lust hast. Ansonsten bitte nur Freiwillige. Ich habe nicht vor, mir da draußen Freunde zu machen.“ Ich grinste wölfisch.

„Du fliegst in eine Stadt, die gerade geplündert wird, die von Veteranen diverser Kriege besetzt ist, zudem radioaktiv verseucht und willst dir keine Freunde machen?“ Acati schmunzelte. „Interessant. Natürlich bin ich dabei.“

Zufrieden nickte ich. „Oberst Joglund Grandanar“, sprach ich den Älteren an.

„Meister Arogad?“

„Über wie viele Schrittmeter verfügen Sie hier?“

Schrittmeter war ein Jargonwort, eines, das in der Naguad-Flotte geläufiger war als der Fachbegriff für das Gerät. Im Klartext sagte einem das Gerät, wie viel Schritte man besser zulegen sollte, denn defacto maß es Radioaktivität an. Auf der Erde nannten wir dieses Gerät Geigerzähler.

„Wir haben etwas über achtzig Stück, dazu weitere zwanzig in den Spezialteams.“

„Wie schnell können Sie mir zehntausend oder mehr besorgen?“

Der Mann sah mich überrascht an. „Ein paar Stunden vielleicht, wenn die anderen Türme ihre Bestände hergeben. Aber wieso?“

„Besorgen Sie die Schrittmeter und verteilen Sie sie an die Stadtbevölkerung. Radioaktivität kann man nicht sehen, nur messen. Vielleicht werden ein paar Bürger williger wenn sie mit eigenen Augen sehen, in was für einem Schlamassel sie gerade sitzen.“

„Ja, Meister Arogad. Festram, du klapperst die Türme ab. Ich spreche mit dem Militär.“

„Okay.“

„Und? Wo bleibt mein Transportmittel?“, fragte ich Torum Acati mit einem dünnen Grinsen.

„Sollen ein paar Schrittmeter auf dem Transportmittel bereitstehen, Aris Arogad?“

„Das wäre nett, Begam Acati.“

„In fünf Minuten, Aris Arogad.“ Der Mann grinste schief.

„Ich mag dich, Torum Acati.“

„Ich dachte, du hast ne Freundin.“

„Bitte keine schlechten Witze in Krisensituationen.“

„Du hast damit angefangen“, konterte Acati. „Ich bleibe ja auch nur in deiner Nähe, weil es hier nie langweilig wird.“

„Was für ein Kompliment“, erwiderte ich. Und ich hoffte, es war auch eines.

***

„Du bist wirklich ein selten arroganter Bastard“, raunte mir Acati zu. „Stellst dich hier so offen zur Schau und lädst jeden halbwegs kompetenten Scharfschützen dazu ein, dir eine zu verpassen.“

„Was denn, was denn? Das geht dir schon auf die Nerven, alter Junge?“, erwiderte ich bissig. „Das von dem Mann, der die AURORA angegriffen hat?“

Ich hustete hart. Dieser Gedanke brachte ein paar Erinnerungen hoch, die nicht so schön waren. Vor allem den Gedanken, dass wir damals Feinde gewesen waren. Wie es jetzt aussah, wusste ich noch nicht mal, wenn ich ehrlich war. Acati mitzunehmen konnte ebenso Fehler wie Chance sein.

„Wer steht denn hier offen sichtbar für jedermann und wirft sich auch noch in Heldenpose?“

Ich musterte Acati. Okay, er stand nicht im offenen Gleiter, wie ich es tat. Aber er hatte sich ziemlich lässig in die Polster gefläzt und die Beine übereinander geschlagen. Und er sah relativ entspannt zu mir auf.

„Heldenpose? Spinner.“

„Vorsicht was du sagst, junger Arogad. Das kann man durchaus als Admiralsbeleidigung werten.“

„Das kannst du nicht nur so werten, das war auch eine!“

„Was? Du kleiner Dreikäsehoch! Willst du dich etwa mit mir anlegen? Da musst du aber noch etwas früher aufstehen, sagen wir fünfhundert Jahre, damit mir nicht langweilig wird!“

„Ach ja? Ach ja? Auf der AURORA hätte ich dich durch die Mangel gedreht, wenn ich nicht das Schiff hätte beschützen müssen!“ Und Joan, ging es durch meine Gedanken.

„Da habe ich doch gar nicht aufgedreht! Das war ja nur halbe Kraft! Sind wir etwas sehr von uns selbst überzeugt, Meister Arogad?“

„Ich stehe hier in einem offenen Gleiter und lande gleich auf einem freien Platz, der angeblich von aufständischen und bewaffneten Bürgern umlagert ist, oder?“
 

„Meister Arogad, Admiral Acati…“, meldete sich der Pilot zögerlich.

„Was?“

„Wir sind schon gelandet. Seit etwa zwei Minuten. Und es scheint, als würde nicht sofort auf uns gefeuert werden.“

Erstaunt sah ich mich um. „Oh. Wie gut.“

„Hey, wir streiten gerade!“, rief Acati mir nach, als ich mich über den Rand des Gleiters schwang.

„Wir können ja nachher weiter machen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Oder willst du hier ein kleines Duell? Ich habe keine Probleme damit, mich durch Naguad Prime zu bohren.“

Acati schwang sich ebenfalls aus dem Gleiter. „So siehst du aus. Wir würden einen neuen Vulkan produzieren. Und das mitten in der Hauptstadt.“ Der Admiral rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hm. Schirmfelder würden die Lava bändigen. Die Erdbeben können wir kompensieren. Und wir hätten eine neue Attraktion in der Vorstadt.“

„Du spinnst, Admiral. Ein Thermogeschütz erledigt diese Arbeit schneller und sauberer.“

„Jetzt bist du es, der spinnt. Das Thermogeschütz hätte zu große Streuwirkung und würde die halbe Stadt abbrennen. Wir reden hier von einem Geschütz für den Raumkampf. Es braucht genügend Energie, um auch nach zwei Millionen Kilometern noch mit ein wenig Wumms ins Ziel einzuschlagen. Von der Fokussierung mal gar nicht zu reden.“

„Könnten die beiden Herren ihre Zerstörungstheorien für einen Moment beiseite schieben?“, mahnte der Pilot. „Wir kriegen nämlich Besuch.“

Ich wechselte einen Blick mit Torum. „Dein Mann?“

„Nein, aber ich denke, ich will ihn haben. Einen Admiral und einen Hausmeister Maßzuregeln erfordert eine Menge Mumm.“

„Ihr Name, Corporal?“

„Jonsto Fioran, Meister Arogad.“

„Haben Sie schon mal daran gedacht, in ein anderes Haus zu wechseln oder zu einer Spezialeinheit wie die des Admirals zu gehen?“, fragte ich freundlich.

„Nun, das sind großzügige Angebote“, erwiderte der Fioran.
 

„Hört auf uns zu ignorieren!“, blaffte der vorderste der gut zwanzig Männer, die bis auf Rufweite zu uns herangekommen waren.

„Kleine Kinder haben den Mund zu halten, wenn sich Erwachsene unterhalten!“, rief ich zurück.

„Das hat mich eigentlich immer an dir interessiert, Akira. Willst du dir mit Absicht Todfeinde machen? So wie jetzt?“

„Was heißt hier kleine Kinder, du Zwerg? Ich habe zwanzig Jahre gedient, und das in einer Mark in einer Infanteriedivision! Was hast du schon drauf?“

Ernst sah ich herüber. „Sieben Jahre Dienst und ein paar tausend Tote auf meinem Gewissen.“

„Ein paar tausend gleich? Die Banges-Industrie bei euch muß ja dank dir mächtig zu tun haben“, murmelte Acati.

„Es waren nicht alles Banges. Wir nennen sie übrigens Mechas. Die meisten Toten gab es in den Schiffen, die ich zerstört habe.“

„Warum wundert mich das jetzt nicht?“ Acati grinste dünn.
 

In die Männer war Unruhe gekommen. Leise diskutierten sie miteinander. Ich hörte Wortfetzen heraus wie Arogad, Hausuniform und Admiral. Stellenweise fiel auch der Name Acati, meistens ehrfürchtig.

„Es war wohl doch eine gute Idee, dich mitzunehmen“, brummte ich in Acatis Richtung.

„Ach wie gnädig, dass Sie das bemerken, Meister Arogad.“

„Wenn du weiter so spottest schicke ich dich wieder nach Hause. Und ohne Abendbrot ins Bett, junger Mann“, scherzte ich.

„Ich fürchte mich. Du bist so streng mit mir. Das sage ich alles meiner Mama und die verhaut dich dann.“

„Ihr macht euch doch nicht etwa lustig über uns?“, argwöhnte der Anführer.

„Nein, wir machen uns übereinander lustig. Ist das nicht erlaubt?“

Die Männer steckten kurz die Köpfe zusammen und diskutierten dieses Thema.

Ich seufzte. „Ein Komitee. Die haben ein verfluchtes Komitee gegründet. Und nun wird jede Entscheidung ausdiskutiert.“

„Was diskutieren sie wohl gerade?“, fragte Torum nachdenklich.

„Wenn Sie mich fragen, Admiral, diskutieren sie darüber, mit wie vielen Einschusslöchern sie uns zurück zu unserem Posten schicken“, raunte der Fioran.

„Ich fürchte, der Mann hat Recht“, sagte Acati ernst. „Uns haben mindestens acht Scharfschützen im Visier, und die Waffen sind nicht auf kuscheln gestellt. Einer von ihnen hat sogar ein illegales Partikelgewehr.“

„Also Schluss mit lustig.“

Ich ging auf die Gruppe Männer zu und klatschte in die Hände. „Gut, gut, gut, Herrschaften, genug gespielt. Wir hatten alle unseren Spaß, aber jetzt wird es Zeit, die Sachen zu packen und den Abtransport vorzubereiten. Dieser Platz erlaubt es Schiffen bis zur Größe einer Fregatte zu landen. Eine Fregatte kann immer kurzfristig eintausend Menschen aufnehmen. Ich erwarte, dass ihr die Bewohner in Eintausender-Gruppen organisiert, ohne Familien auseinander zu reißen. In zwei Stunden landet die erste. Geht das soweit klar?“
 

Ich sah einen Lichtblitz, dann spürte ich einen harten Ruck an meinem Schädel und hörte den Schuss. Ich ging zu Boden, ohne mich abzufangen.

„Drängler“, sagte der Anführer. „Ich hasse Drängler.“

„Hey, Junge, geht es dir gut?“, fragte Torum.

„Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Das war ein Geschoss, kein Schuss aus einem Partikelgewehr.“ Langsam stand ich wieder auf, strich mir den Staub von der Kleidung und bewegte den Kopf ein paar Mal.

„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. In zwei Stunden. Obwohl, jetzt sind es nur noch eine Stunde dreiundfünfzig Minuten. Ausführung, Herrschaften, Ausführung!“

Ungläubig starrten die Männer mich an, während ich die flach gedrückte Kugel, die noch immer auf meiner Stirn klebte, abpulte. „Das kann kein Mensch sein“, hauchte einer angstvoll.

„Und davon lässt du dich beeindrucken? Es gibt noch viel mehr Soldaten in der Armee, die statt eines Stirnknochens eine Stahlplatte implantiert bekommen haben! Das ist nichts Übernatürliches! Was meinst du was mit ihm passiert, wenn wir auf sein Herz schießen?

Gut, du kleiner Bastard von einem Haus-Clown! Du hast überlebt! Also geh jetzt zurück zu deinen über tausend Toten und spiel dort weiter! Hier habt ihr jedenfalls nichts mehr zu sagen, klar?“

„Torum, ich verspüre gerade die unstillbare Lust in mir, ein paar Idioten zu töten.“

„Ich bin nicht hier, um dich aufzuhalten, mein Junge.“

„Seid ihr immer noch hier? Und eurer dämlichen Fregatte könnt ihr sagen, sie kann ja innerhalb des Schirms landen und…“
 

„Was ist dein verdammtes Problem, du Arsch?“, blaffte ich. „Diese ganze Stadt ist radioaktiv verseucht! Wir wollen euch hier rausholen und die Städte säubern! Geht das nicht in eure Schädel rein?“

„Jetzt hörst du mal zu, du arrogantes Großmaul! Ich kenne euch Trottel von den Häusern! Ihr inkompetenten Inzuchtprodukte glaubt doch, euch gehört das Universum und jeder muß tun was ihr sagt! Aber nicht mehr mit mir! Nicht mehr mit mir! Verschwindet endlich und nehmt eure Schauermärchen mit!“

„Schauermärchen?“ Erschrocken starrte ich den Mann an. „SCHAUERMÄRCHEN? Ja, habt ihr die Explosionen nicht gesehen?“

„Wir haben die Explosionen im Arogad-Turm gesehen, das war ein sehr schöner Anblick“, rief der Anführer spöttisch.

„Jonsto, bitte, sind Sie so nett und holen mir einen Schrittmeter aus dem Gleiter?“

„Sofort, Meister Arogad.“

Der junge Soldat kam kurz darauf mit dem Messgerät zu mir zurück. Ich schaltete es ein. Sofort begann ein Warnblinklicht zu leuchten. „Oh, hm, tja, das habe ich mir so gedacht. Fünftausend Weg an dieser Stelle.“

Ich schwenkte den Sensor hin und her. „Da hinten sind es sogar sechseinhalbtausend Weg und hier nur etwas über viertausenddreihundert. Corporal Fioran, was wissen Sie über die radioaktive Belastung auf diesem Planeten?“

„Sir. Jeder Naguad ist einer natürlichen Belastung von vierhundert Weg ausgesetzt, das ist die normale tägliche Dosis. Einhundertvierzig Weg kommen als kosmische Strahlung aus dem Weltraum, einhundertzwanzig aus dem Boden in Form ionisierter Edelgase und der Rest emissiert unser eigener Körper.“ „So, so. Vierhundert Weg ist also die normale Dosis. Corporal, was passiert mit einem Menschen, der fünftausend Weg ausgesetzt ist?“

„Eigentlich nichts, wenn er nicht besonders anfällig ist oder einer zu stark strahlenden Quelle zu nahe kommt.“

Die Männer lachten leise bei diesen Worten. Idioten, alles Idioten. Jeder ehemalige Soldat musste doch wissen, dass der Corporal nicht zu einem Freibrief ansetzte.

„Jedenfalls nicht bei kurzfristiger Belastung. Nach mehreren Tagen aber kommt es zu strahlenkaterähnlichen Ausfallerscheinungen. Aber ein gesunder Mann kann sicherlich drei oder vier Wochen fast beschwerdefrei überleben.“

„Wir sind hier alle gesund! Also macht das ihr wieder weg kommt!“

„Noch seid ihr gesund! Aber es wird nicht lange dauern, dann haben die ersten Blut im Urin. Dann werden sie anfällig für harmlose Ateminfektionskrankheiten! Die Nieren werden schlechter arbeiten und das Blut schlechter gereinigt.

Ihr habt gut lachen. Ihr könnt noch eine ganze Zeit die Dummen spielen.

Aber es sind die Alten, die Kranken und die Kinder, die bei diesem Spiel zuerst den Preis zahlen müssen! Es wird nicht mehr lange dauern, dann fallen den Kindern die ersten Haare aus, weil sie noch zu jung sind, ihr Immunsystem besonders störanfällig. Sie werden sich schneller an der energiereichen Radioaktivität verbrennen als ihr Erwachsenen und die Verletzungen werden in dieser Umgebung schlechter abheilen! Dann geht das Zahnfleisch zurück und die Zähne fallen aus. Danach werden sie Blut husten und spätestens nach einem Monat zu sterben beginnen. Und das alles nur, weil ihr plötzlich beschlossen habt, die störrischen Idioten zu spielen!“

Ich hatte übertrieben, wirklich übertrieben. Aber ich wollte verdammt sein, wenn auch nur ein einziges Kind starb, weil es noch länger als die bereits verstrichenen vier Tage fünftausend Weg und mehr ausgesetzt war.
 

„Du verdammter Arsch! Das ist doch sowieso alles eure Schuld! Eure und die der Türme! Wegen euch und euren ewigen Kriegen stecken wir doch jetzt in dieser Klemme! Wir haben es wieder mal den großartigen Häusern zu verdanken, dass unsere Leben noch schlechter werden!“, blaffte der Anführer.

„Ach ja? Ach ja? Ich will dir mal was sagen! Ich habe dich nicht gerade bei der letzten Wahl zum Bürgermeister als Kandidaten gesehen! Und als Kandidat für den Rat warst du auch nicht aufgestellt! Erst lässt du alles die da oben machen und fügst dich, anstatt Entscheidungen selbst in die Hand zu nehmen, und dann wenn dich die Entscheidungen mal direkt betreffen, dann schwingst du dich plötzlich zum alles und jeden verstehenden Anführer auf?

Du hast doch nur Angst! Und du ziehst alle hier mit! Aber dieser Weg führt in den Tod!“

„Ihr wollt ja nur keine Verantwortung übernehmen, wie immer! Schön reden könnt ihr ja, aber hier ist noch keiner gestorben! Und das wird auch so bleiben, auch wenn wir hier bleiben, wo wir geboren wurden!“

„Schon wieder der Anführer! Was hat dich nur gebissen, dass du ausgerechnet in einer radioaktiv verseuchten Stadt den Boss rauskehrst?“

„Euer Schrittmeter ist doch manipuliert!“

„Er ist nicht manipuliert! Das einzige was hier manipuliert ist, das sind all die Leute, die nicht wissen, in welcher Gefahr sie schweben!“ Ich spürte wie mein Gesicht vor Aufregung glühte. „Verdammt, ich bin hier, um Verantwortung zu übernehmen! Ich bin hier, um euch zu retten! Und ich bin hier, um euch diese Stadt wiederzugeben, sobald wir sie vom radioaktiven Staub gereinigt haben. Mehr solltet ihr nicht verlangen und verdammt noch mal auch nicht erwarten!“

Der Anführer grinste mich an. „Ja, reden könnt ihr gut. Aber sagen tut ihr nichts dabei.“
 

Aus den Augenwinkeln nahm ich einen weiteren Reflex wahr. Dann umgab mich ein Orkanartiger Sturm, Hitze brandete an mir vorbei. Ich sah erschrocken zur Seite und erkannte Torum Acati, der mit ausgestreckter Rechter seitlich von mir stand. „Das Partikelgewehr, Akira. Kein Problem, wirklich kein Problem.“

„Ihr könnt uns nicht töten, nicht einmal wenn ihr alle zugleich schießt!“, rief ich laut.

„Ich weiß, ihr habt alle Angst. Ihr wisst nicht, was euch erwartet! Ihr wisst nicht was mit euch passiert ist. Und ihr vertraut denen nicht, die euch anführen. Vielleicht weil ihr es nicht besser wisst… Oder weil ihr es viel zu gut wisst.

Ich weiß, ein Versprechen von einem Mann aus einem Turm ist nicht viel wert bei euch.

Ich weiß, mein Wort als Arogad zu verpfänden bedeutet euch gar nichts.

Und viele würden eher sterben als diese Stadt zu verlassen.

Aber wir können euch nicht hier lassen. Das diese Stadt verseucht wurde ist unsere Schuld, also ist es auch unsere Pflicht, sie wieder zu säubern! Und es ist unsere Pflicht, euch zu beschützen, zu versorgen und euch eure Leben wiederzugeben!

Dafür steht der Rat ein! Dafür steht Admiral Acati ein!“

„Hey, was habe ich damit zu tun?“

„Halt die Klappe, Torum.

Dafür stehe ich selbst ein! Mein Name ist Aris Arogad und ich habe vor drei Tagen einen Bürgerkrieg zwischen den Daness und den Arogad verhindert. Da wirkt das Problem, diese Stadt wieder bewohnbar zu machen wie ein Kinderspiel.

Und es ist ein Kinderspiel! Wenn ihr alle mithelft. Ihr werdet zurückkehren, ihr werdet hier wieder leben können! Das verspreche ich!“

„Ich sagte es schon, wir glauben euch nicht!“, rief der Anführer wieder.

Ich seufzte leise. „Vielleicht solltest du, nachdem du dich endlich entschlossen hast wie ein Anführer zu handeln, es endlich tun und deine Leute fragen was sie denken? Das Beste für dich und deine Leute auswählen?

Anführer sein ist nicht leicht und man kann es niemals allen recht machen. Und man kann sich selbst nicht immer treu bleiben. Aber man kann so vielen wie möglich ein so gutes Leben wie möglich geben.“
 

Ich wandte mich ab, ging langsam auf den Gleiter zu. „Zweimal. Sie haben zweimal auf mich geschossen! Sie wollten mich töten! Oh, ich könnte diese Kerle in der Luft zerreißen!“

„Reg dich ab. Wenn sie es wirklich darauf angelegt hätten, dann hätten sie mit allem was sie haben Dauerfeuer geschossen“, erwiderte Torum Acati schmunzelnd. „Der Mann ist ehemaliger Unteroffizier. Er weiß, dass es trainierte Männer und Frauen mit deinen Fähigkeiten gibt. Er wollte dir nur Angst machen. Und vielleicht wollte er einfach nur aus einem ehrlichen Mund ehrliche Worte hören, die ihm sagen, was wirklich hier passiert ist und woran sie sind.“ Acatis Blick wurde traurig. „Wenn ich ehrlich bin, hapert es da bei unserem Rat etwas. Und ich bin als Admiral noch relativ gut informiert.“

„Trotzdem. Sie haben zweimal auf mich geschossen! Zweimal! Und ob ich die Partikelwaffe hätte abwehren können, weiß ich nicht mal!“

„Ich habe nur eingegriffen, weil ich dir die ganze Show nicht alleine überlassen wollte“, meinte Acati und zwinkerte mir zu.

„Ja, klar.“
 

„AROGAD!“, rief der Anführer hinter mir her.

Ich stoppte, Acati und der Fioran-Pilot taten es mir gleich. „WAS?“

„Sag mir, was passiert ist!“

„Einer der Türme, Logodoboro, wurde vom Core infiltriert. Seine Agenten haben ein Schiff der Daness übernommen und ließen es auf den Arogad-Turm feuern. Die Schirme des Turms haben gehalten, dann hat er sich mit den Schirmen der anderen acht Türme synchron geschaltet. Die Explosionsenergie ging als Feuerwalze über den Schirm hinweg. Beim Rücklauf der Luft in das durch die Explosionen entstandene Vakuum wurden hunderttausende Tonnen Staub aufgesogen. Der Staub wurde von der Strahlung kontaminiert und setzte sich nach und nach auf den ungeschützten Vorstädten ab.

Wir haben es nicht geahnt und wir haben es nicht kommen gesehen, aber zwei Häuser, Grandanar und Koromando, haben sofort reagiert und begonnen, die verseuchten Städte zu evakuieren.

Nachdem der Bürgerkrieg zwischen Daness und Arogad abgesagt war, habe ich dafür gesorgt, dass auch diese Türme ihre Kraft in die Evakuierung stecken.

Das ist die Geschichte in Kürze. Und nun stehe ich hier. Willst du noch etwas wissen?“

„Ja. Hast du am Wochenende schon was vor?“

Seine Männer lachten, und für einen Moment musste ich selbst ein Schmunzeln unterdrücken. Der Ärger, der in mir aufwallte, half mir dabei.

„Leider, leider. Ich muss siebzehn Millionen Naguad das Leben retten. Aber du kannst mir dabei helfen.“
 

Der Mann verstaute seine Waffe wieder und kam ein paar Schritte auf uns zu. Er hob eine Hand. „Die Scharschützen verlassen ihre Positionen. Interessant“, raunte Acati.

„Ihr seid kein Ablenkungsmanöver und ihr seid auch keine kleinen Offiziere, die man beliebig opfern kann“, stellte er fest. „Ihr meint ernst was ihr sagt. Deshalb glaube ich, dass ihr nichts mit dem Core zu tun habt. Deshalb glaube ich, man kann euch vertrauen. Akira Otomo und Torum Acati.“

Ich runzelte die Stirn. „Moment mal. Heißt das, der ganze Kram hier war dazu da um… Um herauszufinden, ob wir Agenten des Cores sind?“

„Äh, nein. Erschießen lassen wollte ich dich, weil du eine lose Klappe hast.“

„Na, danke“, brummte ich unter dem Gelächter der anderen Männer.

„Daness schießt auf Arogad, Arogad sammelt seine Schiffe. Zwischendrin Meldungen, dass ein Turm vom Core unterwandert ist. Wie hättest du reagiert, Junge? Es stimmt, ich habe mich nie um Verantwortung gedrängt. Aber ich war mit Oren Arogad dabei, als wir den ersten Core erobert haben. Ich habe gesehen, was sie mit Naguad, was sie mit Iovar machen.

Ich wusste nicht was passiert war. Ich wusste nicht, wem ich trauen kann. Ich wusste nicht was noch wahr und was Lüge war. Also nahm ich meine Verantwortung an und beschützte meine Leute.“

„Und dafür harrt ihr in einer radioaktiven Hölle aus?“, argwöhnte ich.

„Du hast die Augen eines Kriegers, Junge. Du hast bereits viel zu viel gesehen. Aber du hast den wahren Schrecken noch nicht gesehen. Du warst nicht da. Du hast nicht auf den Befehl von Admiral Lencis auf die Reihen der Tanks mit den aus ihren Körpern entfernten Gehirnen geschossen. Du hast…“ Der Mann schluckte hart, als ihn die Erinnerungen übermannten, die fast zweitausend Jahre alt waren. „Du hast nicht gesehen, zu was der Core fähig ist.

Als er hier angriff, in unserem Zentrum, unserem Herz, konnte ich nur nach meinem Gewissen handeln.“
 

Er trat direkt vor mich und streckte mir beide Hände entgegen. „Du kannst mich jetzt verhaften, Junge. Die anderen werden kooperieren. Ruf deine Fregatten.“

Ich sah auf die Hände. „Verhaften?“

„Nun, ich habe zweimal auf Aris Arogad schießen lassen, den Erben des Ratsvorsitzes der Arogad.“

„So habe ich das gerne! Erst große Reden schwingen und dann die Arbeit auf andere abwälzen, was? Nichts da! Du bleibst schön hier und organisierst die Evakuierung deiner Leute selbst! Ich mach doch hier nicht jeden Scheiß! So ein Kerl! Lässt sogar auf mich schießen, damit ihm der Verwaltungskram erspart bleibt! Aber nicht mit mir, also zurück an die Arbeit!“

Abrupt wandte ich mich ab und ging die restlichen Meter zum Gleiter zurück. „In fünf Stunden komme ich wieder und dann will ich hören, dass fünf Fregatten fünftausend Naguad evakuiert haben, verstanden?“

„Jawohl, Meister Arogad.“

Ich wandte mich noch einmal um. „Das heißt Division Commander Akira Otomo. Offizier der United Earth Mecha Force.“

„Meinetwegen auch das“, erwiderte der Mann schmunzelnd.

„Na also“, brummte ich, schwang mich in den Gleiter und hörte wie Torum sich neben mir in die Polster lümmelte. „Jonsto, nach Hause. Die Evakuierung geht weiter.“

„Einmal zum Hauptquartier, kommt sofort, Division Commander Akira Otomo.“ Er zwinkerte mir zu, bevor er startete.

„Hm. Ein paar von euch können ja doch zuhören.“

„Ein paar“, gestand Torum ein. „Wir sollten öfters solche Ausflüge machen, Akira. Das hat Spaß gemacht.“

Spaß gemacht? Ungläubig starrte ich den Admiral an. „Du bist kein Mensch, oder?“

„Natürlich nicht. Ich bin ein Naguad.“ Er zog seine Schirmmütze über sein Gesicht. „Weckt mich, wenn wir wieder zurück sind, ja?“

„Eventuell“, scherzte ich, während der Gleiter startete. Es wartete noch eine Menge Arbeit auf uns. Sehr, sehr viel Arbeit.
 

4.

Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl für Henry William Taylor, hier in den Elwenfelt-Turm zurückzukehren. Und es war noch seltsamer zu erleben, wie die Haus-Mitglieder ihn behandelten. Selbst zu seiner besten Zeit, vor seiner Flucht in den Arogad-Turm, als er noch als entmachteter Anführer einer zukünftigen Elwenfelt-Mark galt, war er nicht so freundlich empfangen worden. Und bestimmt hatte er nicht diese umfassenden Rechte in den Archiven. Alles was ihn interessierte und bisher verschlossen und versiegelt gewesen war, öffnete sich für ihn als hätte es niemals Kodierungen, Sicherheitsfallen und Geheimhaltungsstufen gegeben.

Nach seiner Recherche im Logodoboro-Turm – eigentlich steckte er ja noch mittendrin – war er schnell auf einen Querverweis gestoßen, der ihn in den Elwenfelt-Turm zurückgebracht hatte. Sicherheitshalber hatte er sich eine Empfehlung von Oren Arogad geholt, Akiras Unterstützung, genauer gesagt hatte er sich Sora Fioran und Franlin Litov ausgeliehen und war damit zu Elwenfelt zurückgeflogen. Ein wenig irritiert hatte es ihn, dass Megumi ihm dieses kleine Gör Gina Casoli aufs Auge gedrückt hatte. Was sollte eine Köchin schon in einem Archiv für eine Hilfe sein? Er verließ sich lieber auf das Historiker-Team, das Akira ihm zur Verfügung gestellt hatte, und dessen Mitglieder mittlerweile auf fünf Türme verteilt waren. Elwenfelt war der sechste und Henry plante nicht, so schnell wieder fort zu gehen.

Vielleicht half auch ein wenig die Tatsache, dass Sora eine Fioran-Assasinin war, eine der besttrainiertesten Mordmaschinen in diesem System, vielleicht sogar im ganzen Imperium.

Eventuell hatten die Elwenfelt Angst.
 

Oder auch nicht, stellte Henry resignierend fest, als Franlin von einem seiner Interviews zurückkam. Als offizieller Sprecher von Aris Arogad hatte er hier sämtliche Verpflichtungen des Fliegerjungen übernommen. Unter anderem hatte er schon zum vierten Mal erklären müssen, unter welchen Umständen Jarah Arogad Elwenfelt-Gene erhalten hatte.

Franlin hatte bei der Geschichte kein Blatt vor dem Mund genommen und die ganze Geschichte unverfälscht erzählt.

Seitdem trafen Henry vermehrt bewundernde und verehrende Blicke. Immerhin war es sein Großmut gewesen, der einer der höchsten Töchter der Arogads das Leben gerettet hatte – und zwar mit ihren Genen, dem Pool der Elwenfelt.

Sicherlich hofften nicht wenige Naguad dieser Generation im Turm, dass sich dadurch die erkalteten Beziehungen zu Arogad wieder verbesserten. Immerhin waren die Türme lange Jahrhunderte beste Verbündete gewesen, bevor Fioran ihnen den Rang abgejagt hatte.
 

Egal. Die Arbeit ungestört verrichten zu können war wichtiger.

Beinahe ungestört. Fast ungestört. Eigentlich störte er sich selber, weil er immer wieder zu der konzentriert arbeitenden Gina herüber sah. Entgegen seinen Erwartungen machte sie ihre Arbeit bisher gut – Logodoboro-Unterlagen checken und anhand der Querverweise die entsprechenden Datenbanken der Elwenfelt markieren.

Sie spürte laut Plan gerade der Daima-Legende nach. Es gab in jedem Turm andere Geschichten zu diesem Themenkomplex, Variationen, Neues, viele Teile eines Mosaiks, die sich sehr oft glichen, aber dann wieder Details offenbarten, die vorher unbekannt waren.

Diese unbekannten Details jagte sein Team gerade. Ausgearbeitet sollten sie das ergeben, was Henry bei sich das unvollständige Bild einer verzerrten Vergangenheit nannte – den bestmöglichen Blick in die hohe Zeit der Daima.

In dieser Epoche lag die Antwort auf viele seiner Fragen. Dieser Suche hatte er sich verschrieben. Und er wusste, dass die Beantwortung der einzelnen Fragen neue aufwerfen würde und er weiter forschen würde, und weiter und weiter und…
 

Wie das Kaninchen in die Augen der Schlange starrrte Henry auf den schlanken Arm, der sich in sein Gesichtsfeld schob. Besonders interessiert starrte er dabei auf die braun gebrannte Frauenhand, die gerade ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit vor ihm abstellte.

„Du solltest etwas trinken, Henry“, tadelte ihn eine altbekannte Stimme. „Ich kenne dich. Wenn du in einem Thema drin bist, könntest du glatt verdursten, wenn niemand auf dich aufpasst.“

Sein Herz drohte ihm bis zum Hals zu schlagen. Erschrocken fuhr er herum. „Ai?“

Die Frau, die auf ihn herab lächelte war Gina. Nur Gina. Nur… Nein. Das konnte doch nicht sein. Da war etwas in den Augen der Frau aus Argentinien, das war so vertraut… Das war so bekannt und so… „Ai?“, hauchte er leise und erhob sich. Verdammt, Akira hatte doch gesagt das er sie nicht hatte beschützen können! Dass sie gestorben war, auf der AURORA, im Kampf gegen Torum Acati! Aber diese Augen, dieser Schimmer, dieser Blick! Das konnte doch nicht sein! „Ai!“

Übermütig schloss er die junge Frau in die Arme. Ohne Halt begann er zu zittern, während er den warmen Leib an sich drückte. „Ai“, schluchzte er ihr ins Ohr. „Ai, ich dachte du bist tot! Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen!“

„Technisch gesehen“, erwiderte Gina und stemmte sich halbherzig gegen Taylors Griff, „siehst du sie auch gerade nicht wieder, weil das eigentlich mein Körper ist. Aber Ai-chan und Corinne waren der Meinung, dass wir dir endlich die Wahrheit sagen sollten, egal wie beschäftigt du bist, Henry.“ Erschrocken sah sie ihn an. „D-das ist mir nur so raus gerutscht, Legat Taylor!“

Langsam löste er sich von der jungen Frau. Mit einem Lächeln strich er ihr über den Kopf. „Gina, du darfst mich immer und jederzeit Henry nennen. Ich könnte sowieso nicht unterscheiden, wer es gerade sagt. Du, Ai oder Corinne Vaslot.“

„Danke, das ist sehr… Moment mal, ich habe Corinnes Nachnamen doch überhaupt nicht genannt!“

„Ich habe nur eins und eins zusammengezählt.“ Henry setzte sich wieder und bot der jungen Frau ebenfalls einen Platz an. „So, nachdem der erste Schreck und die erste Freude abgeklungen ist, will ich dir, oder besser euch, etwas erklären und ihr drei korrigiert mich einfach.

Erstens. Corinne Vaslot gehört zu einem Spezialprojekt unserer Agentenausbildung, dem No Trace-Projekt, dass es ermöglichen sollte, Agenten in die Körper von hochrangigen Menschen zu verpflanzen, um so die perfekte Spionage zu begehen, richtig?“

Gina nickte.

„Aber die Zerschlagung des Legats kam zu früh und zu schnell. Stattdessen wurde das Projekt auf die Erde ausgelagert und von Spionage auf Attentat verlegt. Da diese Forschung dem Magier Tora unterstand wurden vor allem seine Zöglinge dazu herangezogen. Also Menschen, die zumindest Erfahrung im Umgang mit KI hatten. Richtig?“

Wieder nickte die Argentinierin.

Ursprünglich wurde Corinne offensichtlich in die bedauernswerte Gina verpflanzt, nachdem ihre, nun, Freundschaft mit Mamoru Hatake bekannt wurde. Damit brachte man sehr effektiv eine Attentäterin in die unmittelbare Umgebung vom Fliegerjungen.“

Als Gina ihn verständnislos ansah, ergänzte Henry: „Akira.“

„Ach so, ja.“

„Leider ging alles schief. Corinne hat sich von Akira mächtig beeindrucken lassen oder gleich in ihn verknallt und ihren Auftrag nicht ausgeführt, richtig?“

„Ersteres“, erwiderte Gina mit geröteten Wangen.

„Dann kam der Kampf mit Torum Acati und Ai hat die Waghalsigkeit, ja, den Todesmut besessen, ihn anzugreifen. Damit hast du Akira wertvolle Zeit erkauft, wie ich weiß, aber der Preis war hoch. Acati, brodelnd vor KI, hat dich getötet und fort geschleudert. Gina muss dich relativ schnell gefunden haben.“

„Sie wurde mir direkt in die Arme geschleudert“, korrigierte die Italienerin verlegen. „Und dabei…“

„Und dabei wurde ihre Seele aus ihrem sterbenden Körper gerissen. Acati war aufgeladen mit seinem eigenen KI. Er war wie ein großer Bandgenerator und hat teilweise Energie auf Ai übertragen, ohne es zu wollen. Und dabei…“

„Im Prinzip ganz richtig, nur ist Ais Körper nicht tot. Er ruht in der AURORA in einem Biotank. Aber sie kann nicht mehr zurückwechseln. Wir dachten, Akira und die Naguad könnten uns bei unserem Problem helfen. Aber bisher hatte einfach noch keiner Zeit für uns… Bitte schau mich nicht so an, Henry. Wir sind hier zu dritt im Körper, und eine hat Angst vor dir, die zweite birst fast vor Respekt vor dem Legaten und die dritte ist… Schwamm drüber.“

„Angst vor mir?“ Henry lachte. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben, Gina.“

„Ich doch nicht. Ai hat Angst, weil sie so eine Dummheit gemacht hat.“

Taylor schluckte trocken. „Nun setz dich endlich. Kein Wunder, dass du mit dieser Arbeit so gut klar kommst, wenn du das denken drei Personen überlassen kannst. Hilfst du mir beim Iotan-Block? Ich glaube, das ist ein interessanter Komplex, der uns einige Antworten bringen wird.“

„Gerne“, rief Gina erfreut. „Und sicher wird er uns für jede Antwort eine neue Frage bescheren.“

„Sicherlich“, schmunzelte Taylor. „Über das andere Thema reden wir nachher… Ai.“

Gina hustete, als hätte sie sich verschluckt? „So? Ich aber nicht, und… Mist, jetzt habe ich laut geredet. Alles in Ordnung, Henry, alles in Ordnung.“

„Du teilst deinen Körper mit zwei weiteren Frauen und denkst es ist alles in Ordnung? Du bist sehr optimistisch, Gina“, spottete Henry.

„Ich bin ja nur froh, dass ich den Körper mit keinem Mann teilen muss“, brummte sie unwillig.

„Argument.“ Und treffend auf den Punkt gebracht.

***

„Und der Arogad-Turm ist wirklich drei Kilometer hoch?“, rief Soren aufgeregt.

„Aber natürlich“, erwiderte ich und sprang mit dem kleinen sechsjährigen Jungen auf den Schultern ein paar Treppenstufen herab. Dem Kleinen gefiel das natürlich. Er lachte aus vollem Hals. „Ich habe jede Menge Cousins und Cousinen in deinem Alter“, berichtete ich. „Ich werde ihnen sagen, sie sollen mit dir spielen, Soren.“

„Wirklich? Das würdest du machen?“

„Aber natürlich. Jaga, Inuse, Prilic, Asserda, Jogran, Pihlin, sie werden ganz wild darauf sein dich kennen zu lernen. Bis auf den Turm kennen sie noch nicht viel von der Welt.“

„Echt? Aber ist das nicht traurig? Ich meine, hier unten gibt es doch Parks und die Schule und… Und… Und…“ Der Junge bekam einen Hustenanfall, und unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Ich hoffte inständig, dass der Junge kein Blut spuckte. Das hätte mich vor Sorge in den Wahnsinn getrieben.

„Na, geht es wieder?“

„Klar, Akira. War ja nur husten. Das macht der viele Staub, sagt Mama.

Sag mal, langweilen sich deine Cousins und Cousinen da nicht? Da oben, meine ich?“

„Ach, Schulen und Parks gibt es da oben auch. Aber nicht so große wie hier in der Stadt.“

„Aber ist das nicht wie im Märchen? Gefangen im Turm.“

„Sie sind doch erst sechs und sieben“, erwiderte ich lachend. „Die ganze Welt steht ihnen offen, wenn sie älter sind. Aber diesmal ist es anders herum. Die Welt kommt zu ihnen.“ Ich lachte, hob den Jungen von meinen Schultern und reichte ihn dem Vater, der bereits auf dem großen Schweber stand und den anderen Familienmitgliedern sowie den Mitbürgern beim einsteigen half. Die Evakuierung dieser Menschen war nur noch wenige Minuten entfernt.

„Das bist du, Soren. Erzähle ihnen wie es hier unten ist, okay?“

„Okay. Akira, kommst du dann auch bald?“

„Ach, ich habe hier noch zu tun. Aber irgendwann komme ich nach, keine Sorge.“

Der Schweber ruckte an und erhob sich in die Luft. Kurz darauf startete er in Richtung Platz zur wartenden Fregatte. Ich winkte Soran nach, der zu mir herunter sah, solange seine Mutter es ihm erlaubte.
 

Seufzend wandte ich mich um und ging zu meinem eigenen Schweber. Nachdem die Evakuierung erst mal ins Rollen gekommen war – nachdem wir den fatalen Fehler erkannt hatten, der uns passiert war, nämlich die Angst der Menschen zu zerstreuen, in eine gigantische Falle des Cores zu laufen – war die Aktion ein Selbstläufer. Eigentlich hätte ich mich nun wieder in den Turm zurückziehen können, um vielleicht bei der Koordinierung der Flüchtlinge zu helfen. Oder die Operation zur Reinigung der Städte vorzubereiten. Es gab so viel zu tun.

Aber ich konnte es nicht, noch nicht. Ich musste hier vor Ort sein, im radioaktiven Staub. Hier, direkt am Puls des Geschehens. Hier, wo tapfere Männer und Frauen Leben retteten. Ich musste meinen Teil beitragen, meine Zeit im Staub absitzen, oder ich platzte vor Scham.
 

„Meister Arogad! Meister Arogad!“

„Ja? Was gibt es denn, mein Junge?“

Der Bursche, der wild winkend auf mich zu gerannt kam, mochte sechzehn oder älter sein. Etwas an ihm alarmierte mich, und als er näher kam, wusste ich auch was. Er hatte Verbrennungen. Sie waren nicht groß, aber unregelmäßig über seinen Körper verteilt, soweit ich es sehen konnte. „Meister Arogad, Sie sind doch ein AO-Meister! Sie müssen mitkommen! Bitte! Luvven hat diesen Stein gefunden und dann hat unsere Haut angefangen zu brennen und Rose atmet nicht mehr und…“

Ich sah die wilde Panik in den Augen des Jungen. Gott, Junge. Er war vielleicht nur vier Jahre jünger als ich. Wie arrogant konnte man nur werden, wenn man ein paar Jahre mehr drauf hatte? Obwohl, war ich jemals so jung? Ich konnte es mir nicht vorstellen, denn als ich vierzehn gewesen war, jünger als dieser Bursche, da hatte ich bereits als Blue Lightning Leben beendet.

Ich setzte mich sofort in Bewegung, folgte dem Jungen tiefer in die Straßen hinein, durch eine Nebengasse, einen Hinterhof und dachte gerade daran, was für ein Idiot ich doch war, dass ich dem Bengel, der offensichtlich – etwas zu offensichtlich – Strahlungsverbrennungen hatte, so ohne weiteres herlief. Und das nur weil der Bursche wusste, dass ich ein AO- oder KI-Meister war und bei solchen Verletzungen Erste Hilfe leisten konnte, anstatt sofort ein Medoteam anzufordern.
 

Abrupt blieb ich stehen. Moment. Woher wusste der Knabe, dass ich ein AO-Meister war? Und warum wusste er überhaupt von den AO-Kräften? Ich beschloss, wenigstens Verstärkung in Form von einem Medo-Team anzufordern und… Grelles Licht…

***

„…hast ihn umgebracht!“ „…ist doch ein AO-Meister. So schnell stirbt…“ „…schneller gehen und euch beeilen…“ „…der Gleiter? WO ist der Gleiter? Wir müssen schnell machen, bevor…“

Die Wortfetzen, die an mein Ohr drangen erschienen mir so sinnlos, so vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Müde öffnete ich ein Auge, aber es fiel sofort wieder zu.

Erneut versuchte ich es, öffnete diesmal beide Augen und sah in den prächtigen Mittagshimmel über der Hauptstadt. Wie schön. Fast mochte man nicht glauben, dass hier beinahe ein Bürgerkrieg begonnen hätte. Dass diese Stadt radioaktiv verseucht war.

Ich drehte den Kopf zur Seite – und schrie auf!

Ich sah direkt in ein Paar leerer, grüner Augen. Ein Toter!

„Verdammt, er ist wach! Die Dosis war zu gering!“

„Die Dosis hätte einen Erwachsenen ausgeschaltet! Er ist ein AO-Meister, das hätten wir bedenken müssen! Gebt ihm noch mal was, bevor er wieder klar denken kann!“

Moment mal, dieses Gesicht, es kam mir bekannt vor. Auch wenn ich die Augen nicht so leblos in Erinnerung hatte, ich kannte dieses Gesicht.

Ich taumelte, und das lag nicht nur an dem merkwürdigen Druck in meinem Nacken, von dem sich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete und wieder ins Dunkel trieb. Kein Wunder, dass ich das Gesicht kannte. Es gehörte mir, Akira Otomo. Dann wurde es schwarz.
 

Epilog:

Es war sehr unproduktiv, dass die Umstehenden heran eilten, anstatt auseinander zu gehen und ihnen eine Gasse zu machen. Megumi war am Rande einer Panik! Akira brauchte Hilfe, so schrecklich schnell Hilfe, und was machten die Arogad?

„Das ist Aris! Verdammt, das ist Aris! Macht Platz für Aris Arogad!“

„Aris!“ „Sie bringen Aris rein!“ „Was ist mit ihm passiert?“ Die Worte pflanzten sich durch die Menge fort, und diesmal wurde nicht gedrängt. Die Naguad bildeten eine Gasse zu den Liften.

Dort ging gerade ein Tür auf, Oren Arogad und Eridia Yodama stürmten heraus. Dazu ließ Helen Otomo ihren Avatar direkt neben ihnen entstehen.

„Was ist passiert? Die ersten Nachrichten aus der Vorstadt haben gesagt, Akira wäre katatonisch!“ Eri legte beide Hände auf das Gesicht ihres Enkels.

„Ich weiß es nicht! Er hat sich nicht zum vereinbarten Zeitraum gemeldet und ein paar seiner neuen Freunde aus der Vorstadt haben begonnen nach ihm zu suchen. Er ist schon eine halbe Stunde so! Ich dachte, wenn ich ihn so schnell es geht in den Turm schaffe, dann… Oh Gott, Akira!“

„Was ist mit ihm, Mutter?“

Ein Leuchten entstand um die Hände der Halb-Iotan. Es existierte für fünf bange Minuten. Dann nahm sie die Hände wieder fort und fluchte undamenhaft ein paar Phrasen, die geringere Männer als Raumsoldaten die Schamesröte in die Wangen und Tränen in die Augen trieb. Zum Glück sehr leise.

„Er ist fort“, sagte sie schlicht.

„Nein“, hauchte Megumi. „Nein, das kann nicht sein! Er atmet doch noch! Er kann nicht tot sein! Er ist nicht tot! Nein!“

„BERUHIGE DICH!“, rief Eridia, ergriff Megumi an der weißgelben Hausuniform und zog sie zu sich heran. „Akira ist nicht tot! Aber er ist da nicht mehr drin! Sein KI wurde entfernt! Sein Bewusstsein ist weg! Oder um es banal auszudrücken, man hat ihm die Seele aus dem Körper geklaut!“

„Was?“

Erschrockenes Raunen ging durch die Menge.

„Informiert unsere Verbündeten, informiert den Rat und das Militär! Niemand darf den Planeten verlassen! Alle Flüge müssen gestoppt werden! Sofort! Ich bin sicher, das zweite Verräterhaus hat da seine Hand im Spiel! Sofort!“
 

Sie legte eine Hand auf Megumis Schulter. „Komm. Lass ihn uns in einen Biotank legen, bevor die anderen zurückkommen.“

„Nein. Kein Biotank. Nicht schon wieder ein Biotank“, schluchzte sie.

„Doch. Und dann bringst du ihn zur Erde zurück.“

Hebt die BISMARCK

Prolog:

Es war ein Anblick, der das Herz stehen lassen konnte. Die beiden mächtigen Schiffsrümpfe, die BISMARCK und die HINDENBURG, einst geplant und konstruiert um einmal die ersten Schlachtschiffe der Menschheit zu sein, wurden auf Befehl des Executive Commanders der United Earth Mecha Force, namentlich der legendäre Top-Pilot Blue Lightning Akira Otomo, aus den Werften der ARTEMIS-Plattform geschleppt und im Atlantik versenkt.

Roger Smith beobachtete dieses gewaltige Schauspiel mit Tränen in den Augen.

Er, der jüngste amerikanische Offizier, dem jemals das Kommando über ein See-Schiff anvertraut worden war, weinte. Und fragte sich, ob dies Schwäche oder Leidenschaft war.

Diese gewaltigen Schiffe, dafür gedacht, den Krieg zurück zu den Kronosiern zu tragen, sollten auf den Wunsch eines achtzehnjährigen Kriegsversehrten Oberstufenschülers versenkt werden, um den Platz in den Werften frei zu machen, für die YAMATO und die KAMI sowie den Zerstörer LOS ANGELES. Sinnvoll war dieser Plan schon, wie Smith zugab, aber mussten diese Giganten dafür wirklich auf den Grund des Atlantiks versenkt werden?

Jedenfalls, als altem Seefahrer brannte ihm das Herz vor Scham und vor Mitgefühl für die stolzen Rümpfe, die ihren letzten Gang antraten.
 

Akira Otomo, was war er für ein Mensch? Konnte man einem Achtzehnjährigen die Verantwortung, die UEMF zu lenken, die letzte Verteidigungslinie der Menschheit, überhaupt zumuten? Mit dem Namen Blue Lightning verband Roger genau wie jeder andere Soldat auf der Erde Tapferkeit, höchstes Können, tödliche Präzision und einen höchst erfolgreichen Angriff auf die kronosische Mars-Basis am Fuß des Nyx Olympus-Schildvulkans.

Aber das zu wissen und zu begreifen, dass dieser Akira Otomo seit seinem vierzehnten Lebensjahr für die Menschheit kämpfte war ein Unterschied.

Roger wollte es begreifen, wollte die Verehrung, die er für Blue Lightning empfand, auf Colonel Otomo, nein, Executive Commander Otomo übertragen. Aber es fiel schwer, wenn man nur diesen Jungen mit den harten Gesichtszügen sah.

Roger wusste, dass Akira Otomo die richtige Entscheidung traf, genauso wie er es geschafft hatte, den OLYMP neu zu organisieren, nachdem die fünfzigtausend Besatzungsmitglieder dem Resonatortorpedo zum Opfer gefallen waren.

Aber konnte das wirklich dieser Oberstufenschüler sein?

Konnte auch diese Entscheidung richtig sein? Konnte die Rettung wirklich nur im Umbau der KAMI, der YAMATO, der LOS ANGELES und der Fertigstellung der GRAF SPEE liegen?

Gab es keine andere Lösung? Hätte man die Schiffsrümpfe nicht in einen stabilen Orbit bringen und später einsammeln können?

Nein, die Rümpfe hätten einem unauffälligen Beobachter zu viele Rückschlüsse auf die Technik gewährt. Ganz davon abgesehen, dass sie von den Kronosiern gestohlen werden konnten.

Warum dann nicht in der Wüste? Warum in eintausend Metern Tiefe mitten im Atlantik? In einem der unzugänglichsten Gebiete der Welt?

Gerade weil es unzugänglich war?

Konnte er dieser Entscheidung vertrauen? Konnte er Akira Otomo vertrauen? Konnte er als Kapitän an diesem Einsatz teilnehmen? Konnte er ein Schiff unter seinem Oberkommando führen?

Ein Stich ging durch sein Herz, als die BISMARCK über den Rand der Plattform hinausschoss und gemächlich hinab kippte.
 

1.

„KLASSE!“ Oberst Vitali Andrejewitsch Kuratov zog den Hawk über eine Schicht Wolken hinweg, durchbrach sie und zog eine enge Schleife um die kleine Wolkenbank.

Unter ihm zogen neun weitere Hawks ihre Bahn. Sie alle gehörten zu den Roten Falken, dem absoluten Elite-Regiment der russischen Armee.

Entstanden war diese Truppe aus den Piloten, die anfangs in ihren MiGs Seite an Seite mit Blue Lightning gekämpft hatten, in Amerika, in Europa, in China und nur selten über russischem Boden oder einem der Satellitenstaaten.

Selbstlos und vor allem ohne zu zögern hatten die Russen jedem Staat Hilfe geleistet, und oft genug war es Vitali vorgekommen, dass Blue Lightning sie anführte.

Als dann die ersten Hawks außerhalb der UEMF verteilt wurden, hatte es das Dilemma gegeben, dass ausschließlich junge Leute den Kontakt mit der K.I. etablieren konnten.

Bis zu diesem Punkt, an dem ein dreißig Jahre alter Pilot in einen Hawk steigen konnte, war es ein sehr weiter Weg gewesen. Aber er hatte sich gelohnt.

An dem Tag, an dem der erste Hawk, der erste Sparrow, der erste Eagle von einem Piloten beliebigen Alters gesteuert werden konnte, anderthalb Jahre nach den Kämpfen um Erde und Mars, hatte sich Vitali einen alten Wunschtraum erfüllt und sowohl jene Piloten zusammengezogen, die in ihrem MiGs Seite an Seite gegen die Daishis der Invasoren gekämpft hatten als auch jene russischen jungen Mecha-Piloten, die nicht im UEMF-Sold standen. Oder nicht mehr. Denn nach dem Ende des Krieges waren viele nach Hause gekommen und bildeten nun das Rückgrat der Verteidigung.
 

Kuratov grinste still, während er sich mit seinem Hawk wieder in die Formation einfügte. Es gab keine russische Schiffsklasse in der UEMF. Es gab auch keine hochrangigen Offiziere an Bord der AURORA aus seinem Land. Und es gab nur wenige Kapitäne und Offiziere innerhalb der UEMF, die aus seinem Heimatland kamen. Aber das war alles Teil des großen Preises für die nahezu unverbrüchliche Loyalität, der von der UEMF gewährt worden war.

Dafür, dass die Russische Republik eine genauso starke Mecha-Abwehr aufbauen durfte wie die störrischen Amerikaner, war ihnen militärische Souveränität gewährt worden.

Damit verbunden war zwar die Bedingung, dass russische Einheiten im Weltraum automatisch unter UEMF-Kommando standen, aber Vitali wusste, dass das nur ein kleiner Preis für die Sicherheit und die Souveränität seiner Nation war.

Außerdem wusste er nur zu gut, dass die United Earth Mecha Force, deren Mitglied er als nomineller Verbündeter ja war, ihre Streitkräfte jederzeit besiegen konnte. Auch die der Amerikaner, und das war ihm eine große Beruhigung.

Immerhin hatte die UEMF Blue Lightning, Lady Death, Thunderstrike und Zeus, die vier überragendsten Mecha-Piloten aller Zeiten.

Ausgesprochen Akira Otomo Megumi Uno, Yohko Otomo und Makoto Ino. Vier Namen, die jedem, der im Krieg gedient hatte, wohlige Schauer offenen Entsetzens über den Rücken jagte.

„Sind Sie zufrieden, Oberst?“, klang die Stimme von Elena Brinkmann auf, seiner Stellvertreterin im Rang eines Oberstleutnant.

„Sehr zufrieden. Es war ein langer Weg, bis ich mich in einen Hawk setzen durfte, aber es hat sich gelohnt. Auf so ein Baby wartet man gerne.“

Brinkmann, Deutschrussin aus Sibirien, zwinkerte ihm vom Monitor der Direktkommunikation zu. „Sie zeigen auch ein beachtliches Talent, Herr Oberst. Aber die wahren Fähigkeiten offenbart ein Mecha erst, wenn er die hinderliche Atmosphäre hinter sich gelassen hat.“

Interessiert sah Vitali auf. Elena Brinkmann war während des Krieges einer der jungen Menschen, die auf einem Hawk trainiert worden waren und hatte sowohl für ARTEMIS als auch in der Marsmission gekämpft. Als sie siegreich mit Akira Otomo zurückgekehrt war, hatte dies ihren Wert für das Militär ins Unermessliche gesteigert; ihr war eine eigene Schwadron anvertraut worden, verbunden mit der Beförderung zum Major. Wenn die erfahrene Offizierin so etwas sagte, dann hatte es Hand und Fuß.

„Gut. Dann schauen wir uns die Welt doch mal von oben an. Rote Falken, mir nach!“
 

Vitali trat die Pedale der Düsen durch und der Hawk machte einen Satz in die Höhe. Der Andruck war stark, aber der perfekt angeglichene Druckanzug reduzierte die gefühlte Belastung um bis zu vier Gravos. Modernste Technik, basierend auf intensiver Forschung, hatte diesen Wunderanzug hervorgebracht.

Die anderen Maschinen folgten.

Vitali genoss den Andruck. Genoss das Arbeitsgeräusch des Hawks, genoss die Konversation mit der K.I., genoss einfach alles. Endlich in einem Hawk. Endlich konnte er nachempfinden, was Akira erlebt hatte, was er hatte durchmachen müssen. Es reichte noch lange nicht, um mit dem legendären Piloten gleich zu ziehen, aber Vitali bezweifelte ernsthaft, dass das einem Menschen außer Megumi Uno gelingen konnte.

„Zehn Kilometer. Oberst Kuratov, haben Sie sich eigentlich schon entschieden?“

„Entschieden für was?“, fragte er verwundert, während sein Hawk auf zehn Komma fünf kletterte.

„Die Petition über den Besitzstand der Erde.“

„Ach, DIE Geschichte.“ Kuratov seufzte. „Wie oft soll ich denn noch erklären, dass das ein Bluff von Akira ist. Ich kenne den Jungen. Lieber würde er mit seinem Mecha durch die nächste Sonne fliegen, als sich die Arbeitslast aufzubrummen, zwei Sonnensysteme verwalten zu müssen. Es ist ein Fake, aber ich bin froh, dass unsere Regierung dabei mitspielt. Es sichert uns die Souveränität von den Naguad zu und…“

„Hat Sie noch niemand über den Inhalt der Petition informiert?“, fragte Elena erstaunt.

„Geht es nicht um eine Beschwerde gegen die Regierung wegen Eikichi Otomos Kapitulation vor den Naguads?“

„Nicht die Petition. Ich meine die andere. Wenn Division General Otomo und Colonel Uno wieder auf die Erde kommen und…“

„Ach so, diese Petition.“ Für einen Moment kämpfte er mit den Kontrollen. „Hören Sie, auch wenn es Megumi Uno und Akira Otomo sind, ich glaube nicht, dass eine internationale Ehrengarde, bestehend aus den besten Piloten weltweit sinnvoll ist.“

„Aber sie müssen doch geschützt werden! Und wenn nicht von unseren besten Piloten, von wem dann?“

„Die beiden können auf sich selbst aufpassen. Ich weiß es. Ich war oft genug mit ihnen da oben.“

„Und das ist ja auch der Grund, warum Sie diese Ehrengarde anführen sollen, Herr Oberst! Wir…“

„Moment mal, bin ich jetzt im falschen Film?“ Elf Kilometer.

„Sie haben die Petition nicht gelesen? Wir dachten, dass Sie, ein Veteran des New York-Angriffs und Begleiter in so vielen Schlachten für die beiden doch…“

„Oberstleutnant! Wissen Sie wie das klingt? Als würden wir die Monarchie einführen, mit Akira Otomo und Megumi Uno als Königspaar! Und die besten Krieger der Erde verteidigen sie! Was soll dieser Blödsinn?“

„Was ist Blödsinn daran, dass jene, die von ihnen beschützt wurden, sie nun beschützen?“, konterte die Offizierin.

Natürlich. Es war zu erwarten gewesen. Elena hatte zu lange in der UEMF gedient. Hatte zu oft gesehen, was die zwei geleistet hatten. Und was die vier beim zweiten Marsangriff auf die Beine gestellt hatten. Er selbst war ja nicht besser, hatte Otomo alias Blue Lightning immer in Schutz genommen… Zwölf Kilometer.

„Wir brauchen keine Monarchie, Oberstleutnant“, erklärte Kuratov trotzig.

„Das mag sein. Aber vielleicht brauchen Blue Lightning und Lady Death unseren Schutz?“
 

„Breitbandmitteilung aus Moskau“, meldete die K.I. Vitali horchte auf. „Text?“

„Nachrichten aus dem Nag-System. Sie sind gerade frisch rein gekommen.“

„So? Durchstellen.“

„…wiederhole: Akira Otomos Körper wird zur Erde zurückgeschafft.“

Ein eisiger Schauer ging durch seinen Körper. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, als vor drei Monaten die Meldung gekommen war, Akira sei auf einem der Monde Loranias tödlich vergiftet worden. Damals hatte sich alles binnen eines Tages zum Guten gewendet. Aber konnte Otomo immer Glück haben?

„Wie die UEMF-Spitze verlauten ließ haben unbekannte Angreifer das KI des Division Comanders gestohlen und aus dem Nag-System gebracht. Der Körper, der von Colonel Uno zurückeskortiert wird, ist also nicht mehr als eine leere Hülle. Aber die UEMF hat sofort verlauten lassen, dass alles in der Macht der Erde stehende getan wird, um das KI des Commanders zurückzuholen!“

Vitali ließ seinen Hawk stoppen, warf ihn herum und raste auf die Erde hinab.

„Oberst Kuratov! Was tun Sie?“

„Wir kehren zum Luftwaffenstützpunkt zurück! Ich glaube, jetzt ist ein wirklich guter Zeitpunkt, um ein paar Dinge zu organisieren!“

Sein KI gestohlen. Er konnte mit derlei Dingen nicht viel anfangen. Neulich war eine Warnung als Bericht durch alle Geschwader gegeistert, in der vor kronosischen Agenten gewarnt worden war, die als pures KI in eigentlich zuverlässigen Personen implantiert worden waren und nun Spionage betrieben.

Wie alles was mit den Kronosiern zu tun hatte, war auch das in Vitalis Augen möglich, also war die Idee, dass Otomos KI aus dem Körper gestohlen worden war, nicht von der Hand zu weisen.

Und er konnte nichts tun. Nur sein Bestes geben.

„Folgen Sie mir!“

„Bestätigt!“

***

Als ich erwachte, tat mir der Kopf weh. Außerdem war die Perspektive merkwürdig verschoben. Nicht nur, dass ich die Umgebung, die nur langsam schärfer wurde, wie durch eine milchige Scheibe sah, alles wirkte so groß, so gewaltig.

Meine Gedanken flossen träge, und ich spürte kaum meine Gliedmaßen. Geschweige denn konnte ich sie bewegen.

Ich brummte missmutig.

Das hätte ich besser nicht gemacht, denn nun beugte sich ein groteskes, riesiges Gesicht zu mir herunter, musterte mich besorgt und rückte etwas in meinem Gesicht zurecht.

Wieder brummte ich, was das riesige Gesicht noch besorgter aussehen ließ.

Es sah zur Seite. „Er ist wach.“

„Unmöglich. Die Dosis ist genau berechnet“, zischte eine männliche Stimme zurück. „Er kann nicht wach sein! Nicht hier! Nicht jetzt!“

Das riesige Gesicht wandte sich wieder mir zu und etwas berührte mich im Gesicht. „Und wenn wir die Dosis erhöhen?“

„Willst du Laysan töten?“, zischte die andere Stimme wieder.

Laysan… Töten… Laysan klang irgendwie nach einem Mädchen…

Mühsam hob ich die rechte Hand, es erschien mir, als müsste ich einen Berg bewegen.

„Er… Er bewegt den Arm.“

„Still, sie kommen!“
 

Die Perspektive änderte sich, das riesige Gesicht verschwand. Stattdessen erschienen andere Gesichter über mir, harte, wütende Gesichter, die zu riesigen, uniformierten Körpern gehörten; in deren Händen schwere, tödliche Waffen lagen.

„Papiere, bitte.“

„Hier, bitte, Hauptmann. Darf ich fragen, was vorgefallen ist?“

„Hm. Ryudan Koromando und Layss Koromando. Das ist?“

„Laysan, unser Kind. Es hat einen schweren Gen-Defekt. Wir wollen ihn auf Kordya beheben lassen.“

„Laysan Koromando hat keine Papiere.“

„Doch, warten Sie einen Augenblick. Ich habe den Kinderausweis hier, außerdem die ärztliche Empfehlung für Kordya.“

Die Miene des Hauptmanns wurde ernster und ernster, je länger die Stimme suchte.

Endlich wurde ihm ein weiterer Ausweis gereicht.

„Hm. Gut. Sie befinden sich seit achtzehn Stunden im Orbit?“

„Seit achtzehn oder neunzehn, ich müsste auf meinen Terminplaner gucken, um es genau sagen zu können.“

„Gut. Dann kommen Sie nicht in Frage. Diese beiden Männer werden trotzdem etwas an Ihnen durchführen, was wir einen Tiefenscan nennen. Bitte.“

Zwei der uniformierten Männer traten vor. Ich wandte den Kopf und erkannte zwei Personen. Einer gehörte das riesige Gesicht; aus der Distanz war es eher das einer hübschen Frau.

Daneben saß ein junger Mann.

Perspektive… Verdammt. Perspektive! Alles war so groß für mich, weil es groß war! Ich steckte nicht mehr in meinem Körper, oder ich hatte einen wirklich miesen Albtraum!

Wütend bäumte ich mich auf, aber Fesseln hielten mich zurück.

„Was ist mit dem Kind?“

„Ein Erstickungsanfall!“ Die Frau löste sich aus dem Tiefenscan, kam zu mir herüber. Ihre Hände zitterten, als sie außerhalb meines Sichtfeldes hantierte.

Ich brummte wütend, versuchte, die Stimmbänder unter Kontrolle zu bringen und mich bemerkbar zu machen!

Stattdessen wurde mein Blick schummrig.

„Jetzt geht es unserem Kind besser. Aber wir müssen so schnell es geht in die Spezialklinik auf Kordya.“

„Hm. Wir beenden den Tiefenscan bei ihnen beiden, danach steht einer weiteren Passage nichts mehr im Weg.“
 

Ich sah wieder alles wie durch einen Nebel. Die Männer neben mir benutzten KI, oder meinetwegen AO, um in den Geist der beiden Erwachsenen einzudringen.

Dies taten sie, um… Um was? Um mich zu finden. Diese Erkenntnis war beruhigend, aber auch sehr sinnlos. Warum scannten sie das Kind nicht? Warum versuchten sie nicht, mich hier zu finden? Ich hätte gelacht, wenn ich diesen Körper so gut beherrscht hätte.

„Kein Befund. Gut. Wir danken für ihre Kooperation. Und um auf Ihre Frage zu antworten, Ryudan Koromando, wir suchen nach dem entführten Meister Aris Arogad. Falls Sie also irgendetwas Verdächtiges sehen, zögern Sie nicht, das Militär und die Polizei zu informieren. Dreißig Millionen Naguad warten auf eine Spur.“

Der Mann salutierte, und die Abordnung ging.

Ich war hier, genau vor seine Nase. Der Mann hätte mich retten können, wenn er das Kind ebenfalls einem Tiefenscan unterzogen hätte. So aber blieb ich in der Hand meiner Feinde.

Wer war das überhaupt? Verbündete des Cores? Agenten von Haus Logodoboro?

Verdammt, verdammt. War Haus Koromando an der Verschwörung beteiligt?

„Schick Laysan schlafen“, kommandierte der Mann.

„Aber…“

„Wir können es nicht riskieren aufzufliegen, bis wir unseren Kontaktmann treffen. Das Risiko, dass er doch jemanden auf sich aufmerksam machen kann ist zu groß. Immerhin reden wir hier von Aris Arogad.“ Leiser fügte er hinzu: „Unserem Sohn wird nichts passieren. Sie haben es versprochen.“

Die Frau lächelte unsicher und hantierte wieder außerhalb meines Gesichtsfeldes. Dann wurde es nach und nach dunkel um mich herum, während Layss Koromando mein Gesicht liebkoste. Oder eher das ihres Sohnes.

Ein interessanter Gedanke, der mich selig einschlafen ließ. Ein Sohn. Sie hatten mich nicht in ein Mädchen implantiert.
 

2.

Der Vorgang war ungewöhnlich. So ungewöhnlich, dass er sicherlich irgendwann einmal in einem Geschichtsbuch stehen würde. Bestimmt im dem des Hauses Arogad, eventuell auch bei den Daness, und vielleicht auch im offiziellen Geschichtsbuch des naguadschen Imperiums.

Eridia Arogad saß in einem bequemen Sessel in einem der unbeschädigten Büros knapp unter der Turmspitze. Auf ihrem Schreibtisch lagen etliche Unterlagen, die zusammen ein Chaos bildeten, welches einem aufrührerischen Imperium gerecht werden konnte.

Vor ihr standen drei Personen. Weitere fünf standen an den Wänden und versuchten nach Möglichkeit nicht allzu sehr aufzufallen.

Die Personen vor ihrem Schreibtisch waren Sostre Kalis, derzeitiger Erbe des Ratsvorsitzes der Daness, Megumi Uno alias Solia Kalis, die Nummer zwei auf dieser Position und seit neuestem alleinige Eigentümerin des heimatlichen Sonnensystems sowie Vern Attori, Stabschef des Hauses Daness, der in dieser wichtigen Angelegenheit natürlich zugegen war.

Eri seufzte und erhob sich. „Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Ihr brecht heute noch auf.“ Sie sah zu Attori herüber. „Gibt es Einwände bei den Daness?“

„Nein, Meister Arogad.“ Der Sekretär straffte sich. „Dass Meister Kalis Offizier der UEMF ist, erleichtert uns einige Zugeständnisse. Mitne war über vieles nicht sehr erfreut.“

„Das kann ich mir denken. Aber defacto wird Megumi“- Der Daness hüstelte ärgerlich – „wird Solia Kalis in ihr ureigenstes Gebiet zurückkehren.“

Der Sekretär nickte zufrieden. „Was uns auf die Zusammensetzung ihres Stabes bringt. Außerdem hat Mitne Daness gefragt, ob die Idee einer sofortigen Heirat mit Aris Arogad die… Dinge nicht stabilisieren würde.“

Eri lächelte dünn. „Die beiden sind verlobt, und die halbe Galaxis hat dabei mitgehört. Reicht das nicht? Ich habe nämlich ein ernsthaftes Problem damit den unbeseelten Körper meines Enkels mit einer jungen Frau zu verheiraten, die es besser wissen sollte.“

„Oma!“, rief Megumi entrüstet und biss sich gleich auf die Lippen. Dass sie die Arogad Oma nennen durfte und es immer noch tat, war eigentlich ein Geheimnis.

Sostre grinste, enthielt sich aber eines Kommentars.

„Was? Es ist nicht sicher, dass wir Akira wiederkriegen, dass er in seinen Körper zurückkehren kann. Und in einem verdammten Tank wird sein Leib Jahrtausende alt, wenn es sein muß. Willst du mit einer Leiche verheiratet sein, Megumi?“

„Wie kannst du so etwas sagen?“, hauchte die junge Frau und war den Tränen nahe.

„So etwas nennt man realistisch sein, Mädchen. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit und die Zukunft ist ungewiss. Eine Frau kann nicht nur von Luft und Gedanken leben, glaub mir das. Ich habe es nie.“

„Oma!“ Yohko bekam rote Ohren. Sie war eine der Personen an der Wand und stand genau zwischen Franlin und Joan Reilley.

„Nun tu nicht so als wären das neue Informationen für dich, Jarah Arogad.“ Mit einem Grinsen, das man bei einem Mann als schmierig bezeichnet hätte, verwendete sie Yohkos Naguad-Namen und sah danach zu Yoshi, der ganz rechts stand und nun sehr verlegen hüstelte.

„Also ist die Heiratssache vom Tisch. Ich verweigere einfach meine Zustimmung. Ihr bleibt verlobt, bis Akira wiederkehrt oder ich die Verlobung aufhebe.“

„Das kannst du nicht tun“, hauchte Megumi.

„Ich kann eine Menge. Und ich werde nicht zulassen, dass du dich noch mehr verletzt als ohnehin schon. Ich bin für tausende Wunden in deiner Seele verantwortlich, und ich werde den Teufel tun, dir noch weitere Wunden zuzufügen.“

Sie ergriff eines der Dokumente und warf es Sostre zu. „Ich nehme an, du begleitest sie, Junge.“

„So ist es… Oma.“

„Gut. Dies sind die Dokumente, die Solia Kalis zur Herrin über die Erde machen. Sie sind defacto noch immer Arogad-Protektorat, und Solia ist lediglich Verwaltungsberechtigt und darf eigene Steuern erheben - beziehungsweise sein lassen – aber mit Auflösung der Verlobung fällt das System als Ausgleichszahlung für den Wortbruch an Daness.“

Erstaunt raunten die Anwesenden auf.

„Außerdem ernenne ich dich als Akiras Verlobte ebenfalls zur Verwalterin seiner Domäne Lorania im Kanto-System sowie aller weiteren Bereiche, die Akira Treue geschworen haben, beziehungsweise, die von ihm erobert wurden.“
 

Sie setzte sich wieder und schob einen weiteren Packen Dokumente über den Tisch. „Vern Attori, dies sind die Durchschriften für die Daness.“

Der Sekretär nickte und nahm die Unterlagen an sich.

„Akiras Körper dürfte jetzt an Bord der KON sein, Torum Acatis Flaggschiff. Der Admiral wird als offizieller Vertreter des Imperiums das Kommando über alle imperialen Schiffe im System übernehmen sowie über alle Haus-Schiffe, die ihm zur Verfügung gestellt werden. Er wird eine Regionaladmiralität einrichten, ich nehme an, dass das auf dem Nyx Olympos geschehen wird. Der Junge denkt zu dramatisch, finde ich.

Außerdem wirst du deinen eigenen Stab mitnehmen, Megumi… Ich meine Solia. Mit Gina Casoli hast du bereits eine fähige Zuarbeiterin, habe ich mir sagen lassen. Ich gebe dir auch Henry Taylor mit. Es war sein eigener Wunsch. Außerdem wird dich Jarah Arogad begleiten, als unsere Repräsentantin. Sie wird die Interessen der Arogads in dem eroberten System überwachen.“

„Das klingt sinnvoll“, brummte Vern Attori.

„Außerdem will ich, dass du einen Umweg über das Kanto-System machst und einige deiner Freunde abholst. Jetzt, wo Akira in der Hand des Gegners ist, denke ich, sollten die fähigsten Verteidiger möglichst nicht in der Galaxis verstreut sein, sondern an einem Ort konzentriert werden, an dem wir sie bestmöglich schützen können.“

Megumi hob zaghaft eine Hand. „Kann ich Sora Fioran bekommen?“

Eri senkte den Blick. „Es… geht ihr noch nicht so gut. Sie hat Akiras Verschwinden als eigenen Fehler interpretiert. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte sich…“

„Genau deswegen will ich sie haben. Wenn sie Akira nicht mehr beschützen kann, dann soll sie seine Schwester und mich beschützen. Akira würde es so wollen.“

„Ich teile sie dir zu. Noch etwas?“

„Habt ihr noch Platz für einen kleinen Star an Bord?“, warf Joan schüchtern ein.

„Selbstverständlich.“

„Es wird noch eine weitere Person mitkommen. Yohko, du wirst sie in deinen persönlichen Stab aufnehmen. Abgesehen davon, dass wir auch Yoshi Futabe mit deinem persönlichen Schutz beauftragen.“

Der blonde Bursche streckte sich stolz.

„Sag ihnen bitte, dass er reinkommen kann“, wandte sich Eridia an die fünfte Person an der Wand, das Hologramm von Helen Otomo.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein weißhaariger Mann kam herein. Er wirkte tatkräftig, Energie geladen und bestimmt nicht, als wäre er bereits vierhundert Jahre alt.

„Aris Taral, zu deinen Diensten, Schwester.“

„Aris“, sagte sie mit einem Schmunzeln, „wird euch ebenso begleiten wie Franlin.

Aris, Yohko und Megumi sind jetzt deine.“

Der Taral, ein Bluthund, wenn nicht DER Bluthund, verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Kriege ich eine Kompanie Attentäter der Fioran für diesen Job?“
 

2.

Einen Monat später:

Nach über zwei Wochen Flug erreichte die AURORA den Heimatplaneten. Als das gewaltige Schiff, eigentlich ein fliegender Planetoid, in den Orbit um die Erde ging, wurde der Gigant mit Feuerwerk begrüßt. Es gab keinen Fernsehsender, der nicht über dieses Ereignis und die Abenteuer des Raumriesen berichtete, Live-Reportagen aus dem ausgehöhlten Riesen waren gang und gäbe. Besonders begehrt waren natürlich die Kapitäne der Begleitschiffe und die Offiziere der Hekatoncheiren. Aber auch viele Zivilisten kamen zu ihren fünfzehn Minuten Ruhm.

Der Sprung von Alpha Centauri zur Erde hatte lange gedauert. Nachdem Admiral Sakura Ino das Schiff auf der Flucht immer hart am Limit gehalten hatte, war ihnen der letzte Sprung beinahe zum Verhängnis geworden. Sie hatten regelrecht schleichen müssen, um das heimatliche Sonnensystem zu erreichen.

Auch der Flug zur Erde war unter äußerster Vorsicht erfolgt. Aber nun hatten sie es geschafft, und ein paar tausend Techniker von den Plattformen OLYMP und ARTEMIS standen bereit, um die Triebwerke, den Sprungantrieb und die Waffen zu warten.

Etliche Schiffe des Begleittross mussten ebenfalls eine Werft aufsuchen. Die BISMARCK und die PRINZ EUGEN hatten sogar die Riesenwerft auf Deimos anlaufen müssen. Deshalb waren sie vor der Presse nicht etwa sicher. Auf dem Mars wurde um die beiden Schiffe ein ähnlicher Trubel veranstaltet wie auf der Erde um die AURORA.

Die Menschen in den großen Städten hatten die Gelegenheit genutzt.

Hatten sie bei dem Abflug des Giganten Okaiiri-Parties veranstaltet, in der sie den Menschen, Anelph und Kronosiern eine sichere Heimkehr gewünscht hatten, so waren es diesmal Itterashai-Feiern, in denen die gesunde Heimkehr des Kommandos festgestellt wurde.
 

Die eins Komma drei Millionen Anelph, die im Resonatorfeld festgefroren waren, hatten noch über einen Monat Zeit, bevor der Torpedo seine Arbeit einstellte und ihren Zeitablauf auf das normale Maß beschleunigte. Genug Zeit, um die AURORA für den Sprung zum Mars wieder fit zu kriegen, auf dem die Anelph in Zukunft siedeln sollten.

Bereits jetzt war die Anelph-Gemeinde auf dem Mars mit Feuereifer dabei, Martian City massiv zu erweitern, um Platz für die vielen Menschen zu schaffen.

Es wurde bereits darüber diskutiert, einen Teil von ihnen auf der Erde anzusiedeln, um den Druck vom Mars zu nehmen, denn mit über einer Million Flüchtlingen gleich bei der ersten Mission hatte niemand gerechnet.

Andererseits wurde aber auch schon wieder davon gesprochen, mehrere tausend Anelph nach Lorania zurückzubringen, in ihre eigentliche Heimat, falls die Lage stabil blieb und beide Welten weiterhin nominelles Eigentum von Akira Otomo und Megumi Uno blieben.

Aber das gab den eins Komma drei Millionen keine Heimat.
 

Jedenfalls, die Nachrichten waren sowohl schlecht als auch gut, die von der AURORA mitgebracht wurden; auch die Nachrichten, die mit der Wurmlochkommunikation aus dem Imperium kamen waren beides: übel und gut.

Offiziell wurde Akira Otomo als komatös bezeichnet. Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass der Raub seines KIs und das spurlose verschwinden aus dem Nag-System nicht nur die Presse überfordert hätte. Eine lange Diskussion über KI hätte sich angeschlossen und damit geendet, dass Krankenhäuser eigene Abteilungen für KI-Schäden hätten einrichten müssen, weil so viele junge und ältere Menschen damit experimentiert hatten.

Dass er in einem Biotank zur Erde geschafft wurde, sahen die meisten Menschen positiv. Es war immerhin seine zweite Zeit in solch einem Tank und letztes Mal war ja auch alles gut gegangen. Immerhin.

Und natürlich warteten die Menschen auf die Ankunft von Megumi Uno. Ob sie nun an die Farce glaubten, die Akira sich erlaubt hatte oder ob sie einfach nur auf der sicheren Seite sein wollten, an vielen Orten entstanden Vereine, Versammlungen und kleinere Orden, die – so verrückt die Idee auch war und so unsinnig es war sie zu unterstützen – offiziell die Regentin unterstützen wollten. Heikel bei der Geschichte waren die Vereine und Orden, die innerhalb des Militärs entstanden, zumeist ins Leben gerufen von Männern und Frauen, die Seite an Seite mit Akira Otomo und Megumi Uno und den anderen beiden Hekatoncheiren gekämpft hatten.

Natürlich förderten diese… Ideen die Einigkeit der Menschen, und der äußere Feind, der immer näher rückte, namentlich die Schiffe des Cores, von denen einige bereits innerhalb des Systems bekämpft worden waren tat sein übriges.

Eine Einigkeit, welche die Menschen in diesen unruhigen Zeiten dringend gebrauchen konnten. Sorgen machten den Offiziellen der Menschheit eher die Menschen, die mit Uneinigkeit glänzten.
 

Eikichi Otomo betrachtete das lebensgroße Hologramm vor seinem Schreibtisch, welches seine Frau darstellte. Die Expedition der AURORA hatte einen Projektor von Lorania mitgebracht, was Eikichi in die Lage versetzte, seine Frau nach acht Jahren wieder zu sehen.

Und mit Hilfe der Standleitung über die Wurmlochverbindung konnte Helen Otomo sogar mit ihr reden. Damit belegten sie nicht einmal ein zehntel der Bandbreite, und das war etwas, was sich Eikichi gerne erlaubte.

„Wo sind sie jetzt?“, fragte Eikichi und rieb sich die Nasenwurzel.

„Sie haben das Kanto-System erreicht. Zusammen mit einer großen Flotte, die den Schutz des Systems übernehmen wird. Immerhin rebellieren die umgebenden Marken noch immer und im Moment ziehen wir alle loyalen Schiffe ab, um sie zu sammeln und für den Gegenangriff auszurüsten.“

„Also schon wieder Krieg, Helen. Schon wieder.“

„Ja und nein, Schatz. Nach Ansicht unserer Regierung sind es Polizeiaktionen.“

„Nur weil die Mandarine einen anderen Namen bekommt, ist es dennoch eine Mandarine, Helen.“

Der Executive Commander seufzte. „Und, was denkst du dabei, Sakura?“

Die junge Frau, die auf dem einzigen Stuhl vor Eikichis Schreibtisch Platz genommen hatte, vollbrachte die unglaubliche Leistung im sitzen stramm zu stehen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte salutiert.

„Sie haben Akira nicht gefunden. Also hat man ihn aus dem System rausgeschmuggelt. Vermutlich ist er bereits in einer der Marken, die Logodoboro kontrolliert. Von dort aus wird er womöglich noch weiter aus dem Imperium geschafft, wenn wir Pech haben bis ins Herz des Core-Gebiet, von dem wir nicht einmal wissen, wo es liegt. Ich denke, dass wir von hier aus die einzigen Chancen haben, um ihn wieder zu finden.

Alles andere liegt dann in Akiras Hand.“ Sie lächelte dünn. „Würde mich nicht wundern, wenn sie ihn uns in einem halben Jahr wieder zurückbringen, weil sie ihn nicht bändigen können.“

Eikichi lachte verstohlen und tarnte es mit einem Husten. „Da ist was Wahres dran.“

„Schatz“, tadelte Helen. „Du redest über unseren Sohn.“

„In der Tat“, erwiderte Eikichi mit Stolz in der Stimme.

Nun musste auch das Hologramm seiner Frau schmunzeln.

„Dennoch wäre es besser, wenn wir ihn vorher finden. Kann Kei keinen Vorstoß mit der SUNDER unternehmen? Sie ist immer noch unser kampfstärkster Kahn.“

„Nein, denn er wird Megumi zur Erde begleiten. Genau wie dein Bruder. Außerdem vereinigen wir die Slayer hier. Das bedeutet, Michi Torah und einige andere kommen ebenfalls zurück.“

„Du planst etwas“, stellte sie fest.

Eikichi lächelte sardonisch. „Sagen wir, ich warte auf meine Gelegenheit. Und sie wird kommen, verlass dich drauf.“

„Mit was rechnest du, wenn ich fragen darf?“

„Nein, du darfst nicht fragen, Admiral.“

Eikichi warf Sakura ein Datapad zu. „Übrigens, der Bericht kam gerade herein. Die 2. Flotte ist vor einer Stunde ins System zurückgesprungen. Die Nachricht stammt von Admiral Bhansali auf der KAVEMN.“

„Hatte die Flotte schwere Verluste?“

„Hauptsächlich Blechschaden. Die Rochenschiffe sind dem Kampf, so weit es ging, aus dem Weg gegangen. Aber das steht da alles drin. Und es hängt noch ein separater Bericht an, der an dich persönlich adressiert ist.“

„An mich persönlich? Aber du bist der Executive Commander, Eikichi.“

„Es ist in der UEMF normalerweise üblich, den Dienstweg einzuhalten. Das bedeutet, dass Kommodore Genda seinen Bericht natürlich zuerst an dich richtet. Du kannst ihn dann an mich weiterreichen.“

Wie elektrisiert begann sie das Datapad zu scrollen. Ein Bericht von Tetsu!

Mit tränenden Augen begann sie zu lesen. „…die Fluchtkapseln leer ausgestoßen… …innerhalb des Wracks versteckt… …die Rochen haben uns ignoriert und die zerstörte Korvette nicht durchsucht… …Keine weiteren Verluste in der Crew…“

Nun begann sie vollends zu weinen. Tränen fielen auf das Datapad und liefen darauf herab. „Ich dachte, ich hätte ihn in den Tod geschickt. Ich dachte, ich hätte ihn auf dem Gewissen. Ich…“

Eikichi stand auf, kam um den Schreibtisch herum und drückte seine Nichte an sich. „Siehst du, Sakura, alles entwickelt sich wieder zum Guten. Bei Akira wird es genauso sein.“

Helen lächelte. Es war ein sehr überzeugtes Lächeln.

***

Als Takashi Mizuhara den jungen Kei Takahara auf sich zuschießen kam, seufzte er. Nein, es hatte eher die Ausmaße eines verzweifelten Grunzens, in dem mindestens fünf Jahrhunderte Leidensgeschichte der Menschheit konzentriert waren. Vor allem, nachdem er die missmutige Miene des Konteradmirals gesehen hatte.

Der jüngste Mann, der jemals in diesen Rang befohlen worden war, hatte das falscheste aufgesetzt, was man nur lächeln schimpfen konnte. Ohne um Erlaubnis zu fragen setzte er sich zu Takashi an den Tisch und sah dabei zu wie der Mecha-Pilot sein Essen durcheinander rührte.

Endlich seufzte der riesige Mann, für den die Bezeichnung Gorilla eine völlige Untertreibung gewesen wäre. „Was willst du, Kei?“

Einen Moment blinzelte Takashi, dann seufzte er erneut und fügte an: „Korrektur. Ich weiß was du willst. Was ich fragen sollte ist, warum du es schon wieder willst!“

„Ich habe doch noch gar nichts gesagt“, verteidigte sich der Offizier wütend.

Nein, wie ein Konteradmiral sah er nicht aus, obwohl er mehr als einmal bewiesen hatte, dass er nicht nur ein Menschenführer sondern auch ein guter Raumfahrer war. Es hieß, er habe einen IQ von knapp unter zweihundert und einige Eigenschaften, die man Autisten nachsagte, phänomenales Gedächtnis, herausragende mathematische Begabung und exzellentes räumliches Denken – für Raumschlachten das A und O.

Aber Takashi wusste noch mehr von dem jungen Mann. Er war einst Mitglied von Akiras Zorn gewesen, der berüchtigtsten Jungengang ihrer Region. Sie war nicht wegen ihrer Brutalität berüchtigt gewesen, grausamen Finessen oder dergleichen, sondern weil sie all ihre Kämpfe immer gewann. Dass Kei kein verdammter Einsiedler oder Autist geworden war lag wohl genau daran, dass er seitdem wusste, wie man aus sich heraus ging. Und einen Mann umwarf, der dreißig Kilo mehr wog als man selbst. Vorzugsweise mit einem Schwinger unter das Kinn, und wenn das nicht in Reichweite war, mit einem Schlag auf den Solar Plexus oder einem herzhaften Tritt in die Weichteile. Takashi buchte das unter Umgang mit Menschen und Etablierung von Befehlsstrukturen ab.

„Aber du wolltest etwas sagen. Ich kenne dich, Kei. Ich kenne dich. Und ich kenne dein Lieblingsthema. Seit vier Wochen höre ich es mir jeden Tag an. Wie geht es Ami? Wo ist Ami? Behandelst du Ami gut? Hast du Ami heute schon gesehen? Verdammt, Kei, wenn du dir solche Sorgen um sie machst, warum heiratest du sie dann nicht?“

Der junge Offizier wurde rot und musste husten. Verlegen sah er zur Seite. „Ich mache mir nur Sorgen um sie.“

„Das merke ich! Seit vier Wochen jeden Tag mindestens einmal! Warum gehst du nicht Kenji auf die Nerven? Der sieht sie genauso häufig wie ich. Oder warum sprichst du nicht mit ihr selbst, wenn du die Gelegenheit hast? Die Slayer sind oft genug auf deiner SUNDER, oder?“

„Ich spreche ja mit ihr.“ Unwillkürlich ballte der kleine Mann die Hände zu Fäusten und sah für einen Moment richtig erwachsen aus. „Deshalb frage ich dich ja… Ach, vergiss es.“

„Moment. Vielleicht ist das jetzt eine gute Idee, um das Thema zu klären. Kei, wenn ich es nicht besser wüsste, denn du hast ja Ban Shee, dann würde ich sagen, dass du eifersüchtig bist. Warum entwickelst du soviel Interesse an ihr? Und warum ausgerechnet jetzt? Ich dachte immer, sie wäre eine Abgelegte von Yoshi und nur eine Freundin für dich.“

„I-ich habe kein Interesse an ihr direkt. Es ist nur, dass ich in letzter Zeit ein wenig Arbeit in sie investiert habe. Und mit meinem Ersten Offizier habe ich auch nichts.“ Misstrauisch und vorsichtig äugte er zu dem großen Piloten herüber. Wie der Riese immer wieder in seinen Sparrow passte, war ihm ein absolutes Rätsel. „Wie küsst sie denn so? Hat sich da… Was verbessert?“

Takashi starrte den Jüngeren an wie einen Geist. „Woher soll ICH das denn wissen? Sehe ich so aus, als würde ich mit ihr rumknutschen? Abgesehen davon, dass sie dafür eine Trittleiter braucht.“

„Was? Aber… Aber… Ich habe doch so oft mit ihr GEÜBT! Und sie hat doch gesagt, sie will mit DIR…“

Etwas schien Klick zu machen. Dem folgte ein weiteres Klick, und noch ein Klick, und dann begann das verstehen. Die Miene des Admirals verdüsterte sich mit jeder Sekunde ein wenig mehr. „Wenn nicht mit dir, mit wem dann? Aber sie hat doch gesagt, dass… Sie hat doch…“

Takashis Kiefer klappte herab. „Du bist ein Idiot, Kei. Hast wohl zuviel Zeit in der Nähe von Akira verbracht, was?“

„Das mit dem Idiot stimmt wahrscheinlich“, seufzte Kei deprimiert. „Und ich habe auch noch… Und ich dachte… Tut mir Leid, Sempai, ich… Aber wenn ich nur wüsste, mit wem sie nun rumknutscht.“

„Das kann ich dir sagen. Es ist nicht schwer zu erraten, für wen sie sich interessiert und mit wem sie sich küsst, mein guter Freund.“ Die Miene des großen Mann war ernst, aber die Augen blitzten vor Spaß und guter Laune.

„Wer? Nicht, dass ich eifersüchtig bin, aber ich wüsste es halt gerne.“

„Hörst du dann auf, mir auf die Nerven zu gehen?“

„Warum sollte ich dir auf die Nerven gehen? Ich…“

„Verdammt, Kei! Ich kenne dich.“

„Also gut, ja, ich nerve dich nicht. Hast du das so empfunden? Tut mir Leid.“

„Nein, tut es dir nicht“, stellte Takashi mit Bestimmtheit fest. „Und die Antwort auf die Frage, auf wen Ami es abgesehen hat, ist: Du, Kei Takahara. Auf dich ist sie scharf.“

„Was? Aber… Quatsch! Mit mir übt sie ja nur das küssen, seit… Warte, vier Wochen.“

Das grinsen, dass nun die Miene des großen Takashis zierte, konnte es ohne weiteres mit einer Buddhastatue aufnehmen. Fett, satt und hochzufrieden. „Und?“

„Seit vier Wochen, immer wenn wir uns sehen können. Und dann… Und dann… Oh, Mist. Mist. Mist. Mist.“ Es rummste leicht, als die Stirn des Konteradmirals Bekanntschaft mit dem harten Tisch machte. „Und ich habe mich auch noch elend gefühlt, als ich dachte, ich würde sie ausnutzen. Und mich für meine Gefühle geschämt. Und für die niederen Begierden, die… Hm, nein, dafür habe ich mich eigentlich nicht geschämt. Nicht wirklich.“ Er sah wieder auf. „Und was mache ich nun?“

„Sieh es mal so. Du bist an Bord eines Frachters und untersuchst ihn nach Schmuggelware. Der Kapitän hält dich mit flotten Sprüchen bei Laune, während deine Leute das Schmuggelgut suchen. Aber sie finden nichts. Dann findest du aber heraus, dass er doch schmuggelt. Nämlich Frachtschiffe. Was also machst du?“

„Ich kassiere das Schiff ein.“

„Eben.“ Wieder grinste Takashi und wechselte von fetter Buddha auf Na was habe ich dir gesagt?
 

„Sie sind DA! Gerade ist die KON in den Orbit gegangen! In einer halben Stunde landen sie!“

Die aufgeregten Worte unterbrachen die Diskussion der beiden. Die KON. Das bedeutete, Megumi und die anderen kamen zurück. Und bei sich hatten sie Akiras leblosen Körper.

Beide sprangen auf und verließen die Kantine im Laufschritt. Eigentlich mussten sie nicht hetzen, denn eine halbe Stunde war eine Menge Zeit und der Empfang war vorbereitet. Aber sie wollten es. Sie waren es ihren Freunden schuldig.

Als sie sich im laufen trennten, Kei beim Weg zu seinem gedockten Schiff und Takashi auf dem Weg zu seinem Bataillon, grienten sie sich zu.

Takashi hob den rechten Daumen und rief: „Kassier sie ein, Kei. Und du hast wirklich nichts mit Ban Shee?“

„Werde ich machen. Was hast du eigentlich mit Ban Shee? Willst du sie vielleicht haben?“

„Wieso, kriege ich sie günstig?“, konterte der Mecha-Pilot.

Kei lachte, winkte noch mal und lief weiter. Dieses Abenteuer nahm zwar die Ausmaße einer unendlichen Geschichte an, aber es wurde mit jedem Tag interessanter.

***

„Das sind sie“, sagte Captain Alvarez, Kapitän des Bergungsschiffs MADRID nicht ohne Stolz in der Stimme.

Roger Smith beugte sich über den Bildschirm des Sonars. „Sie liegen eng beieinander“, sagte er gedehnt. „Ich hätte erwartet, dass sie im Fall weiter auseinander gedriftet wären.“

„Lassen Sie sich nicht täuschen, Kommodore. Beide Schiffe liegen über siebzig Meter auseinander. Allerdings sind diese Größenverhältnisse bei den gewaltigen Rümpfen nicht der Rede wert.“

„Hm“, meldete sich eine dritte Stimme zu Wort, „als die BISMARCK und die HINDENBURG aus der Werft geschleppt wurden, waren sie keine zwanzig Meter voneinander entfernt. Ein erhöhter Abdrift von fünfzig Meter ist unter diesen Umständen und einem Fall von einhundert Kilometern verdammt wenig.“

Roger wandte sich zum Sprecher um. „Sie reden so, als wären Sie dabei gewesen, junger Mann.“

„Ach, rede ich so?“, fragte der junge Bursche mit den schneeweißen Haaren amüsiert.

Er trat zu den beiden Offizieren und fragte: „Sind die Rumpfschäden zu erkennen? Sie haben zwei Tauchboote da unten, richtig, Captain Alvarez?“

„Si. Die NAUTILUS I und II. Beide schaffen es bis in eine Tiefe von zweitausend Metern. Sie untersuchen die beiden Schiffe schon seit zwei Tagen. Es gibt keine Rumpfschäden. Und es scheint auch nicht zu Verformungen gekommen zu sein.“

Der weißhaarige Mann grunzte zufrieden. „Gut. Es würde sich nicht lohnen, die Schiffe zu bergen, wenn wir erst eine Richtbank für sie bauen müssten. Aber es war zu erwarten gewesen, dass sie diesen Gewaltakt aushalten.“

„Es war zu erwarten gewesen? Abgesehen davon, dass hier eine halbe Milliarde Dollar auf dem Grund des Atlantiks liegt, was wäre so schwer daran gewesen, die Schiffe in einem stabilen Orbit zu parken?“, wandte Roger Smith ein. Die Art des jungen Mannes machte ihn ein wenig wütend.

„Nun, Kommodore, das können Sie mir doch am besten beantworten. Beide Schiffe waren ausgebrannt und bestanden lediglich aus dem Rumpf und einigen Innenausbauten, abgesehen vom Zellensystem und den Innenverstrebungen, richtig? Ein Teil der Innenwände wird ersetzt werden müssen, aber das ist nicht unmöglich. Dennoch. Ich kann mir kein schöneres Geschenk für die Kronosier vorstellen als zwei nagelneue, nur leicht abgebrannte Kreuzerrohbauten, die bequem erreichbar in einhundert Kilometern Höhe fliegen.“

„Man hätte sie in den Van Allen-Gürtel packen können. Die Radioaktivität dort ist teilweise extrem hoch und hätte sie abgeschreckt. Und die Molekularverdichtete Struktur gegen die kosmische Primärstrahlung und den Sonnenwind hätte die Kontamination in Grenzen gehalten.“

Der weißhaarige Bursche grinste schief. „Ich muß zugeben, daran habe ich auch gedacht. Aber man hätte es damals den Kronosiern auch nicht leicht machen sollen, erstklassige Aufnahmen von unseren brandneuen Kreuzerkonstruktionen zu machen – abgesehen davon, dass wir die Strukturverdichtung überhaupt erst von ihnen übernommen haben und dass diese Strukturverdichteten Schiffsrümpfe auch ihre Schiffe in die Lage versetzt, beinahe unbegrenzt im Van Allen-Gürtel zu operieren.“

Der junge Mann stützte sich schwer auf dem Tisch ab und atmete tief ein. „Aber sie haben diese Strukturverdichtung. Und deshalb konnte man sich beinahe sicher sein, dass wir sie auf dem Grund des Atlantiks nur zwischen parken würden. Ich habe es gehofft, und diese Hoffnung wurde nicht betrogen.“

Ein eiskalter Schauer ging über Rogers Rücken. Oh nein, das konnte doch nicht wahr sein. War der junge, weißhaarige Mann, der so tat, als hätte er die BISMARCK und die HINDENBURG persönlich in den Teich geschmissen etwa der, der die BISMARCK und die HINDENBURG persönlich in den Teich geschmissen hatte?

„Colonel? Ich dachte, Sie…“

Der weißhaarige Bursche winkte ab. „Ich nehme nur eine Auszeit von meiner Auszeit.“ Er deutete auf den Verband auf seinem rechten Auge. „Ich tauge gerade nicht besonders als Pilot und so, aber ich wollte selbst einen Blick auf die beiden Schiffe werfen, Sie verstehen, Roger?“

„Natürlich, Sir.“

„Nachricht von den Tauchbooten. Welches Schiff soll zuerst gehoben werden?“

Der Kapitän des Bergungsschiffs sah Roger Smith fragend an. Der wiederum sah zu dem weißhaarigen Burschen.

Der junge Mann deutete auf den westlichen Schiffsrumpf. „Das da. Hebt die BISMARCK.“

„Aye, Sir. Hebt die BISMARCK!“

„Aye! Befehl an NAUTILUS I und NAUTILUS II: Hebt die BISMARCK!“

In diesem Moment wurde das Schiffswrack mit Trossen verbunden. Die Trossen führten in die acht Kabelrollen der MADRID, und jede einzelne Kabelrolle wurde von einem Zehntausend PS-Motor angetrieben. Dennoch, als die Bergung begann, würde es noch etliche Stunden dauern, bis das Schiff die Wasseroberfläche erreichte.
 

Zwei Tage und elf Stunden später war es endlich soweit. Im Innendock der MADRID schäumte das Wasser, die Kabelrollen begannen zu kreischen, die Motoren heulten bei der Überlastung, und mit einem Ruck wurde ein Teil der BISMARCK an die Wasseroberfläche gehievt. Nun würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die vorderen Zellen ausgepumpt waren und das Schiff mit eigenem Auftrieb im Innendock des Bergungsschiffs schwimmen konnte.

Der Weißhaarige sah fasziniert dabei zu. „Wollen Sie es haben, Roger?“, fragte er plötzlich.

„Sir?“

„Wollen Sie die BISMARCK kommandieren?“

„Ja, Sir.“

„Dann untersteht das Schiff ab sofort ihrem Kommando.“

„Danke, Sir.“

„Danken Sie mir nicht zu früh. Denn da Sie jetzt der Verantwortliche für das Schiff sind, denken Sie sich mal eine Möglichkeit aus, das Ding zurück in den Orbit und auf die ARTEMIS-Plattform zu schaffen.“

„Sir, wir haben mit zwei Fregatten, einem Zerstörer und der GRAF SPEE den Mars erobert. Dagegen wird das hier doch eine Kleinigkeit werden, oder?“

Akira Otomo grinste den jüngsten Kapitän eines Seekriegsschiffs an. Nun war er auch der jüngste Kapitän, der je das Kommando über einen raumtauglichen Kreuzer bekommen hatte.
 

3.

Als die KON in den Orbit um Lorania schwenkte, tat sie das nicht allein. In ihrem Gefolge waren etliche, genauer gesagt vierundachtzig Schiffe aller Klassen der vereinigten Hausflotte von Arogad und Daness. Weitere vierzehn Kreuzer und Zerstörer der Elwenfelt hatten sich angeschlossen. Dazu kam die Flotte, die sie bereits erwartete. Neben dem Naguad-Kontingent der ehemaligen Strafexpedition und den eigenen Schiffen der Anelph waren dies die terranischen Einheiten der AURORA unter dem Kommando von Makoto Ino.

Weitere fünfunddreißig Anelph-Schiffe waren bereits in das System gesprungen und auf dem Weg zur Hauptwelt.

Eine Fähre nahm Megumi Uno und ihren Stab auf und brachte sie auf den Raumhafen von Demiral Space Port.

Dort erwartete die junge Frau neben den Hekatoncheiren eine Abordnung der UEMF sowie Dutzende hochgestellte Persönlichkeiten der Anelph.

Stela Sida Ryon, die kleine Schwester von Ban Shee und Tochter des alten Admiral Ryons, der den ersten Exodus angeführt hatte, war als Vorsitzende des Komitees ebenso anwesend wie Admiral Gennusuke Riada, der die Amtsgeschäfte der Anelph-Regierung übernommen hatte, nachdem diese im Zuge der AURORA-Evakuierung und den Angriffen der Core-Raider kollabiert war. Im Moment waren die beiden Akira Otomos kommissarische Stellvertreter im System und damit offiziell Angestellte des Hauses Arogad.

General Yonn Desartes, Anführer von Ruhm und Ehre, der Fünften Banges-Division, dass auf Befehl von Eri Arogad zur UEMF desertiert war, hatte einen weiten Schutzkordon errichtet, obwohl das eigentlich unnötig war.

Wenn Megumi vor etwas geschützt werden musste, dann nicht vor der Wut, sondern vor der Begeisterung der Anelph.
 

Die Lage hatte sich geändert. Alles hatte sich geändert. Die Angriffe der Raider, die zurückkehrenden Anelph-Schiffe, die über das halbe Imperium verteilt gewesen waren, der offene Schutz der Häuser Arogad und Daness, all das hatte die Anelph nicht weiter auseinander getrieben, sondern zusammengeschweißt.

Es gab Übergriffe, oh ja, Angriffe auf die Naguad-Besatzungstruppen, heftige Abrechnungen mit dem Inlandgeheimdienst Auge Iram in den Medien und eine schonungslose und knallharte Aufarbeitung der Vergangenheit und der Gräuel unter der Besatzung durch das Imperium.

Aber das Chaos war kleiner als alle Beteiligten befürchtet hatten. Die Gefahr, der Core, schweißte sie alle enger zusammen.

Und das absolute Wunder, welches die Anelph erlebt hatten, plötzlich mit den Naguad auf einer Stufe zu stehen, hatte zu einer sehr großzügigen Laisser Faire-Einstellung geführt.

Machen lassen und sehen was passiert.

Mehrfach war Makoto Ino die Präsidentschaft angetragen worden, oder der Rang eines planetaren Gouverneurs, immerhin war er im Moment der ranghöchste Vertreter von Haus Arogad im Sonnensystem, aber der kluge Bursche hatte abgelehnt.

Nun aber war die zukünftige Frau des Besitzers ins System gekommen und landete auf der Hauptwelt Lorania. Auf einer Welt, auf der in einem halben Jahr mehr Wunder passiert waren als in einem halben Jahrhundert zuvor. Noch vor einem Jahr hätte niemand auch nur einen Cent bei der Wette verschwendet, ob Naguad und Anelph jemals ernsthaft Seite an Seite existieren konnten. Aber nach den Angriffen der Raider und den heldenhaften Taten der Besatzer, um diese Welt und dieses System zu verteidigen, hatte sich vieles geändert. Hatte sich alles geändert.
 

Hinter dem großen Podest waren fünf Fahnen gehisst worden. Die linke gehörte der UEMF, die rechte Lorania. In der Mitte war die Arogad-Hausfahne gehisst worden, rechts davon die des Hauses Daness und links die des Imperiums.

Auf dem Podest erwarteten Megumi neben drei Dutzend Kameras über dreihundert Menschen, wobei die Anelph den Hauptanteil stellten.

Offiziell in Empfang genommen wurde sie aber unter der Federführung von Makoto Ino.

Und als die Fähre gelandet war und die Ausstiegsluke geöffnet wurde, erklang die Hymne des Imperiums, dicht gefolgt von der Hymne der Anelph.

Die gut dreihunderttausend Zaungäste, die dem Ereignis hinter den streng bewachten Absperrungen beiwohnten, untermalten das Geschehen mit einem Geräuschorkan, der einem startenden Kreuzer der Bismarck-Klasse Ehre gemacht hätte.

Zuerst empfing Makoto die junge Frau als Offizierin im Rang eines Colonels der UEMF mit einem strengen Salut. Danach empfing er sie als langjährige Freundin, die einen furchtbaren Verlust erlitten hatte.

Anschließend wurde Megumi Uno alias Solia Kalis von den anderen Anwesenden begrüßt.

Ihr folgten Sostre Daness, der derzeitige Erbe des Hausvositzes, Yohko Otomo alias Jarah Arogad, Aris Taral, der Großvater von Sakura und Makoto Uno und endlich Joan Reilley.

Auch wenn der Umstand, der diese beeindruckende Truppe hier zusammengebracht hatte, nicht der Beste war – offiziell lag Akira im Koma, inoffiziell wusste jeder, der an diese Möglichkeit glaubte, dass dem jungen Offizier das KI aus dem Körper gestohlen worden war – Joan Reilley war durch ihre erfolgreichen Auftritte auf Central in Nag-System noch berühmter geworden und im wahrsten Sinn des Wortes zum Kitt geworden, der zuerst Lorania und die Erde und nun das ganze Imperium mit Lorania zusammengefügt hatte.

Der Jubel, der bei ihrem Anblick aufkam war so laut, dass die offizielle Begrüßung unterbrochen werden musste.

Eine Gelegenheit, die Yoshi Futabe benutzte, um zusammen mit Admiral Acati ebenfalls auf die Tribüne zu kommen. Ihnen folgte Megumis neuer Stab, der ebenfalls nicht beachtet wurde, was Gina Casoli, Henry William Taylor, Franlin Litov und Sora Fioran wohl nur Recht sein konnte.

Der Anblick von Sirgej Elwenfelt hingegen, der als Letzter die KON verließ, wirkte wie eine kalte Dusche auf die Menge. Sirgej war offizieller Vertreter des Hausrates der Elwenfelt. Und mit den Elwenfelt hatte Lorania keine guten Erfahrungen gemacht, bis letztendlich das Naguad-Militär die Macht im Kanto-System übernommen hatte.

Megumi nutzte die Pause und trat an das Rednerpult. Ihre Worte würden nicht nur über den Platz verteilt werden, sondern im ganzen System. Und von dort würden sie im ganzen Imperium verstreut werden und sogar die Erde erreichen.
 

„Mein Name ist Megumi Uno. Ich bin Offizierin der United Earth Mecha Force. Aber ich bin auch Solia Kalis, offizielle Hausangehörige des Hauses Daness.“ Kurz unterbrach sie sich und lächelte Jora Kalis zu, einer nahen Cousine, wie sie mittlerweile wusste.

„Dieses Sonnensystem hat vor einem Vierteljahr kapituliert und ging in den persönlichen Besitz des Hauses Arogad über. Aris Arogad, zweiter Erbe des Hausvorsitzes der Arogad, bekam dieses System und das System der Terraner als persönliches Lehen. Diese Welt steht seit diesem Tag unter dem Schutz von Haus Arogad!“

Jubel brandete auf, der lange Zeit nicht verklingen wollte.

Megumi hob eine Hand, und es wurde leiser. „Als offizielle Verlobte von Aris Arogad nehme ich seine Pflichten wahr. Seine neueste Verwundung verhindert, dass er hier sein kann. Aber sein Wille ist es, und ich führe ihn aus.

Es tut mir Leid, dass ich nicht die Selbstständigkeit verkünden kann. Lorania und das Kanto-System bleiben ein Teil des Imperiums, genau so wie die Erde und der Mars.

Aber es ist mir eine Freude, dem Volk der Anelph mitzuteilen, dass das Kanto-System mit dem heutigen Tag nicht nur persönlicher Besitz des Hauses Arogads ist, sondern vom Status einer Mark zum Status eines Bezirks aufsteigt. Alle Bürger des Sonnensystems werden damit ab sofort vollberechtigte Bürger des Naguad-Imperiums.“

Wieder brandete Jubel auf, den Megumi stoisch abwartete. Nur ein leichtes Kräuseln der Lippen verriet ihre Gefühle.

Erneut bat sie um Ruhe. „Damit verbunden sind etliche Änderungen, neue Rechte, aber auch neue Pflichten. Wir alle sind uns der Gefahr durch den Core mehr als je zuvor bewusst. Die Angriffe auf Lorania, abgeschlagen von Naguad, Anelph und Menschen zeigen uns zu deutlich, was uns in Zukunft erwartet. Auch der Verrat von Haus Logodoboro und die Bedrohung des Kanto-Systems durch die umliegenden Marken, die von der Verräterfamilie kontrolliert werden, können und dürfen wir nicht ignorieren.

Wir gehen schweren Zeiten entgegen, aber wir gehen ihnen gemeinsam entgegen. Ich habe Zusagen der UEMF erhalten, dass die Anelph bei der Verteidigung ihrer Heimat nicht alleine sein werden. Die Allianz zwischen unseren Völkern wird fortgeführt und ausgebaut, gerade weil wir nun Angehörige des Hauses Arogad geworden sind.

Auch Haus Arogad hat umfassende Hilfe zugesagt. Eine Haus-Flotte hat sich bereits in diesem System versammelt, zwei weitere werden unter der Führung von Admiral Eridia Arogad noch innerhalb des nächsten Monats eintreffen. Zwei weitere Flotten werden diese begleiten. Eine wird von Haus Daness gestellt, die andere von der Raummarine des Imperiums. Das Kanto-System wird von allen Seiten vom Core und vom Verräterhaus Logodoboro bedroht, aber wir drehen den Spieß um!

Von Lorania aus werden wir unsere zusammengezogenen Truppen führen, um die umliegenden Marken und Bezirke von den Truppen des Cores und der Logodoboro zu befreien und die Bevölkerung zu retten!

Von Lorania aus werden wir diesen Teil des Imperiums stabilisieren und Hoffnung und Wohlstand wiedererlangen!“

Erneut wurde gejubelt, länger und lauter als zuvor. Für die Anelph hatte sich in den letzten Monaten alles geändert. Wirklich alles. Sie waren vom besiegten Volk zum gleichberechtigten Partner aufgerückt, wie es von Anfang an hätte sein sollen.

„Ich übergebe nun das Wort an Meister Sirgej Elwenfelt, der dem Volk der Anelph im Namen seines Hauses eine wichtige Mitteilung zu machen hat.“
 

Die beiden wechselten sich ab, und für den Elwenfelt erklangen Pfiffe. Es war noch nicht lange genug her, dass die Elwenfelt mit purer Waffengewalt versucht hatten, das System zu erobern. Es wurde so laut, dass Sirgej nach mehreren Versuchen aufgeben wollte.

Megumi nickte Joan Reilley zu. Die junge Frau, ein Superstar auf Dutzenden Welten, trat von Makotos Seite neben den Elwenfelt, und es wurde merklich leiser.

„Lasst Sirgej Elwenfelt sprechen“, sagte sie ruhig, und merkwürdigerweise konnte man sie problemlos verstehen, „und entscheidet danach, ob es gut oder schlecht war. Ich, Joan Reilley, bitte die Anelph darum. Und ich lege auch ein Live-Konzert drauf.“

Das schien zu wirken, die Pfiffe wurden weniger und verstummten danach ganz.

Sirgej Elwenfelt dankte ihr mit einem Nicken.

„Ich bin zu jung“, begann er mit zittriger Stimme, „um selbst miterlebt zu haben, was passiert ist, nachdem unser Core das Kanto-System entdeckt hatte. Ich bin zu jung um zu wissen, wie viel Unrecht den Anelph angetan wurde. Und ich bin zu jung, um zu verstehen, was in einem Volk vorgehen muss, das so grausam und nachdrücklich behandelt wurde.“

Wieder klangen Pfiffe auf, aber sie waren selten.

„Als Haus Logodoboro die Maske fallen ließ und sich als Verbündeter des Cores erwies, als ein Daness-Schiff gekapert wurde, um den Turm der Arogads zu vernichten, wurde mir aber vieles klar.

Als die Elwenfelt dem Ruf des Cores folgten, der eine prosperierende Zivilisation der Daima im Kanto-System entdeckt hatte, waren sie nicht alleine. Experten und Wissenschaftler der Logodoboro begleiteten sie.

Die erste Kontaktaufnahme mit den Anelph verlief sehr zufrieden stellend und es schien, als würde eine gemeinsame Zukunft im Miteinander möglich sein.“

Die Menge raunte, wütend und unzufrieden.

„Dann aber gerieten die Logodoboro in einen Hinterhalt in der Hauptstadt Demiral und wurden massakriert. Meinen Vorfahren blieb nichts anderes übrig, als ihnen militärisch zu Hilfe zu kommen. Es entstand eine Situation, eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt, die damit endete, dass das imperiale Militär dieses System gewaltsam unterwarf. Folge waren lange Jahrzehnte der Unterdrückung, des Misstrauens und der Schmerzen und Tränen für die Anelph. Als offizielles Mitglied des Hausrats entschuldige ich mich im Namen aller Elwenfelt für das, was wir ihnen angetan haben.“ Sirgej trat einen Schritt vom Rednerpult zurück und verbeugte sich tief und lange.

Als er danach erneut vor das Pult trat, waren die Pfiffe verstummt. „Wie wir heute wissen, ist das Haus Logodoboro, oder zumindest seine Führung, ein Verbündeter des Cores. Die Aufgabe der Logodoboro war es stets, Unruhe zu stiften und das Militär beschäftigt zu halten. Hier im Kanto-System hatte es hervorragend geklappt. Logodoboro hat Elwenfelt und Anelph perfekt gegeneinander ausgespielt und aufeinander gehetzt.

Wir haben den Logodoboro vertraut, sind ihnen zu Hilfe gekommen und haben ihr Wort vor das der Anelph gestellt. Auch dafür entschuldige ich mich im Namen aller Elwenfelt.“ Erneut trat er einen Schritt zurück und verbeugte sich noch länger. Tränen glitzerten in seinen Augen.

„Wir wurden verraten und verkauft. Und die Anelph bezahlten die Rechnung. Wir haben Jahrzehnte und einen Aris Arogad gebraucht, um das endlich zu erkennen. Und wir haben nicht vor, vor unserer Verantwortung zu fliehen. Wenn das Volk von Lorania zustimmt, dann wird Haus Elwenfelt seinen eigenen Beitrag leisten, um die Anelph vor dem Core zu schützen – als gleichberechtigte Partner und Waffenbrüder in den Kämpfen, die kommen werden. Haus Elwenfelt wird zwei Flotten detachieren und der Koalition unterstellen, die sich in diesem System dem Core und dem Verräterhaus entgegenstellt.

Das heißt, wenn die Anelph uns dulden.

Ich erwarte hier und jetzt keine Antwort. Aber ich hoffe, dass wir Elwenfelt eine Chance erhalten, um wieder gut zu machen, was uns in der Vergangenheit missraten ist und so viel Leid über die Anelph brachte.“

Letztendlich pfiff niemand mehr.

***

„Und?“

Eikichi Otomo wandte sich ab, sah vom Hologramm fort auf das einzige Ding, das neben dem Schreibtisch in seinem Büro stand, den Papierkorb. Er hatte unnötige Details schon immer gehasst und sich nie mit Aktenschränken, Sitzecken oder Kaffeemaschinen abfinden können. Ein Büro musste funktionell sein und seinen Benutzer widerspiegeln.

Dieses Büro war schlicht und effizient.

„Sieh mich bitte an, wenn ich mit dir rede.“

Die Worte klangen harsch, aber sie waren mit einer Sanftheit vorgetragen worden, die das Herz rührte.

Nur zögerlich sah Eikichi wieder zum Bildschirm herüber. „Helen, ich…“

„Ich bin in drei Welten aufgewachsen, Eikichi. Ich wurde in Japan geboren, erlebte Jugend und Kindheit dort und in Deutschland. Ich sah meinen Cousin sterben und den Mann meiner Cousine, während ich die dritte Welt erlebte, die Subkultur der exilierten Naguad. Ich habe zuviel gesehen und zuviel erlebt, um überrascht zu sein oder verärgert oder zornig. Ich weiß, dass man nur mit Ruhe alles erreicht, nur mit Konzentration alles Wesentliche aufnimmt und nur mit Ausgeglichenheit gutes AO erzeugt und benutzen kann. Eikichi, dass diese Logodoboro meinen Sohn entführt haben, hat mich aufgeregt, weit mehr als damals, als ich in diesen Verkehrsunfall geriet, der mich…“ Das Abbild von Helen Otomo, über sechzig Lichtjahre entfernt, schluckte hart. „…in diesen Tank gezwungen hat. Aber jetzt ist die Zeit um zu entscheiden was wir tun. Er ist nur ein Mann, einer von unendlich vielen, richtig?“

„Ja, er ist nur ein Mann. Er ist nur Akira Otomo. Und da draußen sind sechs Milliarden Menschen, die ich davor beschützen muss, vom Core übernommen zu werden, entkernt zu werden, ihrer Leben beraubt zu werden. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich das Kaiserreich noch nicht für uns interessiert hat und dass es sicherlich noch Dutzende Daima-Welten da draußen gibt, von denen wir nichts wissen, weder ihre Möglichkeiten, noch ihre Absichten.

Aber… Dennoch.“ Seine Hände krampften. Tränen verließen seine Augen. „Dennoch! Er ist mein Sohn! Ich kann ihn nicht aufgeben und ich werde es auch nicht. Selbst wenn ich alleine gehen muß, ich werde ihn retten!“

„Ich werde ihn auch nicht aufgeben, Eikichi. Wir wissen nicht, wohin er geschafft wurde. Seine Spur verliert sich schon wenige Stunden nach dem Vorfall in der Vorstadt. Wir können aber sicher sein, dass sie ihn aus dem System geschafft haben. Mittlerweile dürfte er in einer der Marken angekommen sein, die von Logodoboro kontrolliert werden. Und von da an wird er weitergeschafft werden, bis zu einer Core-Welt. Andernfalls hätten sie ihn auch einfach töten können, die Entführung hätte keinen Sinn gehabt.“

„Du willst sagen, wir müssen ihn auf den Core-Welten suchen?“

„Auf den Core-Welten, die wir nicht kennen und die wir erst noch finden müssen.“

Eikichi wischte sich die Augen trocken. „Eine unmögliche Aufgabe. Ihn zu finden ist…“

Helen lächelte sanft. „Du vergisst, wer er ist, Eikichi. Er ist dein Sohn, er ist mein Sohn. Er wird wie ein Leuchtfeuer strahlen und uns den Weg zu ihm weisen. Akira Otomo ist die Summe all dessen, was uns ausmacht. Er ist der Erbe von Naguad-Blut, Iovar-Blut, Daina- und Daima-Blut, Terraner-Blut, und selbst das Blut der Dämonen pocht in ihm.

Er ist von seinem Bluterbe das interessanteste Wesen in diesem Teil der Galaxis, und nur ein Mensch übertrifft ihn noch.“

„Nur Yohko, weil sie die Elwenfelt-Gene erhalten hat“, murmelte Eikichi bestätigend. „Sie wird nicht zögern, sich auf die Suche nach ihren Bruder zu machen.“

„Ja, das wissen wir beide. Und sie wird von dem Leuchtfeuer, das Akira sein wird, angezogen werden. Die beiden Geschwister finden einander. Du musst nur daran glauben, Eikichi.“

„Hm, vielleicht ist das gar nicht nötig. Vielleicht hat Sakura Recht und wir müssen nur lange genug warten, und sie bringen uns Akira freiwillig wieder. Wie lange der Core es wohl mit ihm aushält?“

Helen Otomo versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, aber das glucksen verriet sie. Als sie schließlich hinter vorgehaltener Hand kicherte, tadelte sie ihren Mann. „Eikichi, du bist schrecklich.“

„Nein, ich bin nur ein Vater, der seinen Sohn kennt. Wie lange halten sie es wohl mit ihm aus? Einen Monat? Zwei?“

„Nach einem Jahr gehört ihm wahrscheinlich die Core-Zivilisation“, bestätigte Helen todernst.

Nun war es an Eikichi zu lachen. „Ich weiß genau, warum ich dich geheiratet habe“, stellte er vergnügt fest.

Übergangslos wurden beide wieder ernst.

„Und?“, fragte Helen erneut.

„Du schickst mir Aris, hm?“

„Ja. Und Karl ist zusammen mit der AURORA zurückgekehrt, richtig?“

„Damit ich das richtig verstehe, dieser Torum Acati, der Akira beinahe getötet hätte, kommt her, um eine Regionaladmiralität aufzubauen?“

„Der Rat schickt eine Flotte, um den Schutz der Erde auszubauen. Nicht ganz aus Eigennutz. Schiffe, die nicht im Imperium sind, können von den Häusern nicht gegeneinander ausgespielt werden. Du weißt, wir haben das angekündigte zweite Verräterhaus noch immer nicht enttarnt.“

„Sind sie zuverlässig?“

„Sie werden auf Aris Taral hören.“

„Dann haben wir Kapazitäten frei.“ Eikichi sprach es nicht aus, aber die erfahrensten Kapitäne und Mannschaften der Menschheit hatten die Troja-Mission begleitet oder bildeten in der Zweiten Flotte die Patrouillen in den umliegenden, unbewohnten Systemen. Drei Viertel der menschlichen Streitkräfte waren bestenfalls grün, wenn nicht als Rekruten einzustufen. Zum Glück waren einige Schiffe während der Troja-Mission Veteranen geworden. Wenn Mannschaften und Offiziere neu verteilt wurden, würde das die neuesten Schiffe der Menschheit effektiver machen.

„Ich werde eine Freiwilligenbrigade aufstellen. Ausschließlich Freiwillige. Sie werden Akira suchen gehen.“

„Wirst du mitgehen?“

„Nein. Mein Platz ist hier.“

„Wen willst du schicken?“

„Die AURORA. Defacto ist sie Akiras persönliches Eigentum, seit die UEMF vor ihm kapituliert hat. Es ist legitim, sie auszusenden. Natürlich müssen wir den Kasten erst generalüberholen. Ich werde sie aussenden, selbst wenn sich nur zwanzig Mann melden, um das Schiff ins Ungewisse zu fliegen.“

„Wohin wirst du sie senden?“

„Zur einzigen Stelle in diesem Universum, die uns eine Spur finden lässt.“

„Das Kaiserreich“, stellte Helen tonlos fest.

„Das Kaiserreich.“ Eikichi Otomo nickte schwer.

***

Es war wie immer harte Arbeit. Hart für Sakura, hart für ihre Offiziere. Sie befanden sich seit zwei Wochen wieder im Orbit um die Erde, nachdem sie einen Abstecher zum Mars gemacht hatten, um die eins Komma drei Millionen Anelph nach ihrem Erwachen zu den anderen Anelph zu bringen. Nach den ersten Feiern und dem Abstecher zum kleinen Bruder der Erde hatten weitere Wartungsarbeiten angestanden, für die jeder Mann und jede Frau gebraucht wurden.

Selbst die Hekatoncheiren-Piloten unter Colonel Daisuke Honda waren herangezogen worden. Das heißt, sie hatten sich aufgedrängt.

Es war ein langer Achtzehn Stunden-Tag für sie, aber mit jedem Tag konnte man die Fortschritte sehen, die das riesige, aus einem Planetoiden erbaute Schiff machte. Das tiefe Loch war verschwunden, welches Akira zusammen mit Acati gerissen hatte. Die riesigen Plattformen verschwanden nach und nach, während sich die wiedererwachten Anelph entschieden hatten, entweder auf der Erde oder auf dem Mars zu leben – wobei letzterer durch die Ausdehnung der grünen Zone immer lebenswerter wurde. Die in Martian City und Umgebung künstlich angehobene Schwerkraft entsprach in etwa der Lorania-Norm, was sicherlich dazu beitrug, den Mars attraktiv zu machen.

Dass über der grünen Insel auf dem roten Planeten ein eigenes Plattform-System entstand, mochte bei der Entscheidung hilfreich gewesen sein. Die ohnehin etwas dünne und fragile Atmosphäre würde nicht mehr so aufgewühlt werden, wie es zurzeit bei jedem Start und jeder Landung der Fall war; die künstliche Indoktrination der Mars-Atmosphäre mit Treibhausgasen und Ozon tat ihren Teil, um den kleinen Bruder der Erde in ein zweites Paradies zu verwandeln. Die Kronosier hatten gut geplant und sehr gut gearbeitet, das musste Sakura neidlos anerkennen.

Allerdings hatten sich gut zehntausend Anelph für die Erde entschieden, und ein kleines Kontingent von achthundert und ein paar Zerkrümelten wollte tatsächlich bei nächster Gelegenheit ins Kanto-System zurückkehren.

Sakura konnte sie verstehen. Die Troja-Mission war ein voller, absoluter Erfolg gewesen, hatte weit mehr erreicht als allen Planern möglich erschienen war - bei allem Optimismus nicht. Und nun mussten sie alle auf die veränderten Gegebenheiten reagieren.
 

Die junge Frau gähnte herzhaft, während sie sich aus ihrer Uniform schälte. Volladmiral. Wer hätte das jemals gedacht? Sie selbst am allerwenigsten, selbst nicht, als sie die GRAF SPEE im Orbit um den Mars in die alles entscheidende Schlacht geführt hatte.

„Störe ich?“, klang eine altvertraute Stimme hinter ihr auf.

Sakura wandte sich langsam um. Für eine winzige Sekunde hatte in ihr die Hoffnung gekeimt, die Stimme würde Akira gehören. Aber das war unmöglich, selbst für ihn.

Stattdessen stand Thomas in der Tür. Auf seinen Schultern blinkten die Sterne eines Majors, und am Kragen glänzten die Abzeichen eines Titanen. Nach den Hekatoncheiren die wichtigste Elite-Truppe der Menschheit.

Sakura machte sich zwei Dinge bewusst. Erstens stand sie in ihrem Raum und trug nicht mehr als ihren Dienstrock und einen BH, und zweitens hatte Thomas all das aus nächster Nähe gesehen, berührt und oft genug liebkost. Dieser Mann war ihr ehemaliger Liebhaber.

„Was machst du denn hier?“

Betreten sah er zu Boden. „Darf ich reinkommen?“

„Natürlich.“

Sniper schloss die Tür hinter sich. „Hm, in diesem Haus werden Erinnerungen wach. Ich sehe es noch gut vor mir, beinahe wäre ich hier ein Teil der großen Familie um dich geworden. Gibt es einen besonderen Grund, warum du hier auf der Erde schläfst und nicht in der AURORA?“

„Dieser Ort braucht mal wieder etwas Leben“, erwiderte sie weit schroffer als beabsichtigt. „Ich habe den alten Kasten auch vermisst.“

„Ach so.“ Nachdenklich ließ der deutsche Elite-Pilot seinen Blick über die Einrichtung streifen. Nichts hatte sich verändert. Die Tür hatte sogar seinen alten Prioritätscode akzeptiert. Und an der Wand hing immer noch dieses Joan Reilley-Poster von ihrer No Sorrow-Tour.

„Du bist anders geworden“, warf der Pilot ihr vor.

„Natürlich. Wer sich nicht verändert ist so gut wie tot. Stillstand bedeutet Verderbnis. Nur Veränderung bringt den Fortschritt.“

„Das meinte ich nicht. Du bist anders geworden. Während unserer Zeit zusammen, da… Als wir den Mars angegriffen hatten… Selbst danach noch… Sakura, wie hatte es so weit kommen können? Wir haben uns geliebt.“

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie, während der Rock fiel und einem bequemen Yukata wich. „Die UEMF hat eine Ordonnanz abgestellt, welche die Reserven in der Küche immer auf dem aktuellen Stand hält.“

„Bier wäre nett.“

„Also zwei Bier.“ Die junge Frau verließ ihren Raum und kam kurz darauf mit zwei geöffneten Flaschen zurück.

„Um auf deine Fragen zu antworten. Ich dachte immer, du hast dich verändert. Ich dachte immer, du kommst nicht damit klar, dass ich deine Vorgesetzte bin. Oder damit, dass ich dir meilenweit voraus bin. Sieh mich an, ich bin Volladmiral. Du bist nur…“

„Nur Major. Richtig. Ja, das mag einer der Gründe sein. Wir Mecha-Piloten gelten als rechthaberisch, Besitz ergreifend und schnell beleidigt. Das würde dazu passen, dass der eigene Partner nicht ranghöher sein sollte.“ Thomas trank einen Schluck und fügte hinzu: „Das war ein Scherz, Sakura.“

Sie setzte sich auf ihr Bett. „Sicher?“

„Halb und halb.“

„Hm. Du hast mich nicht auf der Troja-Mission begleitet, Thomas.“

„Du hast mich nicht gefragt.“

„Ach, hängt es daran? Ich hätte dich fragen sollen?“

„Zu dem Zeitpunkt waren wir bereits über ein Jahr auseinander. Natürlich hättest du mich fragen müssen. Immerhin war ich zu dem Zeitpunkt schon Offizier der Titanen und hätte Otomo-sama gebraucht, um die Einheiten wechseln zu können.“ Er deutete auf seine Abzeichen. „Die Dinger trage ich seitdem.“

Sakura zog die Augenbrauen zusammen. „So?“

„Auch wenn ich nicht dein Talent habe. Auch wenn ich nicht wie ein Komet aufgestiegen bin. Für einen Mann von zweiundzwanzig habe ich eine beeindruckende Karriere hinter mir und sicherlich auch vor mir. Meine Beförderung zum Lieutenant Colonel steht bevor, und ich kriege mein eigenes Titanen-Regiment. Wir bauen zwei Schwester-Regimenter aus. Eines wird das Plattformen-System auf dem Mars schützen, das andere wird als Elite-Einheit auf den Patrouillenschiffen der Zweiten Flotte dienen. Ich übernehme selbstverständlich das zweite neue Regiment.“

„Du bist ein guter Mann und ein guter Offizier. Du wirst hervorragende Arbeit leisten, Thomas.“

„Ich weiß. Aber ich frage mich… Ich frage mich seit all dieser Zeit eines. Warum sind wir auseinander gebrochen? Können wir es wieder kitten? Lohnt es sich, um dich zu kämpfen? Erlaubst du mir es überhaupt? Und wenn all das nichts nützt, können wir wenigstens Freunde bleiben?“

„Akira“, stellte Sakura fest und Sniper nickte.

„Akira.“

„Seine Verletzung.“

„Ja. Er verlor sein Auge und du hast dich verschlossen. Warum, Sakura? Warum?“

„Weil du du bist. Und ich dir alles Glück dieser Welt wünsche. Und nicht den Kummer, mit mir zusammen sein zu müssen.“

„Was hat das mit Akira zu tun?“

„Akira ist meiner, Thomas.“

„Deiner? Dass du von deinem Cousin besessen bist, weiß ich, aber dass es solche Züge annimmt…“

„Thomas, ich bin eine Naguad.“

Der Major zuckte zusammen. „Was?“

„Ich bin eine Naguad. Genauer gesagt fünfzig Prozent Arogad und fünfzig Prozent Fioran. Wobei ich mich eher dem Haus Arogad zuordne.“

„Ich verstehe nicht.“

„Das zu erklären dürfte länger dauern. Vielleicht werde ich das irgendwann machen. Aber du solltest eines verstehen. Meine Familie innerhalb der Arogad war schon immer dafür da, um die Familie von Akira zu beschützen. Seit er geboren wurde, bin ich für Akiras Schutz zuständig. Ich muss jederzeit bereit sein, um für ihn zu sterben. Das ist meine Aufgabe und mein erster Lebenszweck.

Als er verletzt wurde, habe ich das nicht verhindern können.“

Ihre Hände krampften sich um die Bierflasche zusammen. „Das ist genau so, als hätte ich ihm die Säure selbst ins Gesicht geschüttet.“

„Sakura, ich… Ist das überhaupt dein richtiger Name?“

„Ja.“ Sie lächelte schüchtern und entkrampfte ihre Hände. „Sakura Taral, zu deinen Diensten, Major.“

„Aha. Akira ist deiner. Dein Schutzbefohlener, richtig? Er wurde verletzt und du hast beschlossen, dass du dich seinem Schutz widmen musst, oder?“

„Nein. Ich habe festgestellt, dass du Akira nicht so sehr liebst wie ich. Ich habe es schon gesagt, Akira ist meine Aufgabe und mein Lebenszweck. Aber es ist nicht deine Aufgabe. Thomas, du wirst ihn niemals so sehr lieben wie ich. Du bist nicht zusammen mit ihm aufgewachsen.

Ich habe ihn im Arm gehalten, als er noch in der Wiege lag. Ich habe seine ersten aufgeschlagenen Knie verarztet. Ich war immer da und immer um ihn. Ich liebe ihn so sehr, dass es schon schmerzt. Er ist mein absoluter Mittelpunkt.

Ich habe gemerkt, dass du nicht so empfindest, wie denn auch? Deshalb war es richtig, dich gehen zu lassen. Du musst deinen eigenen Mittelpunkt finden, Thomas. Es wäre egoistisch von mir gewesen, dich einfach mitzureißen. Dort wo du jetzt bist, dort bist du am richtigen Ort. Du kannst dich frei entfalten und du wirst es sehr weit bringen.“

„Vielleicht has du Recht. Aber eine Frage habe ich doch. Wenn du ihn so sehr liebst, warum lässt du ihn dann mit Megumi Uno zusammen sein? Ihr beide seid nicht blutsverwandt, und nur ein Mensch ohne Sinnesorgane würde nicht merken, wie sehr er dich auch liebt. Warum also? Es wäre so viel leichter für mich zu verstehen, wenn Akira mein Rivale wäre und ich verloren hätte. Aber das stimmt nicht, oder?“

Sakura lächelte nachsichtig. „Du kannst es nicht wissen, Thomas. Ich liebe Megumi mindestens ebenso sehr wie ihn. Ich bin mit ihr ebenso aufgewachsen wie mit Akira. Wir drei, Yohko und Makoto haben die Kindheit zusammen verbracht und ich würde für jeden einzelnen sofort mein Leben lassen. Egal welche Konstellationen sich in unseren Leben ergeben, ich fühle mich sehr zufrieden wenn Akira und Megumi glücklich sind. Meine Liebe ist von einer Form, die körperliche Nähe sicherlich nicht ausschließt. Aber richtig glücklich kann ich erst werden, wenn ich die anderen auch ein wenig piesacken und quälen darf. Das passt nicht in eine Beziehung, oder?“

Thomas lachte. Er erinnerte sich an diverse Gelegenheiten, bei denen Sakura versucht hatte, ihren Cousin an ihrem Busen zu ersticken. Einmal sogar vor der versammelten Admiralität.

„Es ist eine schwache Ausrede“, tadelte er.

„Nein, es ist die Wahrheit. In der Liebe gibt es keine Rationalität. Nur die Wahrheit.“

„Heißt das, ich muss erst für Akira sterben, bevor wir uns wieder lieben dürfen?“

„Mindestens dreimal“, bestätigte Sakura trocken.

Die beiden wechselten einen amüsierten Blick aus. „Ich werde dich immer lieben.“

„Und genau das ist der Fehler, Thomas.“

„Ich weiß.“

Der große Mann trank sein Bier aus. „Aber sei vorsichtig. Wenn du jemals eine Beziehung haben willst, musst du dir einen ranzüchten, der Akira so sehr verehrt wie du, sonst passiert das gleiche wieder. Und er darf kein Problem damit haben, dass du seine Vorgesetzte bist.“

„Interessant.“ Sie erhob sich, ging auf den Deutschen zu. Sanft schloss sie ihn in die Arme.

„Ich will nur, dass du glücklich wirst, Sakura“, hauchte er.

„Ich will, dass du auch glücklich wirst, Thomas.“

Sie tauschten eine Umarmung und einen Kuss aus, der all das verhieß, was sie verbunden hatte – und es beendete.

„Freunde?“, fragte Thomas, als er die Frau wieder aus seiner Umarmung ließ.

„Freunde.“

Die beiden nickten einander zu, dann wandte sich der Major ab. Und mit jedem Schritt durch den Gang verließ er nicht nur das Zimmer, nicht nur das Haus, sondern auch das Leben der Frau, die er geliebt hatte.
 

Unschlüssig hielt Sakura die halb geleerte Bierflasche in der Hand. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Zu viel war geschehen, zu viel war gesagt worden. Und das große Haus war so erschreckend leer. Und solange Akiras Manga-Sammlung noch auf der AURORA war, würde Doitsu nicht umziehen.

„Kriege ich auch eins?“, erklang die amüsierte Stimme vom Eingang ihrer Tür.

Sakura zuckte erschrocken zusammen und widerstand dem Verlangen, eine KI-Rüstung zu erschaffen. Sie sah auf. „Tetsu.“

„Entschuldige, dass ich dich während deiner Schlafphase überfalle. Aber ich dachte mir, dass du dir vielleicht immer noch Vorwürfe machst, und das will ich nicht. Ich habe die Korvette kommandiert, weil ich dich beschützen wollte, Sakura. Dafür ist mir kein Preis zu hoch und… Ich war der beste Mann für diese Mission. Kei war nicht verfügbar, falls du dich erinnerst.“

„Und dafür kommst du mitten in der Nacht her?“, tadelte Sakura lächelnd.

„Ich bin seit achtzehn Stunden wieder im Orbit der Erde. Du hast meinen Bericht seit Wochen auf deinem Schreibtisch. Aber wir beide haben noch nicht darüber gesprochen.“

Die Miene des ehemaligen Motorradgangleaders wurde ein einziges Fragezeichen. „Aber mal etwas anderes. Ich bin Thomas in der Tür begegnet. Warum hat er mir mehr Glück als er es hatte gewünscht?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte sie und setzte sich wieder aufs Bett.

Tetsus Miene veränderte sich erneut. Sie wurde verzweifelt. „Nicht, dass ich sie hören will.

Verdammt, Sakura, ich bin nur ein kleiner Gangster, der zufällig das Kommando über die LOS ANGELES erhalten hat, um den Mars anzugreifen. Zufälligerweise war ich gut darin und habe so etwas wie meinen Platz gefunden. Deshalb bin ich trotzdem ein Kleingauner, auch wenn aus der LOS ANGELES mittlerweile die AURORA geworden ist. Was ich sagen will ist, dass ich es doch sehe. Du hast dir Sorgen um mich gemacht, nachdem ich die AURORA für die Aufklärungsmission verlassen habe. Aber das musst du nicht. Dreck kommt von Dreck und geht zurück zu Dreck. Wäre ich bei der Mission gestorben, hätte es wenigstens etwas Gutes gehabt. Etwas, worauf du hättest stolz sein können.“

„Ich wäre verzweifelt und traurig gewesen“, warf sie ein.

„Aber um Himmels Willen, wieso denn? Das war meine Aufgabe, ich habe sie angenommen und so gut wie ich konnte erfüllt. Um mich zu trauern ist so sinnvoll wie Akira in einen Hangar voller Hawks zu sperren und zu hoffen, er wird friedlich meditieren, anstatt in einen der Mechas zu steigen.“

Sakura kicherte leise. „Drastischer Vergleich.“

Sie erhob sich, ließ Tetsu Genda stehen wo er war und kam mit einem Bier zurück. „Hier.“

Der junge Kommodore nahm die Flasche dankbar entgegen.

„Weißt du, Tetsu, in mir ist etwas zerrissen. Tief in mir drin. Als ich dachte, du wärst tot, oder so gut wie tot, da habe ich mich so schlimm gefühlt wie damals als ich glauben musste, die Naguad hätten Akira tödlich vergiftet. Wie konntest du mir das nur antun, Tetsu? Wie konntest du mich so zittern und bangen lassen? Ich habe erst hier auf der Erde erfahren, dass du noch lebst. Oh, am liebsten würde ich dich verprügeln. Nein, noch besser, ich würde am liebsten Akira erzählen, dass sich einer meiner Offiziere als Dreck bezeichnet. Und dann würde ich dich mit ihm allein lassen.“

„Das wäre mein sicherer Tod“, erwiderte Tetsu ruhig. „Er schätzt mich höher ein als ich bin und er würde mich zwingen, diese Sicht zu übernehmen. Ich bin nicht so groß, so prachtvoll, so begabt. Ich bin nur ich.“

„Nein, du bist so groß. Du bist so prachtvoll. Du bist ein Genie. Es musste nur der richtige Druck kommen, du musstest nur die richtige Entscheidung treffen, um zu werden, was du nun bist. Viele Menschen aus unserem Umfeld sind weithin strahlende Leuchtfeuer. Nur haben Megumi und Akira sie alle noch überschienen. Da kannst du natürlich nicht erkennen, wie hell du selbst schon strahlst, Tetsu.“

„Du übertreibst“, erwiderte der Kommodore.

„Nein.“

„Aber ich…“

„Weißt du, ich habe gerade Thomas die Abfuhr seines Lebens erteilt. Ich habe also gerade keine gute Laune. Und dann kommst du her und lästerst über meinen Freund. Das ist wirklich nicht sehr nett von dir.“

„Ü-über deinen Freund? Habe ich das? Es tut mir Leid, wenn… Über wen habe ich denn gesprochen?“, fragte der Japaner verdutzt.

„Dummkopf.“

Sie umarmte den großen Mann und ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken. „Danke, Tetsu. Danke, dass du meinem Befehl gehorcht hast. Danke, dass du wiedergekommen bist.“

„Mo-moment mal, Sakura. Du meinst doch nicht etwa mich? Ich meine, mich?“

„Du hast keine Chance. Kapituliere lieber gleich.“

„Bedingungslos.“ Langsam schloss Tetsu seine Arme um Sakura.
 

4.

Kommodore Smith sah von seinem Logenplatz auf der BISMARCK dabei zu, wie sich die wichtigsten Schiffe der terranischen Flotte um die KON und die SUNDER gruppierten. Zehn terranische Schiffe würden nach Terra zurückkehren, sein Schiff war selbstverständlich dabei.

Und natürlich war bereits eine Abordnung der ersten Flotte mit dem dritten Bakesch der Exil-Anelph unterwegs, um sie zu ersetzen.

Sie wollten Akira Otomos Leib zurückbringen, nachdem das KI aus ihm gestohlen worden war, oder wie einer seiner gläubigen katholischen Offiziere gesagt hatte: Seine Seele.

Der Blick von Roger ging durch die Zentrale, seine Zentrale. Seit sie das Schiff wieder zu ARTEMIS hinaufgeschafft hatten, seit es repariert und voll ausgerüstet worden war, war er ihr Kapitän gewesen. Die BISMARCK war sein Stolz, aber Akira Otomo war seine Ehre.

Deshalb hatte er nicht gezögert, als er den Marschbefehl für seinen Kreuzer zur AURORA bekommen hatte, zusammen mit der Option, den Befehl abzulehnen.

Er hatte jedem einzelnen Besatzungsmitglied freigestellt, das Schiff zu verlassen.

„Natürlich, Akira Otomo hat dieses Schiff versenkt. Akira Otomo hat es verflucht. Und nun bricht dieses Schiff auf, um Akira Otomo zu begleiten. Und wenn es das Schicksal dieses Schiffes ist, in dieser Mission versenkt zu werden, wenn es meine Aufgabe ist, für die Einsatzgruppe zu sterben, dann werde ich das mit Freuden tun. Wenn das unser Fluch ist, dann hoffe ich nur, dass wir so viele Gegner wie möglich mitnehmen, wenn sich das eisige Vakuum über uns schließt. Denn dann und nur dann können wir Akira Otomo wenigstens einen Teil dessen zurückzahlen, was die Erde, was der Mars, was die Menschheit ihm schuldet.“

Ihr Schwesterschiff HINDENBURG hatte den Marschbefehl abgelehnt, aber sein Schiff nicht. Und aus seiner Mannschaft hatte niemand abgemustert. Er war stolz auf seine Leute.
 

Und nun sah er sich um. Was hatten sie nicht alles erlebt. Sie hatten die TAUMOD aufgebracht, waren vor einem kollabierenden Stern geflohen, in Kanto-System in eine Patrouille geraten, hatten Lorania angegriffen, erobert und verteidigt.

Dieses Schiff zu heben, es zu reparieren war so unendlich richtig gewesen. Die AURORA zu begleiten war die beste Entscheidung gewesen, die Roger jemals getroffen hatte.

Und ihr Weg war noch lange nicht am Ende.

Wenn dieses Schiff verflucht war, dann würde der Flug nicht zuschlagen, solange sie Akira Otomo folgten. Das glaubte Roger Smith mit Inbrunst. Ihr Schicksal würde es sein, in ferner Zukunft für die Menschheit ihre Leben zu lassen, oder dieses prächtige Schiff einst als Museum enden zu sehen. Aber es würde mit Akiras Schicksal verknüpft sein, das schwor sich der jüngste Kommandeur eines Seeschiffes, der jüngste Kommandeur einer raumtauglichen Fregatte, der jüngste Kommandeur eines Schlachtkreuzers.

Dies war ihre Aufgabe.

„Signal ans Flaggschiff. BISMARCK ist bereit für den Formationsflug.“

„Aye, Sir. Signal von der SUNDER. Willkommen im Team.“

„Kei wird pathetisch, je älter er wird“, stellte Roger grinsend fest.

„Aye, Sir.“

„Moment, Signalmaat, das haben Sie doch nicht auch übermittelt?“

„Signal von der SUNDER. Werde erstmal erwachsen, du alter Gauner.“

Für einen Moment wusste Roger Smith nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Man muss ihn einfach lieben.“

„Aye, Sir!“

„Eins O, erschießen Sie den Signalmaat, wenn er noch etwas übermittelt, ohne dass ich das Signal dazu gebe.“

„Verstanden, Sir.“

„Antwort von der SUNDER“, gab der Unteroffizier stoisch bekannt. „Schmeicheleien bringen nichts bei mir.“

„Gut, dass er Kommandeur der Flotte ist. Jeder andere Offizier hätte uns schon getadelt, dass wir nicht ernsthaft genug sind.“

Die Brückenbesatzung lachte leise.

Roger sah zum Signalmaat herüber. „Nun senden Sie es schon.“

„Aye, Sir.“
 

Epilog:

Als ich die Augen aufschlug, stand ich auf einem grünen Hügel, auf dem hunderte blaue und rote Blumen wuchsen. Über mir wölbte sich ein tiefblauer Himmel, der so dunkel war, dass er beinahe wie tiefschwarze Nacht wirkte. Eine rosafarben Sonne sandte ihr Licht herab und wärmte die Erde. Ich sah an mir herab und bemerkte, das ich eine lose weiße Hose und eine schmucklose weiße Jacke trug.

An meinem linken Ärmel zupfte ein kleiner Junge, der mir merkwürdig vertraut war. „Laysan“, stellte ich fest und der kleine Junge nickte.

Ängstlich klammerte er sich an meinem Arm fest. Ich musste lächeln und nahm den kleinen Mann auf den Arm.

„Ich habe Angst, Akira“, sagte er mit weinerlicher Stimme.

„Ich bin ja bei dir.“

Ich ließ seinen Blick schweifen. Rund um den Hügel gab es Menschen. Sie trugen ebenfalls schlichte weiße Kleidung. Entweder standen, saßen oder spazierten sie in kleinen Gruppen und diskutierten, oder sie wanderten alleine durch die Blumenwiese.

„Wo sind wir hier, Laysan?“

„Ihr seid im Paradies“, erklang hinter ihnen eine Stimme auf.

Ich wandte mich um. Noch vor wenigen Sekunden war diese Stelle leer gewesen, das wusste ich genau. Dennoch standen dort nun zwei Frauen. Die Ältere von undefinierbarem Alter war schlank und groß und trug ein schwarzes, enges Kleid mit einer schwarzen Kapuze, die ebenfalls eng anlag und nur ihr Gesicht aussparte. Sie stand einen halben Schritt hinter der anderen Person und machte damit deutlich, wie die Rangfolge gestaffelt war.

Vor ihr stand ein junges Mädchen. Sie trug ebenfalls ein schwarzes Kleid, aber es war knapp und kurz. Ihr Faltenrock endete eine Handbreit über den Knien und das ärmellose Oberteil mit dem tiefen Ausschnitt bewies, dass sie weit älter war als die offenen, fröhlichen und kindlichen Augen vermuten ließen. Wirkte sie auf den ersten Blick wie zwölf, war sie bei einem zweiten, genaueren Blick ebenso alt wie ich. Und wenn ich in die Augen sah, tief in die Augen sah, dann war sie älter, unendlich viel älter. Ich erschauderte.

„Das Paradies?“

„Euer neues Zuhause, Aris und Laysan. Das Paradies der Daima.“ Das Mädchen deutete nach rechts. „Und das Paradies der Daina.“ Sie deutete nach links.

Das Mädchen räusperte sich und fügte hinzu: „Willkommen, ihr zwei.“

„Wo ist dieses Paradies? Und wer seid ihr zwei?“

Die große Frau sagte: „Sie ist die Herrin des Paradies, und als diese wirst du sie achten und behandeln, Arogad.“

„Nun sag doch nicht so etwas, Kiali. Lass die beiden doch erst einmal ankommen, bevor du sie im Paradies mit Regeln erschlägst“, tadelte das Mädchen. „Ich bin die Verwalterin des Paradieses. Willst du mir einen Namen geben, Akira?“

„Herrin, das ist…“

„Hast du keinen Namen?“, fragte ich ernst.

„Gib mir einen Namen. Ich werde daran erkennen, wer du bist.“

Ich überlegte. Die kurzen schwarzen Haare, das kecke Lächeln, ich hätte lügen müssen wenn ich behauptet hätte, ich hätte sie nicht von Anfang an gemocht.

„Laysan, hast du einen Vorschlag?“

„Aris.“

„Aber ich heiße doch schon Aris.“

„Können nicht viele Menschen den gleichen Namen haben?“, fragte der kleine Naguad unschuldig.

Ich dachte an meine Urgroßmutter auf Iotan, die vielleicht immer noch lebte, an meinen Großonkel aus dem Haus Taral und an meinen Naguad-Namen. Das war eine kleine Inflation, wenn ich dem Mädchen den gleichen Namen gab.

„Nein, Aris ist der Name für einen Krieger.“

„Aris“, murmelte sie. „Aris bedeutet Frieden. Ein guter Name.“

Ich runzelte die Stirn. „In meiner Heimat bedeutet er Krieg.“

„Ein Konflikt. Wie interessant. Wie wirst du mich nennen, Akira? Aris wie Krieg oder Aris wie Frieden?“

Ich dachte nach. „Dir steht Aris wie Frieden besser.“

Sie nickte erfreut. „Also Aris.“

Wer war ich schon, dass ich der Herrin des Paradieses widersprach?

„Wann lässt du mich wieder gehen?“, fragte ich geradeheraus.

„Du wirst nie wieder gehen“, sagte sie, und es klang hocherfreut. Ja, sie lächelte, nein, sie strahlte bei diesen Worten. Sie schien sich sehr über mich zu freuen.

In diesem Moment versank das Paradies vor mir.

Das Spiel begann.

Erster Traum

1.

Fünf Monate später:

Der große Vorteil terranischer Schiffe bestand darin, dass sie lediglich interplanetar agierten – sie waren nicht sprungfähig und hatten deshalb Kapazitäten für Verteidigung und Waffen übrig, die sie allen anderen Schiffen der gleichen Klasse überlegen machten.

Dies war zugleich auch der große Nachteil. Diese Schiffe waren an das System, in dem sie agierten, gebunden.

Die fehlenden Sprungantriebe bei den terranischen Schiffen hatten einige Probleme bereitet; ursprünglich hatten die Einheiten der UEMF im Kanto-System verbleiben sollen, bis Entsatz eintraf, entweder weitere UEMF-Schiffe, oder die AURORA.

Kei Takahara strich sich über den weißen Haaransatz, als er an diese Problematik zurückdachte, die keine zwei Monate nachdem Akira entführt worden war akut geworden war.

Sie hatten eine Lösung gefunden. Nun, genauer gesagt hatte er eine Lösung gefunden, die nur noch entfernt an das Docking-System mit der AURORA erinnerte.

Normalerweise nahm der riesige Träger die nicht sprungfähigen Kampfschiffe quasi huckepack und startete dann durch ein selbst erzeugtes Wurmloch.

Bei einem Giganten wie der SUNDER schied solch ein System natürlich aus. Drei Kreuzer der Bakesch-Klasse wären nötig gewesen, den Riesen Huckepack zu nehmen. Und so eine Formation war schlicht und einfach viel zu riskant.

Es war dann Kei gewesen, der schlicht und einfach darauf hingewiesen hatte, dass es dem Schiff egal war, wie ein Wurmloch erzeugt wurde – bereisen konnte es das Wurmloch trotzdem, solange das Wurmloch die Kapazität bewältigen konnte.

Die Berechnungen an sich, die Wurmlochmasse, Abwägungen von Risiko und Nutzen, mathematische Formeln, Erfahrungsabgleich und dergleichen hatte zwei Wochen gedauert. Aber letztendlich war auf Kei Takaharas Anregung und mit seiner massiven Mitarbeit ein neuer Hyperflug kreiert worden: Der Verbandssprung.

Eigentlich war die Idee simpel, die Umsetzung jedoch ein logistischer Albtraum.

Die sprungfähigen Schiffe spielten ein Vabanque-Spiel mit der Eigenmasse und den eigenen Kapazitäten und nahmen die Außenseiten ein, während die Sprungunfähigen Schiffe mitten zwischen ihnen flogen.

Es war notwendig, dass alle Schiffe das Wurmloch synchron erzeugten, alleine schon, um, wie Kei so schön bei der Präsentation gesagt hatte, wie der sprichwörtliche Korken der Sektflasche auch glatt aus dem Flaschenhals zu rutschen.

Oder anders ausgedrückt, alle Schiffe wurden eins, zumindest aus der Sicht des Wurmlochs. Es wurde erzeugt, gedehnt und nahm die Kapazität an, um die terranischen, die naguadschen und anelphschen Schiffe passieren zu lassen.

Bei einem normalen Sprung wäre es damit gut gewesen. Einmal erzeugt, erhielt sich das Wurmloch selbst und man konnte sogar nicht sprungfähige Einheiten abkoppeln und das Raumgebiet aus eigener Kraft erreichen lassen, wie das Manöver in Alpha Centauri bewiesen hatte, als die terranische Einsatzgruppe ausgerechnet auf ein naguadsches Suchschiff gestoßen war. Die TAUMARA hatte diese Begegnung nicht wirklich gut aufgenommen, aber aus dieser Erfahrung waren einige Freundschaften entstanden, die überhaupt die spätere Zusammenarbeit gegen die Streitkräfte des Cores zwischen Anelph und Naguad – und vor allem Menschen – ermöglicht hatten.

Doch dieser Fall konnte nicht auf die Situation anwenden, der Kei und seine Flotte ausgesetzt war. Damals hatten sie einen riesigen Generator an Bord der AURORA gehabt, der ein riesiges Wurmloch erzeugt hatte. Die detachierten Korvetten waren da eher eine Fingerübung gewesen und hatten das Wurmloch nicht kollabieren lassen.

In diesem Fall aber musste der Verbandsflug aufrecht erhalten werden, weil sich niemand sicher war, ob eine Veränderung der Formation oder ein Zusammenbruch der Formation der sprungfähigen Schiffe nicht automatisch auch die Zerstörung des Wurmlochs bedeutete.

Nein, eigentlich war es anders. Frustriert blies Kei die Wangen auf, als er an den wahren Grund für den strikten Formationsflug dachte, den Jarah Arogad angeordnet hatte – Kei nahm sich vor, Jarah alias Yohko ein paar Tage mit ihrem alten Tarnnamen Lilian aufzuziehen, oder noch besser, sie Lonne zu nennen, nur um seine Rache zu haben.

Niemand wollte einen Ausfall der Wurmlochstrecke riskieren, so einfach und grausam war die Wahrheit. Nicht einmal die Raumflugerfahrenen Naguad, die seit über dreitausend Jahren Wurmlöcher für den überlichtschnellen Transport erzeugten, hatte er für die Idee erwärmen können, es doch einfach mal auszuprobieren.

Was hätte schon schlimmes passieren können? Ein paar Tage maximal im galaktischen Leerraum vielleicht, bevor sie erneut springen konnten. Alleine der Versuch, ohne eine Schwerkraftsenke zu springen, hätte für die terranischen Wissenschaftler den Nobelpreis bedeutet, von denen der Anelph und der Naguad gar nicht zu sprechen.

Andererseits war das Argument auch nicht von der Hand zu weisen, dass sie nicht erneut so viel Glück haben konnten wie damals in Andea Twin, als ihnen zehn Erdmassen als purer Energieimpuls im Nacken durch ein Wurmloch gefolgt waren – mit dem Ergebnis, dass sie weiter gesprungen waren als geplant, nämlich bis ins Kanto-System, ihrem eigentlichen Ziel.

Es bestand auch die Möglichkeit, dass die gekrümmte und deformierte Raumzeit ihren alten Platz wieder einnahm und die ganze Flotte schlicht und einfach zerquetschte.

Kei hielt diese Möglichkeit für übertrieben und aufgebauscht, aber als Wissenschaftler und vor allem als Mann der Verantwortung trug konnte und durfte er sie im Sinne seiner Crew nicht ignorieren.
 

Nun, dies würde vorerst das letzte Mal sein, dass sie im Verband sprangen. Kei hatte nach dem triangieren im Alpha Centauri-System bereits per Hyperfunk Pläne an die Erde übermittelt, die Schiffe mit Hilfe von externen Generatoren sprungfähig zu machen. Das System würde verletzlich sein, sicherlich, aber alles was die Schirme durchschlagen konnte, um die nachgerüsteten Generatoren zu treffen würde auch das Schiff selbst treffen, und das Ergebnis würde sich nicht großartig unterscheiden.

Die Trianguation in Alpha Centauri hatte sie viel Zeit gekostet. Aber es hatte ihnen auch genügend Zeit gebracht. Für ihn genügend Zeit, um die Slayer einzupacken, Kenji, Ban Shee, Jora, Michi und Takashi, um mit ihnen auf die KON zu wechseln und ein paar Tage dort zu bleiben. Die anderen hatten mindestens ebenso sehr Trost nötig wie er selbst, gestand sich Kei ein. Es hatte auch ihm gut getan, dass Megumi ihn umarmt hatte, als sie vor dem leblosen Leib im Biotank gestanden hatten.

Teufel, warum mussten die Biotanks nur einem Sarg so ähnlich sehen?

Am Ende der Trianguation hatte er wieder auf sein eigenes Schiff gemusst, denn niemand hatte die Chuzpe, herauszufinden, ob während des Verbandssprung ein Wechsel von Schiff zu Schiff möglich war.

Nachdem sie den günstigsten Punkt der Schwerkraftsenke für den Sprung ins Sol-System erreicht hatten, die von Alpha Centauri und den Planeten der Doppelsonne gebildet wurden, hatte eine Abordnung der Zweiten Flotte von Admiral Bhansali sie in Empfang genommen und den Absprung gedeckt. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Sprüngen und den Märschen durch unerforschte oder unerschlossene Sonnensysteme reinster Luxus.

Trianguation und in einigen bequemen Fällen Quadruation waren leider dringend notwendig, obwohl Kei bereits in Gedanken an einem Prinzip arbeitete, von jedem Punkt eines Systems in ein anderes zu springen.

Bisher aber sah es eher so aus, dass man am besten von einem System ins andere sprang, wenn man einen Punkt erreicht hatte, der dem Zielsystem am nächsten war.

Anders ausgedrückt, in kleinen Sonnensystemen gab es in einem imaginären Kreis drei Punkte, von denen man erfolgreich in potentielle Nachbarsysteme springen konnte, die ein Dreieck bildeten; zwischen diesen Punkten zu reisen wurde Trianguation genannt.

In großen Systemen gab es vier Punkte, die Reise zum direkt gegenüberliegenden Sprungpunkt war zeitaufwändig und fraß eine Menge Vielfliegermeilen. In den meisten Systemen reichte schon eine Trianguation, und Kei war dankbar dafür.

Das Problem bei der ganzen Geschichte war die Raumzeitkrümmung. Die Sonne eines Systems bildete, bildlich gesprochen in der Decke der Realität eine Mulde, eine Delle. Und der Rand dieser Delle war deformiert, weil er einerseits die normale Raumzeit bilden musste und andererseits dem Verlauf der Delle zu folgen begann. An dieser Stelle wurde die Raumzeit… Dehnfähig. Von einem solchen Punkt konnte man sehr leicht ein Wurmloch konstruieren, oder anders ausgedrückt, man testete die Dehnfähigkeit so weit, dass man mit einer anderen Delle, sprich dem überdehnten Rand einer anderen Raumzeitsenke – in diesem Fall der heimatlichen Sonne – Kontakt bekam und einen Tunnel erschuf.

Virtuell gesprochen rückten beide Systeme nun aneinander, aber das war natürlich Quatsch. Dennoch erfolgte die Reise durch eine solche Raumzeitkrümmung, dem berühmten Wurmloch wesentlich schneller als wenn sie zu Fuß gegangen wären, quasi.

Kei hielt nichts davon, daran zu glauben, dass zwei riesige Sonnensysteme wegen ihren popeligen Sprungantrieben zueinander rückten und sie deswegen ihre Reisen verkürzen konnten. Das war Unsinn, sonst hätte man auch nicht die Schwerkraftsenken der Erde nutzen können, um eine Direktkommunikation mit Naguad Prime, Central, zu erschaffen.

Er war diesem Problem auf der Spur, das fühlte er. Richtig auf der Spur, und bald würde er es fassen, am Schwanz packen und im Griff behalten, bis es ihm alle seine Geheimnisse offenbart hatte. Ja, so würde es sein. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran.

Und dann geschah alles viel zu schnell.
 

Der Alarm gellte auf und innerlich erschauderte Kei. Er sah dabei zu, wie im großen Hologramm die Positionen der anderen Schiffe eingezeichnet wurden, sah wie sie minimal auseinander drifteten. Zuhause. Sie waren wieder Zuhause.

Der Sprungalarm wurde eingestellt, und Ban Shee Ryon aktivierte ihr KommSet. „Operative, hier Operative. Meldung an die gesamte Flotte: Sprung ist gelungen. Ich wiederhole: Sprung ist gelungen.“

Kei winkte Ban Shee kurz zu sich heran, wechselte ein paar leise Worte mit ihr, was auf ihre Züge ein Grinsen zauberte. „Nachricht vom Flottenchef. Konteradmiral Takahara an alle Schiffe: Verbandsflug kann jetzt aufgelöst werden.“

In der Zentrale der SUNDER wurde gelacht. Sie alle waren am Streit zwischen ihren Flottenbefehlshaber, namentlich Konteradmiral Kei Takahara, und den anderen Kommandeuren, unter ihnen Admiral Acati – der die Flotte nicht kommandiert hatte, da die Leitung dem Haus Arogad gebührte und Kei nach dem Recht der Naguad Hausoffizier war – beteiligt gewesen, hatten einen Fensterplatz gehabt. Und es amüsierte sie, dass ihr Chef zum Abschluss einen süffisanten Kommentar verfasst hatte.

Den Kurzen warf so schnell nichts aus der Bahn, das hatten die meisten Mitglieder der Crew bereits an Bord der GRAF SPEE festgestellt, damals im Marsorbit, beim zweiten Angriff auf Martian City. Die meisten waren Kei zu diesem Kommando gefolgt, und darauf war der junge Mann sehr stolz.

Ban Shee lächelte, als ihr KommSet zum Leben erwachte. „Admiral. Alle Schiffe haben bestätigt.“ Oder anders ausgedrückt, sie hatten den Tadel gefressen.

Kei grinste matt. „Meldung an UEMF absetzen. Melden Sie alle Schiffe der Flotte an, IO. Und fragen Sie nach aktuellen Befehlen. Wenn unsere alten Befehle bestätigt werden, nehmen wir sofort Kurs auf die Erde; die Schiffe, die unter Admiral Acati das Regionalflottenkommando auf dem Mars bilden sollen, brechen sofort auf. Ihr Weg ist etwas weiter als unser, und der Kurs weicht auch stark ab.“

„Aye, Skipper.“ Wieder hörte sie ihrem KommSet zu. „Meldung von Executive Commander Eikichi Otomo: Willkommen Zuhause.“

Für einen Moment stockte Kei die Stimme. „Wir sind wieder daheim“, hauchte er stockend.

***

Der Programmchef war geschockt. Der Moderator war geschockt. Der Regisseur war geschockt. Die Studiogäste waren geteilter Meinung. Wer geschockt sein wollte, tat das, und zwar mit Hingabe. Der Rest kicherte in sich hinein.

Wie hatte das passieren können? Wie hatte eine ganze Sendung mit einer Einschaltquote von zwei Milliarden Menschen weltweit, von Japan über Europa bis L.A nur solch ein Fiasko werden können?

Wie hatte Admiral Richards ihnen das antun können? Es waren noch fünfzehn Minuten Sendezeit, und im Moment fuhr der Sender den größten Werbeblock seiner Existenz.

Der Moderator indes starrte noch immer auf den leeren Sessel, in dem vor wenigen Minuten noch der Admiral gesessen hatte, ein verdienter Navy-Offizier und Flottenkommandeur.

Sicher, es war zu erwarten gewesen, dass der mittlerweile in der UEMF dienende Admiral eine harte Nuss sein würde, aber letztendlich war er doch Amerikaner und der Verfassung, der Nation und den Einschaltquoten verpflichtet, und nicht einem Japaner, der behauptete, die Welt würde ihm gehören.

Nun, in dem Punkt hatte sich der Moderator tüchtig geirrt.

Nicht nur, dass Admiral Richards ihm gehörig den Kopf gewaschen hatte, er hatte ihn sitzen gelassen, deklassiert und gedemütigt. Und mit ihm den ganzen Sender.

Eine Etage höher, genauer gesagt in der Regiebox saß ein Mann mit zwanzig Jahren Erfahrung in diesem Beruf. Er gehörte zu den Besten. Und er war Patriot. Das Drehbuch für den Abend war einfach gewesen und ein Medienerfahrener Mann wie Admiral Dean Richards hätte eigentlich auf die richtigen Fragen die richtigen Antworten geben müssen. Eigentlich.

Zwei Etagen höher erwachte der Besitzer aus seiner Starre und begann zu lachen.

„Geben Sie mir die MAZ“, befahl er leise.

Sein Sekretär gehorchte und spulte an den Anfang der Aufzeichnung der eigentlichen Sendung. Lange Jahre unter diesem Mann verrieten ihm welche Szene er sehen wollte.

Er spulte ein Stück vor, übersprang die Vorstellung, die Begrüßung und hielt beim ersten Frageblock

„Kommen wir zum Japan-Chauvinismus von Executive Commander Eikichi Otomo“, sagte Ronald Summers, der wichtigste Nachrichtensprecher, Anchorman, des Senders. „Wie stehen Sie als verdienter Admiral zu Wasser und im Weltall dazu?“

Richards runzelte die Stirn. „Japan-Chauvinismus? Wie kommen Sie auf diese dumme Idee?“

Für einen Moment schien Summers sprachlos zu sein, was bei dem Medienerfahrenen Reporter ein mittleres Wunder war. „Sehen wir uns doch einfach mal die Führungsebene der Expedition der AURORA an. Wenn wir genau hinsehen, dann sind die wichtigsten Posten mit Japanern belegt, ja, um es genau zu sagen, mit persönlichen Freunden von Akira Otomo.

Die AURORA wird von Tetsu Genda kommandiert, ein persönlicher Freund Otomos. Die SUNDER untersteht Kei Takahara, einem persönlichen Freund Otomos. Die Gesamtleitung der Expedition hat Sakura Ino inne, eine direkte Cousine Otomos.

Dann die Hekatoncheiren, die als absolute Elite der Menschheit gelten. Kommandeur ist Akira Otomo selbst, das Briareos-Regiment wird von Megumi Uno geleitet, seiner Freundin.

Gyes untersteht seiner Schwester Yohko und Kottos wird von Daisuke Honda geleitet, einem engen Freund Otomos. Dazu kommen diverse Bataillons-Kommandeure, die ebenfalls zu seinen direkten Freunden gezählt werden: Takashi Mizuhara, Kenji Hazegawa und Doitsu Ataka.“

„Junger Mann“, sagte der Admiral streng, „was wollen Sie mir damit sagen?“

Unter dem zwingenden Blick des hohen Offiziers wich der Anchorman eine Handbreit zurück und stieß gegen die Rückenlehne seines Sessels. „Nun, im Angesicht dieser Beweislast ist es doch offensichtlich, dass Eikichi Otomo Japaner über Gebühr bevorzugt und…“

„Wären Sie in meiner Einheit, würde ich Sie jetzt vor ein Kriegsgericht stellen und wegen Hochverrats und Insubordination anklagen.“

Der Nachrichtenmann wurde bleich, selbst sein kräftiges Make-Up konnte das nicht verbergen. „Was?“

„Und ich wäre bei der standrechtlichen Erschießung selbst in der Schützenreihe, das sage ich Ihnen.“

Summers fühlte, wie ihm der Schweiß herab lief. Dies war eine erstklassige Gelegenheit für den Admiral, die Japan-Schranke innerhalb des Offiziers-Korps der UEMF zu durchbrechen, die Japan-Schicht mit Hilfe von öffentlichem Druck abzubauen und Offiziere anderer Nationen – vornehmlich natürlich amerikanische – nachzuholen. Und der Mann griff nicht danach?

„Wie können Sie es wagen, Akira Otomo anzugreifen? Wie können Sie es wagen, Eikichi Otomo anzugreifen?

Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, aus der Zeit als ich noch meinen Träger kommandiert habe, keine Flotte, weder Wassergebunden noch im Weltall. Ich will Ihnen erzählen, wie sich unsere Jungs und Mädels im Luftkampf gegen die kronosischen Daishi Alpha und Beta geschlagen haben, mit dem Mut der Löwen, aber immer weiter zurückgedrängt wurden.

Ein japanischer Junge, gerade einmal dreizehn Jahre alt geworden, war damals der einzige Mensch, der einen erbeuteten Daishi Beta benutzen konnte. Dieser Junge zögerte nicht eine Sekunde, stieg in den legendären Blue Lightning, opferte seine Kindheit und Jugend und kämpfte an jedem Ort der Welt, den er erreichen konnte, gegen die kronosischen Mechas und ihre Schiffe.

Er drängte sie als erstes zurück. Er war es, der unseren Piloten die Chance gab, zurück zu schlagen. Und nur wegen ihm konnten wir weitere Piloten finden, die in der Lage waren, die neuen Hawks zu steuern.

Eikichi Otomo opferte damals seinen Sohn. Für das Wohl der ganzen Menschheit setzte er sein Kind tödlicher Gefahr aus. Sicher, er wurde von den besten der Besten ausgebildet, Commander Jeremy Thomas war nur einer derjenigen, die aus dem Jungen Akira Otomo den tödlichen Piloten Blue Lightning machten. Aber dennoch, er war nur ein Kind. Eikichi ließ sich diese Rettung teuer bezahlen, ließ OLYMP und Titanen-Station finanzieren, etablierte den Bau eigener Fregatten und Zerstörer und startete den Abbau von Rohstoffen auf dem Mond in den drei Kolonien Aldrin, Armstrong und Collins, die mittlerweile zu Großstädten herangewachsen sind. Sein Vertrauen in seinen Sohn, zu überleben, war endlos. Aber ebenso auch seine Angst um ihn. Vor allem, nachdem sein Neffe Makoto Ino als Zeus, die Tochter von engen Freunden der Familie, Megumi Uno und seine einzige Tochter, Yohko Otomo ebenfalls auszogen, in Hawks stiegen und um das Schicksal dieser Welt kämpften.

Ihnen und nur ihnen ist es zu verdanken, dass diese Welt nun keine kronosische Kolonie ist. Nur ihnen ist es zu verdanken, dass wir uns wehren konnten, unsere eigenen Mechas bauen konnten. Nur sie waren es.

Und dann wagen Sie es, einen Eikichi Otomo, der das Wichtigste in seinem Leben geopfert hat, einen Akira Otomo, der seine Schwester auf dem Mars glaubte sterben zu sehen, anzugreifen und als was auch immer abzustempeln?

Damals, als das Legat OLYMP ausschaltete und niemand wusste, wann und wo sie diese furchtbare Waffe, den Resonanztorpedo, erneut einsetzen würden, da waren es Akira Otomos Freunde und Schulkameraden, die als Erste kamen, um sich freiwillig zu melden. Die jene Streitmacht bildeten, die letztendlich auf den Mars flog, das Legat zerschlug und den Kronosiern und menschlichen Kolonisten Gelegenheit gab, sich in unsere Gemeinschaft einzufügen.

Diese Männer und Frauen waren damals auch noch halbe Kinder. Aber sie wollten die Erde verteidigen, sie wollten ihre Familien verteidigen. Und sie haben auch die Pressefreiheit verteidigt. Es ist kein Wunder, dass die besten von ihnen, so sie beim Militär geblieben sind, Karriere gemacht haben. Es ist vielleicht erstaunlich, dass die Fähigsten und Begabtesten unter Akira Otomos Freunden zu finden sind, aber dafür sollten wir dankbar sein und ihnen nach bestem Wissen und Gewissen helfen, anstatt ihnen haltlose Vorwürfe zu machen. Letztendlich machen sie nur ein Prozent der Besatzungsmitglieder aus und etwa drei Prozent der Offiziere.“
 

Die Gesichtsfarbe des Anchormans erholte sich wieder. Er legte ein falsches Lächeln auf und übersprang seinen Fragekatalog bis zum nächsten Themenblock. „Admiral, um auf Akira Otomo direkt sprechen zu kommen, oder besser gesagt auf Aris Arogad. Wie stehen Sie zu…“

Der Amerikaner erhob sich und starrte wütend auf den Nachrichtenmann herab. „Mr. Summers. Wäre meine Waffe geladen, hätte ich jetzt sehr gute Lust, sie zu entsichern und auf Sie zu richten. Haben Sie nicht schon genug Schaden angerichtet? Akira Otomo hat im besten aller Schachzüge Erde und Mars gerettet und sie ins Imperium der Naguad integriert und uns dabei volle Souveränität verschafft. Im Zeitalter der Bedrohung durch den Core ist das eine Meisterleistung! Was wollen Sie ihm noch vorwerfen? Dass er in seinem Job gut ist? Ach, was rede ich mit diesem Idioten überhaupt?“ Wütend machte der Admiral eine wegwerfende Handbewegung, schnaufte laut und wandte sich ab. Hinter ihm blieb Summers zurück, dem langsam die Kinnlade herabsackte.

Der Regisseur grinste schief. Nett. Das war richtig nett. Und er sah Ronald Summers endlich einmal so, wie er es wollte: Erstickt in seiner eigenen Arroganz.

„Anruf von der Direktion. Wir sollen das Band vernichten“, meldete einer seiner Assistenten.

Der Regisseur tippte auf dem Schaltpult herum. Schließlich drückte er ein paar Knöpfe. Damit unterbrach er das reguläre Programm und schickte die Magnetbandaufzeichnung auf den Weg. „In Ordnung“, erwiderte er und tat als würde er weitere Knöpfe drücken, während das Interview landesweit ausgestrahlt wurde, „ich arbeite dran.“

Seinen Job würde er wohl vergessen können, aber wenigstens konnte er so seinen Teil dazu beitragen, die Erde zu retten.

Der Besitzer des Senders bemerkte die Ausstrahlung. Seine Hand ruhte auf einem großen roten Knopf. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Ach, was soll´s.“
 

2.

Ich erwachte. Eigentlich war das ein alltäglicher Vorgang, aber er erstaunte mich jedes Mal aufs Neue. Warum? Nun, eigentlich hätte ich vor dreißig Jahren den Tod finden müssen.

Aber ich lebte noch, und das war ein Wunder. Wunder genug, um jeden neuen Tag als ein göttliches Geschenk zu empfinden, egal wie dieser Tag ausfiel.

Wie immer war der Wechsel zwischen Schlaf und Wach abrupt erfolgt. Und beinahe sofort war ich klar. Langsam richtete ich mich auf der Tatami aus hartem Schilfrohr auf und schob die dünne Decke beiseite. Dann erhob ich mich und trat auf den harten Holzfußboden. Wie immer bei dieser Bewegung nahm ich Großmutters Schwert in die linke Hand und hielt es so, dass die Klinge jederzeit in meine rechte Hand springen konnte.

Es war noch dunkel, aber das störte mich nicht. Mein Gefühl sagte mir, dass es fast fünf Uhr war, die Sonne würde noch eine gute Stunde brauchen. Ich hatte drei Stunden guten Schlaf gehabt, und mehr war für mich nicht nötig.

Ich ließ meinen Blick über die kleine hölzerne Kammer schweifen, die mich aufgenommen hatte. Die mir gehörte zu sagen wäre ein schrecklicher Affront gewesen, denn ein Mensch sollte in seinem Leben nur fünf weltliche Dinge besitzen.

Das erste was ich besaß war das alte Katana, welches die Mutter meines Vaters benutzt hatte, und vor ihr der Großvater, bis hinunter zu den Zeiten eines Shogun Iiesarus. Es war eine gute Klinge, die nur wenig Pflege brauchte, um scharf zu bleiben.

Das zweite war der Yukata, den ich mir umwarf. Ein schlichter, weißer Yukata, der nicht ganz ohne Absicht an jene Gewänder erinnerte, die Samurai zu tragen pflegten, wenn sie Seppuku begangen hatten, damals in den alten Zeiten.

Das dritte war ein Paar Geta, traditionelle japanische Sandalen. Eigentlich ein Accessoire für einen Kimono, aber einen solchen zu tragen erschien mir zu protzig. Außerdem war es der Würde dieses Ortes nicht angemessen.

Das vierte was ich besaßwar mein Leben. Es war mir geschenkt worden, in dieser unvorteilhaften ewigen Nacht, und ich sank jeden Tag für ein paar Stunden auf meine Knie, um dafür zu beten, dass ich diesem Opfer gerecht wurde, jeden einzelnen Tag.

Das fünfte was ich besaß war das einzige, was diesen heiligen Ort verunreinigte. Und es war nicht zu übersehen. Prime Lightning, der uralte, aber immer noch kampftüchtige Daishi Beta, stand vor den ehrwürdigen Mauern und wartete. Wartete seit fünfundzwanzig Jahren…

Mit einem Gefühl aus Erleichterung und Verlust verließ ich meine kleine Kammer. Ich hatte diesen Teil meines Lebens nur geschenkt bekommen, und jederzeit, jederzeit konnte es den Göttern einfallen, dieses Geschenk zurück zu ziehen und mir dieses Leben wieder zu nehmen.

Leben war kostbar, das wusste ich, aber ich spürte auch die Last, die damit verbunden war. Ich musste noch leben, und das war schwer, das war so ungeheuer schwer.

Draußen auf dem Gang kamen gerade ein paar Novizen vorbei. Ihre Gesichter waren jung und ihre Häupter kahl geschoren. Sie legten die Hände aufeinander, als sie mich passierten und verneigten sich ehrfürchtig.

Im Gegensatz zu ihnen ballte ich die Rechte zur Faust, hielt sie auf Brusthöhe und legte die Linke darum. Dazu nickte ich knapp.

Sie waren Männer des Friedens, des Wissens und der Religion.

Ich war nur ein gefährlicher Hund, der gerade an einer sehr kurzen Leine gehalten wurde.

In der Haupthalle hatten sich bereits die älteren Mönche versammelt. Unter der Anleitung des Abtes beteten sie vor der vergoldeten Buddha-Statue, die den Saal dominierte. Respektvoll wartete ich am Rand im Schatten einer Säule, bis sich die Augen des alten Abts auf mich richteten und er mir erlaubte, mich zu den Betenden zu setzen.

Doch heute war alles anders.

Ich musste lange warten. Die buddhistischen Mönche vollführten ihre Gebete ohne mich und ohne, dass ich mich zu ihnen setzen durfte. Danach aber zerstreuten sie sich. Es wurde Zeit für das Frühstück und danach für das T´ai Chi Chuan, die Kunst, selbst im hohen Alter gelenkig wie ein Kind zu sein. Ich verfolgte diesen Sport seit fünfundzwanzig Jahren, und ihm verdankte ich es, dass ich selbst im Alter von einundfünfzig Jahren noch genauso schnell und beweglich war wie mit einundzwanzig.

Der Abt winkte mich heran. Ehrfürchtig trat ich vor ihn und verbeugte mich.

„Akira“, begann er und ich sah verwundert auf. An diesem Ort wurde nur selten gesprochen, und wenn jemand die Stimme erhob, dann hatte er etwas Wichtiges zu sagen.

„Akira Otomo. Du wirst heute dieses Kloster verlassen.“

Erstaunt und überrascht sah ich den Abt an. Was hatte das zu bedeuten?

Der Abt erhob sich, mit einer Leichtigkeit, die seinem offensichtlichen Alter Lügen strafte. Er machte eine einladende Handbewegung, und wir verließen die Halle in Richtung Garten.
 

Zwischen Akazien, Chrysanthemen und Rosen – ein Steckenpferd des Hausherrn – gingen wir auf knirschenden Kieswegen. Das heißt, unter dem Schritt meiner Getas knirschten die Kiesel. Wenn der Abt sich bewegte, hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Der Mann schien absolut kein Gewicht zu haben.

„Du kamst zu uns, vor fünfundzwanzig Jahren. Wir haben dich ohne eine Frage zu stellen aufgenommen. Und du hast in dieser Zeit in Demut und ohne zu zögern jede Aufgabe erfüllt, die man dir auftrug. Du hast deine Weisheit mit den Novizen geteilt und du hast geschwiegen, wenn es nötig war. Deine Gebete sind rein und klar wie Bergwasser, und dich mit solcher Bescheidenheit leben zu sehen macht mich stolz.“

Während wir dahin schritten, verneigte ich mich vor dem alten Mann.

„Aber du hast nie das gefunden, was du hier gesucht hast, nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht traurig, nicht verzweifelt. Es war nur der Ausdruck des Körpers über das, was das Gehirn schon lange wusste.

„Und du weißt, dass du das, was du suchst, hier niemals finden wirst.“

Der alte Mann sah mich an. „Du weißt, wir schirmen dich hier, so gut wie wir es können. Wir haben dich aufgenommen, und wir sind für dich verantwortlich. Unsere Welt ist von dem, was die Menschen außerhalb des Klosters leben, vollkommen verschieden, und wir wollen an dieser Welt keinen Anteil haben.

Aber es ist ein Grundsatz des Buddhismus, Barmherzig zu sein und zu tun, was getan werden muss. Deshalb habe ich gestern einen Brief angenommen, der an dich adressiert war. Und deshalb wirst du diesen Ort heute noch verlassen.“

„Was steht in dem Brief?“, fragte ich und meine Linke schloss sich härter um mein Schwert.

„Was denn, was denn? Denkst du, ich lese deine Post?“, erwiderte der alte Abt und lachte freundlich. Er griff in seine safrangelbe Kutte und reichte mir den Brief. Ich erkannte die Situation sofort. Der UEMF-Stempel sagte alles.

Ich öffnete den Brief und las aufmerksam und mit einem gewissen Unbehagen. „Ein Marschbefehl“, brummte ich unwillig. Aber ich wusste, ich konnte mich diesem Befehl nicht entziehen. Nicht, wenn ich meine Integrität und meine Ehre auch noch aufgab. Und dabei hatte ich doch schon meinen Stolz und meine Liebe geopfert.

„Du bist hier jederzeit wieder willkommen, Akira“, sagte der alte Mann.

Ich blickte vom Brief auf, aber der Abt war nicht mehr da. Und erstaunt stellte ich fest, dass ich nicht im Sonnenlicht des Morgens stand, unter dem ich mit dem Abt im Garten spazieren gegangen war, sondern im prallen Licht des Mittags.

Langsam faltete ich den Brief wieder zusammen und steckte ihn in meinen Yukata.

Fünfundzwanzig Jahre hatte ich in Ruhe gelebt, aber nun holte die Welt mich wieder ein.
 

Das wenige was ich besaß trug ich am Leib. Ich brauchte nicht in die Kammer zurückkehren, die schon bald einen anderen beherbergen würde. Es kümmerte mich nicht. In diesem Leben hatte ich nichts besessen und ich konnte nichts zurücklassen.

Auf meinem Weg vor das Kloster begegnete ich Dutzenden Menschen, Priestern und Novizen und vielen höhergestellten Mönchen, von denen ich viele seit Jahren kannte.

Wir tauschten höfliche Grüße aus und gingen unserer Wege. Und ich verstand, dass diese zufälligen Begegnungen in Wirklichkeit ihre Art war, mir Lebewohl zu sagen.

Es rührte mich. Und ich wusste nicht zu sagen, ob ich jemals an diesen Ort wiederkehren würde. Wenn ich Glück hatte, würde sich das eisige All über mir schließen und mich verschlingen.

Vor Prime Lightning blieb ich stehen und sah den riesigen Daishi hinauf. Er stand noch immer so da, wie ich ihn vor fünfundzwanzig Jahren, sieben Tagen, fünf Stunden und drei Minuten abgestellt hatte. Lediglich das Cockpit war geschlossen worden, um es dem Wetter schwerer zu machen, Korrosionen anzurichten.

„Aktivierung“, befahl ich mit ruhiger Stimme.

Der Sensorkopf aktivierte sich, die blutroten Augen blitzten auf wie die einer zornigen Gottheit, welche zum Leben erwacht war. Das Cockpit öffnete sich zischend vor mir. Und Primes Stimme klang zu mir herab: „Guten Morgen, Admiral Otomo. Wir werden erwartet.“

Ich erklomm die Strickleiter, schloss das Cockpit wieder und begann, den blauen Druckanzug anzuziehen, der für mich bereit lag. Danach legte ich die Anschlüsse, setzte den Helm auf und schloss auch ihn an. Diverse Grünzeichen bewiesen mir, dass ich nichts verlernt hatte.

„Wo soll es hingehen, Prime?“

„Chief Admiral of the Fleets, Torum Acati erwartet Sie auf dem OLYMP, Sir.“

„Na, dann wollen wir ihn nicht unnötig warten lassen. Startfreigabe von der Großasiatischen Union?“

„Es wird keine Behinderung im Luftraum gemeldet. Admiral Otomo hat höchste Priorität.“

Ich lächelte schwach. Anscheinend hatte selbst ein Vierteljahrhundert in meiner Isolation in einem buddhistischen Tempel in Zentralchina nicht ausgereicht, um die Welt mich vergessen zu lassen. Ich richtete Prime auf und stapfte ein wenig den Hang hinab, bis ich das unter uns liegende Tal in seiner ganzen Pracht sehen konnte.

Immer wenn ich geglaubt hatte, wahnsinnig werden zu müssen, immer wenn ich am Leben zu verzweifeln drohte, dann hatte ich mir dieses Tal angesehen und gewusst, dass wahre Schönheit jedes Opfer wert war. Wenn auch nur für ein paar Sekunden.

Der Trost war nie von langer Dauer, aber es gab ihn, und das beruhigte mich.

Ich trat die Pedale der Sprungdüsen voll durch, Prime machte einen mächtigen Satz und raste in den strahlendblauen Frühlingshimmel.

Die Ortung meldete diverse Passagiermaschinen in der Luft, aber alle waren weit entfernt. Drei von ihnen entfernten sich sogar in gerader Linie von meinem Kurs. Teufel, hatten die Chinesen sie aus dem Kurs gezwungen?

„Ortung. Hawkeye, zwanzig Stück. Transpondersignal identifiziert sie als Rote Drachen-Schwadron, Formation rautenförmig gestaffelt. Fliegen parallel zu unserem Kurs.“

Die Roten Drachen waren ein Elite-Geschwader der Landesverteidigung. Neben dem Einsatz der Hawk-Technologie setzten die Groß-Asiaten und unter ihnen natürlich der stärkste Partner, die Chinesen, auch auf die Hawkeye-Modelle, Atmosphäregebundene Jäger, die speziell für den Kampf mit Mechas entwickelt worden waren. Sie waren um einiges schneller als Mechas und konnten über eine größere Entfernung treffen. All das machte ihre mangelnde Manövrierfähigkeit gegenüber einem Daishi wieder wett. Und zu einem ernsten Feind für jedermann.

„Die Roten Drachen funken uns an. Sie fordern uns zum Formationsflug auf.“

Ich lachte. Nein, ich war nicht vergessen worden, definitiv nicht vergessen. „Die Roten Drachen erhalten die Erlaubnis, sich um Prime Lightning zu gruppieren.“

„Bestätigt.“

In Zweierpaaren schwenkten die Hawkeyes aus ihrem Kurs und zogen in meine Richtung herüber. Das ganze Manöver dauerte fünf Minuten, dann war ich die Spitze eines Keils.

Ich, an der Spitze einer Ehrenformation aus zwanzig Maschinen, das war ein erhebendes Gefühl. Wenngleich nur für einen Moment.
 

Der Flug zur Titanen-Station dauerte mehrere Stunden. Etwas ärgerte ich mich darüber, dass ich OLYMP nicht direkt anfliegen konnte, aber niemandem war es heutzutage erlaubt, die Erde auf einem anderen Weg zu verlassen als über die drei Plattformsysteme Titanen-Station/OLYMP über dem Westpazifik, APOLLO/ARTEMIS über dem Nordatlantik und YOHKO/MEGUMI im Südindischen Ozean. Starts und Landungen von Schiffen waren äußerst selten, aber sie waren auch unnötig geworden.

Dies bedeutete für mich, ein wenig Schlaf zu finden. Ich brach aus der Routine des Klosters aus, schaltete sofort wieder auf Soldat um, und die erste Regel für Soldaten war: Du weißt nicht was dich erwartet, also schlaf wann immer du kannst.

Der geregelte Rhythmus des Lebens in dem buddhistischen Kloster würde für mich schon bald wie ein Traum sein. Ob gut oder schlecht, vergessen würde ich nicht. Aber ich würde auch nie wieder zurückkehren.

Andererseits… Schlafen, ohne vollkommen erschöpft zu sein, ohne traumlos und tief zu schlafen, ich fürchtete es. Meine Last, meine Träume waren furchtbar und mein Herz zerbarst fast unter der Erinnerung.

Ich wälzte mich auf die Seite und döste ein wenig. Dabei spekulierte ich über den Auftrag, den mir Acati wohl geben würde. Hatten sich die Reste der Core-Zivilisation zusammengeschlossen? Gab es erneut Konflikte mit dem Kaiserreich? Oder war eine Intervention auf Naguad Central notwendig? Daneben gab es noch Dutzende Welten, kleinere Reiche und auch Planeten mit mehreren Nationen, wie die Erde noch immer bewies, die im Konzert der galaktischen Völker oftmals laut und falsch spielten – und dann bedurfte es eines hervorragenden Dirigenten, um das Musikstück nicht ins Chaos stürzen zu lassen.

Wenn Torum Acati mich von meinem Berg zurückrief, dann musste es etwas Wichtiges sein.
 

Über diese Gedanken war ich eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, tat ich es mit Entsetzen. Zu deutlich spürte ich den eisigen Biss des Vakuums auf meinen Armen, fühlte wie mein Blut im Unterdruck des Alls zu kochen begann und glaubte noch immer die riesige Felswand vor mir zu sehen, auf die ich zu fiel. Nein, ich wusste es besser. Ich strebte von ihr fort, weit, weit fort, zu einem Tod im Weltall. Und ich hatte nicht gewusst, was mich zuerst töten würde. Ersticken oder erfrieren.

Wütend hielt ich mir den Kopf. Ich würde mir sehr bald eine neue Routine zulegen müssen, die es mir erlaubte, weiterhin traumlos zu schlafen. Sonst würden meine Träume, meine realen Träume, mich nach und nach in den Wahnsinn jagen. Megumi… Sakura… Yohko…

Oh, es tat immer noch so weh, so unendlich weh.

„Titanen-Station, hier Titanen-Station. Rote Drachen, wir danken Ihnen für die Ehreneskorte für Admiral Otomo. Wir bitten um die Erlaubnis, die Eskorte mit zwei Regimentern der Titanen zu verstärken.“

„Erlaubnis erteilt, Titanen-Station.“

Verwundert sah ich auf, checkte meine Bildschirme. Titanen-Station war noch hundert Kilometer entfernt. Aber zweihundertvierzig Punkte in meiner Ortung waren extrem nahe. Kurz darauf umschwirrten mich zu den zwanzig chinesischen Jagdfliegern terranische Hawks, Eagles und Sparrows. Ja, man hatte mich definitiv nicht vergessen.
 

„Ich danke Ihnen für die Eskorte, Ladies und Gentlemen. Eine nette Geste einem alten Soldaten gegenüber.“

„Jederzeit wieder, Sir“, klang die Stimme des chinesischen Staffelführers auf. „Die Roten Drachen verabschieden sich, Sir.“

Die zwanzig Maschinen schwenkten ab, als die Titanen-Station nur noch einen Kilometer entfernt war. Ich sah ihnen einen Moment nach.

„Titanen-Station. Hier spricht Admiral Akira Otomo. Ich bitte um Landeerlaubnis und Transfer auf den OLYMP.“

„Titanen-Station, hier Titanen-Station. Landeerlaubnis erteilt, Transfererlaubnis erteilt. Prime Lightning erhält Prioritätsanflugvektor. Kommen Sie rein wie immer Sie wollen, Admiral“, klang die Stimme des Funkers hocherfreut auf.

„Ich nehme Sie beim Wort“, verkündete ich nicht ohne Freude. Es war nett, mal wieder einen Ort zu besuchen, den ich als meinen eigenen Hinterhof betrachtete.

Der Anflug selbst war eine Routineübung für mich. Ich setzte Prime problemlos im Hangar auf und wurde sofort von einem Mann in grüner Weste mit Leuchtstäben zum nächsten Fahrstuhl eingewiesen.

Nun, ich hatte nicht gerade Jubel erwartet, Standing Ovations und dergleichen, aber der Anblick von ein paar tausend Soldaten und Technikern, die in meine Richtung salutierten, war doch sehr erhebend.

Die Fahrt im Fahrstuhl hingegen war geradezu langweilig. Unspektakulär. Fast ein wenig wie die Zeit im Kloster.

Und dann… Dann rastete die Kabine ein und ich war im OLYMP… Ich schloss einen Moment die Augen und kämpfte mit meiner Erinnerung. Vater würde mich hier nicht erwarten. Makoto würde nicht in seiner schneidigen Uniform auf der anderen Seite der Türen stehen, um mich zu eskortieren. Und Yoshi…

Ich drängte die Gedanken gewaltsam zur Seite. So etwas brachte nichts. Nicht, wenn Acati mich rief, denn das bedeutete, dass er mich brauchte, verdammt. Und dafür hatte ich klar zu sein.

Als sich die Tür öffnete, erwartete mich dennoch eine Überraschung. Der junge Major mit den Hekatoncheiren-Abzeichen war Daisuke Honda so ähnlich, dass es mir fast in den Augen schmerzte, ihn ansehen zu müssen. Nur die Augen und die Nase konnte ich eindeutig Sarah zuordnen. Das musste Jerome sein.

Der Mann salutierte und trat dann zur Seite, damit mich der Techniker mit den Leuchtstäben einweisen konnte.

In einer Haltebucht stellte ich den Mecha ab und verließ das Cockpit.

Major Honda salutierte vorschriftsmäßig vor mir. „Sir, Major Jerome Honda. Sie sind mit meinem alten Herrn geflogen, wie meine Mom mir gerne und oft erzählt.“

Ich salutierte, aber dann trat ich vor und ergriff die Rechte des jungen Mannes. „Teufel auch, Dai-chan und ich waren dicke Freunde. Hat Sarah das nie erwähnt?“

„D-doch, Sir, aber ich habe halt in Betracht gezogen, dass… sie ein wenig übertrieben hat. Sie spricht immer so stolz von Ihnen und lässt niemanden ein schlechtes Wort über Sie verlieren…“

„Auch Sarah ist eine Freundin. Die beste vielleicht“, betonte ich.

„Verstehe, Sir. Und danke, Sir.“

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Jerome. Sie haben die Augen Ihrer Mutter.“

Der Jüngere lachte. „Und die Nase, Sir. Mom sagt gerne, ich wäre allgemein hübscher als Dad, und das würde an ihrem Teil der Gene liegen. Aber ich werde mich hüten, da ein Urteil abzugeben.“

Ich grinste und der junge Mann grinste zurück. In diesem Moment sah er Dai-chan so verdammt ähnlich, dass mich Freude und Trauer zugleich übermannten. Ich keuchte auf und brach in die Knie ein.

„Sir!“, rief der Major bestürzt.

„Es geht schon. Es ist eben nicht leicht, mit dem Sohn eines Mannes zu reden, den ich auf dem Gewissen habe. Es tut mir Leid, Major Honda. Wenn ich nur besser…“

„Komisch, das hat mir Mom auch gesagt. Sie hat gesagt, Akira Otomo ist ein Mann, der die Fehler in seiner Umgebung auf sich projiziert und daran zu wachsen versucht. Und wenn es keine Fehler gibt und die anderen einfach besser waren, dann sucht er trotzdem nach eigenen Fehlern, die früher passiert sind. Es sieht so aus als hätte sie Recht.“

„Das ist Unsinn. Hätte ich Ihren Vater bei einem Fehler erwischt, hätte ich ihm die Mandeln durch den Arsch rausgerissen, Major, und das ist mein voller Ernst. Aber er hat keinen Fehler gemacht. Es war überhaupt erst mein Fehler, in dieses System zu springen.“

„Aber hätten Sie es nicht getan, hätte der Superkreuzer Iotan vernichtet, oder? Mom hat mir auch gesagt, dass ich Sie nicht alleine lassen soll, wenn Sie sich in der Vergangenheit verlieren.“

Ich schluckte hart. Da stand ich hier, vor dem einzigen Kind von zwei sehr guten Freunden, während ich den Tod des einen und die schwere Verletzung des anderen verschuldet hatte, und musste mir von ihm sagen lassen, wie sehr ich fünfundzwanzig Jahre in Selbstmitleid gelebt hatte. Ja, darauf lief es wohl hinaus.

„Kommen Sie, Sir, Admiral Acati erwartet Sie bereits im Bio-Labor. Mom, ich meine Professor Honda ist ebenfalls anwesend.“

„Bio-Labor?“ Das brachte keine guten Erinnerungen hervor, das spülte nur ein paar sehr üble Sachen an die Oberfläche. Der Superkreuzer, der große Verrat der Daina, der Angriff auf Iotan, die Hauptwelt des Kaiserreichs, die Vernichtung der AURORA, meine Rettung in letzter Sekunde, bevor mein KI-Panzer erlosch… All das war definitiv unter „nicht gut“ abzulegen. Aber dennoch, es bot auch Hoffnung. Wenn Torum mich ins Bio-Labor bat, dann hatten sie vielleicht endlich ein Mittel gefunden und… Ich schob auch diese Gedanken beiseite und folgte Jerome durch die Eingeweide des OLYMP.
 

Auf dem Weg ins Bio-Labor begegneten wir gut eintausend Menschen. Militärs, Wissenschaftler, Techniker, Besucher aus dem Imperium und dem Kaiserreich, einige unabhängige Vertreter von Daima- oder Alien-Systemen, von denen ich einige am Stil der Kleidung ihrer Vertreter erkannte. Und wieder wurde salutiert, oder zumindest geglotzt und gestaunt. Ich fühlte mich wie ein Frosch auf dem Sezierteller. Aber nein, das war ein ungerechter Vergleich den Tortada gegenüber, eine Amphibien-Spezies, die vor siebenundzwanzig Jahren ins Imperium aufgenommen worden war, nachdem die AURORA ihre Heimatwelt von einer Eroberungstruppe des Cores gerettet hatte.

Im Labor erwartete mich bereits Acati. Er kam sofort zu mir herüber, griff mir in den Nacken und drückte mich an sich. „Es ist schön, dass du kommen konntest, Aris.“

Aris, mein alter Naguad-Name. Ich hatte ihn ein Vierteljahrhundert nicht mehr gehört.

„Es tut gut, dass du mich gerufen hast. Was kann ich für das Imperium tun?“

„Für dein Imperium“, erwiderte Torum mit einem matten Lächeln. „Ich bin nur dein Statthalter.“

Unwirsch winkte ich ab. „Ich spiele nur das Aushängeschild, damit sich die Parteien untereinander nicht bekriegen. Der Rest ist Verwaltungsarbeit, oder?“

„Sicher ist es das. Und allein die Tatsache dass du lebst, hält fünfundneunzig bewohnte Sonnensysteme zusammen. Hallo, Akira.“

Ich wandte mich um und betrachtete die Frau, die mit merkwürdigen steifen Schritten auf mich zuging. „Hallo, Sarah.“ Sanft schloss ich die Slayer in die Arme. Nun, diese Zeiten waren seit Hinas Tod endgültig vorbei. „Es tut gut, dich zu sehen. Ich habe gerade deinen Sohn kennen gelernt.“

„Typisch Mann. Immer zu spät. In diesem Fall fünfundzwanzig Jahre.“

Wir sahen uns in die Augen und mussten lachen. Nun, entschied ich, das war besser als weinen. Aber das hätte uns wahrscheinlich gut getan. Wie viele waren wir noch? Fünf? Von wie vielen? Das Leben war hart zu uns gewesen.

„Was habt Ihr für mich?“, fragte ich ernst, nachdem ich Sarah wieder freigegeben hatte. Ihr Exoskelett, welches das vollkommen zerstörte Rückgrat ersetzte, machte sie mobil, aber der Preis war eine gewisse Ineleganz, um es höflich zu formulieren. Wenn wir doch nur über die Heilungsfähigkeiten der Dämonen verfügt hätten, Sarah hätte schon vor Jahren geheilt werden können.

„Wir waren einem Gegenmittel auf der Spur. Aber es war eine Sackgasse. Im Gegenteil, es wird zum Gift“, sagte Sarah ernst, geradezu tonlos.

„Gift?“

Sie ging voran, mit Torum Acati an ihrer Seite, der darauf achtete, dass die Professorin für Elektronik und Exobiologie nicht stürzte. Sie war natürlich viel zu stolz, um ihr Gleichgewicht einem simplen Stock anzuvertrauen, und das war etwas sehr vertrautes, was mich verschmitzt lächeln ließ. „Kommen Sie mit oder haben Sie etwas vor, Major?“, fragte ich über die Schulter hinweg.

„Tschuldigung, Sir. Gesperrter Bereich. Meine Sicherheitseinstufung ist zu niedrig.“ Jerome zuckte mit den Achseln.

„Lassen Sie uns trotzdem nachher zusammen zu Mittag essen. Ich habe Ihnen viel von Ihrem Vater zu erzählen.“

„Darauf warte ich seit achtundzwanzig Jahren, Sir“, erwiderte der junge Mann. Freundlich, hoffnungsvoll, ja geradezu erwartungsvoll und ohne jeden Funken Spott oder Trotz. Ich begann den Jungen zu mögen.
 

Wir passierten eine Sicherheitsschleuse und fünf Wachleute, von denen drei den Kragenaufnäher eines KI-Meisters hatten. Dann standen wir vor dem größten Geheimnis, das sich der UEMF seit neunundzwanzig Jahren stellte.

In einem Biotank schwebte eine nackte junge Frau. Sie sah nicht einen Tag älter aus als zwanzig, aber ich wusste, dass sie über zweitausend Jahre alt war.

„DU ELENDES SCHWEIN! LASS MICH HIER RAUS, UND ICH FRESSE DEINE EINGEWEIDE!“

Es tat weh, eine Freundin so sehen zu müssen. Es tat weh, ihren Wahnsinn zu sehen. Es tat weh, ihr nicht helfen zu können. Vor mir im Tank schwebte Dai-Kitsune-sama, die Herrin der Fuchsgötter. Sie hatte meinen Vater getötet. Sie hatte Akari und Micchan getötet. Und sie hatte höchstwahrscheinlich auch Takashi Mizuhara auf dem Gewissen, wenngleich wir es nie beweisen konnten.

„Das nennst du einen Teilerfolg?“, fragte ich und versuchte das tobende Etwas zu ignorieren. Das war nicht Kitsune. Das war ES.

„Warte es ab“, sagte Sarah, und ihre Miene wurde hart.

Ich hörte übergangslos das Geräusch von jemandem, der weinte. Was etwas schwierig war, wenn man in der bernsteinfarbenen Heilflüssigkeit steckte, die einen Biotank ausfüllte.

Ich sah überrascht wieder hin. Und blickte direkt in Kitsunes verzweifelte Augen.

„Akira“, hauchte sie und legte beide Hände an die Wand des Tanks. „Akira, ich habe solche Angst.“

„Kitsune-chan.“ Mit zwei schnellen Schritten war ich am Tank. „Kitsune-chan.“

„Komm nicht zu nahe“, hauchte sie. „Ich bin wahnsinnig. Ich weiß es, ich sehe es. Da ist etwas in mir, und das frisst mich, und dann werde ich so zornig und will alles töten und… TERRANERSCHWEIN! VERFLUCHTER DAIMA!“

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, als ich die laute Stimme hörte, die Augen wild funkeln sah.

„Der Liberty-Virus hat sie nach wie vor fest im Griff. Wir haben es geschafft, ihr lichte Momente zu bescheren, aber nach Dai-Kuzo-samas Tod gibt es niemanden mehr, der ihr wirklich helfen könnte. Das meinte ich mit Gift. Sie ist sich ihrer Qual nun bewusst.“ Sarahs Stimme war emotionslos. Das durfte sie auch. Sie hatte genug für Kitsune geweint, als wir die Dämonin vor sechsundzwanzig Jahren in diesen Tank gesperrt hatten.

Wieder schluchzte die Dämonin. „Es… Es ist, als wären zwei verschiedene Wesen in meinem Kopf. Ich kann es nicht ändern, ich kann es nicht beherrschen. Akira, bitte, ich halte das nicht mehr aus. Ich will nicht nach Eikichi auch noch dich töten! Mach dem ein Ende, bitte. Bitte. Bitte.“ Ihr Kopf sackte nach unten, ihre Hände glitten von innen den Tank hinab.

Einen Augenblick später sah sie mich wieder an, mit den wilden funkelnden Augen. „ICH HABE DEINEN VATER GEFRESSEN, UND JETZT FRESSE ICH DICH!“

Erschüttert wich ich zurück. Ich hatte mich daran gewöhnt, Kitsune in ihrem Hass-Modus zu sehen. Aber die alte Kitsune, die immer wieder zwischendurch aufblitzte, brach mir das Herz.

Ich wandte mich um und ging. Das war Marter, pure Marter.

Ihr Schluchzen verfolgte mich bis auf den Gang.

***

Mein nächster Weg, Torum vor mir und den jungen Honda im Schlepp – eigentlich hatte ich sehr schnell raus, dass der Bengel mir als Adjutant und Leibwache dienen sollte, was mich unwillkürlich an Franlin erinnerte – machte ich mich auf dem Weg ins Herz des OLYMP.

Die Menschen, Anelph, Kronosier und Iovar, die mir begegneten, grüßten mich höflich, soweit sie mich erkannten. Ein paar ignorierten mich, anderen stand einfach nur der Mund offen. Es war eben nicht jedermanns Sache, ausgerechnet Blue Lightning gegenüber zu stehen, dem legendären Mann, der die Seuche des Liberty-Virus gestoppt hatte. Aber zu welchem Preis… Zu welchem Preis…
 

Torum Acati führte mich in Vaters altes Büro. Er hatte es in den letzten Jahren nicht verändert. Noch immer war es karg und leer, noch immer stand der Holoprojektor darin, über den Mutter über die Standleitung mit Vater kommuniziert hatte – über fünfzig Lichtjahre hinweg.

Er setzte sich und lächelte mich an. Acati hatte sich nicht verändert. Er sah immer noch so aus wie am ersten Tag. Nun, seine Haare waren ordentlicher, aber er hatte ja auch keinen Kampf auf Leben und Tod im Bauch der AURORA hinter sich.

„So, Admiral Arogad, Ihre Befehle betreffend...“, sagte er mit ernster Stimme.

Ich verzog mein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. „Musst du so förmlich sein, Torum? Wir haben uns ein Vierteljahrhundert nicht gesehen.“

Der Halb-Daima sah auf, blickte mich an als sähe er mich das erste Mal, und rang sich endlich zu einem Lächeln durch. „Es tut mir Leid, Akira. Es tut mir einfach Leid. Ich hatte viel zu tun, und ich war mir einfach nicht sicher, ob du noch lebst und…“

Ich lachte rau. „Egal, was der Liberty-Virus in mir anrichtet, ich bin immer noch Akira Otomo. Oder wenn du so willst, Aris Arogad. Mein Vater war ein Mensch, und das bietet mir einen gewissen Schutz.“ Ich betrachtete meine Hände und erschrak. Sie waren alt geworden, so entsetzlich alt. Die Kinder von Naguad sollten eigentlich tausend Jahre und länger leben können, aber ich war von dieser Regel ausgeschlossen, weil… Weil der Liberty-Virus in mir wütete. Jene geheimnisvolle Seuche, die alle Menschen, egal ob Daima oder Daina, an den Rand der Vernichtung gebracht hatte.

„Ich weiß ja, ich weiß. Und ich weiß, dass du als AO-Meister… Ich meine KI-Meister, dich bis zu einem gewissen Punkt selbst beschützen kannst. Aber sicher war ich mir erst, als du auf den OLYMP kamst. Jerome hast du schon kennen gelernt?“

„Er schlägt zum Glück mehr nach Sarah“, scherzte ich, was den jungen Mann erröten ließ und Torum ein Auflachen entlockte.

„Der gleiche wie immer.“ Acati deutete auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. „Komm, wir müssen reden.“

Ein Stapel Akten wechselte den Besitzer, und gleich das erste Blatt ließ mich die Stirn runzeln. „Iskan?“ Irritiert las ich weiter. „Ian Reilley. Das ist mein Sohn.“

„Nein, das ist Iskan Arogad, der nächste Erbe des Hausvorsitzes. Und damit in nicht allzu weiter Zukunft mein direkter Vorgesetzter. Oren dankt ab, und ohne Eridia gibt es nur einen ernsthaften Erben, und das ist deine Linie. Jarah und deine Mutter Helen sind tot, du bist der einzige in deiner Generation. Nach dir kommt nur dein und Joans Junge.“ Torum sah mir ernst in die Augen. „Er hat die Tests bestanden, an der Akademie promoviert und ist auf dem besten Wege, ein eigenes Kommando zu bekommen. Er versucht wirklich, dem Namen seines Vaters gerecht zu werden. Er versucht wirklich, der Sohn von Aris Arogad zu sein. Ich habe ein paar Bäume geschüttelt und gesehen, was dabei herunterfällt.

Fioran und Elwenfelt halten es für eine gute Idee, wenn die Linie von Oren nicht unterbrochen wird. Daness denkt dasselbe, immerhin hat es dem Imperium nach dem großen Krieg siebenundzwanzig Jahre Frieden geschenkt. Aber der Vorsitzende des Hausrats der Daness, Sostre Daness, hat gesagt, dass er gerne dich an der Spitze sehen würde.“

Ich winkte ab. „Das ist für mich Geschichte. Wenn Ian das Zeug dazu hat, meinetwegen auch Iskan, wenn ihm ein Naguad-Name lieber ist, dann lass ihn doch machen. Dass du mich dafür aus meiner Isolation holst, wundert mich etwas.“

„Akira“, sagte Torum beschwörend, und ich registrierte, dass er meinen Menschen-Namen benutzte, „es geht hier um nicht mehr und nicht weniger als das ganze Reich, das ich für dich verwalte. Du hast Verantwortung für nicht weniger als neunzig Milliarden Daima! Und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass du dich dieser Pflicht entziehst. Akira, denke daran, was Megumi sagen würde und…“

„Megumi ist tot“, sagte ich tonlos. „Sie alle sind tot, und Joan ist irgendwann, während ich mich verkrochen habe, an ihren Implantaten verreckt. Warum kannst du den Jungen nicht in Ruhe lassen? Warum kannst du ihn nicht seinen eigenen Weg finden lassen? Musst du ihm seinen Massenmördervater auf den Hals hetzen?“

„Es ist achtundzwanzig Jahre her, Akira“, sagte der Admiral wieder beschwörend. Der ranghöchste Offizier des Vereinten Imperiums sah mich ernst an. „Wann wirst du endlich darüber hinweg kommen? Wann wirst du ihr Opfer anerkennen, es ehren und weiterleben? Zumindest die Zeit, die dir noch bleibt?“

„Dazu ist es zu spät. Es gab Zeiten, da dachte ich jeden Tag, ich würde den nächsten nicht überleben. Und dann gab es Zeiten in denen ich gehofft habe, ich würde nicht mehr aufwachen, um weiterleben zu müssen. Torum, alter Freund, ich habe soviel Schuld auf mich geladen, dass… Ich kann einfach nicht.“

Zögernd streckte ich die Rechte aus ließ sie dann sinken. Wortlos drehte ich mich um. Ich hatte mich nicht gesetzt, und das sollte Torum genug über meine Stimmung gesagt haben. „Ruf mich wieder, wenn du ein paar Mechas vernichten lassen willst. Darin bin ich wirklich gut.“

„Wie wäre es dann mit einer Leibwächtermission? Der Nachfolger des Hausvorsitzes der Arogad wird einen sehr guten Banges-Piloten brauchen, der ihn beschützt.“

„Babysitten war noch nie meine Stärke. Und dieses Baby habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Ich kann ihm schlecht jetzt unter die Augen treten, nachdem ich ihn ein Vierteljahrhundert vernachlässigt und verlassen habe.“ Ich verließ das Büro, den Major im Schlepp.

„AKIRA! AKIRA!“

Ich wandte mich um. „Wie ich schon sagte, wenn du was zum töten hast, bin ich dein Mann, alter Freund. Ich werde einige Zeit hier bleiben. Ich beziehe Makotos altes Büro wenn es recht ist.“ Ich wartete die Antwort nicht ab und ging weiter.

Ja, das Büro meines Cousins war noch immer versiegelt. Ich brach das Siegel auf, trat ein und schaltete das Licht an. Leise surrend lief die Klimaanlage an und tauschte fünfundzwanzig Jahre alte Luft aus.

Seufzend ließ ich mich in den Sessel hinter den Schreibtisch sinken und rieb mir die Schläfen. „Dieser Torum. Ich habe ihm das Imperium gegeben, damit ich mich nicht darum kümmern muss. Warum reißt er mich jetzt wieder rein?“

„Was waren Ihre Beweggründe, überhaupt ins Kloster zu gehen?“

Ich erhob mich wieder, trat zum Aktenschrank und öffnete die Minibar. Mit zwei Gläsern, leicht staubig, und einer Flasche japanischem Whisky, sehr staubig, kam ich zurück. Großzügig schenkte ich ein. Nach fünfundzwanzig Jahren würde der mit drei Jahren Reifezeit etikettierte Whisky entweder furchtbar oder himmlisch sein. Ich schenkte mir und Honda einen Fingerbreit ein und nahm wieder im Sessel Platz. „Ich bin eine Waffe, mein Junge. Die fürchterlichste Waffe, die es jemals gegeben hat. Ich persönlich habe die Core-Hauptwelt zerstört. Ich habe den Central Core zerstört. Ich habe…“ Kurz hielt ich inne. Mein persönlicher Killboard war in diesen Tagen enorm angewachsen. Auf meiner Seele lasteten nun über zehntausend Tote, vielleicht zwanzigtausend. Frustriert nahm ich einen tiefen Schluck, leerte das Glas und schenkte nach.

„Über Core Prime hatten wir eine Raumschlacht, die Schlacht, in der Ihr Vater gefallen ist. Er und Doitsu Ataka, Hina Yamada, Yoshi Futabe, Kenji Hagezawa, Akane Kurozawa, meine Schwester Yohko, und die AURORA, die mitsamt der Besatzung und der Zivilisten zerstört wurde. Meine Cousine Sakura war unter den Opfern, mein Cousin Makoto, Tetsu Genda, und noch einige Menschen, die ich zu meinen Freunden zähle. Dazu hunderte bekannte Gesichter, unter ihnen die Hekatoncheiren. Ihre Mutter war zu dem Zeitpunkt auf der SUNDER, die es sehr viel später erwischte, das hat ihr damals das Leben gerettet.“

Ich dachte kurz an Aria Segeste und Sora Fioran und versuchte das zittern meiner Hände zu unterdrücken. Als ich gedacht hatte, schlimmer konnte es nicht mehr werden, hatte sich der Preis mehr und mehr aufgestockt. Micchan und Akari waren auf der Planetenoberfläche gefallen, ebenso Eri und Takashi, und ganz zum Schluss, beim Endkampf in den Kavernen hatte der Core meine Megumi getötet.

Am Ende waren nur noch wir drei übrig geblieben: Joan, Sarah und ich.

„Ich habe niemanden darum gebeten, aber meine Freunde haben mich bei dem Angriff beschützt. Ihr Vater Daisuke, wir haben ihn immer Dai-chan genannt und er hat es sehr gemocht, steuerte seinen Hawk zwischen mich und eine Rakete. Er opferte sich vor meinen Augen und… Und ich habe den verdammten Core erwischt. In seinem Namen habe ich ihn geviertelt. Aber der Preis war zu hoch. Zu dem Zeitpunkt schon so entsetzlich hoch.“

Ich seufzte und leerte mein Glas erneut. Wieder schenkte ich mir nach. Ich würde sehr gut schlafen können, ging es mir durch den Kopf. Ich war Alkohol einfach nicht mehr gewöhnt.

„Der Liberty-Virus hatte aus den Dämonen der Erde furchtbare Wesen gemacht. Machtgierig, rücksichtslos und brandgefährlich. Zusammen mit dem Core waren sie eine Macht gewesen, die wir nicht ignorieren konnten. Wir durften es auch nicht, und ich habe alles getan, was in meiner Macht stand.“

Ich sah mir auf die zitternden Hände. Dai-Kuzo, Dai-Okame, Dai-Kumo und so viele andere waren durch sie gestorben, bevor ich den Core vernichtet hatte.

Aber es war nicht besser geworden, eher schlechter. Eigentlich war Kitsune der einzige infizierte Dämon, der noch lebte. Und das was sie da hatte Leben zu nennen war ein sehr zynischer Gedanke, fand ich.

„Ihr Vater hat Ihre Mutter sehr geliebt, junger Mann“, führte ich meinen Gedanken zu Ende. „Er hat tapfer gekämpft und viele Siege errungen, vielen Menschen das Leben gerettet. Und er hat in mir den Schlüssel zum Sieg gesehen, und als die Rakete mit meinem Namen drauf auf mich zuhielt, hat er sich dazwischengestellt.

Dadurch konnte ich den Core erreichen, dadurch konnte ich die Dämonen besiegen. Dadurch konnte ich die Zivilisation retten, aber… Ein Trost ist das nicht. Früher hatte ich meine Freunde immer beschützen können, aber an diesem Tag waren vor dem Tod alle gleich. Er hat zwischen uns gewütet und mir fast alles entrissen, was ich liebte.

Und vor dem Rest bin ich geflohen, kaum das die Lage im Imperium einigermaßen stabil aussah. Ich isolierte mich selbst. Teilweise wegen dem Liberty-Virus, um keine anderen Daina anzustecken, aber hauptsächlich weil ich zu feige für die Welt geworden war. Das ist eigentlich die ganze Geschichte. Die Geschichte eines großen Sieges und meiner größten persönlichen Niederlage.“

Major Honda musterte mich ernst. „Ich habe mich immer gefragt, wie Sie wirklich sind, Sir. Ich meine, wenn ich meine Mutter reden höre, wenn ich die Sache von dem Strandhaus und dem Balkon höre, dann denke ich, Akira Otomo muss ein Herz aus Gold haben.

Wenn ich sie vom Mars reden höre, von dem Kämpfen und von Ihnen in vorderster Front, denke ich, Akira Otomo muss das Herz eines Löwen haben.

Wenn ich von den Abenteuern der AURORA höre, wenn ich höre wie Sie Terraner, Anelph und Naguad zu einer Einheit geschweißt haben, dann denke ich, Akira Otomos Verstand muss scharf wie ein Katana sein.

Aber wenn ich das nehme und mit Ihnen vergleiche, dann frage ich mich: Da sitzt er vor mir und er ist wie du ihn dir vorgestellt hast, aber warum nimmt er nicht seine nächste Aufgabe an?

Sir, da draußen ist ein junger Bursche, der sich verzweifelt bemüht, seinen Vater stolz zu machen. Er leistet Großes und wird doch immer in Ihrem Schatten stehen. Aber das macht ihm nichts, solange er ebenso voran gehen kann wie sein Vater es immer getan hat. Ganz zum Schluss hat er es wenigstens verdient, dass sein Vater ihm zumindest etwas beibringt.

Ich habe diese Chance nie gehabt, Sir, aber Ian hat sie.“ Er nahm sein Glas und trank es leer. „Verzeihen Sie mir meine Offenheit.“

Langsam erhob sich Jerome Honda und ließ mich alleine in Makotos Büro zurück. Nun, nicht ganz alleine. Meine Gedanken waren bei mir.

Und sie waren alle nicht sehr nett zu mir.
 

Langsam und nachdenklich begann ich meine Nasenwurzel zu kneten. Dann erhob ich mich, ging unruhig im Büro auf und ab.

Schließlich öffnete ich den Spind, ignorierte den Minirock, der mir entgegen fiel – immerhin war das hier Makos Büro – und starrte in den Spiegel. Ja, ich war ganz schön alt geworden. Ob ich so faltig, vertrocknet und mit glanzlosem Blick noch Joan oder Megumi gefallen hätte? Ich bezweifelte es. Im Kloster hatte es wenigstens keine Spiegel gegeben und ich hatte mir nicht dabei zusehen können, wie mich der Liberty-Virus nach und nach zerfraß.

Wie viel Zeit blieb mir wohl noch? Die letzten fünfundzwanzig Jahre hatte ich mich immer geirrt, wenn ich dachte: Morgen wachst du nicht mehr auf, alter Junge.

Aber die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass ich irgendwann Recht haben würde. Und je mehr Tage verstrichen, desto mehr rückte der Termin näher.

Hatte ich wirklich Zeit, jetzt noch eine Beziehung zu meinem Sohn aufzubauen? Was, wenn ich ihn sah und starb? Musste ihn das nicht schwerer treffen, als seinem Vater nie begegnet zu sein? Außerdem, wenn ich ihn hätte sehen wollen, dann wäre ich doch längst einmal ins Imperium aufgebrochen, oder?

Wütend erhob ich mich, griff nach meinem Schwert und trat auf den Gang hinaus.
 

Wieder stand ich in dem Labor und starrte Kitsune an.

Ihre Augen leuchteten mich an, mit Freude und Liebe, wie ich es gewohnt war. Nur um kurz darauf von einem ihrer Wutanfälle unterbrochen zu werden. „ICH FRESS DICH STÜCK FÜR STÜCK, KLEINER MENSCH!“

Langsam stieß mein linker Daumen das Heft des Katanas hervor. Ich packte mit der Rechten den Griff und zog die Waffe weiter hervor. Als ich sie blank gezogen hatte, richtete ich sie auf den Tank.

„Das wagst du nicht“, höhnte die Dämonin.

Ich grinste schwach und ließ mein KI auf der Klinge aufleuchten. „Warten wir es ab!“

Mein erster Hieb war ein Miginagi, ein gerader Schlag von rechts. Er sauste knapp über Kitsunes Kopf in das Plastmaterial des Biotanks, durchtrennte es auf voller Breite und trat auf der anderen Seite wieder aus. Bernsteinfarbenes Wasser tropfte aus dem Riss.

Dann führte ich einen Hidarinagi aus, für den ich leicht in die Hocke ging. Meine Klinge ging durch das Plastmaterial wie durch Butter. Diesmal war die Wirkung dramatischer. Noch während die Waffe knapp unter Kitsunes Füßen den Tank zerschnitt, riss das Material, die bernsteinfarbene Medoflüssigkeit schoss hervor und das Plastmaterial kippte auf mich zu.

Ich schlug es mit einer nebensächlichen Bewegung beiseite, sah den Schwall Wasser auf mich zukommen und spürte dann den Schwall Dämon hart auf mir landen.

„Das hat aber lange gedauert, Aki-chan“, schnurrte Kitsune. „Schade. Wenn ich dich umgeworfen hätte, würde ich jetzt auf dir liegen und…“

„Ich denke nicht, dass wir dazu Zeit haben“, tadelte ich ernst. „Klär mich auf.“

Für einen Moment wirkte sie enttäuscht, aber das wich schnell einem strahlenden Lächeln mit einer satten Portion Stolz darin. „Wie du es dir schon gedacht hast. Es gibt keinen Liberty-Virus. Es gab nie eine Verseuchung der Dämonen und auch keinen Aufstand, geschweige denn ein Bündnis mit dem Core.“

„Kann ich dir trauen?“

„Klar kannst du mir trauen“, erklärte sie jovial und klopfte mir auf die Schulter.

Ich entließ sie aus meinen Armen, sah an ihr herab und meinte: „Etwas Bekleidung vielleicht, Kitsune-chan?“

„Was? Gefällt dir nicht, was du siehst?“

„Es geht weniger ums gefallen als um die Zweckmäßigkeit. Was habe ich zu tun, und wie zweckmäßig ist es dabei, dass du nackt bleibst?“

„Okay, okay. Du wirst ja mit der Zeit noch spießiger als der alte Okame, und das ist schon ein Opa sondergleichen.“ Murrend drehte sich die nackte Fuchsdämonin einmal im Kreis und trug kurz darauf ein niedliches Sportoutfit, bestehend aus weißem Trikot und roter Bloomer-Sporthose. Beinahe hätte ich noch oberschenkellange Loose Socks erwartet, aber so viele Klischees wollte sie dann doch nicht bedienen.

„Nett“, kommentierte ich.

„Danke. Ich könnte es auch transparent machen und…“

„Kitsune…“

„War ja nur so ne Idee. Wenn ich schon für dich da bin, dachte ich.“

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. „Sag mir lieber was hier los ist.“

„Das ist doch einfach erklärt, Aki-chan. Du befindest dich, wie du schon sehr treffend erkannt hast, in einer Konstruktrealität. Alles hier um dich herum existiert gar nicht. Und alles hier ist nur darauf ausgelegt, um dich in eine bestimmte Richtung zu treiben, die dem Betreiber dieser Realität am genehmsten ist. Sieh das ganze als ein Programm zu deiner Erziehung an.“

„Interessant. Und du bist meine Verbündete.“

„Natürlich bin ich deine Verbündete. Als der Core die Daten über die Erde und die Dämonen extrahierte, war er bei mir etwas zu gut. Als ich entstand, entstand ich als fast perfekte Kopie der realen Dai-Kitsune-sama. Mit anderen Worten, ich bin dein loyaler Verbündeter und Freund. Und ich verteidige dich mit meinem Leben.“

Ich hob die Rechte und strich ihr sanft über die Wange. Lächelnd legte sie ihren Kopf hinein. „Danke, Aki-chan.“

„Was habe ich zu tun, um aus der Konstruktwelt auszubrechen?“, fragte ich und spürte beinahe sofort tiefes Bedauern in mir, weil ich die Antwort schon kannte.

Sie nahm den Kopf hoch und lächelte, doch es war ein kaltes Lächeln. „Zerstöre den OLYMP.“

„Wirst du dann mit der Konstruktwelt vernichtet?“

„Ja“, gestand sie tonlos. Doch kurz darauf lächelte sie breit. „Aber das macht nichts. Ich bin schließlich eine fast perfekte Kopie von Dai-Kitsune-sama, und sie würde mir die Fellhaare einzeln rausreißen, wenn ich für meine lächerliche Existenz dein Leben riskieren würde.“

„I-ich…“

„Aki-chan, ich bin nur ein Konstrukt. Ich lebe nicht wirklich.“ Nun waren es ihre Hände, die über mein Gesicht strichen, und ich spürte, wie die Runzeln und Narben verschwanden, wie ich zunehmend wieder zwanzig wurde. „Ich existiere nur, um für dich da zu sein. Und jetzt gib meiner Existenz einen Sinn und zerstöre den OLYMP.“

Ich schwieg erschüttert. Und fasste einen Entschluss. „Danke, Kitsune-chan.“

Ich hob mein Katana zu einem Karatake, einem Schlag von oben herab. Dabei sammelte ich KI um die Klinge, und als ich die Waffe niedersausen ließ, fuhr ein Blast reinen KIs durch die nächste Wand. Und die übernächste. Und die überübernächste. Und die vierte. Dann traf sie etwas schweres, großes, und eine Explosion ließ die Wände vibrieren.

„Akira! Was tust du? Akira!“

Ich ignorierte Sarah, die für eine unheilbar Versehrte ziemlich gut angelaufen kam, konzentrierte erneut mein KI und stieß die Waffe mit einem Tsuki gerade in den Boden. Diesmal war es nicht nur das KI an der Klinge selbst, es war fast meine gesamte Kraft, die so in den Boden geleitet wurde.

Um mich herum wurde alles strahlend hell weiß erleuchtet, Konturen verschwammen, ich sah wie sich Sarah schreiend auflöste, wie ihr Sohn mit Unglauben im Blick verging, sah Torum heranhetzen, beherzt einen Schild aufbauen, aber er verging dennoch, denn mein KI kam von allen Seiten.

„Das hast du gut gemacht, Aki-chan“, kommentierte Kitsune lächelnd.
 

Ich schlug die Augen auf. Noch immer war meine Umgebung weiß, aber es war nicht mehr so blendend grell. Laysan stand neben mir in der substanzlosen Helligkeit und hielt meine rechte Hand. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, dass ich nicht länger die weiße Hose und das weiße Hemd trug. Was ich da anhatte, war die volle Haus-Uniform der Arogads, in meinem Fall mit einem langen blauen Umhang aufgepeppt. Eigentlich war dies meine KI-Rüstung und eine meiner stärksten Waffen.

„Wie hast du es bemerkt?“, hörte ich eine neugierige Mädchenstimme fragen.

Ich drehte mich um. Oder vielmehr drehte sich das Weiß um mich, bis ich sie ansehen konnte.

Es war das Mädchen, das mich im Paradies empfangen hatte. Sie trug noch immer dieses kurze, schwarze Kleid, aber ihr Haar war… Nun, es erinnerte mich an Sarah, aber mit jeder vergehenden Sekunde wurde es dunkler und dunkler, bis es als Farbton eine substanzlose Schwärze hatte, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob man schwarze Löcher sehen oder als Haare tragen konnte.

„Aris.“

Das Mädchen nickte mir huldvoll zu. „Du hast die Konstruktwelt zerstört. Das ist beachtlich. Das ist sehr beachtlich. Aber es macht nichts. Sie war ohnehin nur dazu gedacht, um mehr über dich herauszufinden. Aber wie hast du es gemerkt?“

Ich lächelte dünn. Ob ihr ein Hinweis reichte, der auf meine Gefangenschaft bei den Kronosiern verwies, als ich selbst in einem Biotank gelegen hatte und Teil eines Supercomputers gewesen war? Damals hatte ich ständig Konstruktwelten enttarnt und zerstört.

„Kitsune“, sagte ich ernst. „Kitsune war es. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie mich jemals verletzen würde.“

„Du hast… Wie sagt ihr Terraner? Gepokert.“

„Nein. Ich wusste, dass sie mir nichts tun würde. Diese Konstruktwelt, du hast sie nach Daten aus meiner Erinnerung geschaffen, oder?“

Das Mädchen nickte.

„Die Kitsune aus meiner Vergangenheit kann mir nichts tun. Sie wird es auch nicht. Und die Kitsune, der ich hier begegnet bin, war so sehr ihr Vorbild, das auch sie es nicht konnte. Im Gegenteil. Sie hat mir schlussendlich sogar den Weg aus der Traumwelt hinaus gezeigt.“

„Das… ist sehr klug von dir gewesen“, gestand die Herrin des Paradieses ein.

„Und es hat mir eines gezeigt. Vieles von dem, was du aus meiner Erinnerung extrahiert hast, wird sich für mich verwenden – und gegen dich.“

Sie lächelte hoch erfreut. „Macht es das Spiel nicht interessanter, Akira?“

„Was für dich nur ein Spiel ist, wird für mich ein Kampf um mein Leben. Ich weiß, du willst etwas von mir. Und sobald ich weiß, was das ist, Aris, werde ich mein Bestes geben, um es dir wegzunehmen.“

„Warum bist du so gemein zu mir? Akira, ich will doch nur dein bestes. Warum glaubst du mir nicht einfach und vertraust mir?“

„Hm. Laysan, was meinst du?“

„Trau ihr nicht einen Meter weit, Aris. Sie hat uns hier eingesperrt und sie lässt uns nicht gehen.“

„Da hörst du es, junge Dame. Wir trauen dir nicht. Und noch was, wir werden hier ausbrechen, das verspreche ich dir.“

„Nun, Laysan könnte theoretisch ausbrechen. Aber du kannst es nicht, Akira. Du hast keinen Körper mehr.“

Ich lächelte gehässig. „Ich finde einen Weg.“
 

Unschlüssig sah sie mich an und wandte sich um. Die Umgebung verschwand und machte der grünen Wiese Platz.

Die Schwarzgekleidete Matrone erschien neben Aris und nahm sie in die Arme. Das Mädchen schluchzte hingebungsvoll, was sie mit einem sehr bösen Blick in meine und Laysans Richtung kommentierte.

„Ich will doch nur sein Bestes. Warum vertraut er mir nicht? Warum unterstützt er mich nicht? Er lebt doch im Paradies, sieht er das nicht?“

Die Frau mit dem schwarzen Kapuzenkleid strich der jungen Frau tröstend über den Kopf. „Er wird es lernen, Herrin. Er wird es lernen.“

Ich hatte dazu einiges zu sagen, wollte anmerken, dass ich weder wusste, wo ich war, noch dass ich keinesfalls freiwillig hier war, was mich von vorne herein etwas gegen Aris und die Matrone einnahm. Außerdem war ich von meinen Freunden getrennt, und das nahm ich wirklich übel. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich alleine Megumi so schmerzlich vermisste, dass mir schon der Klang ihres Namens fast die Besinnung raubte. Theoretisch, denn als körperloses Bewusstsein empfand ich ja nur eine Art Simulation von Schmerz.

Um mich herum verschwand die grüne Wiese wieder. Zweite Runde, erkannte ich mit dem letzten Funken realen Bewusstseins.
 

3.

Die Audienz war exklusiv. Der Saal war riesig, ja nahezu gigantisch. Er bot Platz für fünftausend Personen, war überdacht, und im Moment bildete er den zentralen Punkt der ganzen Erde. Eine einzige Bombe hätte die Weltverteidigung auslöschen können.

Die rund fünftausendeinhundert Menschen, Anelph, Naguad und Kronosier, die hier saßen, waren die absolute Top-Elite der Menschheit. Und sie alle waren heute Gäste von Admiral Sakura Ino.

Das Thema des Abends war… Nicht Akira.

Megumi Uno wechselte auf der Bühne einen kurzen Blick mit Doitsu Ataka, der nickte, seinen Pilotenhelm aufsetzte und hinter der Bühne verschwand.

Danach nickte Megumi Sakura zu, die ans Rednerpult herantrat.

Sofort verstummten die Gespräche. Niemand in dieser Halle hatte einen geringeren Rang als Staffelführer, was mindestens Captain entsprach. Das Gros stammte aus der UEMF oder direkt assoziierten Streitkräften, aber es waren auch Dutzende Attachés nicht formell alliierter Staaten vertreten. Und alle erwarteten Großes.

„Meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen, dass Sie alle so kurzfristig erscheinen konnten.

Als Executive Commander Otomo die Einladungen verschickt hat, deutete er an, dass wir etwas haben, was die Weltverteidigung revolutionieren wird. Nun, ich denke, er hat nicht übertrieben. Colonel Uno.“

Megumi rückte ihr KommSet zurecht und deutete auf die riesige Leinwand hinter sich. „Was Sie jetzt sehen werden, ist die allerneueste Innovation der UEMF, geplant und hergestellt von den Teams der AURORA und überarbeitet und verbessert von Luna Mecha Research und drei weiteren UEMF-eigenen Firmen. Major Ataka, Go.“

Die Leinwand erwachte zum Leben, zusätzliche Monitore flammten überall im Publikum auf. Zuerst erschien der LRAO, der Long Range Area Observer, die gigantische Ortungs- und Kommandoplattform der UEMF, erbaut auf der Zelle eines Daishi Epsilon.

Daneben erschien der Hawk, der bekannteste und am häufigsten eingesetzte Mecha der Erde. Er entstand nach der Vorlage der Daishi Beta.

Neben sie setzte sich ein Sparrow, der leichte Erkunder. Es bedurfte wohl keiner Erklärung, welchem Daishi der etwas kleinere Mecha nachempfunden war.

Der letzte Mecha, der sich zu dieser im Flug – und live – aufgenommenen Formation gesellte, war ein Eagle, der große, schwere Artillerie-Mecha der Menschheit, der seine Tödlichkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt hatte.

„Was Sie hier sehen, sind die vier Mecha-Typen, die wir Menschen entwickelt haben. Letztendlich basieren alle Prinzipien auf dem Banges, dem Naguad-Design, welches sie von den Iovar erhalten haben.

Unsere Modelle sollten daher veraltet und leistungsschwächer sein, sind sie aber nicht. Im Gegenteil. Unsere Hawks waren den Daishis von vorne herein überlegen, was uns darin bestärkt, weiterhin eigene Systeme zu entwickeln. Oder um vollkommen unverblümt zu reden: Ein gutes System zu klauen und zu verbessern.“

Gelächter raunte durch den Saal.

Nun setzte sich ein fünfter Mecha zwischen die Formation der vier UEMF-Modelle. Er war fast so groß wie der LRAO, war aber definitiv schmaler, weil sein Cockpit nicht fünf Personen Platz bieten musste. Dennoch erschien er gewaltiger als der Eagle. Und seine Bewaffnung und die mächtigen Schulterschilde, Markenzeichen der Erd-Mechas, sprachen eine deutliche Sprache.

„Dies ist der Phoenix. Wir haben das Design des Daishi Delta lange Zeit ignoriert, nicht aufgegriffen, wir haben unsere Ressourcen auf den Daishi Epsilon und dessen Möglichkeiten fixiert. Grund dafür war, dass wir keine Veranlassung sahen, einen weiteren Mecha-Typ zu entwickeln. Wir haben den Sparrow für Erkundungsmissionen, Flankenangriffe und Hit´n Run-Missionen. Wir haben den Hawk als Allrounder und Arbeitspferd unserer Streitkräfte. Wir haben den Eagle als Artillerieplattform für Distanzkämpfe und Unterstützungsfeuer.

Und wir haben den LRAO, den wir heute mit dem Codenamen Condor versehen möchten, als Koordinator, als Ortungsplattform und als Taktikzentrum.

Nun, die Begegnung mit den Banges hat uns gezeigt, dass wir wieder etwas klauen, ich meine dazulernen können.“ Höflich wartete Megumi die Lacher ab, die sich aus ihrem vermeintlichen Versprecher ergeben hatten.

„Das Ergebnis ist der Phoenix. Sein Prinzip ist das eines überschweren Sturmpanzers. Dieser Mecha ist eine Phalanx-Maschine. Überdurchschnittlich gut gepanzert und bewaffnet wird der Phoenix das Zentrum unserer Angriffe und unserer Verteidigungen werden. Indem wir den Phoenix mit KI-Meistern besetzen, erhöhen wir auch den Spielraum für Geschwindigkeit. Der Mecha ist groß und langsam, aber extrem mächtig. Doch das ist noch nicht alles. Major Ataka, Freigabe.“

Auf der Leinwand und den Bildschirmen war zu sehen, wie die anderen Mechas davon spritzten. Der Phoenix hingegen warf die Arme und Beine ab, dazu die Sprungdüsen auf dem Rücken. Kurz darauf erschienen größere, klobigere Extremitäten und ein gigantischer Rückentornister, auf dem eine gewaltige Kanone montiert war. Allein sie hatte die Höhe eines Sparrows und den Durchmesser eines Hawk-Sensorkopfs.

„Was wir von den Banges lernen konnten ist die modulare Bauweise. Allerdings beschränken wir sie exakt auf dieses Modell, machen den schweren Mecha aber dadurch flexibler.

Es gibt drei Varianten, auf die wir bisher bauen. Sturm, Artillerie und Langstreckenflug. Dadurch wird der Phoenix, so er denn in der Lage ist seine Ausrüstung zu wechseln, binnen weniger Minuten auf neue Situationen umgestellt. Ich verspreche Ihnen, dies wird eine unverzichtbare Waffe für unsere nahe Zukunft.“

Auf der Leinwand begann der Phoenix zu feuern, ein armdicker Waffenstrahl verließ die Kanone auf den Rückentornister.

„Eine Partikelkanone. Die erste ihrer Art. Sie ist in der Lage, bis zu fünf Meter herkömmlichen Panzerstahl zu durchschneiden. Für alle Phoenix, die wir in Dienst stellen, steht eine zur Verfügung.“

„Danke, Colonel Uno. Bevor wir zu Ihren Fragen kommen, meine Damen und Herren, habe ich die Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass das Exekutivkomitee der United Earth Mecha Force beschlossen hat, dieses Design allen unseren Verbündeten zur Verfügung zu stellen. Ihre Fragen, bitte.“

***

Michi Torah war sich darüber im Klaren, dass er Aufmerksamkeit erregte. Oder um genau zu sein, seine weißblonden Haare und seine dunkelblaue Schuluniform, die ihn als Studenten der AURORA-Oberstufe auswies. Aber er war halt ein Mann, und ein Mann durfte schon mal schlampig sein und am Ende des Monats entdecken, dass die einzigen Klamotten, die keine Wäsche brauchten die letzte Schuluniform war, auch wenn es peinlich war, ausgerechnet in diesem Sachen auf ein Date zu gehen.

Wütend über sich selbst rührte er mit dem Stiellöffel in seinem Eisbecher herum. Es wäre vielleicht leichter gewesen, sich was Frisches von Kei zu borgen, oder noch besser zu kaufen.

Immerhin war er jetzt ja offiziell Mitglied der UEMF, angenommen als Fähnrich, und bezog seitdem einen festen, nicht gerade kleinen Sold. Den allerdings Sakura-o-nee-chan für ihn treuhändisch verwaltete, bis er achtzehn war, dem international anerkannten Alter der Volljährigkeit.

Aber einkaufen war so ein Gräuel für ihn. Nun, vielleicht war es etwas anderes, wenn er mit Akari einkaufen gehen konnte. Akari… Wenn er an ihr langes, schwarzes Haar dachte, wenn er sich an ihren Kuss erinnerte, wenn er an die Geschichten über sie dachte als sie noch ein erwachsener Oni gewesen war, dann fragte er sich, wie er sich in diese wilde Mixtur von Mensch und Dämon hatte verlieben können. Und er stellte im gleichen Atemzug fest, dass er nicht wirklich eine Chance gehabt hatte. Nicht eine Sekunde lang. Nicht seit dem Moment, als Akira ihn mit zu sich nach Hause genommen hatte, um ihn als seinen Schüler vorzustellen.

Nicht nachdem er diesem schwarzhaarigen Engel mit den wunderschönen grünen Augen erblickt hatte. Beim Gedanken an diesen Moment begann sein Herz zu rasen, und er erkannte viel zu genau, dass er Akari – seine Akari – immer lieben würde. Selbst wenn sie wieder zu einem Oni werden würde, er konnte und wollte sie nie wieder verlassen.
 

„Nun iss das arme Eis schon. Wofür hast du es sonst gekauft?“, klang eine spöttische Stimme vor ihm auf.

Michi hob den Kopf und ließ vor Schreck den Löffel fallen. „Urgs.“

„Nicht Urgs. Vater heißt das, mein Sohn. Entschuldigen Sie, Miss, aber könnten Sie mir einen Kaffee bringen? Hm, groß bist du geworden, Michi.“

„V-v-v-vater, was machst du hier?“ Ungläubig starrte der Junge den Mann an, der gerade einer Bedienung sehr freundlich den Kaffee abnahm und mit einem horrenden Trinkgeld honorierte. „Ich besuche meinen Sohn. Ist das erlaubt?“

„V-vater, du wirst gesucht!“

„Nein. Ich werde nicht gesucht. Ich bin tot“, stellte Juichiro Tora fest und nippte am Kaffee.

„A-aber wenn sie herausfinden, dass du noch lebst, dann werden sie dich jagen und…“

„Hat Akira Otomo gut für dich gesorgt? Du siehst gut aus, und du wurdest ausgebildet, um dein KI zu benutzen. Nicht schlecht.“

„Woher weißt du das von Akira?“

„Nun, ich habe so meine Quellen auf der AURORA gehabt.“ Der Magier schmunzelte. „Ich war die letzten zwei Jahre nicht untätig.“

„Wieso lebst du überhaupt noch?“

„Was?“ Entrüstet legte der große Mann beide Hände auf seine Brust. „Findest du es etwa schlecht, dass ich noch lebe?“

„Nein, das ist es nicht. Aber Akari hat dich doch auf dem Mars vernichtet, und ich habe versucht, dich auf der AURORA zu rächen und…“

„Ach, das. Tut mir Leid, aber meine Regeneration war zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit genug fortgeschritten, um dich von diesem Unsinn abhalten zu können. Aber auf Akira Otomo ist anscheinend Verlass. Anstatt dich zu töten hat er dich unter seine Fittiche genommen. Ich wünschte, ich hätte ihn kennen gelernt.“

„Regeneration?“, hakte Michi nach.

„Ich bin ein Dämon, mein Sohn. Deine Freundin hat unglaubliche Macht entfesselt, aber sie hat hauptsächlich gegen die von meinen Youmas gestohlene KI-Energie gekämpft, nicht unbedingt gegen mich selbst. Ich konnte meinen Kern isolieren und mich später aus ihm regenerieren. Eine ähnliche Geschichte wie mit meinem alten Hassfreund Taylor und seinem miniaturisierten Resonator. Ich hatte Hilfe.“

„Du bist ein Dämon?“

„Deine Freundin ist ja auch einer, oder?“

„Aber sie ist doch jetzt ein Mensch!“

„Nein, ist sie nicht. Das heißt nicht, dass sie nicht real ist, wenn du sie berührst. Das heißt auch nicht, dass sie jemand anders ist als die Akari, die du kennen gelernt hast. Es heißt nur, sie ist dir sehr viel ähnlicher als du glaubst. Hm, ein Kind von euch beiden hätte eine interessante Zukunft.“

„VATER!“

„Schon gut, schon gut. Dafür bist du wirklich noch etwas jung. Du hast sicherlich noch nicht einmal an Sex gedacht, oder?“

Michi wurde rot. Besonders seine Ohren begannen zu glühen.

Was der Magier zum Anlass nahm, um zu lachen. „Oh, Himmel hilf. Als ich das erste Mal Sex hatte, war ich bereits fünfundachtzig. Die Jugend heutzutage ist wohl etwas frühreif.“

Juichiro Tora beugte sich vor. „Ich habe einen guten Rat für dich, mein Sohn. Lass sie dir nicht durch die Finger schlüpfen.“

„Eh? Du wirst dich nicht an ihr rächen?“

Tora schenkte ihm einen amüsierten Blick. „Denkst du wirklich, ich will mir meinen eigenen Sohn zum Feind machen? Ein Vater muss wissen, wann er seinem Kind in die Quere kommt und wann nicht. Aber falls du Fragen zum Thema Sex hast, Junge, dann…“

„Ich denke, ich komme klar“, wich Michi aus. „Aber was hast du jetzt vor, Vater? Außer, mich zu besuchen?“

Juichiro lächelte. Seine Augen veränderten sich, wurden katzenartig, wenn auch nur für einen Moment. „Ich schwanke noch. Ich meine, dies ist eine Art zweites Leben für mich, und mir stellt sich die Frage, was ich damit anfange. Es gibt den Legat immer noch, musst du wissen. Und er ist immer noch mächtig. Macht ist etwas, was ich schon immer angestrebt habe.“

„Vater. Wofür das alles? Warum? Und wieso versuchst du nicht, mich auf deine Seite zu ziehen?“

„Warum sollte ich? Du hast dein eigenes Leben, mein Sohn. Und wohin mein Weg mich führt… Einst war ich mir da sehr sicher. Aber nicht nur Menschen verändern sich, Dämonen anscheinend auch. Du wirst es merken, wenn ich mich entschieden habe.“
 

„Entschuldigung. Ich will nicht stören.“

Unwillkürlich zuckte Michi nach hinten und stieß hart gegen die Lehne seiner Sitzbank. „A-akari!“

Das junge Mädchen trug ebenfalls die Schuluniform der AURORA-Oberstufe. Im Moment verneigte es sich leicht. „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich war mit Michi verabredet.“

„Ich will auch nicht lange stören. Aber ich musste mal ein paar schnelle Worte mit meinem Sohn wechseln.“ Grinsend erhob sich Juichiro.
 

Akari sah auf und ihr Kiefer sackte herab. Man konnte dabei zusehen, wie ihr Blick zu den goldblonden Haaren zuckte, dann zu Augen, Nase, Mund, und bei der Gesichtsform hängen blieb. „Tora!“

Als sich der Mann erhob, war sie nicht fähig auch nur einen Finger zu rühren. Im Gegenteil, sie begann zu zittern. Bei all ihrer Macht, bei all ihren Fähigkeiten als Mecha-Pilotin und Slayer, sie hatte Angst, furchtbare Angst.

Doch wenn Tora das bemerkte, so zeigte er es nicht. Er klopfte Akari auf die Schulter, beugte sich vor und hauchte ihr ins Ohr: „Pass gut auf meinen kleinen Jungen auf, bitte. Er ist so ein lieber und sensibler Bursche, er kann ein nettes Mädchen wie dich wirklich brauchen.“

Zu der Angst kam nun auch noch eine mittelschwere Panik. Ihr Kopf wurde knallrot und ihre Ohren begannen zu glühen. Wäre es kein trockener Tag in Tokio gewesen, sie hätte wahrscheinlich die Luftfeuchtigkeit verdampft.

Juichiro Tora klopfte noch einmal sanft auf ihre Schulter und ging. „Ach ja, Michi. Grüß deine Mutter von mir, wenn du sie triffst, ja?“

„Hä? Mutter? Was?“

„Du wirst es wissen, wenn du ihr begegnest“, orakelte der Magier. Akari sah ihm nach, blinzelte - und er war verschwunden. Wahrlich ein Magier.

„Akari, geht es dir gut?“ Michi stand auf, kam zu ihr und streckte eine Hand aus, wagte es aber nicht, sie zu berühren.

Andererseits war dies eine sehr gute Gelegenheit, fand sie. Sie warf sich an Michis Brust und begann zu schluchzen, was dieser zu ihrer Zufriedenheit zum Anlass nahm, um sie zu umarmen. „Ich hatte Angst“, gestand sie.

„Ich auch. Aber um Vater. Wenn er versucht hätte, dir etwas zu tun, dann…“

„Daran habe ich nicht eine Sekunde gezweifelt, Micchan“, hauchte sie, sah ihm in seine klaren Augen und schenkte ihm einen langen Kuss. Außerdem nahm sie sich vor, über Juichiro Tora nachzudenken. Später. Viel später.
 

Epilog:

Als Sakura Ino in ihrem Zimmer im Tokioter Haus erwachte, verging nur eine Sekunde, bis sie sich orientiert hatte. Frustriert umklammerte sie ihre Beine und fürchtete sich davor, aufzustehen. Das Haus war so groß, so leer. Wenn sie da an früher dachte, an das Leben, das hier getobt hatte, dann…“

„Nun warte doch mal, Yohko!“

„Nein, nein, nein! Pack das Kästchen wieder weg, Yoshi, oder ich rede kein Wort mit dir! Den ganzen Tag nicht!“

„Könnt ihr alle nicht etwas leiser sein? Joan und ich sind gestern reichlich spät angekommen und könnten noch etwas Schlaf gebrauchen!“

„Meckere nicht. Ich habe auch keinen Schlaf bekommen, und maule ich vielleicht rum, Mako?“

„Kei! Sag doch nicht so was!“

„Wir waren die ganze Nacht auf Achse, das können die anderen ruhig wissen, Ami!“

„Und? Ist wenigstens was zwischen euch passiert?“

„Definiere passiert, Megumi.“

„Sex.“

„Nein. Hey, was machst du da? Warum schiebst du so? Megumi-chan!“

„Schnell wieder rein mit euch ins Zimmer, und dann benutzt mal euren Verstand, ihr zwei!“

Mit einem Satz war Sakura in der Tür. Sie riss sie auf, trat auf den Gang, und sah das Dilemma. Yohko und Yoshi verharrten gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer, Tetsu kam gerade herein, begleitet von Micchan und empfangen von Akari, während Megumi versuchte, Kei und Ami wieder in sein Zimmer zu stopfen.

Makoto stand in der offenen Tür zu seinem Raum und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Zweifellos das Ergebnis intensiver Interaktion mit seinem persönlichen Superstar.

Als Doitsu frisch geduscht und wohl gelaunt auf den Flur hinaustrat, bemerkte er die ungewohnte Stille, runzelte die Stirn und fragte: „Ist was?“

Kitsune steckte ihren Kopf aus der Küche hervor und rief: „Kaffee ist fertig. Wer nicht kommt, kriegt keinen!“

Megumi benutzte den Überraschungsmoment und stopfte die zwei endlich in Keis Zimmer zurück. Danach klopfte sie sich demonstrativ die Hände ab. „So, das wäre geregelt. Sensei, auch einen Kaffee?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Information in ihren Verstand gesickert war, dass Megumi sie gemeint hatte. „Danke“, erwiderte Sakura, und es war mehr in diesem einen Wort enthalten als die Erwiderung auf die Einladung zum Kaffee.
 

Schließlich und endlich umklammerte Sakura ihre persönliche Kaffeetasse und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Dieses Haus lebte wieder. Bis auf Akira waren alle da, und das würde fortan nur noch eine Frage der Zeit sein.

Tetsu schob ihr ein Datapad zu. „Arbeit, Sakura.“

„So früh am Morgen? Du verstehst es, mich zu quälen, Tetsu.“

Sakura aktivierte das Pad, scrollte durch die Dateien und atmete lange und nachdrücklich aus.

„Was hast du denn da schönes?“, fragte Yoshi interessiert.

„Die Freiwilligenmeldungen für die Rettungsmission“, sagte sie betont gelangweit. Sie legte das Pad beiseite und streckte sich. „Es sieht so aus als würde ich aus sämtlichen Streitkräften der UEMF wählen können.“

Sprachlose Stille antwortete ihr, gefolgt von erleichterter Freude. Was konnte sie jetzt noch aufhalten?

Zweiter Traum

In eigener Sache

Bevor ich beginne, an der aktuellen Folge zu schreiben, möchte ich mein ganz persönliches Forum, diese meine Geschichte dazu nutzen, um etwas niederzuschreiben, was mir auf dem Herzen liegt. Man möge mir verzeihen, dass ich damit Platz für die eigentliche Geschichte wegnehme.
 

Inspiration ist so eine Sache. Sie kommt nicht von irgendwo und ist sowohl fast geschenkt als auch hart erarbeitet.

Ich bin dankbar für jeden Funken Inspiration, den ich erhalte, und ich liebe es, mich mit den Arbeiten anderer zu beschäftigen. Spielfilme, Anime, Musik, Mangas, Fantasy- und Science Fiction-Bücher gehören zu meinen Hobbys. Wenn ich sehe, lese, erfahre und höre, wie andere Menschen ihr Herzblut in ihre Arbeiten legen, wenn ich spüre, wie viel Spaß mir die Filme und Texte machen, wenn mir ein Lied wirklich wie ein Ohrwurm nachhängt, dann kann ich nicht anders als dankbar für diese Mühen zu sein. Dann kann ich nicht anders als motiviert zu sein. Motiviert, etwas als Dankeschön zu tun. Ich erschaffe meine eigenen Welten, meine eigenen Figuren und lasse sie Abenteuer erleben, um anderen eine Freude zu machen.

Ich weiß, ich werde die meisten Menschen, die mich mit ihren Arbeiten inspirieren, nie erreichen, und der eigentliche Zweck meiner Dankbarkeit wird damit nicht erfüllt. Aber ich bemühe mich, um meinen Dank auszudrücken. Wenn schon nicht ihnen gegenüber, dann jedermann, der mich gerne liest, der meine Geschichten mag und mich durch Lob und Kommentar motiviert, mehr zu schreiben. Ihr, meine Leser, steht stellvertretend für all die anderen, die ich auf meinem liebsten Weg nicht erreichen kann. Deshalb kann und will ich weiterhin mein Bestes tun, damit euch erfreut, was auch diese anderen Menschen erfreuen sollte, die mich inspirieren und motivieren.

…Wobei ich meine lieben Kollegen von der Fanstory-Fraktion dabei ausnehmen und hervorheben möchte. Ihr seid mir ebenso Freude und Inspiration sowie Motivation.

Danke an alle, die mich lesen und die mir helfen, besser und besser zu werden.
 

So, genug mit den Sentimentalitäten, aber das musste eben einfach mal raus.
 

Prolog:

Meine Emotionen waren verborgen. Verborgen unter einer Maske, einer Theatermaske. Die linke Hälfte war zu einem grotesken Lächeln verzerrt, die rechte Hälfte greinte und weinte eine einsame Träne.

Im Moment entsprach meine Gefühlswelt der rechten Hälfte, denn was ich sah, war wirklich zum weinen.

Menschen waren schon seit jeher eine merkwürdige Spezies. Sie stammten von wilden Tieren ab, die sich durch Organisation und einem ausgeprägten Sozialverhalten die Evolutionsleiter hochgedient hatten. Als diese mussten es ihre natürlichen Instinkte eigentlich besser wissen, wie man sich in der Gesellschaft zurecht fand, als sich selbst an den Außenrand zu drücken. Das Problem war wahrscheinlich der Nestgeruch. Es gab zu viele kleine Fraktionen und es gab zu viele Menschen. Niemand konnte alle Menschen in einem Umkreis von nicht einmal einem Kilometer kennen, geschweige denn am Geruch oder sozialen Verhalten einschätzen. Ein solches missgewirtschaftetes soziales System brachte natürlich so etwas hervor. Außenseiter.

Ob sie diese Rolle selbst gewählt hatten oder hinein gedrängt worden waren, war mir nicht klar. Wer konnte sich da auch sicher sein? Immerhin standen dort unten in der Gasse keine verunstaltet geborene Mutanten, sondern normale Menschen wie ich, die sich nur durch ihren Haarschnitt, einigen übertriebenen Piercings und den Messern in den Händen von mir unterschieden.

Was versprachen sie sich davon, andere Menschen zu bedrohen? Was davon, sie zu verletzen? Was davon, sie zu nötigen, zu missbrauchen?

Ihr Opfer war eine junge Frau, eine Schülerin, die es eigentlich hätte besser wissen müssen, als ihnen in diese Gasse zu folgen. Nun, es würde eine Lektion für ihr Leben werden.

Was dachte sie sich dabei? Sah sie nur die beiden Messer, oder erkannte sie einen der Burschen wieder? War sie verzweifelt? Oder vielleicht nur verstört? Begriff sie, was die Männer von ihr wollten? Ich bezweifelte es.

Die Angst, die sie ausstrahlte, stachelte die beiden Messergötter an, ließ sie sich groß und mächtig fühlen. Ich bemerkte es an ihren Worten, die von drohend einschmeichelnd wurden. Sie hatten nun Macht über die Schülerin, erschreckende Macht. Und sie würde sich dieser Macht ergeben oder so gut sie es konnte verdrängen, was die beiden mit ihr vorhatten. Ob sie das Mädchen nun ausraubten, quälten, oder schlimmeres planten.

Unter meiner Maske lächelte ich zynisch.

Langsam hob ich mein Handy ans Ohr, drückte die Wahlwiederholung und sagte: „Sie sind gerade an der Gasse vorbeigefahren. Die beiden Schläger und ihr Opfer sind ganz hinten, und wenn Sie sich nicht beeilen, Herr Polizeichef, kommen Sie beträchtlich zu spät.“

Ich wartete die Antwort gar nicht ab, deaktivierte das Telefon und steckte es ein.

Dann ging ich in die Hocke und sah tiefer in die Gasse hinab.

Auf der Straße quietschten Reifen, ein Rückwärtsgang wurde eingelegt, und kurz darauf brandeten Autoscheinwerfer in die Gasse.

Die beiden Messerspezialisten erstarrten in ihrem Tun.

Als kurz darauf die Rufe: HALT! POLIZEI! erklangen, erwachten sie aus ihrer Starre und versuchten Fersengeld zu geben. Leider hatten sie sich eine Sackgasse ausgesucht.

Die beiden Polizisten, die aus dem Wagen hervor stürzten, hatten keinerlei Probleme, die beiden einzukassieren.

Das Opfer jedoch… Die junge Frau benahm sich nicht wie ein Opfer. Im Gegenteil, leise und ernst redete sie auf die beiden Polizisten ein, während ihr Blick durch die Gasse streifte und dann auf dem Dachsims hängen blieb, auf dem ich stand.

Schließlich fixierte sie mich. Trotz der Dunkelheit erahnte sie meine Position. Aber sie sagte nichts, denn Telefonanrufe an die Polizei waren nicht strafbar.

Ich winkte locker aus dem Handgelenk herab in die Gasse und wandte mich um.

In was war ich da wieder rein geraten?
 

1.

„Steh auf! Ich sag es dir nur einmal.“

Verschlafen richtete ich mich in meinem Bett auf. „Guten Morgen, Yohko.“

„Ich gebe dir gleich einen guten Morgen. Warum muss ich dich eigentlich wecken?“

Ich brummte vor mich hin, schlug das Deckbett beiseite und stand auf. Müde ergriff ich den Yukata, stieg in meine Hausschuhe und schlurfte an meiner bitterbösen Schwester vorbei ins Bad.

„Warum ich mich um dich kümmere, möchte ich gerne wissen.“

„Vielleicht, weil Eikichi und Mom mir das Haushaltsgeld gegeben haben und ich dir dein Taschengeld auszahle?“

Eine Sekunde später steckte ich in einem wirklich gemeinen Würgegriff, unter Catchern als „Der Schläfer“ bekannt. „Willst du etwa sagen, ich helfe dir aus profaner Geldgier und nicht weil ich deine liebe und Treusorgende Schwester bin?“

„Streich doch bitte das lieb und Treu sorgend, ja?“, krächzte ich.

Sie ließ mich mit einem herzhaften Fluch zu Boden fallen. „Du bist ein Versager und wirst ein Versager bleiben, Akira!“ Wütend stapfte sie an mir vorbei und ging in die Küche. „Der Kaffee wird kalt.“

Ich räusperte mich ein paar Mal und vergewisserte mich, dass Yohko es nicht geschafft hatte, mich zu erwürgen. Dann setzte ich den Weg ins Bad fort und widmete mich einigen unangenehmen Tätigkeiten meines Lebens. Verdammte Pickel. Die meisten Jungs in meiner Klasse waren ihre schon komplett los, nur ich musste mich mit ihnen quälen – in dem Maße, meine ich. Streuselkuchen war nur einer der freundlicheren Spitznamen, mit denen ich mich abgeben musste.

Nach einer kurzen Dusche sah die Welt aber schon anders aus, aber der Kaffee war natürlich wirklich schon kalt geworden. Yohko schien das eine gewisse Genugtuung zu bereiten, auch wenn sie es nicht zeigte.
 

„Kaufst du dir wieder was? Ich hätte dir auch ein Bento machen können“, murmelte sie, während ihr Blick über die Morgenzeitung ging.

„Erstens will ich nicht in deiner Schuld stehen“, brummte ich als Erwiderung, „und zweitens traue ich dir nicht. Du bringst es fertig und machst es extra scharf. Oder nimmst Abführmittel. Oder…“

„IDIOT!“ Ich konnte mich gerade noch ducken, um einem erheblich beschleunigten Toast mit Banane auszuweichen. Hoheitsvoll wie sie sich gerne gab, erhob sie sich und verließ die Küche. Das aufräumen überließ sie wie immer mir.

Ich seufzte und stellte alles zwischen zwei Bissen in die Spüle. Wer hatte denn auch schon außer mir so einen Drachen als Schwester?

„Nun beeil dich endlich. Du kommst sonst zu spät.“

„Was kümmert dich das? Du gehst doch sowieso vor, oder?“

Kurz darauf wurde die Haustür sehr laut und sehr nachhaltig zugeschlagen. Diesmal hatte ich sie wohl richtig wütend gemacht.

Seufzend ging ich in mein Zimmer, zog die Schuluniform an und griff nach meiner Tasche. Ein schneller Check ergab, dass sie weder lebende noch stinkende Objekte enthielt. Außerdem waren meine Arbeitsmappen nicht mit Herrenmagazinen gefüllt worden. Meine Schwester konnte recht erfinderisch sein, wenn sie meinte, ich hätte aus welchen Gründen auch immer Strafe verdient.

Ein weiterer Check betraf meine Schuhe. Okay. Sie waren auch nicht präpariert. Das schien ein guter Tag zu werden.
 

Ich trat vor die Tür und schloss hinter mir ab. Hm, es schien ein schöner Tag zu werden, die Sonne schien bereits, und die Kirschbäume hatten bereits die ersten Blüten angesetzt. Vielleicht würde ich heute auch einmal etwas Spaß in der Schule haben können.

Mein Weg führte mich zur nächsten Bushaltestelle. Yohko war natürlich schon einen Bus früher gefahren. Wahrscheinlich wieder mit Megumi-ojou-sama, der heimlichen Königin des ersten Jahrgangs. Frustriert spielte ich mit dem Zahlenschloss meiner Tasche. Megumi, das waren mindestens fünfundzwanzig Welten Distanz von mir.

Im Bus war ich der einzige Schüler der Fushida High. Aber später in der U-Bahn füllten sich die Waggons mit den schwarzen Uniformen. Und auf dem Weg zur Schule wurden die Fußwege von einer schwarzblauen Woge eingenommen. Es gingen etwas über zweitausend Schüler zur Oberstufe, und ich war nur einer davon. Man hätte meinen können, ich hätte mich in dieser Menge verloren, aber nix da. Um mich herum hatte sich ein Vakuum gebildet, eine Sicherheitsdistanz mit mindestens drei Metern Umfang. In Laufrichtung waren es noch einmal fünf Meter, und wann immer ich den Blick schweifen ließ, zuckten die Mädchen erschrocken von mir fort. Oh, es war so verdammt frustrierend. So enervierend und peinlich.

„Morgen, du Verlierer. Hast du wieder die Welt gerettet?“

Eine starke Hand schlug auf meine Schulter. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um den Besitzer zu identifizieren. „Playstation“, erwiderte ich. „Morgen, Sempai.“

Mamoru Hatake meinte es gut mit mir. Nun, so gut wie man es mit Akira Otomo, oder wie ich meistens genannt wurde, Otomo-Pest, meinen konnte.

„Hast du wenigstens gewonnen?“

Ich zog ein Resumée von letzter Nacht und grinste. „Mehr oder weniger.“

„Da. Jetzt redet er auch noch mit Hatake-sempai. Wenn nun seine Idiotie auf ihn abfärbt?“

Wütend ballte ich meine Rechte um den Griff meiner Tasche. Das hatte ich gehört. Schlimmer noch, das sollte ich hören.

Mamoru Hatake grinste mich an. „Mach dir nichts draus, Kumpel. Sei lieber froh, dass du kein Mädchen bist, sonst würdest du jetzt Reißzwecken in deinen Schuhen finden.“

Ich unterdrückte eine harsche Antwort und den Hinweis auf mein Sammelsurium spitzer und scharfer Gegenstände.

Ihm machte das natürlich Spaß. Der Schönling badete ja geradezu in der Bewunderung anderer. „Kannst du nicht jemand anderem auf die Nerven gehen, Sempai?“, murmelte ich.

„Aber, aber. Würde ich das tun, würde dir ja keiner sagen, dass du heute nach der Schule zum Kendo kommen musst. Eine Gastmannschaft hat sich überraschend angekündigt. Sensei hat entschieden, dass wir ein kleines Turnier machen. Ataka-kohai, du und ich bilden unser Team.“

„Ein drei gegen drei?“

„Nein, drei gegen fünf. Ataka-kohai und ich nehmen zwei von ihnen. Du kriegst einen. Damit sie sich nicht so vollkommen schlecht fühlen, nach vier Niederlagen.“

„Danke, ich verzichte“, zischte ich wütend. Manchmal hasste ich mein Leben.

„Aber, aber. Du fliegst aus dem Kendo-Club, wenn du ablehnst. Du hast schon zu viele Trainingsstunden geschwänzt, okay?“ Mamoru legte einen Arm um meine Schulter und drückte mich. „Hey, ich meine es wirklich nur gut mit dir, okay?“

„Wer es glaubt.“

„Hm. Es ist wirklich leichter dich zu treten als nett zu dir zu sein.“ Sein linker Handballen schlug gegen meinen Hinterkopf. „Vergiss es nicht. Nach der Schule, klar, Otomo-Pest?“

„Ja, ja“, erwiderte ich. Oh, ich könnte diesen Schönling manchmal wirklich, wirklich so richtig nach Strich und Faden…

„Ich gehe dann schon mal vor. Pflichten als Klassensprecher. Ich bin einfach zu beliebt, weißt du?“ In einer affektierten Geste legte er eine Hand an die Schläfe, was einen kollektiven Begeisterungsschrei bei den Mädchen auslöste. Er grinste, zeigte mir das V-Zeichen mit der Rechten und ging vorweg.

Da war ich nun wieder, im Mittelpunkt meines eigenen Vakuums. Und ich spürte eine Menge neidischer, zorniger und einige empörte Blicke in meinem Nacken.
 

Nach einem Abstecher zu den Schuhboxen – gut, kein faules Obst drin, keine Reißzwecken, Rasierklingen oder Nägel in den Schuhen – erreichte ich endlich meine Klasse. Mein Platz war das Pult ganz hinten links am Fenster. Weit, weit weg von den Lehrern, weit, weit weg vom Rest der Klasse. Um genau zu sein, weit, weit weg in meiner eigenen Welt. Die Welt war groß und bunt, und sie ging mir wirklich am A…

„Akira Otomo!“

Ich sah auf. Hatte ich tatsächlich den Beginn der Homeroom verschlafen?

Ino-sensei sah mich wütend an. Und ehrlich gesagt, Zornesadern, die auf ihrer Stirn pochten, machten sie nicht gerade hübscher. Dabei war sie eine Legende an unserer Schule. Die goldene Göttin wurde sie genannt, wegen ihrem goldblonden Haar, das sie stets zu einem straffen Knoten im Nacken zusammenband.

„Was denn?“, brummte ich wütend und wandte mich wieder dem Fenster zu.

„Aufstehen, Otomo-san! Verbeugen!“, half Hina Yamada mir aus, unsere Klassensprecherin. Weiß der Henker, warum ein so talentiertes und zudem beliebtes Mädchen ausgerechnet den Pult neben mir hatte.

„Jajajajajaja.“ Mit einem tiefen Seufzer erhob ich mich und entrichtete die vorschriftsmäßige Verbeugung, um den Respekt vor unserem Lehrer auszudrücken. Danach konnte die Homeroom-Stunde beginnen. Zum Glück vergingen die zehn Minuten der täglichen Orientierung, ohne dass die goldene Göttin mich erneut aufs Korn nahm.

„Akira“, zischte Hina mir zu, während wir auf den Beginn der eigentlichen ersten Stunde bei Yamaguchi-sensei warteten, „du lässt mich schlecht aussehen.“

„Halt den Rand“, zischte ich zurück. „Der einzige, der hier schlecht aussieht bin ich! Also mach hier keinen Kasper! Ich sorge schon dafür, dass Ino-sensei dich in Ruhe lässt, ja?“

Der Blick, den sie mir zuwarf, konnte ich nicht in Worte fassen. Nun, sie war verletzt. Ich war immerhin die Otomo-Pest, und Widerworte von mir waren in etwa so peinlich wie ein Liebesgeständnis. Aber darin lag noch eine Verstörtheit, ein merkwürdiger Schmerz, den ich nicht identifizieren konnte.

Oh, ich konnte netter zu ihr sein. Aber warum sollte ich das? Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie sie als eine der ersten gelacht hatte, als mich Yoshi Futabe Otomo-Pest genannt hatte. Oh, ich hatte wirklich Lust, mein Pult zu schnappen und aus dem Fenster zu werfen. Weit, weit aus dem Fenster.
 

Die Pausen waren das Schlimmste. Ich meine, ich war ein absoluter, isolierter Einzelgänger. Mein bestes Erlebnis in einer Pause war, wenn ich das Dach erreichte, ohne dass ich verspottet oder überhaupt bemerkt wurde. Das Dach. Mein Refugium. Mein Zufluchtsort. Hier herrschte die Pest, also ich. Denn wenngleich die anderen Schüler mich mieden, schnitten und als willkommenes Ventil für ihren eigenen Frust ansahen, so wagten sie es doch nicht, an einen Ort zu kommen, an dem sie mit mir alleine waren. So tapfer war keiner von ihnen. Es gab viel zu viele Gerüchte darüber, was Otomo-Pest mit zwei Fingern anrichten konnte. Und angeblich hatte es an meiner alten Schule einige unerklärliche Todesfälle gegeben, die mehr oder weniger mir zugeschoben wurden. Nun, mir war es Recht.

Ich konnte auf dem Dach sitzen, mich gegen den Maschendraht lehnen und in die Wolken starren. Hunger hatte ich keinen. In meinen Pausen hatte ich nie Hunger. Denn das hätte bedeutet, runter in die Mensa zu müssen, und unter Leute zu gehen. Ich hasste das.

Mein Magen war natürlich anderer Meinung, aber ich ignorierte ihn.

Als sich die Tür zum Treppenhaus öffnete, spannte ich mich an. War ja klar gewesen. Meine Ruhezone konnte mir nicht ewig Schutz gewähren. Irgendwann hatten sich ja meine Feinde, Gegner, und solche, die mich aus Prinzip nicht mochten, zusammenrotten müssen, um dem gefährlichen Freak eine Lektion zu erteilen. Nun, sollten sie doch. Ich würde mein Fell teuer verkaufen.

„Puh, hier ist ja wirklich nichts los. Wie schön.“

Verblüfft sah ich sie an. Hier? Und wie es schien, alleine? Wollte sie mich fertig machen? Das konnte ich nicht glauben. „Uno-kun?“, fragte ich irritiert.

„Ah, Otomo-Pest. Es stimmt also. Hier kommt keiner hoch, damit sie sich nicht an deinen Pickeln anstecken.“ Sie grinste mich an, ging neben mir in die Hocke und zeigte mir das V-Zeichen. Was bildete sich diese dumme Kuh ein? Und vor allem, was hatte sie vor?

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich neben mir – viel zu nahe – zu Boden sinken. Zwischen ihre Beine stellte sie eine Bento-Box an und begann sie auszuwickeln.

Zwei Etagen, und beide gut gefüllt. „Na, dann hau ich doch mal rein!“, sagte sie lächelnd, brach ihre Stäbchen auseinander und begann zu essen.

Sie sah zu mir herüber, mit einem wirklich schiefen Blick. „Isst du nichts?“

„Steht es irgendwo geschrieben, dass es Pflicht ist?“, blaffte ich.

„Hey, Hey, Waffenstillstand. Ich habe dir nichts getan, okay?“

„Du musst nicht hier sein. Und du musst auch nicht neben mir sitzen!“

„Wieso? Mache ich dich nervös?“ Sie lächelte mich an, und ich war mir wirklich sicher – irgendeine Fiesheit nahm gerade ihren Anfang. Uno-kun war niemals, niemals einfach so freundlich zu mir. Das konnte nicht sein, andernfalls wäre die Hölle bereits zugefroren.

„Natürlich. Immerhin bist du ja die Königin des Ersten Jahrgangs, oder? Jeder Junge, der neben dir sitzt, muss nervös sein.“

„Hm. War das ein Kompliment?“

„Ist mir egal, wie du das aufnimmst“, brummte ich.

„Hm. Dann nehme ich das Kompliment. Freu dich, dafür gibt es eine Belohnung. Hier, iss!“

Sie reichte mir eines der Sandwichs aus der zweiten Etage.

„Kein Hunger.“

Plötzlich war sie mir nahe, so erschreckend nahe. Uns trennten nur ein paar Millimeter, und ihr Blick war schlicht und einfach düster und zornig. Ich war mir sicher, mit diesem Blick hätte sie sogar Takashi einschüchtern können, unseren Schulsprecher. „Willst du mir etwa sagen, ich stehe eine geschlagene Stunde früher auf, um dieses Bento zu machen, biete dir was davon an und du isst es nicht? Hast du solche Todessehnsucht, Akira?“

„I-ich kann ja mal probieren“, stotterte ich und ergriff das Sandwich.

„So ist es gut“, sagte sie und kehrte von extrem schrecklich zu extrem niedlich zurück. Extrem niedlich? Wieso sah ich sie so? Sie war doch nur eine von diesen verwöhnten, arroganten Tussen, die mir gerne das Leben schwer machten. Außerdem war sie die Freundin meiner Schwester, und so was nannte man einen vergifteten Brunnen.

„Essen“, ermahnte sie mich mit hochgezogener Augenbraue.

Gehorsam biss ich hinein. Was war es wohl? Zu scharf? Mit Abführmittel behandelt? Mit lebenden Würmern belegt? Eine Kakerlake vielleicht? Nun, der erste Bissen schmeckte.

„Nicht schlecht.“

„Echt? Und das ist nicht nur ein Kompliment?“, hauchte sie erschrocken.

So erschrocken, dass ich ein Stück abrückte. „Was ist denn mit dir los, eh? Guck mal, ich bin es, die Otomo-Pest. Seit wann sollte ich wohl Komplimente machen, hä?“

„Oh. OH!“ Übergangslos begann sie zu strahlen. „Na, dann probier doch auch mal hiervon. Bei den Omeletts bin ich mir immer nicht so sicher. Sag Ah.“

„Uno-kun. Das sind die Stäbchen, die du benutzt hast!“, sagte ich scharf.

„Und? Denkst du, ich habe irgendeine ansteckende Krankheit?“

„Nein, das nicht, aber wenn du dich mit der Otomo-Pest anstecken willst, nur zu.“ Wieder rückte ich etwas weiter ab, nur hatte ich diesmal einen Stahlpfosten im Rücken.

„Nun iss schon dein verdammtes Omelett und sag mir deine Meinung“, fauchte sie.

Zwei zu null für Megumi Uno, dachte ich und aß das Mistding.

„Gut“, brachte ich nach diversem kauen und schlucken hervor.

„Wirklich? Das freut mich. Ich habe hier noch mehr, was du mal probieren kannst!“

„Uno-kun, das ist wirklich keine gute Idee! Ich…“ Hastig beugte ich mich vor, wollte mit einer Hand ihr Bento schließen. Da rauschte ihr Schädel herab und mir auf den Hinterkopf. Mann, Mann, Mann, konnte noch ein anderer Mensch außer mir einen so harten Kopf haben?

„Autsch. Autschautschautsch. Das gibt nen blauen Fleck. Was hast du mit deinem Kopf gemacht, Akira, mit Beton ausgegossen?“

Wäre die Situation nicht so lächerlich gewesen, ich hätte drüber lachen können. Bei der Jagd nach ihrem Bento – ich hatte es schließen, sie sich für ein zweites Exempel ihrer Kocherei bedienen wollen – war ich etwas schneller gewesen und ihr Kopf war auf meinen nieder gerauscht. Nun saß ich hier, mit einer beginnenden Beule am Hinterkopf und halb über sie gebeugt. Genauer gesagt über ihre Beine. Und ihr Bento hatte ich dabei auch noch halb umgestoßen.

„Ich mache Kendo“, murmelte ich. „Entschuldigung. Ich habe dich verletzt. Und ich habe dein Mittagessen umgestoßen.“

„Na, du kannst ja doch nett sein, wenn du willst. Ich…“

„Otomo, du Bastard!“ Übergangslos fühlte ich mich am Kragen gepackt, hoch gerissen und hart am Kiefer getroffen. Bevor ich überhaupt richtig reagieren konnte, hatte ich zwei Zentren des Schmerzes. Zum Hinterkopf gesellte sich nun der Kiefer. Verdammt.

„Wie kannst du es wagen? Wie kannst du Megumi-chan hier hoch locken und über sie herfallen? Wenn das Mamoru, ihr Freund, erfährt, bist du Scheibentoast!“

„Yoshi! Lass ihn los! Er hat nichts getan!“

Ich sah auf. Natürlich. Ich steckte im Griff von Yoshi Futabe. Dem Klassenschönling. Was Mamoru für die ganze Schule war, das war er für Klasse und Jahrgang. Ich dachte manchmal, dass dieser strahlend blonde, Pickelfreie Strahlemann mehr Geld für sein Äußeres ausgab als manches Mädchen.

„Das ist eine Männersache, Megumi! Außerdem hat dieser Arsch genügend Prügel verdient, um ihn…“

Ich musste lächeln. „Du machst da einen Fehler.“

„Was meinst du mit Fehler, du ekliger WHOAAA!“

Als Yoshi fiel, ließ er mich im Reflex los. Er schlug hart auf und sah verwundert hoch. „Was ist passiert?“

„Du hast dein Gewicht auf einem Bein konzentriert. Das habe ich dir weggetreten. Das ist alles.“

„Du Hund! Ich…“ Er kam schnell wieder hoch, ging mich wütend an… Und fand sich eine Sekunde später erneut am Boden wieder.

Ich hielt mir kurz die Rechte. Harter Kiefer. Hätte ich dem Schönling nicht zugetraut. „Und du solltest nicht unüberlegt angreifen, okay? Du bietest Dutzende Eröffnungen, Idiot.“

„Der Schlag war nicht von schlechten Eltern. Und ich habe ihn nicht mal kommen sehen. Aber das macht nichts. Ich…“

„YOSHI-SAMA!“

Was war heute eigentlich los? Warum kamen alle, wirklich alle auf mein Dach? Warum konnten sie nicht bleiben, wo der Pfeffer wächst?

Irritiert betrachtete ich die Traube aus Mädchen, die nun Yoshi umschwärmte. Wieder trafen mich böse Blicke, als ich als Urheber seiner Verletzungen erkannt wurde. Dass er zuvor meinen Kiefer, zudem ohne Vorwarnung, malträtiert hatte, tat natürlich nichts zur Sache.

„Lass gefälligst Yoshi-sama zufrieden, oder kein Mädchen der Schule spricht auch nur noch ein Wort mit dir, klar, Otomo-Pest?“

„Ooh, Uno-sama hat er auch geschlagen. So ein Tier!“

„Wartet, er hat mich nicht geschlagen, das ist…“

„Komm einfach erst mal mit. Wir bringen dich ins Bad und dann kühlen wir die Beule. Und du Mädchenschläger, um dich kümmern wir uns auch noch, klar?“

„Ich…“ Ärgerlich und verzweifelt ließ ich die Arme sinken. Natürlich. Das war ja wieder so klar. So offensichtlich und so einfach. Es war natürlich Akira Otomo, der ewige Außenseiter.

Ach, wie einfach war es doch, mich falsch zu verstehen. Und normalerweise wäre ich damit zufrieden gewesen, aber Megumi hatte mich verteidigen wollen, und diese Schnepfen hörten ihr nicht einmal zu und…

Und vielleicht war das der Plan. Vielleicht wollten sie ihren Spaß haben, mich glauben machen, dass Megumi mich mochte, und dann wenn es mich besonders verletzte, mir so richtig geben.

„Scheiße“, murmelte ich, als die Bande das Dach verlassen hatte und sackte am Zaun zu Boden. „Verdammte, verdammte Scheiße.“

Ich war ja auch nur ein Mensch, ein einfacher, zerbrechlicher Mensch. Was ich ertragen konnte hatte Limits. Aber das scherte ja keinen. Und das Bento? Wer kümmerte sich darum?

Ich musste es ihr wiedergeben. Irgendwie, auch wenn ich um ihre Klasse besser einen Bogen machte. Ich konnte nicht alle ihre Mitschüler verprügeln, nur um ihr die Box wiederzugeben.

Ich nahm mir noch ein Sandwich. Es schmeckte wirklich gut. Eine Schande, so ein gutes Essen zu vergeuden.
 

Den Rest des Tages verbrachte ich isoliert. Ich meine noch isolierter als sonst. Anscheinend hatte die Geschichte vom Mädchenschläger Otomo schon die Runde gemacht.

In meiner Klasse und auch während der Kurse wurde ich ignoriert. Danke. Warum ging das nicht gleich so?

„Verschwinde“, knurrte ich, als ein Schatten auf meinen Pult fiel.

„Aber, aber. Wer wird denn gleich so ausfallend werden?“

Ich sah auf und erkannte Kei Takahara, den Transferstudenten, der erst seit einigen Tagen in unserer Klasse war. „Was willst du?“

„Hm, wie wäre es mit dich retten?“ Wortlos hielt er mir eine digitale Kamera vor die Nase.

Das Bild auf dem Rückendisplay zeigte Megumi und mich, gelehnt an den Drahtzaun.

Grinsend drückte Kei die Vorwärtstaste und rief die nächsten Bilder auf. „Ich war oben auf dem Dach, weil ich ein paar Panoramabilder machen wollte. Und da kamen mir ein paar schöne Bilder von Megumi-chan gerade recht. Hier, siehst du? Diese Bilder entlasten dich total. Ich kann sie vervielfältigen und herumzeigen. Nicht einmal die einzelnen Bilder kann man verwenden, um dich in die Scheiße zu reiten und…“

„Hast du es nicht kapiert“, fragte ich frustriert. „Denen da“- ich deutete auf die anderen in der Klasse –„geht es nicht um die Wahrheit. Denen geht es nur darum, ihre Vorurteile zu pflegen und ein wenig auf anderen herum zu hacken, damit sie sich selbst besser fühlen können.“

„Aber das ist ein Beweis! Ich meine, ein Beweis! Das können sie nicht ignorieren und…“

„Du hast es nicht verstanden, oder?“, seufzte ich. „Okay, probieren wir es mal so.

Hey, alle mal hergehört! Kei und ich sind ab sofort ganz dicke Freunde!“

Die Reaktion der anderen hatte ich erwartet. Offenes Entsetzen, ein paar getuschelte Bemerkungen und ein paar Blicke, die den weißblonden Jungen streiften, die mit fies schon nicht mehr umschrieben werden konnten.

„Hast du es jetzt verstanden, Kei? Ja? Dann sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor sie wirklich glauben, du würdest dich mit mir abgeben.“

Die Miene des kleinen Jungen wurde hart. „Und du hast etwas anderes nicht verstanden, Akira. Was meinst du wohl, wen würde sich ein Transferstudent aus dieser Horde Arschlöcher als Freund aussuchen, hm?

Hey! Stimmt! Akira und ich sind ab jetzt ganz dicke Freunde! ER gibt wenigstens nichts auf Gerüchte!“

„Idiot. Du hast dich gerade selbst isoliert, weißt du das?“

Kei grinste schief. „Isoliert war ich schon seit ich herkam. Und ein richtiger Freund ist mir lieber als fünf Oberflächliche. Wie sieht es aus, Akira? Sind wir jetzt Freunde?“

„Wenn du genügend Mumm hast, um es zu ertragen?“

„War das ein ja?“

Frustriert schnaubte ich auf. „Das war ein vielleicht. Wir reden in ein paar Tagen noch mal.“

„Immerhin“, bemerkte Kei und ging auf seinen Platz zurück. Die Blicke der anderen ignorierte er. Dummkopf. Warum machte er sich sein Leben freiwillig schwer?
 

Englisch hatten wir in der Siebten bei Haruna-sensei mit der gesamten Klasse. Und sie wartete mit einer Überraschung. Ich meine, es war damals eine Überraschung gewesen, dass meine kleine Wunderschwester ein Schuljahr übersprang und in meine Klasse versetzt worden war, aber das hier, das war eine wirkliche Überraschung. Zuerst wurde uns eine Transferstudentin vorgestellt. Eine Amerikanerin namens Joan Reilley, die erstens ziemlich gut aussah und zweitens einen Sitz schräg rechts von mir bekam.

Zweitens gab es einen sehr uninteressanten Vortrag von einem Polizeioffizier zum Thema Vigilanten. Menschen, die das Recht in eigene Hände nahmen, es durchsetzten und ihre eigenen Regeln jenseits der Gesetze gingen. Und ein noch uninteressanterer Vortrag zum Thema Kuroi Akuma, dem bekanntesten Vigilanten in unserer Stadt.

Kuroi Akuma, ein selten dämlicher Name. Die Medien hatten diesen Namen geprägt, und seither wurde ich ihn nicht mehr los.

Ja, ich. Denn der Mann mit dem dunklen Anzug und der Theatermaske war niemand anderes als Akira Otomo.

Nicht, dass ich ein Held sein wollte, die Medien gingen brutal, ja, regelrecht fies mit mir um. Was ich den Verbrechern antat, wurde so übertrieben, dass die Leser der Tageszeitungen mit den Tätern beinahe mehr Mitleid hatten als mit den Opfern.

Aber das war mir egal. Ich hatte nicht drum gebeten so zu sein wie ich war. Und ich hatte nicht um die Fähigkeiten gebeten, die ich hatte. Aber ich war fest entschlossen, sie zu nutzen. Auf die eine oder andere Art.

„Hey, Otomo. Joan Reilley, Kalifornien.“

Irritiert sah ich auf. Diese Amis. Der Polizeioffizier redete doch noch. Konnte sie mit ihrer Selbstvorstellung nicht warten, bis er fertig war?

Oder war sie… Hm. Ich runzelte die Stirn. Eine Austauschschülerin, die kurz vor einem Vortrag über einen stadtweit gesuchten Vigilanten in meine Klasse kam, und die nun Interesse an mir zeigte… War das eine Warnung an mich? Stand ich schon unter Verdacht?

„Halt die Klappe! Wir haben immer noch Unterricht!“, zischte ich.

„Was denn? Seit wann stört das Akira Otomo?“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Bist du nicht der Typ, vor dem sogar die Lehrer an der Mittelstufe gekuscht haben?“

„So entstehen Gerüchte“, entgegnete ich mit einem matten Lächeln.

„Hm. Dann bin ich enttäuscht. Ich dachte, du wärst eine richtig harte Sau.“

„Tut mir Leid. Ich bin hier nur der Aussätzige. Und wenn du nicht aufpasst, steckst du dich bei mir an.“

Ihr Lächeln war entwaffnend und extrem frech. „Was muss ich denn tun, um mich anzustecken, O-to-mo-sa-ma?“

Ich grinste fies. Für die Undercover-Polizistin, für die ich sie hielt, war sie reichlich frech. Irgendwie gefiel mir das.

„…Deshalb bittet die Polizei um eure Mithilfe. Wenn Ihr verdächtige Personen seht, verlangt niemand von euch, selbst einzuschreiten. Aber Ihr könnt meine Kollegen per Handy benachrichtigen und sie zum Ort des Verbrechens lotsen“, sagte der Polizeioffizier, unseren Disput stoisch ignorieren.

Na Klasse, genau mein Thema. Genauer gesagt, meine Tat von letzter Nacht. Ein verräterisches Grinsen huschte über meine Zügel. Das hatte Spaß gemacht.

„Also, Otomo, was unternimmt man hier so nach dem Unterricht?“, fragte Reilley.

„Was weiß ich? Ich für meinen Teil gehe nach Hause.“

„Was ist da dran denn interessant?“

Ich machte eine ausufernde Bewegung, die den halben Raum umfasste. „Keine Spinner. Selige Ruhe. Und meine Manga-Sammlung.“

„Ph, Manga-Sammlung. Wie viel?“

„Eintausenddreihundertelf.“

„Genre?“

„Quer durch den Garten.“

„Gut. Dann komme ich mit. Mal sehen, was du so zu bieten hast, Akira.“

„Hey, Moment mal, ich…“

„Ich freu mich drauf.“

Mist, Gottverdammter!
 

Nach der abschließenden Homeroom-Stunde bei Ino-sensei, zehn Minuten, um den Tag Revue passieren zu lassen, waren wir entlassen. Und ich hatte vier neue Probleme, mit denen ich mich herumschlagen musste. Erstens war da das kleine Turnier, zu dem mich Mamoru-Halbgottarschloch befohlen hatte. Na, der würde sich freuen mich zu sehen, sobald er die Gerüchte über Megumi gehört hatte.

Zweitens war da immer noch Megumis Bento-Box. Meine stille Hoffnung, dass sie noch mal hochkommen oder jemand das Mistding holen würde, hatte sich nicht erfüllt. Mist.

Problem drei war Kei Takahara, der kleine Fotofreak. Warum musste sich der Bengel das Leben selbst schwer machen? Er sagte zwar, er wäre schon vorher isoliert gewesen, aber gegen das was ich jeden Tag erlebte, konnte das nicht schlimm gewesen sein. Immerhin, mich rührte sein Versuch, mich zu retten. Aber die Mädchen würden in ihrem gerechten Zorn auf die Otomo-Pest nicht einmal Mutter Theresa zuhören, wenn sie sich für mich einsetzte.

Das letzte Problem trat gerade an meinen Tisch heran. „Also, ich bin fertig. Können wir dann, Aki-chan?“

Ich ächzte ausgiebig und sah Joan Reilley direkt an. „Was, wenn ich nein sage?“

„Das traust du dich nicht“, stellte sie grinsend fest.

„Ich habe noch Kendo“, sagte ich ausweichend. Tatsächlich. Ich traute mich wirklich nicht, ihr eine Abfuhr zu erteilen. Obwohl das wahnsinnig cool gewesen wäre und… Nein, ich durfte den Fakt nicht ignorieren, dass sie eine auf mich angesetzte Polizeioffizierin war. Das machte es interessant, wenn ich sie mit nach Hause nahm.

„Ich gehe jetzt nach Hause. Beeil dich, wenn du mit willst“, fauchte Yohko zu mir herüber.

Yoshi, der Klassenschönling, hob irritiert eine Augenbraue. Dann stießen seine drei Gehirnzellen zusammen und er erinnerte sich daran, dass sie meine Schwester war.

„Gehst du wieder mit Uno-kun?“, fragte ich beiläufig.

„Nein, sie hat noch was vor. Wieso?“

„Sie hat ihre Bento-Box vergessen. Nimmst du sie für sie mit?“

Unschlüssig sah sie mich an, kam dann mit schnellen Schritten auf mich zu, entriss mir die Box und stapfte wütend davon.

„Wow. Die ist ganz schön geladen. Deine Freundin, Aki-chan?“

„Meine Schwester“, brummte ich. „Meine kleine, bösartige und fiese Schwester.“

„Oh, dann bist du ja die männliche Version von Cinderella, was? Hast du noch mehr Schwestern? Es sind doch immer drei Schwestern, oder?“

Für einen Moment musste ich mit einem Lachanfall kämpfen. Wenn ich meinen Cousin Makoto hinzuzählte, der ab und an gerne als Mädchen herumlief - und diverse Frauen traumatisierte, weil er hübscher war als sie – außerdem Ino-sensei alias meine Cousine Sakura, kam das mit viel Wohlwollen und Augen zudrücken mit drei Schwestern hin.

„Ich habe nur eine Schwester“, erwiderte ich atemlos. „Gott sei Dank. Drei von der Sorte wären mein Tod.“

„Du magst wohl keine Mädchen, was?“

„Oh, das ist es nicht. Die Mädchen mögen mich nur nicht.“

„Hm? Freu dich, das hat sich gerade geändert.“ Sie zwinkerte mir zu. Ja, klar. Schon klar. Auffälliger ging es doch gar nicht mehr.

Ich stand auf, ergriff meine Tasche.

„Kendo, sagtest du? Kann ich zugucken kommen?“

„Tu was du nicht lassen kannst.“

„Oh, toll.“

Mit strahlendem Lächeln ging sie links neben mir. Mist, womit hatte ich das verdient? Warum ging ein hübsches Mädchen neben mir her? Warum entfernte sie sich nicht mit Lichtgeschwindigkeit von mir, wie alle anderen?

„Hey, Akira. Jetzt geht es wohl los, was?“ Kei klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter. „Ich werde ein paar Aufnahmen machen, um deinen Sieg festzuhalten, ja?“

Indigniert sah Joan Reilley den kleineren Kei Takahara an. „Wer bist du denn?“

„Ich bin Akiras Freund“, stellte er sich vor. „Und du?“

„Ich bin Aki-chans Freundin.“

Für einen Moment glaubte ich, dass zwischen den beiden statische Elektrizität wie ein Lichtbogen hin- und herzuckte.

„Auszeit, ja? Macht von mir aus was Ihr wollt, aber lasst mich da raus, ja?“ Wütend beschleunigte ich meine Schritte. Puh, zwei Freunde an einem Tag. Was hatte ich der Welt angetan?
 

In der Halle war es wie erwartet. Der stoische, ruhige Doitsu Ataka hatte die ersten beiden Kämpfe, und gewann sie souverän. Er nahm seinen Men ab, schob seine Brille wieder die Nase hoch und lächelte dünn. Dabei funkelten seine Brillengläser auf. Und die Mädchen auf den Zuschauerplätzen kreischten begeistert.

Der nächste war ich. Wütend setzte ich meinen Men auf, schnappte mir mein Shinai und ging aufs Kampffeld. Unser Gegner war die Jindai, und ihre Leute waren gut, richtig gut.

Wie war das gleich? Sempai hatte gesagt, sie sollten sich besser fühlen, oder? Na, meinetwegen. Kendo bot mir wenigstens etwas Abwechslung und die Chance, ein wenig Frust abzubauen… Da konnte ich auch mal verlieren.

Ohne mit der Wimper zu zucken ließ ich mich zweimal treffen und verlor haushoch gegen die Nummer vier der angetretenen Jindai-Kendoka.

Natürlich kassierte ich Pfiffe und Schmährufe, aber ich hatte mich ja auch nicht mit Ruhm bekleckert. Ich nahm meinen Men ab und ging zu Hatake-sempai. „War es das, was du dir vorgestellt hast?“

Sein Schlag traf mich nicht überraschend, aber hart genug, um mich zu Boden zu werfen. „Idiot! Kannst du auch mal ernsthaft sein? Wer hat dir gesagt, dass du verlieren sollst?“

„Ach, bist du sauer wegen der Geschichte mit Uno-kohai?“, erwiderte ich wütend. „Da hast du jetzt ja ein schönes Ventil gefunden, eh?“

Wütend starrte er mich an. Und begann zu schreien. Es war kein Wutschrei, es lagen, Schmerz und Überraschung darin.

„Hatake-sempai!“ „Hatake-sempai!“

„Schon gut! Ich war unvorsichtig! Ich hätte nicht auf Otomos Panzerung schlagen dürfen. Mist, mein rechtes Handgelenk ist wohl verstaucht.“

„Sempai. Ich ziehe mich schnell um und…“

„Nein. Du bist nicht für das Turnier eingetragen. Doitsu, was ist mit dir?“

„Keine Lust. Ich habe schon zwei Siege eingefahren. Meine Schulter tut weh.“

Mamoru sah mich an, mich alleine, mich direkt. Und mir gefiel dieser Blick überhaupt nicht. „Du hast ja bisher noch nichts getan, Otomo-Pest. Los, rein mit dir.“

„Aber Hatake-sempai! Otomo?“ „Hatake-sempai, wenn wir mit dem Captain der Jindai reden, dann…“

„Rein mit dir, Akira. Und bring mir zwei Siege! Dann drücke ich bei der Sache mit Megu-chan ein Auge zu, okay?“

Gut, gut, er verstand es zumindest, jemanden zu motivieren.

„Und blamier mich nicht vor ihr, klar?“

Ich folgte seinem Blick auf die Tribüne. Dort erkannte ich Megumi. Sie hatte also meine Niederlage mitbekommen.

Und das Mädchen, das sich gerade neben sie setzte – ein Kraftakt, so wie Megumi umlagert war – war niemand anderes als Joan.

Ich setzte den Men wieder auf, umklammerte mein Shinai und wandte mich barsch ab. „Zwei Siege. Kommen sofort, Sempai.“

„AKI-CHAN! SIEG FÜR MICH!“

Ich hielt irritiert inne. Diese Amerikaner. War denen denn gar nichts peinlich?

„UND FÜR MEGUMI-CHAN!“

Warum konnte ich nicht auf der Stelle tot umfallen? Das hätte vieles leichter gemacht.
 

Ich trat auf den Platz zurück. Mein Gegner war der zweitbeste Kendoka der Jindai-Auswahl. Und er war nach meiner peinlichen Vorstellung sehr, sehr siegesgewiss.

Nun, das war er nur, bis der Kampf freigegeben war. Bevor er sich versah, hatte ich ihn bereits an der Kehle getroffen und mir meinen ersten Punkt geholt.

Den zweiten ergatterte ich mit einem Tsuki auf sein rechtes Handgelenk.

Für einen Augenblick rechnete ich damit, dass mir einer der Kampfrichter einen halben Punkt abzog – weil mein Kampfschrei nicht laut genug war, nicht das Ziel richtig benannt hatte, oder weil mein Hakama auf dem Boden schleifte, oder es nicht tat – also war ich entsprechend überrascht, als mein zweiter Punkt anerkannt und mein Sieg bestätigt wurde.

Damit hatten wir das Mini-Turnier gewonnen und Jindai eine peinliche Niederlage beigebracht.

Doch damit war es noch nicht vorbei. Die Nummer eins der Kendoka der Jindai wartete schon, erpicht darauf, wenigstens einen Teil der Ehre des Teams zu retten und einen regulären Sieg zu erzielen.

Auf den Rängen jubelte jemand, es war für mich nicht schwer zu erraten wer, während die restlichen Zaungäste schwiegen. Konnte mir auch egal sein. Aber Jubel tat überraschend gut. Irgendwie.

Nach Beginn des Kampfes ging mich mein Gegner sofort an. Eine alte Regel im Kampfsport besagte, dass der erste Treffer entscheidend war. Aber der erste Treffer war nicht immer mit dem ersten Angriff identisch. Und so kassierte mein Gegner einen Treffer auf dem Men.

Hatte ich erwartet, das würde ihn vorsichtiger machen? Im Gegenteil. Nun wurde er wütend. Und Wut war nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern auch gegen die Regeln.

Von einem Kendoka wurde erwartet, die Lage stets zu überblicken. Wer Zanshin, Kontrolle über die Situation, nicht erlangte, konnte leicht einen halben Punkt verlieren.

Wieder griff mein Gegner an, vehement und mit einem Karatake. Für mich wirkte es, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. Es war für mich keine Schwierigkeit, einen schnellen Schritt vorzugehen und seinen Rumpf mit einem Tsuki zu treffen. Hätten wir echte Schwerter benutzt, hätte ich ihn gerade aufgespießt. Ein zynischer Gedanke, der ein noch zynischeres Grinsen auf mein Gesicht zauberte.

Zweiter Punkt und Sieg. Fast perfekter Sieg für die Fushida. Und ich ärgerte mich, dass ich meinen ersten Kampf so locker verschenkt hatte.

Ja, das war die Mühe wert gewesen, wirklich wert gewesen. Egal, was mir die nächsten Tage passierte, diese beiden Siege konnte mir niemand mehr nehmen. Ich wandte mich ab und grüßte meinen Sempai.

„AKIRA! HINTER…“

Ich hatte die Warnung nicht einmal zu Ende gehört, da wirbelte ich bereits herum. Mein Gegner führte einen frustrierten, zudem regelwidrigen Sturmangriff auf mich aus, erneut mit einem Karatake, einem Hieb von oben herab. Ich nutzte die Gunst der Stunde, schlug ihm mit meinem Shinai die Beine weg.

Als er hart auf dem Rücken aufschlug, führte ich einen harten Hieb auf sein rechtes Handgelenk aus, er verlor sein Shinai und ich schlug es fort von ihm. Anschließend legte ich ihm die Spitze meiner Waffe auf den Men. „Nicht dein Tag heute, was?“

„Regelverstoß! Fünfter Kampf wird für die Jindai gewertet!“

Das war ja klar gewesen, so klar gewesen. So fürchterlich klar. Es hatte ja so kommen müssen. Und prompt meldete sich der Ärger, der Zorn meiner Mitschüler. Frustriert wandte ich mich wieder um und verließ die Halle. Es hätte noch gefehlt, dass ich mit Obst und faulen Eiern beworfen werden würde. Aber die ließen sich auf einer Schule eben nicht so schnell auftreiben.
 

Wütend und frustriert schlug ich gegen meinen Spind. Und noch einmal. Und wieder. Und…

„Ist ja gut. Wir wissen alle, wie stark du bist. Also lass den armen Schrank heile.“

„Sempai. Ich…“

„Bleib ruhig. Wir haben gewonnen. Und gegen die Schiedsrichterentscheidung haben wir bereits formellen Protest eingelegt. Es wird nicht viel bringen, aber bei den Nationalen Meisterschaften wird sich die Jindai warm anziehen müssen. Denn das was ihr Kapitän heute abgezogen hat, werden wir ihnen Dutzendfach heimzahlen.“ Mamoru schlug mir mit der Rechten hart auf die Schulter. „Gut gemacht. Aber wann sehe ich mal deine ganze Kraft, eh?“

„Ist deine Hand nicht verstaucht?“

„Das Handgelenk, wohlgemerkt. Es geht wieder. War wohl nur ein Schreck oder so.“

Ich seufzte. „Ich habe mich leider nicht lächerlich gemacht. Tut mir Leid, beim nächsten Mal vielleicht.“

„Verdammt, Akira. Ich wollte nicht, dass du verlierst. Kapierst du nicht, dass es auch Menschen gibt, die dich nicht quälen wollen? Die es gut mit dir meinen? Wann habe ich dir je was Schlimmes getan?“

„Letzten Monat hast du mir das Handgelenk verdreht, davor dein Shinai über meinen Hinterkopf gezogen, außerdem über meinen Hintern, achtzig bis neunzig Mal, und…“

„Ach! Das sind doch nur Trainingsmaßnahmen. Komm drüber weg. Du stehst ab sofort auf Platz vier. Für die Vorausscheidungen gehörst du zum festen Kader, verstanden?“

„Vorausscheidungen? Ich soll ein ernsthaftes Turnier mitmachen?“

„Nein, du sollst dir ein Tütü anziehen und uns anfeuern. NATÜRLICH sollst du mitmachen! Also, Otomo. Komm in Zukunft öfters zum Training, ja?“

Mamoru wartete meine Antwort gar nicht ab. Gut. Sie wäre auch nicht sehr schmeichelhaft ausgefallen.
 

„Ah, Akira. Ein mieser Kampf und zwei gute. Du machst dich.“

„Was ist denn heute mit euch allen los? Hat jemand Bestechungsgelder verteilt damit ihr alle nett zu mir seid?“

Doitsu Ataka, nur mit einem Handtuch bekleidet, hob abwehrend beide Hände. „Friede, Otomo. Friede. Ich tu dir nichts. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob ich das könnte.“

„Wir können es ja mal ausprobieren.“

„Oh, gerne. Aber bitte erst nach den Meisterschaften.“ Er trat zu seinem Spind und zog seine Uniform hervor. „Weißt du was, Otomo?“

„Nein, aber du wirst sicherlich platzen, wenn du es mir nicht sagst, oder?“

„Gut erkannt.“ Er grinste herüber. „Megumi-chan und er… Weißt du, warum man sie nie zusammen in der Schule sieht?“

„Was interessiert es mich? Ob sie in der Schule oder in der Freizeit zusammenhocken, ist mir scheißegal.“

„Das ist ja der springende Punkt. Sie hocken nicht zusammen. Oder um es mal für einen Idioten wie dich auszudrücken: Sie sind nicht zusammen, klar?“

„W-was interessiert mich das? Ich habe mit Mädchen nichts am Hut!“

„Das könnte die Mädchen vielleicht gar nicht interessieren“, erwiderte Ataka amüsiert.

Mir fiel Joan Reilley ein, bei der genau das der Fall zu sein schien. „Mist.“

„Und um deine Welt mal ein wenig zu erweitern, Megumi-chan war heute nicht hier, um Mamoru zu bewundern.“

Entsetzt starrte ich ihn an. Konnte das…? Nein, unmöglich. Was aber wenn doch…? Nein, das war einfach… Definitiv und unendlich nein. „Warum war sie dann da?“, hörte ich mich fragen, aber mir war, als hätte ein anderer die Kontrolle über meinen Körper übernommen.

„Natürlich, um mich zu sehen“, erwiderte Doitsu mit einem breiten Grinsen, das gar nicht zu dem steif auftretenden, unterkühlten Elite-Schüler passte.

„Ja, klar, und im Strickunterricht basteln sie Handgranaten.“

Doitsu lachte leise. „Der war gut. Netter Konter, Otomo.“

„Du mich auch.“

„Habe ich schon einer anderen Sau versprochen.“

„Punkt für dich.“ War sie etwa doch…? Nein, nein, und nochmals nein. Fünfundzwanzig Welten, Otomo, schon vergessen?
 

2.

„Wow! Blauer Sturm der Rosen, Band eins bis zehn, Kriegstagebücher, komplett, Sage der Juwelendrachen, Band eins bis vier… Das ist keine schlechte Auswahl. Shojo, Shonen und Erwachsenen-Mangas gut gemixt und… Du liest Musik-Mangas?“ Erstaunt sah Joan Reilley mich an.

Ich zuckte die Achseln. „Was spricht dagegen Musik-Mangas zu lesen? Ein guter Zeichner kann der Geschichte auch Leben einhauchen, wenn man die Musik nicht hören kann.

Warum kennst du dich eigentlich so gut aus?“

„Sag mal, lebst du hinterm Mond, Aki-chan? Mangas sind doch mittlerweile ein weltweites Kulturgut.“

„Ich dachte, Comics haben einen so schlechten Ruf bei euch.“

„Haben sie auch. Aber es stört die Leser nicht mehr.“

„Hey, sieh mal hier. Lost Science Paradise komplett!“

„Was, komplett? Ich glaube, ich poliere mein Altjapanisch mal auf, um das lesen zu können. Wollte ich schon immer mal, Kei-kun.“

Frustriert trat ich an meinen Schrank heran und riss den beiden die acht Bände der Serie aus der Hand. „Das sind meine Schätze, ja? Geht da vorsichtig mit um!“

„Menno. Heißt das, wir dürfen uns nichts hiervon ausleihen?“, maulte Kei.

„…Nicht alles. Einige Mangas, wie die von Studio Scirocco, sind absolut tabu. Die lese ich beinahe täglich.“

„Schade. Dabei sind das die besten. Die kennt sogar bei uns drüben jeder. Leihst du mir wenigstens Youma-Königin? Das ist immerhin nur ein Begleitmanga zum Kinofilm.“

„Nichts da, Joan. Alles von Scirocco ist und bleibt hier.“

„Du bist aber fies. Langsam verstehe ich die anderen Schüler deiner Schule.“

„Besitzergreifendes Machtdenken nennt man so was, Aki-chan.“

„Macht mich nicht wahnsinnig. Lesen dürft ihr sie ja, aber die Mangas verlassen dieses Zimmer nicht. Ist das in Ordnung?“

Meine stille Hoffnung, die beiden verärgert zu haben, erfüllte sich nicht. Sie strahlten mich an und suchten sich jeder einen Manga heraus. „Danke.“

Ich schüttelte den Kopf und verließ mein Zimmer.
 

„Akira. Ich mache gerade Tee. Wollen deine Freunde auch welchen? Himmel, ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort mal mit dir in Verbindung bringen würde.“

„Sehr komisch, Yohko“, brummte ich und setzte mich in die Küche. „Aber nachvollziehbar. Und, hast du die Bento-Box für mich zurückgegeben?“

„Natürlich nicht! Man kann doch keine benutzte Box zurückgeben. Ich habe sie abgewaschen und werde sie Megumi-chan morgen zurückgeben. Allerdings könntest du das auch selbst tun, wenn du mal fünf Minuten früher aufstehen würdest.“

„Ja, klar. Ich gebe Megumi ihre Box selbst zurück, ohne dass ich von drei Dutzend Mädchen als Kriegsverbrecher abgeurteilt werde“, spottete ich.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie ichbezogen du bist, Akira? Vor unserer Haustür ist sie jedenfalls noch alleine, oder?“

Ich stutzte. Teufel, Yohko hatte Recht.

„Außerdem soll ich dich fragen, wie es dir geschmeckt hat.“

„Woher weiß sie das denn?“

Meine kleine Schwester sah zu mir herüber und grinste fies. „Ich wusste es. Gutem Essen konntest du noch nie widerstehen. Hoffentlich hast du nicht wieder die Sachen mitgegessen, die auf dem Boden lagen.“

Ich fühlte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Genau deshalb mochte ich meine Schwester nicht. Sie kannte mich zu gut, einfach viel zu gut. „I-ich habe das Sandwich abgeklopft. Sollte ich es denn umkommen lassen?“

„O-nii-chan, du isst alles, oder?“

„Du bist fies, Yohko.“

„Du hast es verdient. Isst Megumis Essen und bedankst dich nicht mal dafür. Hol das morgen früh nach, verstanden?“

Unter ihrem Blick gab es keine Widerworte. Außerdem hatte sie ja Recht. UND die Hölle war gerade garantiert dabei, zu zu frieren. Definitiv. „Habs kapiert.“

„Gut, gut. Hier, bring das Mal deinen Freunden rüber.“ Sie drückte mir ein Tablett in die Hand. Drei Tassen Tee und Knabberkram. „Wenn du schon mal jemanden mitbringst, dann sollten wir dafür sorgen, dass sie nicht sofort wieder aus dem Haus stürmen, oder? Außerdem sind es Klassenkameraden.“

„Heißt das, wenn ich ihnen keinen Tee bringe, lassen sie mich in Ruhe?“

Yohko lachte hinter vorgehaltener Hand. „Nein, ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Die zwei wirst du nicht mehr so schnell los.“
 

„Yohko-chan, entschuldige, aber hast du mein Handy gesehen?“

Erschrocken fuhr ich in Richtung Tür herum und hätte beinahe das Tablett fallen lassen. „DU? HIER?“

„Yo, Akira. Ja, ich bin es. Dein bester Freund Yoshi Futabe.“

„Bester Freund ist nicht gerade die Formulierung, die mir im Zusammenhang mit dir einfällt. Was willst du hier?“

„Yohko und ich lernen zusammen. Hast du was dagegen?“

„Ihr lernt zusammen?“ Wütend starrte ich den Blondschopf an.

„Whoa, langsam, Akira. Wenn Blicke töten könnten, würde jetzt jemand meine Asche wegfegen. Wir sind beide im Mathe-LK und im Mandarin-LK. Sie kennt die Sprache, ich Mathe. Wir helfen uns gegenseitig.“

„Ach, ist das so?“ Ich wandte mich halb um. „Yohko, wenn dieser… Wenn Yoshi die Nachhilfe auf andere Themen als Mathe und Sprachen erweitert, dann ruf mich.“

„Ach, wie nett. Du willst mich beschützen?“, spöttelte sie. „Ich denke, das kann ich alleine.“

Betreten senkte ich den Kopf. War klar, so klar. Warum hatte ich mich auch hinreißen lassen, das kleine Monster für einen Moment, für einen winzigen Moment nicht als das zynische Biest zu sehen, das sie war, sondern wie das kleine, tapsige Mädchen, das ich immer zum spielen mit raus genommen hatte? So sah halt die Quittung aus.

„Aber trotzdem danke, O-nii-chan. Es ist wenigstens nett gemeint.“ Sie schnappte sich zwei Teetassen und trat an mir vorbei auf den Gang. „Dein Handy liegt auf meinem Schreibtisch, Yoshi. Ich gehe schon mal ins Wohnzimmer vor.“

„Oh, danke. Und Akira, nichts für ungut. Megumi hat es mir erklärt. Ich habe mich hinreißen lassen und… Jedenfalls war dein Schlag nicht von schlechten Eltern.“

„Yoshi?“

„Ich komme! Akira, hast einen gut bei mir, okay?“

Was war nur mit meiner schönen, tristen Welt los? Yoshi redete normal mit mir, entschuldigte sich sogar, Mamo-Halbgott holte mich ins Turnier-Team, Doitsu bemerkte meine Existenz, in meinem Zimmer warteten meine beiden Freunde und Megumi-chan war nett zu mir. Warum konnte nicht alles so bleiben wie es immer gewesen war? Warum konnten die mich nicht alle in Ruhe lassen? Warum… Nein, es war nicht immer so gewesen. Es hatte andere, bessere Zeiten gegeben, aber ich hatte nie geglaubt, dass ich zu ihnen zurückkehren konnte.

Und auch jetzt wollte ich mir keine Hoffnung machen. Das bisschen Licht war doch nur ein dummes kleines Intermezzo, bis die Protagonisten in diesem Spiel genug von mir hatten.

Das dicke Ende kam bestimmt.
 

Als ich mit dem Tablett eintrat, erwartete Joan mich lächelnd. Sie spielte mit einer Theatermaske, indem sie das weiße Plastik um ihren Zeigefinger wirbeln ließ.

Erwartungsvoll sah sie mich an. „So, so. Du bist also dieser geheimnisvolle Vigilant, der die Verbrecher in diesem Stadtteil seit Monaten in Atem hält.“

Ich grinste dünn, stellte das Tablett auf meinem Schreibtisch ab und reichte jedem einen Becher. Kei sah beim lesen nicht mal auf. „Danke.“

„Na klar. Ich bin Kuroi Akuma. Und was sind meine Beweggründe?“

„Hm. Du wirst geschnitten und bist gefrustet. Außerdem ein extrem talentierter Kampfsportler, dem nicht die Anerkennung zukommt, die er eigentlich verdient. Was liegt da näher, als ein paar Typen aufzumischen, die es nötig haben?“

„Hm. Aufmischen gut und schön. Aber ich habe noch nichts davon gehört, dass unser Vigilant Schülern der Fushida aufgelauert hat. Wäre das nicht der logischere Schritt, wenn er gefrustet ist und geschnitten wird?“, warf Kei ein, ohne von seinem Manga aufzusehen.

„Hm, zugegeben.“

„Außerdem mischt er die Leute nicht auf. Ich habe gehört, Kuroi Akuma würde seine Ziele ausschalten, aber nicht misshandeln. Gut, gut, die Presse ist nicht sehr nett zu ihm – ungefähr genauso gerecht wie unsere Mitschüler mit Akira – aber soweit ich weiß wird er nicht wegen Körperverletzung gesucht.“

„Stimmt.“

„Und zuguterletzt“, brummte Kei, sah kurz auf und gähnte, „habe ich die gleiche Maske auch. In Shibuja kriegst du sie an jeder Ecke. An der da hängt sogar noch das Preisschild.“

„Pech. Du hast mich nicht erwischt, Joan.“ Amüsiert setzte ich mich auf mein Bett und verschränkte die Arme vor der Brust. Danke, Kei. Punkt für mich.

„Aber du bist trotzdem der Vigilant, der die Stadt in Atem hält, oder?“, fragte sie mich direkt.

„Warum interessiert dich das? Bist du mein Fan? Oder ein Undercover-Agent der Polizei?“

„Im Moment bin ich Joan Reilley, die bei Akira Otomo, einem Jungen aus ihrer Klasse, beim Tee zusammensitzt und Mangas liest“, stellte sie ernst fest. „Und ich möchte ungern einem zusammengeschlagenen und schwer verletzten Akira Otomo sagen müssen: Das musste ja mal irgendwann passieren. Meinst du nicht, jetzt wäre eine gute Zeit, um aufzuhören, bevor wirklich noch was passiert?“

Ich grinste schief. „Wie seid ihr auf mich gekommen?“

Kei sah aus den Augenwinkeln zu mir herüber und grinste. „Nicht schlecht, Akira. Das war kein Geständnis. Abgesehen davon, dass man eine Bandaufnahme von diesem Gespräch nicht vor Gericht als Beweis verwenden könnte.“

„Oh, keine Sorge. Ich trage kein Band bei mir. Und verkabelt bin ich auch nicht. Soll ich mich ausziehen, um es euch zu zeigen?“ Sie nestelte am ersten Knopf ihrer Bluse.

„Gerne doch.“ Ich verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und ließ mich gegen die Wand sinken.

„WAS?“ Irritiert sah Kei dabei zu, wie Joan die ersten Knöpfe löste. „Was tust du da?“

„Euch zeigen, dass ich nicht verkabelt bin.“

Kurz darauf flog ihre Uniformbluse in meine Richtung. „Untersuch sie ruhig.“

„Macht es dir nichts aus, hier nur im BH zu sitzen?“, fragte Kei erstaunt.

„Ist es das erste Mal, dass du eine Frau halb nackt siehst, Kleiner?“, fragte sie amüsiert.

„Ich habe zuerst gefragt.“

„Nein, es macht mir nichts aus. Bei euch beiden ist das in Ordnung. Soll ich den Rock auch noch ausziehen?“

„Der BH wäre mir lieber“, erwiderte ich und warf die Bluse zurück. „Unter den Drahtbügeln könnte man was verstecken.“

„Warte, ich drehe mich um und…“

„Schon in Ordnung, ich glaube dir ja. Zieh dich bitte wieder an, Joan.“

Keis vorwurfsvoller Blick traf mich. „Wie, du traust ihr? Sie hätte sich glatt noch weiter ausgezogen.“

„Hm, da gehen wohl mit jemandem die Hormone durch, was? Ist ne schwierige Zeit, ich kenne das. Hm, vielleicht kriegst du ja eine Privatermittlung von mir, wenn Ort und Zeit stimmen, Kei-chan.“

„Auf deinem roten Gesicht könnte man jetzt ein Schnitzel braten, Kei. Du brauchst dringend eine Freundin, was?“

„Schaut mal, wer da redet. Wenn du dir dein Minenfeld ausdrücken würdest, dann wärst du hübsch genug, um mir eine zu besorgen.“

„Mach dich nicht kleiner als du bist, Kei-chan. Du bist auch niedlich.“

„Männer sollten aber nicht niedlich sein. Und überhaupt. War es klug, dass du dein kleines bisschen Tarnung aufgegeben hast, Miss Reilley?“

Joan schmunzelte. „Was für eine Tarnung? Ich wäre schwer enttäuscht gewesen, wenn Aki-chan mich nicht vom ersten Moment an enttarnt hätte.“

„Und was soll das alles hier? Du folgst einem Vigilanten in sein Haus und erwartest was?“ Kei verdrehte die Augen. „Du bist komisch, Miss Reilley.“

„Ich dachte, vielleicht kann man vernünftig mit ihm reden. Vielleicht hört er ja auf, bevor wirklich jemand ernsthaft verletzt wird. Oder noch schlimmer, er selbst.“

Ich grinste dünn. „Ich frage noch mal. Warum ich?“

„Größe, Sportlichkeit, Schulbildung, Kombinationsgabe, die Fähigkeit unseren letzten drei Fallen auszuweichen… Sarah ist deshalb ganz schön sauer auf dich. Äh, Sarah ist meine Vorgesetzte.“ Während sie die letzten Knöpfe schloss, zwinkerte sie mir zu. „Außerdem mag ich dich wirklich. Und ich würde es ganz übel nehmen, wenn dir etwas passieren würde, Aki-chan.“

„Was, wenn du den Falschen hast? Dann läuft da draußen immer noch ein Vigilant herum, während du deine Zeit mit mir verplemperst.“

„Aber, aber. Selbst wenn ich mit dir falsch liege, Aki-chan, kann man nicht von Zeit verplempern reden. Schule macht mir Spaß, und du bist viel interessanter als ich erwartet habe.“ Sie kniff die Augen zusammen und lächelte mich an. „Wollen wir Freunde sein, Aki-chan?“

Ich lachte prustend. „Was, bitte?“

„Was spricht dagegen? Du gehst nicht auf deine Schulkameraden los, die dich schneiden und ärgern. Stattdessen rettest du Unschuldige vor Verbrechern. Ich glaube, wir haben da was gemeinsam, nur das ich das Recht dazu habe, Kriminelle zu jagen. Aber das ist ein winziger Unterschied, der…“ „…zwischen mir und einer Verurteilung steht“, vollendete ich.

„Der von dir korrigiert werden kann, wenn du nach der Schule zur Polizei gehst. Wir brauchen smarte Jungs wie dich.“

„Danke. Ich denke drüber nach. Aber solltest du jetzt nicht da rausgehen und den richtigen Kuroi Akuma jagen?“

„Ich denke, ich bleibe erstmal hier. Ich habe den Manga noch nicht zu Ende gelesen. Andererseits…“ Sie legte das Buch beiseite, kam zu meinem Bett herüber und beugte sich über mich. „Mann, das muss man wirklich mal gesehen haben. Du hast ja wirklich ein Minenfeld im Gesicht. Sag mal, gibt es eine Salbe dafür, damit das so schlimm aussieht? Da muss man doch was gegen tun. Ohne siehst du bestimmt ganz niedlich aus.“

„Lass meine Pickel in Ruhe, ja? Die waren da und die bleiben da und… Auuuu.“

„Stell dich nicht so an. Du bist ein Mann und keine Memme.“

„Autsch! Ich bin wohl doch ne Memme. L-lass das.“

„Halt still. Das Geheimnis ist, nicht zu drücken, sondern die Poren auseinander zu ziehen. Und gegen die Schwellungen, die von Entzündungen unter der Haut hervorgerufen werden, habe ich eine Creme, die wirkt wirklich super.“

„Autsch!“

„Und für die Lippen habe ich Balsam. Wenn ich mit dir fertig bin, erkennt dich keiner wieder, Aki-chan!“

„Ich bin eine Memme, hörst du? Eine Memme! Ich ertrage den Schmerz nicht! Nein! Nein! YOHKO-CHAAAN!“

***

Eine gute Stunde später hockte ich in einer Ecke und blies Trübsal.

„Ist es wirklich in Ordnung, ihn da so sitzen zu lassen?“, fragte Yoshi fröstelnd.

„Ach, das gibt sich bis morgen. Mein Bruder hat noch nie lange geschmollt.“

„Du hast mich auch verraten“, brummte ich aus meiner Ecke. „Du solltest mir helfen, nicht Joan.“

„Hey, es war aber eine gute Idee. Und morgen nehmen wir etwas Make-up zum decken, und niemand wird dich wieder erkennen. Warum mir das nicht selbst eingefallen ist… Tsss. Was bin ich nur für eine Schwester.“

„Wie dem auch sei. Ich freue mich schon darauf, dich morgen wieder zu sehen, Aki-chan. Wahrscheinlich erkenne ich dich an dem Pulk aus Mädchen, der um dich herumdrängt. Aber mach dir keine Sorgen darum. Ich werde mich schon zu dir durchkämpfen. Yohko, hat mich gefreut. Komm, Kei.“

„Bis morgen, Akira. Und danke für die Mangas. Kriegst sie morgen zurück.“

„Ich gehe dann auch mal. Wollen wir morgen wieder zusammen lernen, Yohko?“

„Gleiche Zeit? Das wäre nett. Ich backe Plätzchen und…“

„Yoshi, hast du noch einen Moment?“

„Oh, es kann sprechen. Was ist denn, Mr. Depression?“

„Alleine.“

„War ja klar. Kaum bringe ich mal einen Jungen mit nach hause, zerrt ihn mein Bruder vor seine Manga-Sammlung, und ich kann mir einen neuen suchen. Männer.“

Sie zwinkerte uns zu.

„Du hast da eine wirklich nette Schwester.“

„Ich kenne nur ihre schlechten Seiten“, erwiderte ich.

„Dann hast du ja noch jede Menge wundervolle Dinge, die du an ihr entdecken kannst.“

Er setzte sich neben mich. „Also, was kann ich für dich tun, Akira?“

„Ich bin aufgeflogen.“

„Trottel. Es kann ein Trick sein.“

„Möglich. Aber ich stehe zumindest auf ihrer Liste.“ Frustriert schlug ich auf den Fußboden. „Ich hätte es gerne leichter, nicht schwerer.“

„Tja, kann man nicht ändern. Soll ich vielleicht…?“

„Nein. Ich komme schon klar. Ich wollte nur, dass du es weißt und ein wenig auf deine Umgebung achtest, ja? Nicht, dass sie mehr wissen. Es wäre schlecht für uns.“

„Verstehe.“ Er erhob sich. „So, ich sage Yohko Tschüss. Und ich bin wirklich gespannt darauf, wie du morgen aussiehst.“

Ich lachte rau. „Definitiv anders als heute.“

„Ist vielleicht mal ganz nett, Akira. Denk drüber nach. Bis nachher.“

Ich winkte in seine Richtung. „Bis nachher.“

***

„Du gehst aus, O-nii-chan?“

„Das mache ich doch jeden Abend. Ich drehe nur ein paar Runden um den Block.“

„Ja, aber… Seit letzter Woche folgt dir immer jemand, und…“

Das hatte sie bemerkt? Für einen Moment fragte ich mich, ob ich meine Schwester wirklich kannte. Sie schien auch Qualitäten zu haben.

„Keine Sorge. Dein Bruder ist nicht wehrlos.“

„Soll ich die Polizei rufen?“

Ich lachte leise. Das wäre ja mal eine Idee, oder? Die Polizei rufen, um die Polizei verhaften zu lassen… „Nein, ich kann das alleine.“

Betreten sah sie zu Boden. „Was Joan vorhin gesagt hat, O-nii-chan, vielleicht hat sie ja Recht und es ist wirklich Zeit für dich… Vielleicht solltest du aufhören, bevor…“

„Aufhören womit?“

„Du weißt was ich meine.“

„Nein, weiß ich nicht, Yohko.“

„Dann bleib einfach zu Hause, O-nii-chan. Bleib hier und ich muss keine Angst mehr um dich haben, ja?“

Konsterniert sah ich meine kleine Schwester an. War das heute der Tag der Überraschungen? Was passierte noch? Eine Invasion von Außerirdischen? „Vielleicht. Später“, brummte ich als Antwort, schlüpfte in meine Schuhe und ging. Irrte ich mich, oder weinte Yohko?
 

Fünf Busse, drei Stationen U-Bahn und eine Taxifahrt brachten mich meinem Ziel mal näher, mal brachten sie mehr Distanz. Letztendlich wollte ich nur meine Verfolger abschütteln. Was mir natürlich nur wenig nützte, wenn sie wussten, wohin ich unterwegs war.

Mein Ziel war ein Shinto-Schrein auf einem Hügel, der eigentlich fast schon in der Nachbarschaft stand. Genauer gesagt das Wäldchen, welches auf dem Hügel wuchs.

„Ich habe dich früher erwartet.“ Ein Schatten stieß sich von einem der Bäume ab und kam auf mich zu.

„Joan.“

„Ganz recht. Du willst wissen, was dich verraten hat? Niemand kann eine bestimmte Stelle in diesem Wald betreten, nicht einmal die Shinto-Priester im Tempel. Nur du gehst da ein und aus. Wir mussten dann nur noch ein paar Dinge zusammenzählen.“

„Indizien, in einem Prozess nicht viel wert, oder?“, spottete ich.

„Wie ich schon sagte, Aki-chan. Ich will dich nicht einbuchten. Ich will, dass du damit aufhörst, bevor jemand verletzt wird.“

Langsam ging ich an ihr vorbei. „Versuch mich aufzuhalten, wenn du kannst.“

„Aki-chan. Hör auf mich! Es ist zu gefährlich für einen Einzelnen, die ganze Welt retten zu wollen!“

Kurz hielt ich an, sah zurück. „Du weißt es?“

„Ich dachte, das hätten wir geklärt! Ja, ich weiß, dass du Kuroi Akuma bist.“

Ich entspannte mich ein wenig. „Ach so. Umsonst Sorgen gemacht.“ Ich ging weiter, immer weiter.

„AKIRA!“

Ich reagierte nicht.

„AKIRA!“ Sie hielt mich am Arm fest, riss mich zurück. „Lass es. Bitte.“

„Ich bin nicht der, für den du mich hältst, Joan. Tut mir Leid, aber es gibt da nichts, womit ich aufhören kann.“ Mit diesen Worten löste ich sanft ihren Griff um meinen Unterarm und ging weiter. Sie ging mir nach, prallte auf die Barriere und wurde zurückgeschleudert. „AKIRA!“

Ich lächelte matt. Die Barriere tat ihr Werk.
 

„Du kommst spät“, stellte eine männliche Stimme fest.

Ich wandte mich um und sah einen hoch gewachsenen Mann in einer nachtschwarzen Rüstung. Auf seinem Rücken hing ein Schwert, das fast so groß wie er war.

„Ich hatte die Polizei zu Hause. Sind wir vollzählig, Doitsu?“

„Yoshi fehlt noch. Aber du solltest dich beeilen, das Fenster öffnet sich gleich.“

Ich nickte, während wir zu zweit weitergingen. „Falls nachher noch Zeit ist, kommst du mit in die Stadt?“

„Was denn? Willst du wieder einzelne Menschen retten, während du hier gerade die ganze Welt rettest? Philantroph.“

„Hört, hört, wer da spricht“, spottete ich.

„Akira ist da“, stellte eine Frauenstimme fest. Ami Shirai trat neben mich und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Sie trug ebenfalls schwarz, allerdings als leichtes Stoffoutfit, das verbarg, wie stabil es wirklich war. Sie wirkte wie ein weiblicher Ninja, eine Kunoichi, aber ich bezweifelte, dass diese so mächtig wie sie werden konnten.

„Hallo, Ami. Was macht die Schulterwunde?“

„Fast verheilt. Wie nett. Die Otomo-Pest macht sich Sorgen um mich.“

„Ami“, mahnte ich lächelnd.

„Ich stimme mich nur auf meine Rolle ein. Hm, willst du dich nicht langsam umziehen?“

„Das solltest du wirklich, Akira. Es geht gleich los. Wo bleibt überhaupt Yoshi?“

„Keine Sorge, Daisuke, er wird rechtzeitig hier sein. Im Gegensatz zu mir darf er nicht gesehen werden, wenn er in den Wald kommt.“

„Haben sie dich enttarnt?“, fragte der andere besorgt. Auch er trug eine schwarze Rüstung, aber diese wirkte weniger wie eine Ritterrüstung, mehr wie die Holzrüstung eines Samurai.

„Ich sollte von vorne herein den Lockvogel spielen, oder?“ Ich grinste zynisch. „AKARI!“

„Meister.“ Der kleine Schrein vor meinen Füßen begann aufzuleuchten. Kurz darauf erschien ein hässlicher Oni mit Hörnern und einer weißen, struppigen Mähne vor mir.

Ich streckte die Hand aus. Der Oni seufzte, löste die Maske mit den Hörnern und gab sie mir. Dahinter erschien das Gesicht einer hübschen Frau mit langen schwarzen Haaren.

Ich zog mir die Maske über den Kopf. Die Hörner verschwanden und machten dem Theatergesicht Platz. Zugleich erschien der schwarze Anzug. Meine KI-Rüstung.

Jeder Krieger in unserem Team hatte eine eigene Vorstellung davon, wie eine KI-Rüstung aussah, und das schlug sich in ihr nieder. Auch wenn der elegante Anzug nicht nach viel aussah, er war sehr widerstandsfähig und hatte mir schon das Leben gerettet.

Zwischen uns landete Yoshi. Er trug einen goldenen Trainingsanzug und hatte seinen Bogen geschultert. „Entschuldigt die Verspätung. Überall sind Polizeiposten.“

„Wissen wir. Akira ist aufgeflogen, eh?“

„Etwas in der Art. Können wir?“

„Das Tor wird bald offen sein, Yoshi-sama. Meister, soll ich?“

Ich nickte.

Der Oni langte in seinen Schrein und zog eine Waffe hervor. Es war ein schwarzes Katana. Kurz darauf begann Akari zu leuchten, wurde zu einem Ball aus Helligkeit und legte sich um das Schwert. Mit einer routinierten Bewegung legte ich die Waffe an. „Also dann, retten wir die Welt, Leute. Wo ist Emi?“

„Immer noch verletzt. Sie braucht noch zwei Tage, sagt Makoto.“

Ich nickte. Sie hatte Glück, dass sie noch am Leben war.

„Es ist soweit, Meister“, klang Akaris Stimme auf. Vor uns öffnete sich ein dunkler Strudel über dem Schrein.

Doitsu sprang zuerst hindurch. Ich folgte als zweiter.
 

3.

„Ich halte das nicht für richtig. Ein Mann, der Make-up auflegt ist…“

„Halt still, O-nii-chan. Niemand wird was sehen, versprochen. Zufällig haben wir den gleichen Hautton, und ich kann die Entzündungen gut abdecken.“ Yohko sah mich tadelnd an. „Mit dem blauen Auge kann ich dir nicht viel helfen. Ich kann es teilweise abdecken, aber die Schwellung wird zu sehen sein.“ Sie trat näher an mich heran und stieß dabei mit der Hüfte gegen meine linke Schulter.

Für einen Moment sah ich Sterne und ächzte leise. Beinahe wäre ich vom Stuhl gefallen.

Wie aus weiter Ferne rief eine Stimme nach mir. Es kostete mich Kraft und Überwindung, sie zu verstehen. „O-nii-chan! Komm wieder zu dir! O-nii-chan!“

Ich stöhnte auf und hob abwehrend eine Hand. „Tut mir Leid, ich hätte früher ins Bett gehen sollen, Yohko.“

„Von wegen früher ins Bett! Akira, du bist verletzt. Dein Verband ist durchgeblutet. Ich… Ich bin gegen gekommen, und da muß er wieder aufgebrochen sein. Ich…“

Tatsächlich. Meine rechte Brust floss etwas Klebriges, Warmes herab. Ich erhob mich, musste kurz mit einem Schwindelgefühl kämpfen und eilte in mein Zimmer.

Das Hemd wechseln. Den Verband erneuern.

„O-nii-chan.“ Yohko stand in der Tür und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Warum hörst du nicht auf damit? Joan-chan hatte Recht. Irgendwann wirst du vielleicht sterben.“

Ich grinste dünn. Vielleicht war das mein Schicksal, aber das konnte ich meiner Schwester kaum unter die Nase reiben. Vorsichtig ging ich in die Hocke, holte eine Box unter meinem Bett hervor. Ich nahm mir frisches Verbandszeug und einen Flakon mit einer gelblichen Flüssigkeit.

Als ich die Wunde freigelegt hatte, eine wirklich miese und tiefe Stichwunde, ausgeführt von einem beachtlich langen und spitzen Horn, begann sie sofort wieder zu bluten.

Mit einem frischen Tuch reinigte ich Wunde und Brust, trank danach den Flakon halb leer und leerte den Rest über der Verletzung.

Es dampfte, als die Flüssigkeit in der Wunde wütete. Ich ächzte, als der Schmerz mich zu übermannen drohte. „O-nii-chan!“ Mit zwei schnellen Schritten war Yohko bei mir und stützte mich.

„Es… Es geht schon, Yohko. Es geht schon wieder. Siehst du, die Wunde hat aufgehört zu bluten.“

Meine kleine Schwester sah mich aus verheulten Augen an. „Warum tust du das alles? Warum tust du dir das an?“

„Befehl von Eikichi“, raunte ich, während sie mir einen Druckverband anlegte.

„Vater hat dir…? Aber warum?“

„Es ist besser, wenn du nicht zuviel weißt.“

Sie half mir ins neue Hemd, und ich war dankbar dafür. Selbst mit der Heilflüssigkeit würde ich meinen Körper heute nicht schwer belasten dürfen, da war mir jede Stütze recht. Auch in die Schuluniformjacke musste sie mir helfen.

„Danke, Yohko. Und jetzt geh und wasch dein Gesicht. Du willst doch nicht mit so verquollenen Augen in die Schule gehen?“

„Erklär es mir“, verlangte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

„Akira!“

„Beeil dich. Megumi wird gleich hier sein, um dich abzuholen.“

DAS wirkte. Sie sah mich noch einmal verletzt und ängstlich an, dann ging sie.
 

Ich ließ mich auf mein Bett sinken. Verdammt, verdammt, ich hatte die Heilung nicht benutzen wollen. Es waren nur noch so wenige und keiner wusste, wie lange wir noch kämpfen würden. Und der Preis, um neue zu machen war hoch, so unendlich hoch.

Entschlossen nahm ich einen blauen Flakon und leerte ihn in einem Zug. Wenigstens von den Energietränken gab es genug.

Als Yohko wieder in mein Zimmer sah, bekam sie ihren üblichen Bruder präsentiert. „Du gehst nicht an diese Box, hast du verstanden? Du hast keine Ahnung, was die verschiedenen Flakons bewirken. Außerdem sind einige von ihnen so wertvoll, dass ich dich übers Knie lege, wenn einer fehlt, klar?“

Sie schniefte. „Schon klar, O-nii-chan.“ Sie reichte mir ein Bento. „Hier, Megumis Box.“

Ich nahm sie entgegen. Mist, das auch noch.

Gemeinsam verließen wir das Haus, aber ich hatte mir schon vorgenommen, ein paar Minuten rumzugammeln, nachdem ich Megumi ihr Eigentum zurückgegeben hatte. Mein üblicher Bus kam fünf Minuten später, das war kein großes Ding.

„Geht es?“, fragte Yohko besorgt.

„Keine Sorge. Ich fühle mich gut“, beruhigte ich sie.

Als wir durch das Tor auf die Straße traten, blieb ich entsetzt stehen. War ja klar gewesen, so schrecklich klar. Nicht nur das Megumi bereits auf Yohko wartete, nein, jetzt waren wir kaum eine Handbreit auseinander. Noch schlimmer, wenn ich nur etwas schneller gewesen wäre, hätte ich sie umgerannt. Und das mit dieser Schulterwunde… Danke.

„Guten Morgen, Uno-kun“, brummte ich und hielt ihr ihre Bento-Box hin. „Ich habe gestern alles aufgegessen, als du weg warst. Hat sehr gut geschmeckt. Wirklich. Und ich mache das irgendwie wieder gut, versprochen.“

Warum griff sie nicht nach der Box? Warum sah sie mich stattdessen so vorwurfsvoll an? Nein, das war nicht vorwurfsvoll, das war… Hä?

Langsam hob sie die Hände, legte sie entsetzt vor den Mund. „A-akira? Akira?“

„Soll ich dir meinen Ausweis zeigen?“, versetzte ich.

Ihr Blick huschte zu Yohko herüber. Sie deutete mit der Rechten auf mich. Da wir aber immer noch sehr nahe beieinander starrten, bohrte sich ihr Zeigefinger in meine Nase. „Nhey!“

„Y-yohko, was ist denn… Ich meine… Akira?“

Meine Schwester nickte. „Akira.“

„Aber… Aberaberaberaber… Aber… Akira?“

„Mnimmst du bnitte dnen Fninger aus mneiner Mnase?“

„Was? Oh. OH!“ Entsetzt zuckte sie zurück und verbeugte sich. „Entschuldige, Akira, das wollte ich nicht. Aber ich war so überrascht, dass… Tut mir Leid.“

„Schon in Ordnung. Obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, was du für ein Problem hast. Hier, deine Box.“

Zögernd nahm sie die Box entgegen. Dann reichte sie mir eine andere. „Hier, Akira. Weil es dir gestern geschmeckt hat, dachte ich, ich mache gleich zwei Bentos. Ich bin extra früher aufgestanden. Du wirst doch nicht ablehnen? Wir könnten zusammen auf dem Dach essen und…“

„Sag mal, was ist denn mit dir los? Hat dich jemand unter Drogen gesetzt?“

„Nun nimm schon das Bento an!“, zischte Yohko mir zu. „Denk an all das gute Essen da drin.“

Nun, das stimmte. Ein wirklich gutes Argument. Ich grinste schief und nahm ihr die Box ab. „Danke. Wir können ja wirklich zusammen essen, wenn es dir nichts ausmacht, aufs Dach zu kommen.“

„O-okay. Einverstanden.“ Sie sah wieder auf und strahlte mich an.

War sie vielleicht wirklich auf Drogen? Megumi Uno, die Königin des Jahrgangs strahlte mich an. Normalerweise hätte ich jetzt einen Komplott vermutet, um mich wirklich, wirklich gemein hinters Licht zu führen. Aber ich spürte, dass sie es ernst meinte, schrecklich ernst – was auch immer sie gerade tat.

„G-gehst du mit uns zur Schule, Akira?“

„Natürlich geht er mit uns zur Schule. Komm, Akira, der Bus fährt gleich.“

„Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn ihr ausgerechnet mit mir gesehen werdet. Immerhin bin ich ja als Otomo-Pe… WHOA!“

„Hör auf zu sabbeln, komm endlich. Megumi, du den anderen Arm.“

„Gerne doch!“

„Nicht so fest! Zieht doch nicht so. Uno-kun, musst du dich so an meinen Arm hängen?“

„Stell dich nicht so an. Du bist doch ein Mann, oder?“, tadelte Yohko.
 

Eine halbe Stunde später waren wir auf dem Schulweg, umringt von hunderten Uniformen der Fushida. Und ich schwitzte Blut und Wasser. Wie ich es gewohnt war, trafen mich hunderte Blicke. Und mit Yohko und Megumi links und rechts von mir hätte ich der Mittelpunkt von Hass und Zorn sein müssen und… Nun, anscheinend waren an der Schule gratis Drogen verteilt worden, und nur ich hatte keine abbekommen. Ich sah in entsetzte Gesichter, heruntergeklappte Kiefer und hochrote Wangen.

„Häng dich nicht so an mich, Uno-kun“, ermahnte ich das hübsche Mädchen. „Die kommen ja alle auf falsche Gedanken.“

„Was ist so falsch daran?“, fragte sie. „Und warum nennst du mich nicht Megumi? Yohko hat mir erzählt, dass du mich Zuhause immer so nennst.“

„YOHKO!“

„Was denn? Willst du dich jetzt bei mir beschweren, dass du Megumi-chan beim Vornamen nennen kannst?“

„N-nein. Aber ich…“

„Morgen! Na, Akira, was hat die Quetscherei gestern eingebracht?“

Kei klopfte mir auf den Rücken, kam um Yohko herum… Und starrte mich an wie einen Geist. „Wow. Wow. Wow. Hast du eine plastische Chirurgie hinter dir?“

„Möchtest du gerne meinen Fuß in deinem Hintern haben?“

„Nein, danke. Für so etwas bin ich noch nicht bereit. Dazu ist unsere Beziehung zu jung“, scherzte der weißblonde Bursche. Er zog seine Kamera aus der Uniformjacke. „Sag Cheese, Akira.“

„Machst du mir Abzüge von dem Foto?“

„Ich kann was viel besseres, Megumi-chan. Ich kann ein Foto von euch beiden machen.“

„Akira. Bist du das?“

„S-sempai! Das ist nicht so wie du denkst! Ich…“

„So, so. Was denke ich denn?“

„Keine Ahnung. Aber es ist definitiv falsch, Hatake-sempai.“

„Was ich gerade denke, kannst du nicht mal ahnen, Kleiner“, brummte Mamoru und schloss sich uns schweigend an.

„Yohko-chan. Morgen. Akira, entschuldige noch mal wegen gestern. Ich habe total überreagiert. Nanu? Mamoru, was macht der denn hier?“

„Was machst du hier? Gestern schlägst du Akira noch und heute gehst du neben ihm her?“

„Wenn ich mal feststellen darf, ich gehe neben seiner hübschen Schwester her, ja?“

„Oh. Das mache ich auch gerade.“

„WAS?“

„Friede, Jungs, Friede. Noch mehr Aufmerksamkeit, und die Amis richten ein Dutzend Spionagesatelliten auf uns.“ Ich hätte mir den Schweißfilm von der Stirn gewischt, wenn ich meine Arme hätte bewegen können.

In einem beachtlich großen Pulk – für meine Begriffe – traten wir auf den Schulhof.

Auch hier das gleiche Bild. Entsetzte Gesichter, heruntergeklappte Kiefer und… hochrote Köpfe. Mann, ich war mir nicht sicher, ob ich diese Droge jemals ausprobieren wollte.

„Morgen, Aki-chan.“

Ich drehte den Kopf. Mehr war leider nicht drin. Joan lehnte auf der Innenseite der Mauer und sah mich schmunzelnd an. „Hast ja gestern doch nichts gemacht. Zumindest ist mir nichts zu Ohren gekommen.“

„Hä? Hä?“ Megumi sah im schnellen Wechsel von mir zu Joan und zurück. „Wie, nichts gemacht? Habe ich da was nicht mitbekommen?“

Joan stieß sich von der Wand ab und kam zu uns herüber. „Schätzchen, dein Freund hier ist Kuroi Akuma, der Vigilant, der die Stadt in Atem hält“, raunte sie. „Wusstest du das nicht?“

„F-freund? Das ist jetzt aber… Ich meine, ich… F-freund?“

Irritiert zog Joan die Augenbrauen zusammen. „Die hört wohl nur was sie hören will, was?“

„Ich bin mir nicht sicher, worauf du hinaus willst, Joan.“

„Was ist hinter der Barriere, Aki-chan? Und wie erzeugst du sie?“

„Welche Barriere?“ Himmel, dies war die Schule! Und Mamoru und meine Schwester sollten nicht erfahren, was ich so verzweifelt zu verheimlichen versuchte.

„Komm schon. Ich bin heute Abend wieder da. Und morgen Abend. Und den Abend danach. Du kannst die Sache abkürzen, wenn du mir gleich sagst, was ich wissen will.“

Meine Schulterwunde begann plötzlich zu pochen. Und zu schmerzen. Und ich sah Sterne vor meinen Augen. Danke, danke, das war genau das, was ich gebrauchen konnte. Ich spürte meine Knie weich werden, aber übergangslos fühlte ich mich gestützt.

Besorgt sah Megumi mich an. „Geht es?“

„Leise“, flüsterte ich. „Ja, es geht wieder.“

Joan zog die Stirn in Falten. „Warst du gestern doch aktiv? Ich habe dir doch gesagt, dass… Warte mal, warte mal, das fällt mir jetzt erst auf.“

Sie trat vor mich, nahm mein Kinn in die Rechte und drehte mein Gesicht hin und her. „Hm. Hm. Hm. Gute Arbeit, Yohko. Vor allem das blaue Auge hast du gut abgedeckt, aber ich sehe natürlich die Schwellung noch. Mann, Aki-chan, so wie du jetzt aussiehst könnte ich mich glatt in dich verlieben.“

Übergangslos hatte ich das Gefühl, mein rechter Arm würde zerquetscht werden. „Autsch.“

„Ja, so siehst du ja richtig süß aus. Wie wäre es? Wollen wir zwei es mal miteinander probieren?“

„W-was soll das denn? Du bist erst einen Tag an der Schule, und schon willst du mit Akira gehen? Das ist doch nicht dein Ernst!“

„Was denn? Noch nie was von Liebe auf den ersten Blick gehört, Megumi-chan?“

„Ich kenne ihn viel länger als du!“, fuhr sie die Amerikanerin an.

Entsetzt spürte ich, wie mein Herzschlag aussetzte. Hatte ich das wirklich gehört? Ich sah zu Megumi herüber, die wütend zu Boden sah. „Ist doch wahr. Sie kommt hier einfach her und glaubt sie kann dich einfach so haben. Das ist nicht fair. Das ist einfach nicht fair. Ich war viel früher da.“

„Akiiiraaaaa! Was hast du mit Megumi-chan angestellt? Das glaube ich nicht, das glaube ich einfach nicht!“

„Was ein wenig Pickel ausdrücken doch alles erreichen kann“, murmelte Yoshi amüsiert. Er legte einen Arm um Mamoru und drückte ihn weiter. „Komm, Sempai. Das kannst du später unter vier Augen mit ihm klären. Yohko-chan?“

„Bin schon auf dem Weg.“

„Hey, Leute, geht doch nicht weg! Mist!“ Was passierte hier gerade? Und warum starrten mich nun noch mehr Leute an?

„Megumi, ich…“

„Du brauchst nicht sofort zu antworten. Aber wenn wir Mittagspause haben, dann…“ Sie wurde rot, ließ mich los und lief in die Halle mit den Schuhboxen.

Vielleicht hätte ich gleich etwas erwidern sollen. Vielleicht hätte ich mir nie die Pickel ausdrücken lassen dürfen. Vielleicht hätte ich ihr sagen sollen, dass ich umfallen würde wie eine gefällte Eiche, wenn sie mich los ließ. Verdammt, die Wunde raubte mir eine Menge Kraft. Ich schlug hart auf dem Boden auf. Mein Blick verschwamm. Alle Geräusche erklangen, als kämen sie aus weiter Ferne, und dann durch fünf Kilo Watte.

„Akira? Akira?“ Das war Kei.

„Was ist denn hier passiert? Komm, ich helfe dir.“ Doitsu.

Ich fühlte mich gepackt und hochgehoben. Eine sichere Hand legte sich genau auf meinen Verband. Das musste Doitsu sein. Er hatte mir die Wunde in der letzten Nacht verarztet. „Mist“, murmelte er und ich wusste Bescheid. „Akira, mach jetzt bloß nicht schlapp.“

„Was ist denn mit ihm? Warum ist er zusammengebrochen?“, klang Joans Stimme auf.

„Na, wenn dir das hübscheste Mädchen der Schule plötzlich ihre Liebe gesteht, würdest du wohl auch zusammenklappen“, sagte Kei. Und so wie er es sagte, klang es als würde er es wirklich glauben. Vielleicht war das sogar der Fall. Ich grinste matt. Nun, zumindest stellte ich mir vor, ich würde es tun. „Danke, Jungs“, murmelte ich. Eigentlich tat es sehr gut, ausnahmsweise mal nicht alleine zu sein.

Zweiter Traum, zweiter Akt

Prolog:

„AKIRA!“

„SCHON GESEHEN!“ Ich beschleunigte hart, nahm meine ganze Kraft zusammen, konzentrierte sie auf einen Moment und raste auf den Gegner zu. Ich zog mein Katana blank, ließ es von Akaris KI aufleuchten, verstärkte es noch mit meiner eigenen Energie und spürte, wie die Pranke des Riesen mich davon wischte wie ein lästiges Insekt. Aber das war kein Problem für mich. Anstatt hart auf dem Erdboden aufzuschlagen benutzte ich ihn als Plattform, stieß mich ab und raste erneut auf den Giganten zu. Diesmal hatte ich die Überraschung auf meiner Seite und zog die mit KI verstärkte Klinge über den Leib meines Gegners. Ich spaltete ihn quer, passierte ihn und fing mich in der Luft ab.

„AKIRA!“

„Was denn? Ich habe ihn doch erwischt!“, blaffte ich und ruckte hoch. Mir wurde sofort schwindlig und ich sackte wieder zurück. Verdammt. Das war nicht die Dämonenwelt. Das war die Realität. Genauer gesagt, die Krankenstation unserer Schule.

Langsam fielen die einzelnen Erinnerungsfragmente an ihren Platz. Ach ja. Der Kampf in der letzten Nacht gegen die befallenen Dämonen. Meine Verletzung. Dann der Gang zur Schule mit Megumi an meiner Seite und… Ich hustete erschrocken. Hatte sie mir wirklich mehr oder weniger ihre Liebe gestanden? Mir, der Otomo-Pest? Und hatte Joan das gleiche versucht?“

„Hör auf dich zu bewegen“, tadelte Ino-sensei. „Ist ja gleich vorbei.“

Ich öffnete blinzelnd ein Auge. Tatsächlich. Meine Cousine Sakura. Sie hielt beide Hände gut eine Handbreit über meiner Wunde und versorgte sie mit KI-Energie. Ich konnte dabei zusehen wie sich die klaffende Verletzung nach und nach schloss.

„Was ist…?“

„Ich werde mal ein ernstes Wort mit Mako-chan reden. Die Wunde hätte sofort geschlossen werden müssen. Du hast wahnsinniges Glück, dass das Einhorn nicht deine Lunge perforiert hat.“

„Einhorn? Hä?“

„Denk einfach nicht drüber nach, Kei, okay?“

„Aber Doitsu, Ino-sensei schließt die Wunde gerade mit was? Nur ihren leuchtenden Händen?“

Tadelnd sah Sakura zur Seite. „Warum ist er noch hier?“

„Weil er ohne Akira nicht gehen wird.“

„Nimm ihm sein Gedächtnis, Doitsu.“

„Habe ich schon versucht. Klappt nicht.“

„Oh. Ist er so stark? Danach sieht er gar nicht aus“, stellte sie amüsiert fest. Sie deutete zu Joan Reilley, die auf einem anderen Bett saß und blicklos in den Raum starrte. „Bei ihr hat es funktioniert?“

„Mehr oder weniger. Sie ist in Trance, bis ich sie wecke. Ich dachte mir, es fällt weniger auf, wenn sie mit reinkommt. Ich werde ihr nachher eine passende Erinnerung geben. Hm, so schlimm hat die Wunde gestern aber nicht ausgesehen. Hast du nichts draufgemacht, Akira?“

„Ich habe heute Morgen eine Heiltinktur drauf gegossen“, erwiderte ich matt.

„Heute Morgen erst? Das war sträflich leichtsinnig.“

„Wir haben nicht mehr so viele, oder?“

„Das heißt aber nicht, dass wir sie nicht benutzen sollen. Wir müssen kampfbereit bleiben, Akira, um jeden Preis“, tadelte Sakura ernst.

Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich das Fleisch schloss und die Haut über die Verletzung zu wachsen begann.

„Das war es schon. Willst du eine Narbe behalten oder soll ich sie ganz schließen? Weißt du, manche Frauen stehen auf Narben.“

„Ich hoffe, ich falle so einer nie in die Hände. Keine Narbe, bitte.“

„Soll ich mich danach noch um dein Auge kümmern?“

„Nein, das ist in Ordnung. Das geht bis morgen von allein weg. Danke, Sakura-chan.“

„Du brauchst dich nicht für eine Selbstverständlichkeit zu bedanken, Akira. Stattdessen hättest du mich gestern rüber rufen sollen, damit ich die Wunde sofort heile.“

„Um zwei Uhr Morgens? Ich bitte dich. Ich kann dich doch nicht…“

„Du sorgst dich um meinen Schlaf, während du versuchst die Welt zu retten. Das ist so dumm, Akira. So entsetzlich dumm.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Versprich mir, dass du diesen Unsinn lässt, ja? Ich bin für dich da. Ich bin für die anderen da. Egal zu welcher Uhrzeit. Versprich mir, dass du dein Leben nicht auf so dumme Art riskierst.“

Gut, wenn ich mal ganz ruhig und unvoreingenommen drüber nachdachte, dann war ich leichtsinnig gewesen. Und ich hätte mir eine Menge Schmerzen ersparen können. „Okay, ich sehe es ein.“

„Das ist mein Lieblingscousin“, sagte Sakura erfreut und tätschelte mir den Kopf.

Als sie Kei direkt ansah, wich der junge Mann hastig einen Schritt zurück. „Und was dich angeht, kleiner Mann, du willst doch sicher nicht sterben.“

„Kommt drauf an. Wenn Ino-sensei mich umbringt, wäre es das beinahe schon wert.“

„Kei“, tadelte ich.

„Habe ja schon verstanden. Ja, Ino-sensei, von mir erfährt niemand ein Wort. Versprochen.“

„Ich denke, dann können wir weitermachen.“ Mit einer eleganten Handbewegung, die den Krieger in Doitsu verriet, schnippte er vor Joans Augen.

Der Blick wurde wieder klar. Sie zwinkerte ein paar Mal.

„Sorry. Ich muss weggenickt sein. Hm? Du ziehst dein Hemd schon wieder an? Und ich dachte, ich würde einen Ausgleich für gestern kriegen, Aki-chan.“

„Ausgleich für gestern?“, argwöhnte meine Cousine.

„Ist ne lange Geschichte, Sakura. Kann ich dann in meine Klasse gehen?“

„Hm!“ Ihr Blick war eindeutig. Das war der berüchtigte „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“-Blick. „Wir reden später weiter.“

Ich erhob mich, zog die Uniformjacke wieder an und hakte den Mandarinkragen ein.

„Hey, dein Make-up hält immer noch. Beeindruckende Sorte. Ich sollte mir von deiner Schwester die Marke verraten lassen“, scherzte Doitsu.

„Ha, ha. Sehr witzig.“

„Soll ich dich stützen, Aki-chan?“

„Ich denke, es geht so. Ich…“

„Doitsu. Kei. Ihr geht mit ihm, verstanden?“

„Jawohl, Ino-Sensei.“

„Darf ich dann wenigstens deine Tasche tragen, Aki-chan? Ich kann mich doch nicht diesem blassen kleinen Ding geschlagen geben.“ Sie zwinkerte mir zu.

Oh nein, das hatte ich nicht verdient. Warum stürzte ich von einer Welt der Isolation in eine Welt der Überbeanspruchung? Was hatte ich dem Universum getan?
 

1.

Mein Leben hatte sich verändert. Meine Welt hatte sich verändert. Ach was. Das ganze Universum hatte sich verändert. Ich war es gewohnt, angestarrt zu werden, ich war hasserfüllte Blicke gewohnt, auch gleichgültige. Aber gierige waren mir neu.

Ich hatte niemals, nie, nie ahnen können, wie schnell Menschen ihre Meinung von einem Moment zum anderen ändern konnten, wenn ein wenig Make-up im Spiel war.

Noch waren es nur Blicke, aber was, wenn sie sich sammelten, auf mich stürzten und in Fetzen rissen? Oder noch schlimmer, nur meine Schuluniform? Reichte es nicht, dass manche Mädchen mich mit einem Blick ansahen als wollten sie mich ausziehen? Was war los? War ich das neueste Spielzeug der Schule?

Und warum sah mich ausgerechnet Ami immer so entgeistert an? Wir hatten zusammen gekämpft, waren seit über drei Jahren ein Team, ein sehr erfolgreiches Team, und jetzt sollte sich all das verändert haben – wegen etwas Schminke im Gesicht? Und drei Kilo Pickeln weniger, zugegeben.

Okay, meine Funktion als Köder konnte ich auf diese Art auch erfüllen. Zugegeben. Vielleicht sogar noch besser. Aber wollte ich das überhaupt? Letztendlich hatte ich in meiner Zeit als Otomo-Pest mit niemanden sprechen müssen. Das war immerhin von Vorteil gewesen.

Und dann diese Blicke von Hina. Sie sah mich an als wäre ich eine fliegende Elfe, unendlich hübsch und unendlich zerbrechlich. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, dass sie einen Fanclub für mich gründen würde. Ein entsetzlicher Gedanke.

„Warte mal, Akira.“ Yoshi legte eine Hand auf meine Schulter und drückte mich auf den Sitz zurück, gerade als ich hatte aufstehen wollen.

„Es ist Mittag. Ich bin verabredet. Was willst du?“

Grinsend hielt er eine Tube Haargel hoch. „Gib mir nur eine Minute, um aus dieser Ruine eine Frisur zu machen. Du willst doch topp aussehen, wenn du Megumi-chan unter die Augen trittst, oder?“

„Was soll das denn? Ist das eine Massage, oder ein Frisurenstiling?“

„Oh, ich dachte, der Strubbel-Look würde dir am besten stehen. Frech und wild. Glatt nach hinten können wir auch mal ausprobieren. Später. Jetzt geh mal lieber nach oben.“

„Hm! Hast du nen Spiegel?“

„Was denn? Traust du meiner Arbeit nicht, Akira?“

„Niedlich. Warst du das, Yoshi? Du hast ja richtig Geschmack. So wirkt er ja wie ein richtiger Draufgänger.“

„Ja, ich habe schon verborgene Talente, Joan. Soll ich dich auch mal stylen? Dazu müsstest du dein Haar aber etwas abschneiden. Dann brauchen wir magentafarbene Tönung und etwas Haarspray.“

„Aus rot mach rot? Interessant. Vielleicht lass ich dich wirklich mal an meine Haare. Also, Akira, sind wir dann soweit?“

„Soweit für was?“

„Na, denkst du, ich lass dich mit meiner Konkurrenz alleine? Ich komme natürlich mit. Ich lass mir doch nicht die Butter vom Brot nehmen.“

Ich ächzte verzweifelt auf. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Aki-chan, ich habe selten etwas ernster gemeint.“

Verdammt, ich glaubte ihr. Ich glaubte ihr wirklich. Und das, obwohl sie mich für Kuroi Akuma hielt? Frauen waren jedenfalls eine Personengruppe, die ich nie, nie, niemals verstehen würde. Und zum Schutz meiner geistigen Gesundheit sollte ich das wohl auch besser nie versuchen.
 

„Jetzt hätte ich gerne die Theatermaske von Kuroi Akuma“, murmelte ich leise und unterdrückte den Impuls, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich war es gewohnt, den Spießrutenlauf zu nehmen. Ich war es gewohnt, dass die anderen Schüler aus Gleichgültigkeit oder weil die Gelegenheit so günstig war, auf mich herab sahen. Aber das, daran konnte sich niemand gewöhnen.

„Du musst nicht mitkommen. Aki-chan und ich schaffen das ganz alleine.“

„Von wegen. Einer muss ja dabei sein und dich festhalten, bevor du da oben Unsinn anstellst, Joan“, erwiderte Yoshi grinsend.

Er klopfte mir auf die Schulter. „Gewöhn dich dran. Du bist jetzt eine der süßen Jungs der Schule, und es wird eine lange Zeit so bleiben. Willst du, dass ich dir eine Narbe verpasse? Obwohl, es gibt genügend Mädchen, die eine Narbe an einem Mann als Ausrede nutzen, um in seiner Nähe sein zu können. Nach dem Motto, sie ertragen seine Verletzung stoisch und es wäre wahre, reine Liebe.“

„Dann lassen wir das doch besser“, erwiderte ich.

„Willst du etwas Spaß haben? Mach es mir einfach nach, ja?“ Yoshi grinste mich an, dann sah er zu einer Gruppe Mädchen herüber. Die drei Mädchen aus dem Jahrgang über uns begannen übergangslos zu kreischen. Eine fiel in Ohnmacht.

„Was hast du getan?“, rief ich entsetzt. Hatte er KI-Waffen eingesetzt? Hier, in der Schule? Oh, dieser… Yoshi, verdammt!

„Ich habe gezwinkert. Das klappt jedes Mal. Vergiss nicht, ich bin auch einer der süßen Jungs.“

„Ach, das“, kam es von Joan. „Alter Hut. So was kann ich auch. Seht ihr die beiden da drüben?“ Sie legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen und lächelte.

Einer der beiden bedauernswerten Burschen sackte gleich bis zum Boden durch, den anderen stoppte wenigstens die Wand.

„Lasst den Quatsch, alle beide“, mahnte ich. „Und ich werde einen Teufel tun und… Hiroko-sempai! Du weißt nicht zufällig, wo Hatake-sempai gerade ist?“

„A-akira! Mamoru ist unten in der Cafeteria. Er wollte das neue F-Menu ausprobieren.“

„Sehr gut. Danke, Sempai.“ Ich neigte leicht das Haupt und gestattete mir den Luxus eines Lächelns.

„Hiroko! Was ist mit dir? Geht es dir gut?“

„Du bist mir einer, Akira. Wir sollen so was nicht machen, und du mordest hier selbst Frauenherzen.“ Yoshi knuffte mich schmerzhaft gegen die Schulter.

Ich fühlte, wie sich erneut ein Schweißfilm auf meiner Stirn bildete. „Bloß schnell hier weg. Dieses Make-up ist ja gefährlich.“

„Nicht das Make-up ist gefährlich“, sagte Joan und hängte sich an meinen linken Arm. „Du bist es. Und irgendwie mag ich das. Mein großer, böser Tiger.“

Ich schluckte hart. Warum wurde mir vom Schicksal diese schwere Prüfung auferlegt? Irgendjemand im Göttlichen musste mich entweder wirklich hassen oder sich wirklich köstlich über mich amüsieren. Mist.
 

Auf dem Dach wurden wir bereits erwartet. Megumi stand am Maschendrahtzaun und sah auf die Straße hinab. Sie sah zu uns herüber. „Hallo, Akira.“ Dann begannen sich ihre Augen zu verdüstern. „Was macht die denn hier?“

„Hallo? Ich bin auch noch da. Oder zähle ich nicht?“, beschwerte sich Yoshi amüsiert.

„Was denn, was denn, Miss Klassenprinzessin. Hast du noch nie was von Konkurrenz gehört? Denkst du, du bist die Einzige, die ihre Rechte an Aki-chan durchdrücken will?“

„D-durchdrücken? Wie gemein. Du zwingst ihn? Wie fies muss man sein, um so etwas tun zu können?“

„Das sagt die Richtige. Nutzt hier ihren Status als Yohkos Freundin aus und will sich meinen Aki-chan schnappen. Hm, im Gegensatz zu dir mochte ich ihn schon, bevor er gut aussah.“

„Danke, jetzt weiß ich, dass ich vorher hässlich war. Sehr freundlich.“

„Sei ein Mann und ertrag es, okay? Also, Schätzchen, bist du bereit zu einem harten Fight?“

„Denkst du, ich gebe mich dir geschlagen? Ausgerechnet dir? Ha!“

„Okay, Auszeit. Auszeit. Können wir an dieser Stelle abbrechen? Ich bin hier hochgekommen, um mit Uno-kun zu reden, klar? Also, ihr zwei wartet hier schön brav, während ich rüber gehe und ihr meine Antwort gebe, verstanden?“

„Aber das ist unfair. Ich kann dann gar nicht drauf reagieren und…“

„Meine Entscheidung ist bereits gefallen. Daran kannst du nichts mehr ändern, Joan.“

„Und wie lautet die Entscheidung?“

„Du verlangst von mir, dass ich sie zuerst dir sage? Das ist nicht sehr nett, Miss Reilley.“

Frustriert blies sie die Wangen auf. „Okay, okay, habe kapiert.“

Yoshi legte der Amerikanerin eine Hand auf die Schulter. „Geh nur, Akira. Wir beide warten hier.“

„Wenigstens etwas“, brummte ich.

Langsam kam ich Megumi entgegen. „Weißt du, es tut mir wirklich Leid, was ich jetzt tun muss, aber wir wollen doch ungestört reden, oder?“ Ich trat an sie heran und schloss sie in die Arme. Dabei hob ich sie leicht an.

„A-akira!“

„Es ist nicht was du denkst, Uno-kun.“ Ich ging leicht in die Hocke, konzentrierte mein KI und sprang.

Yoshis Lachen klang hinter mir auf und ich hörte Joan erstaunlich undamenhaft fluchen.
 

Mit Megumi in den Armen sprang ich auf das Dach des Nebengebäudes. Und von hier noch ein Dach weiter. Erst weit außerhalb des Schulgeländes stoppte ich.

„Wenn du mich jetzt hasst, habe ich es wohl nicht anders verdient“, erwiderte ich und ließ Megumi auf ihre Füße herab. Sie taumelte, also griff ich wieder zu, um sie zu stützen.

„Oh. Das war toll! Ich meine, das war… Das war phantastisch! Akira, woher kannst du so was?“

Misstrauisch hob ich die Augenbrauen. Sie hatte sich amüsiert?

„Ach, das… Es ist nichts weiter als ein wenig KI-Beherrschung. Ich benutze es schon seit ein paar Jahren und…“

„Du meinst, du bist wirklich Kuroi Akuma, der schwarze Teufel? Der Vigilant, der durch unsere Straßen zieht und Verbrecher züchtigt?“

„Macht mich das jetzt interessanter oder gefährlicher?“

Langsam löste sie sich von mir. Hm, ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie immer noch in Armen gehalten hatte. Vielleicht hatte ich es auch nur ignoriert. Es hatte sich einfach zu gut angefühlt.

„Weißt du, Akira, man erzählt sich nicht viel Gutes über den Kuroi Akuma. Für die Verbrechensbekämpfung haben wir die Polizei, und wenn ein Bürger mal selbst eine Verhaftung durchführt oder die Polizei dabei unterstützt, ist nichts dagegen zu sagen. Aber sich selbst zur Gerechtigkeit in Person aufzuschwingen und selbst zu strafen ist nicht der richtige Weg.“

„Hör mal, Megumi, ich…“

„Schon klar. Ich weiß, dass du so etwas nie machen würdest.“ Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte. „Andererseits weiß ich, dass man im Eifer des Gefechts schon mal jemanden verletzen kann.“

Betreten sah ich zu Boden. HA! Verletzen? Wenn man es genau nahm, dann war ich ein Metzler und ein Massenmörder. Ein Leben in Isolation, fernab von Freunden und Menschlichkeit war da noch eine geringe Strafe gewesen. Ich war es, durch dessen Hände bereits über dreihundert Daina gestorben waren. Ich war es, der…

„Du bist also wirklich Kuroi Akuma“, stellte sie fest. Sie verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken und wanderte ein paar Schritte über das Dach. Dabei wandte sie mir den Rücken zu.

„Aber das war es noch nicht, oder? Warum bist du mit mir gesprungen? Für wen spielst du hier den Lockvogel? Warum zeigst du allen, was du kannst? Hast du Angst, du bist jetzt, wo dein Gesicht niedlich geworden ist, kein mögliches Ziel mehr? Und wenn ja, ein Ziel für wen?“

Mist, die Kleine war mir ein wenig zu schlau. Wenn sie jetzt noch ein wenig Phantasie hatte, dann konnte sie sich die ganze Geschichte selbst zusammenreimen.

„Was ist dein Interesse an mir, Megumi?“, fragte ich direkt. „Welche Rolle hast du in dieser Tragödie?“

„Tragödie? Es ist eher eine Komödie. Und du spielst die männliche Hauptrolle.“

„Sehr komisch. Bist du dann die weibliche Hauptrolle?“

„Nur wenn ich gut aufpasse und Joan nicht an mir vorbeikommen lasse.“ Sie wandte den Kopf zu mir herum und lächelte.

Viel zu süß und viel zu niedlich. Konnte es so eine Frau wirklich geben?

„Aber die Gefahr besteht wohl nicht. Sie weiß ja noch weniger als ich. Sie denkt immer noch, du wärst nur Kuroi Akuma. Nun, ich weiß ein wenig mehr. Vater hat es mal angedeutet und… Kannst du mir es erklären, Akira?“

Ich schluckte hart. Ihr Vater? Steven Uno war ein… Kollege meines Vaters traf es wohl. Er war ein Insider, aber ich hatte nicht gewusst, dass er Zuhause zur Indiskretion neigte.

Wenn er ihr zuviel erzählt hatte, konnte sie das gefährden.

Aber war Megumi das nicht ohnehin schon? Immerhin war sie seine Tochter, und er war ein legitimes Ziel unserer Gegner. Sobald ich als Lockvogel versagte.

„Was willst du von mir, Megumi?“, antwortete ich mit rauer Stimme. „Was willst du nur von mir?“

Sie fuhr herum. Und mit Entsetzen im Blick sah sie mich an. „Du hast es vergessen?“

Schnell kam sie näher, bis uns nur noch eine Handbreite trennte. „Du hast es wirklich vergessen? Akiraaaaaa, du kannst es doch nicht vergessen haben!“

Ihr trauriger, ein wenig verletzter Blick traf mich tief, bis in die Abgründe meiner Seele. War da wirklich etwas, was mich gerade ins Abseits stellte? Ein Erlebnis, an das sie sich erinnerte, ich aber nicht? „Tut mir Leid, ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Ihre Rechte legte sich sanft auf meine Wange. „Akira… Idiot!“

Die schallende Ohrfeige tat weh, aber ich glaubte, sie irgendwie verdient zu haben. Außerdem schmerzte es mich viel mehr, dass sich das Mädchen umdrehte und von mir abwandte.

„Okay, damit du nicht dumm stirbst! Du hast versprochen mich zu heiraten.“

„WAS?“

„Was ist so schlimm daran? Musst du hier gleich in Panik ausbrechen?“

„Darum geht es doch gar nicht! Wann habe ich das denn getan?“

„Damals, als wir zusammen in die Grundschule gegangen sind. Du hast gesagt, du beschützt mich und du wirst mich heiraten, wenn wir groß sind.“

Ich überschlug die Zahlen kurz im Kopf. „Megumi, das ist fast elf Jahre her. Wir waren Kinder.“

„Und das gleiche hast du mir vor der Mittelstufe versprochen. Und in der zweiten Klasse der Mittelstufe hast du gesagt, wenn du bis zur Oberstufe überlebst, würdest du dein Versprechen wahr machen.“

Ich fühlte wie meine Knie weich wurden. Ups, das fiel ziemlich genau mit dem Beginn der Kämpfe zusammen. Seitdem war eine Menge passiert. Ich war hart und kalt geworden und hatte es genossen, andere Menschen auf Distanz zu halten und… Und, verdammter Mist, ich hatte es ihr wirklich versprochen. Nur war ich irgendwann auf die superkluge Idee gekommen, dass sie ohne mich besser dran war. Ich hatte versucht, die Versprechen zu vergessen. Ihr aus dem Weg zu gehen. Hatte beides super geklappt, bis heute.

Es war einfach zuviel passiert. Und es war noch nicht vorbei. „Megumi…“

„Du erinnerst dich wieder?“, fragte sie mit dünner Stimme. „Und? Erneuerst du dein Versprechen? Oder hast du noch nicht lange genug überlebt? Wird es noch schwerer für dich?“ Langsam legte sie die Arme um ihren Körper, als würde sie frieren.

Ich zögerte. Ich hatte es ihr versprochen, zugegeben. Und damals hatte ich es ernst gemeint. Aber wenn ich auf meine Hände sah, dann glaubte ich, das viele Blut an ihnen herab fließen zu sehen und… Und ich war noch lange nicht mit töten fertig. Warum musste ich so schwer tragen? Warum? Konnte ich Megumi unter diesen Umständen an mich binden? Durfte ich das überhaupt? „Ich…“

„Erklär es mir, bitte. Erklär mir, was für dich wichtiger ist als ich es bin. Erklär mir, wofür du mich aufgibst.“

Ich wollte widersprechen. Ich wollte sagen, dass ich sie nicht aufgab. Aber darauf lief es wohl letztendlich hinaus. Halb wandte ich mich ab. „Mamoru ist alles an sich ein feiner Kerl.“

Nun geschah alles sehr schnell. Ich sah wie Megumi herum wirbelte, Tränen in den Augen, und die Rechte erneut erhoben, um mir die zweite, wohl verdiente Ohrfeige zu verpassen.

Ich sah, wie neben mir eine zweite Sonne aufging. Und ich reagierte.

Mit einem schnellen Schritt war ich bei ihr, drückte ihre Schlaghand weg und warf mich mit ihr zu Boden. Wir rollten einige Zeit und stießen gegen den Zaun. Dann drückte ich ihren Kopf gegen meine Schulter und hoffte, sie gut genug schützen zu können.

Es wurde grell.
 

„Du solltest deine Deckung nicht so sehr vernachlässigen, Akira“, klang eine spöttische Stimme auf.

Ich sah auf. Gut, ich war noch nicht tot. Wir waren noch nicht tot. Und der Grund dafür war offensichtlich ein niedliches junges Mädchen in einem herzerweichend niedlichen blauen Minirock und dazu passendem Matrosenhemd. Sie hatte lange, gut geformte Beine, und eines nahm sie gerade wieder langsam ab. Direkt vor ihr sank ein KI-Biest in sich zusammen, einen kräftigen Abdruck ihrer kniehohen Stiefel in der Stirn. Noch bevor das Monster den Boden berührte, leuchtete es ein zweites Mal auf und verschwand in einem Regen aus Licht.

„Ich bin nicht immer zur Stelle, um dich zu retten.“

Ich richtete mich auf und half dabei Megumi hoch. „Ist es sicher? Wurde es auf mich oder auf Akira Otomo angesetzt?“

Das Mädchen lachte hoch und spöttisch. „Es ist deinen dämlichen Sprüngen gefolgt. Du hättest wissen sollen, dass KI-Biester einer solchen Zurschaustellung von Macht nicht widerstehen können. Zum Glück habe ich es auch gesehen. Dummkopf.“

Ich trat ein paar schnelle Schritte vor, und umarmte sie von hinten. Dabei rieb ich auch meine Wange an ihrer. „Danke für die Lebensrettung. Du bist mein absoluter Liebling, das weißt du doch.“

„Ach. Schmeicheleien nützen dir nichts, wenn du tot bist, Akira.“

„Ich bin aber nicht tot, und du bist schuld daran.“

„Ich weiß, ich sollte so etwas nicht sagen, nachdem sie unser Leben gerettet hat, aber… Wer ist das und in welcher Beziehung stehst du zu ihr, Akira? Warum bist du so vertraut mit ihr?“

Nanu? War sie eifersüchtig? Das versprach lustig zu werden. Ich wandte mich um und drehte dabei auch das Mädchen um.

Amüsiert beobachtete ich, wie Megumi die Kinnlade herabsackte.

„Ma… Ma… MAKOTO?“

Er lächelte lieb. „Hallo, Megu-chan.“

„Aber… Aber… Warum? Du hast uns gerettet und…“

„Gerettet habe ich euch, weil ihr beide jetzt sonst tot wärt.“

„…und du trägst ein Matrosenkostüm?“

Makoto errötete. „Äh, der Minirock bietet mir größere Freiheit bei meinen Attacken. Akira, kannst du nicht mal aufhören mich zu knuddeln?“

„Was denn, was denn? Wenn du hier so niedlich rum läufst, da kann es halt passieren, dass dir ein Mann mit Haut und Haaren verfällt. Außerdem wehrst du dich nicht gerade, oder?“

„Ach… So ist das also… Tja, gegen Makoto-o-nii-chan kann ich nicht gewinnen. Das ist mir jetzt klar. Ich… Ich wünsche euch beiden…“

„M-megumi? Das ist doch nur ein Witz! Wir machen doch nur Spaß.“ Ich ließ meinen Cousin los und schnappte nach Megumis Hand, bevor sie sich mir entziehen konnte. Zusätzlich trat ich vor und… Nun, man konnte mich überraschen. Man konnte mich sogar sehr überraschen. Und, ehrlich gesagt, ich war schon ein paar Mal in geschickte Fallen geführt worden, aber selten waren sie so zerstörerisch wie diese gewesen.

Das wurde mir etwa eine Minute später klar, nach einem langen und intensiven Kuss, der in mir die Frage aufkommen ließ, wer zum Henker Megumi das küssen beigebracht hatte.

„Wenn ihr zwei lieber allein sein wollt…“, begann Makoto spöttisch.

„Danke, dass du dein Versprechen erneuert hast, Akira“, hauchte Megumi und sah mich mit einem Blick an, der sehr, sehr sicher verhinderte, dass ich ihr widersprach, leugnete oder sonst etwas Dummes tat.

„Mist.“

„Also, Akira, Makoto-o-nii-chan, reden wir mal Tacheless. Ihr erklärt mir jetzt genau, was hier los ist. Warum Akira den Köder spielt und wieso die halbe Welt hinter euch her ist. Dann übersehe ich großzügig wie ich bin dieses wirklich nette Matrosenkostüm.“

„Du willst die Wahrheit wissen?“, höhnte Makoto. „Du kannst die Wahrheit doch gar nicht ertragen.“

„Hm“, machte sie und setzte sich auf den Boden. Es war eine sehr sittsame, damenhafte Pose, und für einen Moment stellte ich sie mir in einem hellen Kimono auf einer grünen Wiese vor und…

„Okay. Wir können ja immer noch dein Gedächtnis löschen“, brummte Makoto. Er griff nach seinem Rocksaum, zog ihn nach oben, und stand einen Augenblick später in der Sportkleidung für Männer da, die unsere Schule befahl. Er setzte sich ihr gegenüber, raffte sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz und lächelte dünn. „Die lange oder die kurze Version?“

„Die lange.“

„Du hast es so gewollt“, murmelte Makoto und befahl mir, mich hinzusetzen, mit einem einzigen scharfen Blick.
 

2.

„Um zu verstehen, worum es hier geht, müssen wir zwanzig- bis dreißigtausend Jahre in die Vergangenheit“, erklärte Makoto ernst.

„Mit Kleinigkeiten gibst du dich wohl gar nicht erst ab, oder?“, spöttelte Megumi. Unwillkürlich glitt ihre Hand auf meine und drückte sie. Ein wenig Angst hatte sie schon.

„Es liegt an der Geschichte. Hast du schon mal was von Atlantis, Mu, Lemur oder der Doggerbank gehört?“

„Das sind Mythen über versunkene Kontinente, auf denen einstmals hoch stehende Völker gelebt haben sollen. Sie sollen technologisch weiter fortgeschritten gewesen sein als wir.“

„Bis auf die Doggerbank. Das ist eine Geländeformation in der Nordsee, einem bis zu hundert Meter tiefen Seegebiet im Nordatlantik. Ursprünglich war dieses Gelände mal Festland, aber als der Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit anstieg, wurde es überschwemmt. Kannst du dir vorstellen, dass dieses Phänomen nicht nur auf die europäische Küste beschränkt war?“

Makoto machte eine alles umfassende Geste. „Es gibt einige Gebiete auf dieser Welt, die nach der Eiszeit überflutet wurden. Es gibt auch etliche Gebiete, die durch tektonische Bewegungen der Kontinentalplatten versanken oder aufstiegen. Plötzlich von der Last des Packeis befreit – und für die Erde sind ein paar tausend Jahre plötzlich – kam es zu tektonischen Verwerfungen und etlichen Verheerungen. Gerade in der Pazifik-Region, mit der gigantischen pazifischen Platte kam es zu massiven Bewegungen.

Es gab einmal Zeiten, in denen man zwischen Sibirien und Alaska zu Fuß verkehren konnte, weil es die Beringstraße damals nicht gab. Die Kontinente hingen zusammen. Ähnlich ist es mit Australien und dem ostasiatischen Festland. Das Schwarze Meer, ein salziges Binnenmeer in Westasien, war zu dem damaligen Zeitpunkt nur eine Senke, die erst durch Beben dem Salzwasser ausgeliefert wurde und über Jahrtausende zu dem Meer wuchs, wie wir es heute auf dem Globus sehen. Und das sind nur ein paar Beispiele.“

„Aha. Und was hat das mit euch beiden zu tun? Ihr seid definitiv keine zwanzigtausend Jahre alt. Und wenn doch habt ihr euch gut gehalten.“

Ich wechselte einen amüsierten Blick mit Makoto.

„Nun, wir sind keine zwanzigtausend Jahre alt, zugegeben. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Kannst du dir vorstellen, dass es Mu, Lemur oder Atlantis wirklich gegeben hat? Dass es auf ihnen Hochkulturen gegeben hat, die unserer jetzigen Kultur überlegen waren?

Oder vielmehr, dass es einen Kontinent gab, der später Mu, Lemur oder Atlantis genannt wurde, und auf dem es eine einzige Hochkultur gab, in einer klimatisch attraktiven Zone, die weit weg vom massiven Packeis des Nord- und Südpols war? In einer lebensfähigen Zone, weitab des rauen Lebens der Cro Magnons direkt am Packeis?“

„Vorstellen kann ich es mir, ja.“

„Nun, um die Sache abzukürzen, die Legende ist wahr.“

„Ach.“

„Ja. Ach.“

„War ja klar, dass es darauf hinausläuft. Und? Wie geht es weiter? Schreibst du ein Buch drüber oder kommst du endlich zum Kern der Sache?“

„Ha, ha. Sehr witzig. Also, es gab diesen Kontinent. Das heißt, eigentlich gibt es ihn immer noch, aber das zu erklären führt zu weit. Tatsache ist, es gab diese Hochkultur, und diese Hochkultur bildete diverse Ableger in klimatisch heißen Zonen der Erde, hauptsächlich in den Küstenregionen rund um den Äquator.“

„Regionen, die später überschwemmt wurden.“

„Richtig. Diese Hochkultur nannte sich selbst Dai, die Hohen. Es kam wie es kommen musste. Die besiedelbaren Regionen boten den Dai bald keinen Platz mehr. Oder ihre Abenteuerlust überwältigte sie. Das Volk der Dai spaltete sich auf. Die einen, die Daina, blieben auf der Erde. Die anderen, die sich fortan Daima nannten, breiteten sich über das Universum aus.“

„Ach. Gib mir doch bitte mal ne Sekunde zum Luftholen. Das klingt alles so abstrakt wie von einem schlechten Autor runtergekliert, aber trotzdem wird mir schwindlig, wenn ich es höre.“

„Soll ich dir vielleicht einen Kaffee bringen?“, scherzte Makoto.

„Hör auf zu spotten. Kann weitergehen.“

„Hm. Wie ich bereits sagte, die Daima breiteten sich über Universum aus. Oder besser gesagt, über die nähere stellare Region. Wir schätzen, dass diese Wesen, die wir manchmal die Erste Menschheit nennen, eine Raumkugel mit einem Durchmesser von einhundertzwanzig Lichtjahren besiedelt und erforscht haben.

Übrigens kamen ständig Daima nach, die von der Erde aus ins Unbekannte aufbrachen.

Aber irgendwann nannten diese Abenteuerlustigen sich nur noch Daina, um ihre Verbundenheit mit der Urheimat und mit dem Volk der Dai an sich auszudrücken.

Und du weißt ja was passiert, wenn jemand etwas nicht versteht oder partout missverstehen will, nicht?“

„Du meinst so wie mit unseren Mitschülern und Akira, richtig? Es gab Krieg.“

„Aber hallo. Es gab Krieg. Wirklich fetten, saftigen Krieg. Wer angefangen hat, nun, wen interessiert es? Wichtig für uns ist nur zu wissen, dass nur sehr wenige Daina den Krieg überlebt haben. Und das auch nur, weil sie ihre Urheimat, Lemur, Mu oder Atlantis, selbst vernichteten. Mehr oder weniger. Damit war Ruhe im Karton, und die übrigen Daima und Daina draußen im Universum konnten sich ganz darauf konzentrieren, sich selbst die Köpfe einzuschlagen.“

„Tolle Geschichte. Willst du nicht ein Buch, nein, noch besser, eine Serie darüber schreiben? Würde bestimmt gut kommen und sich toll verkaufen. Du müsstest nur noch ein paar Details einfügen wie einen Oberbösen, einen Orden der Beschützer für Recht und Ordnung, den ewigen Kampf zwischen Licht und Schatten und…“

„Megumi“, mahnte ich.

„Okay. Bin ja schon still. Erzähl weiter, Mako-o-nii-chan.“

„Während dieses Krieges wurde eine Waffe eingesetzt. Sie nennt sich Liberty-Virus. Es ist ein teuflischer, kleiner biologischer Kampfstoff, der in einem Daina-Gehirn etwa folgendes anrichtet. Er perforiert dir die Birne.“

„Ach, wie nett. Grausig ist das.“

„Ja, grausig. Aber das richtig grausige ist, er perforiert dir das Hirn gezielt. Es gibt da einige Sektionen in deinem Kopf, die für das Gefühl da sind, für Emotionen, für Moral und Anstand. Für Maßhaltung, soziales Verhalten und dergleichen. Der Liberty-Virus zerfrisst gezielt diese Zentren. Darüber hinaus stimuliert er die Zirbeldrüse. Wir wissen nichts über die Gründe hierfür, aber die Folge ist… Nun, Daina mit Superkräften, wenn du es so willst.“

„Aha. Enthemmt, keine Moral, keine soziale Bindung und Superkräfte. Klingt für mich wie die ultimative Bedrohung.“

„Etwas in der Art. Womit wir in unsere Gegenwart springen. Es gibt auf unserer Welt ein Volk, das sich selbst Dämonen nennt. Sie… Nun, sie leben schon länger auf der Erde als die Daina, und sie haben die Daina und die Daima bei ihrem Tun beobachtet. Mit steigendem Entsetzen, wenn ich das mal anmerken darf. Als die Daina ausgelöscht wurden – okay, fast ausgelöscht wurden, waren es die Dämonen, welche die Daina über die Welt verstreuten und sie zurück in die Primitivität führten. Das war nicht unbedingt eine Strafe, vielmehr eine Schutzfunktion, um sie fortan vor den Daima zu bewahren.

Danach wurden sie zu den Nachlassbewahrern der Daina und übernahmen Atlantis, den Kontinent.“

„Der eigentlich vernichtet sein sollte.“

„Eigentlich. Aber die Daina hatten ihn lediglich in einer eigenen Realität eingebettet.“

„Klingt nach dem Bermudadreieck, oder?“

„Etwas in der Art, ja.“

Ich hob eine Hand. „Wie du dir sicher denken kannst, sind wir Daina. Genauer gesagt Makotos und meine Familie sind mehr oder weniger direkte Nachkommen der Daina. Aber durch die Vermischung über die Jahrtausende mit den Cro Magnon sind wir immun gegen den Liberty-Virus geworden. Was gerade jetzt sehr nützlich ist, denn die Dämonen sind es nicht.“

„Zumindest die meisten nicht. Einige haben absolute Kontrolle über ihre Körper, andere nicht. Es sind jedoch definitiv zu wenige, um den Kampf zu führen.“

„Aha. War ja nicht schwer zu erraten. Ihr kämpft also. Mit den Dämonen an der Seite, richtig? Nur gegen wen? Die Daima werden wohl kaum zurückgekehrt sein. Aber dieses ganze Gerede von Joan, dieses KI-Biest eben gerade und ein paar weiterer Hinweise sagen mir, dass es auf Atlantis zu finden ist.“

„Soweit richtig. Der Konflikt spielt sich auf dem Phasenverschobenen Kontinent ab. Wir kämpfen dort gegen Daina.“

Megumi runzelte die Stirn. „Und die Daina können den Kontinent, beziehungsweise die Phasenverschiebung nicht gegen den Willen der Dämonen verlassen, oder? Also kämpfen sie gegen ihre Gefängniswärter. Alles, was sie rausschicken können sind diese KI-Biester, denen sie einfache, klar strukturierte Aufgaben geben können und…“

„Moment, Moment, wie viel weißt du schon über die Materie?“, fragte Makoto mit Schweiß auf der Stirn.

„Nur was du mir bisher gesagt hast.“

„Erstaunlich.“

„Beachtlich.“

„Danke. Für Komplimente ist eine Frau immer empfänglich.“ Sie lächelte süß, wirklich süß. „Und? Gibt es einen bestimmten Grund dafür, die Daina in der Phasenverschiebung gefangen zu halten? Sind sie mit dem Liberty-Virus infiziert?“

„Gut kombiniert, Holmes. Vor ungefähr fünf Jahren wurde auf dem Kontinent eine kryogene Anlage entdeckt, oder um es mal simpel auszudrücken: Ein riesiger Kühlschrank für Menschen. In ihm ruhten dreißigtausend Daina. Das Projekt war streng geheim, sodass nicht einmal die Dämonen davon etwas erfuhren. Sie tauten ein paar von ihnen wieder auf und machten die schreckliche Entdeckung, dass zumindest die Daima von diesem Projekt gewusst haben mussten. Nachdem der erste Daina erwacht war, wurden hunderte Bomben in der Anlage gezündet, die den gesamten Bereich mit dem Liberty-Virus überschütteten. Damit nahm das Verhängnis seinen Anfang. Es wurden mehr und mehr Daina wiedererweckt, was gleichbedeutend mit der Infektion des Liberty-Virus war. Mit einer totalen Enthemmung, mit dem Zusammenbruch jeder Struktur, jedes sozialen Verhaltens. Es gibt nur das Recht des Stärkeren und Unterwerfung. Es ist keine nette Wohngegend.“

Ich räusperte mich. „Die Dämonen konnten die Daina nur schwer bekämpfen, gerade auch weil ihre Zahl mit jedem Tag anstieg. Im Moment gehen wir davon aus, dass etwas über siebentausend wiedererweckt wurden. Jeden Tag kommen etwa dreihundert hinzu. Und abgesehen von den höchsten und mächtigsten Dämonen gibt es nur eine Gruppe von Menschen, die sie bekämpfen, besiegen und letztendlich retten können: Uns.“

„Die Nachfahren der Daina“, komplettierte Megumi. „Wie lange geht das schon so?“

„Nicht ganz drei Jahre.“

„Okay, das erklärt einiges. Und wie erfolgreich seid Ihr?“

„Nun, wenn wir es schaffen, die kryogene Anlage zu zerstören, bevor die restlichen dreiundzwanzigtausend Daina erwachen, haben wir eine Chance.“

„Aha. Und Akira spielt in dieser Welt den Lockvogel für die KI-Biester, welche die enthemmten Daina auf euch hetzen? Aber warum?“

Makoto lächelte. „Das hat einen einfachen Grund. Er ist der Stärkste von uns.“ Eine flache Hand traf mich am Hinterkopf. „Und normalerweise lässt er sich nicht so leicht überraschen!“

„Urgs.“

„Ja, urgs du nur. Ohne mich wäre Megumi gestorben, du Superheld. Dich hätte nichts so leicht umgebracht, aber sie…“

Ich spürte einen harten Griff an meinem Kragen und wurde fortgezerrt. Dann sah ich Megumi gezwungenermaßen aus allernächster Nähe direkt in die Augen. Ihr Blick war amüsiert und eiskalt. „Wehe, du denkst auch nur eine Sekunde daran, das jetzt als Ausrede zu benutzen, um mir zu erklären, du würdest mich nur gefährden, wenn wir zusammen sind. Das zieht nämlich nicht bei mir, verstanden?“

„Urgs.“

„Das fasse ich als Einverständnis auf.“ Langsam ließ sie meinen Kragen los.

„Megumi, versteh doch, dass wir…“

„Makoto-o-nii-chan. Da gibt es nichts zu verhandeln. Weißt du nicht, was Liebe ist?“

Ich lüftete meinen Kragen. Übergangslos wurde mir heiß, übel und irgendwie komisch. Frauen. Was für eine herrliche Erfindung.

Betreten sah Makoto zu Boden. „Natürlich weiß ich, was Liebe ist. Ich kann dich also nicht umstimmen, Megumi-chan? Bedenke, wie schwer er es haben wird, wenn in der Schule bekannt wird, dass ihr zwei zusammen seid.“

„Hm… Zugegeben. Und Joan könnte deshalb sehr enttäuscht sein und Akira das Leben schwer machen. Ach, ich bin ja nicht besonders Besitz ergreifend. Wir verheimlichen es einfach. Zumindest bis die Daina besiegt sind, okay?“

Sie lächelte mich an, aber es war ein noch kühleres Lächeln als eine knappe Minute zuvor.

„Das heißt aber nicht, dass du mit ihr rumknutschen darfst, Akira.“

„I-ich…“

„Sonst kriegst du nämlich keine mehr von mir. Überleg es dir.“

Verdammt, wer hatte ihr bloß das küssen beigebracht? Wenn ich den erwischte, würde ich ihn mit Orden überhäufen.

„Küssen? Orden? Was nuschelst du da, Akira?“

„Schon gut, Makoto. Ich werde sie nicht küssen. Aber was ist, wenn sie versucht mich zu küssen?“

„Das hättest du wohl gerne, was?“ Sie kicherte amüsiert. Aber dann stockte sie. „Mist. Das ist leider sehr wahrscheinlich.“ Wieder lächelte sie, doch diesmal war es blankes Eis. „Ich bin ja zum Glück nicht so Besitz ergreifend.“

Für mein Glück, zumindest für ein einigermaßen ruhiges Leben, neben meiner Schlacht auf dem Boden von Atlantis und in den Straßen meiner Heimatstadt, musste ich wohl fortan meine Lippen beschützen. Nicht, dass ich jemand anderen als Megumi wollte, aber leider interessierte das Frauen manchmal herzlich wenig. Überhaupt schienen Frauen nur ungern auf die Entscheidungen von Männern zu hören, wenn sie ihnen nicht in den Kram passten.

„Also?“, fragte sie mit leuchtenden Augen. „Wann kann ich mal mit rüber kommen?“

Ich wechselte einen entsetzten Blick mit Makoto. Dann starrten wir Megumi an. „WAS?“

***

„Das war nicht nett von dir, Aki-chan“, klagte Joan, als ich mit Megumi in den Armen auf das Dach zurückgesprungen kam. Außerdem hatte ich die Pause überzogen. „Einfach so mit ihr fort zu springen. Hm, andererseits wird mir jetzt einiges klar, Kuroi Akuma.“

„Ach was. Akira hat nur starke Knöchel“, scherzte Megumi, nachdem ich sie abgesetzt hatte.

„Sehr komisch. Darf ich auch mal, oder bist du ab sofort ihr Privateigentum?“

Megumi sah mich ernst an. „Sagen wir, das Rennen ist noch nicht entschieden. Außerdem bin ich ja nicht Besitz ergreifend. Hm, ich gehe schon mal vor und hole mir den Anschiss vom Lehrer ab.“ Sie ging ins Treppenhaus und knallte die Tür.

„Besitz ergreifend ist sie vielleicht nicht, aber definitiv sauer. Ich dachte die Tür fliegt raus. Und, alles klar, Akira?“

„Ein KI-Biest, nicht der Rede wert, Yoshi. Mako hat auf mich aufgepasst.“

„Was denn, was denn, du brauchtest Hilfe? Gegen ein KI-Biest?“

„Bitte, sprecht nicht in Rätseln. Was hat eure kleine Aussprache also ergeben? Bist du vom Markt, Kuroi Akuma? Oder habe ich noch ne Chance?“

„Wie Megumi schon sagte.“ Ich räusperte mich, um meinen Hals wieder frei zu kriegen. Mist, mein Kragen wurde plötzlich so eng. „Das Rennen ist noch nicht entschieden.“

„Hm. Hast du dich dann wenigstens dafür entschieden, mit diesem Vigilantenquatsch aufzuhören? Auch wenn du über Häuser springen kannst, irgendwann erwischt es dich. Und das will ich nicht, Akira.“

Ich lachte trocken. „Ist es dann wenigstens in Ordnung, wenn ich in einer Phasenverschobenen Welt eine Armee außergewöhnlicher Menschen gegen eine Heerschar pervertierter und verseuchter Monstren führe, um die Welt zu retten?“

„Playstation oder PC?“

„PC!“

„Genehmigt.“ Sie wandte sich um, zwinkerte mir über die Schulter zu und meinte: „Wir sehen uns spätestens heute Abend an der Barriere, Aki-chan.“

„Soll ich die Situation noch ein wenig verschärfen?“, kam es von oben, kaum dass Joan im Treppenhaus verschwunden war.

„Ich könnte ein wenig neben dir hergehen und behaupten, ich wäre die neue Austauschschülerin.“

Seufzend sah ich auf. „Makoto. Der Tag, an dem deine Schwester dich in Mädchenklamotten gesteckt hat, damit du diese getarnte Überwachung durchführen konntest, wird auf ewig ein schwarzer Tag für die Familie sein.“

„Warum? Weil ich seitdem ab und an mal Frauenkleider trage?“

„Nein, weil dein Geschmack als Frau furchtbar ist. Rosa Loose Socks, du bist krank, Mako.“

„Ha, ha. Du bist sooo witzig, ich hätte fast gelacht.“

„Mako… Jungenklamotten. Mitkommen.“

Mein Cousin sprang herab. Dabei verwandelte sich sein Matrosenkostüm in die an der Fushida übliche Jungenbekleidung. Seine KI-Rüstungen waren noch immer die besten.

„Und was jetzt, furchtloser Anführer?“

„Na was wohl? Zur Entspannung treiben wir Sakura-chan ein wenig in den Wahnsinn, genialer Meisterstratege.“

Makoto legte den Kopf schräg, als würde er nachdenken. „Spaß… Ärger… Spaß… Ärger… Spaß gewinnt! Gehen wir, Akira.“

Yoshi runzelte die Stirn. „Ihr wollt Sakura Ino ärgern? Die goldene Göttin? Den Racheengel der Apokalypse? Das wunderbarste Stück Weiblichkeit, welches die Götter je geschaffen haben?“

„Ja. Was dagegen?“

„Nun… Nein. Darf ich zugucken? Ich räume auch eure Reste weg, falls es schief geht.“

„Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Akira…“

Ich ergriff Makoto am Handgelenk. „Mitgefangen, mitgehangen, kennst du das Sprichwort?“

„Akiraaa…“

Warum sollte ich nicht auch mal Spaß haben?
 

3.

„Es ist wieder dunkler geworden“, murmelte ich leise. Das Land vor mir war weit und leer. Es schien nur aus Sand, Felsen und blankem Stein zu bestehen.

„Die Explosionen der letzten Woche haben viel Staub in die Luft geblasen. Er hält sich knapp unter der Barriere und reflektiert das Sonnenlicht. Wir haben dadurch fünf Grad Bodentemperatur verloren.“

Ich sah zur Seite, wo Kitsune stand. Eigentlich Dai-Kitsune-sama, die Herrin der Fuchsdämonen. Aber wir hatten so lange Zeit Seite an Seite gekämpft, dass eine gewisse Vertrautheit entstanden war. Die spröde, mundfaule Frau war eine exzellente Kämpferin, zudem gnadenlos gegen den Feind. Diese Art hatte sie auch lange uns gegenüber bewahrt, aber nach und nach war sie offener geworden. Von freundlich war das noch weit entfernt, zugegeben. Aber wenigstens redete sie heutzutage mit jemandem.

„Wird das ein Problem? Niederschläge?“

„Nein, die Reservoirs sind voll. Außerdem haben wir ohnehin Hochsommer, das ganze Land ist trocken. Es ist keine Beeinträchtigung für das bisschen Vegetation hier. Hm, deshalb haben wir diese Wüste ursprünglich ausgesucht, um die Daina abzufangen. Man kann hier nicht viel Schaden anrichten.“

„Aber Verteidigung und Nachschub sind ein Problem.“

„Zähl bitte keine bekannten Fakten auf. Konzentrier dich lieber. Es ist bald Schwarmzeit.“

Ich steckte den Tadel weg. Sie hatte Recht.
 

Langsam ließ ich den Blick schweifen. Ich stand auf der Buggallerie der AO, dem Flaggschiff der Dämonen. Das mächtige Gefährt diente den gegen den Liberty-Virus immunen Dämonen und ihren Daina-Verbündeten – also uns – als Basis für die Schläge gegen die verseuchten Daina, die von ihrer Festung aus, dem ehemaligen kryogenen Trakt, ins Land einfielen.

Die AO war ein Gigant, fast zwei Kilometer lang, einen halben breit und ebenso hoch. Ihre Bewaffnung war so gewaltig, dass sie Mu binnen eines Gedankens pulverisiert hätte. Und das war der Nachteil. Die meisten Waffen der AO waren für den Kampf gegen die Daina nicht einsetzbar.

Erst Eikichi hatte dafür gesorgt, dass die Dämonen eine Verteidigung etablieren konnten, die für die Situation angemessen war. Eikichi hatte das Schiff auch mit Angriffsplattformen für uns nachgerüstet. Und Teile der AO so umbauen lassen, damit wir direkt unterstützt wurden.

Etwas, was ich in all den Jahren zu schätzen gelernt hatte.

Neben und hinter mir standen meine Kameraden und einige der immunen Dämonen. Ich kannte jeden einzelnen von ihnen gut genug, um ihm mein Leben anzuvertrauen.

„Es geht los“, sagte Kitsune und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

Schwarmzeit.

Die Daina waren Menschen wie wir, eigentlich. Aber da ihnen die meisten Emotionen ausradiert worden waren, darunter auch Bereiche wie Verantwortung oder Angst, benahmen sie sich die meiste Zeit wie eine Herde oder ein Vogelschwarm. Oh, sie waren durchaus noch intelligent. Einige von ihnen waren sogar mehr als das, intelligent und grausam. Sie hielten den Cluster, wie wir die Gemeinschaft der verseuchten Daina nannten, mit Terror und drakonischen Strafen unter Kontrolle und brachten Strategie in den Eroberungskampf. Siegeswille war ihnen dabei fremd. Sie wollten sich einfach nur ausleben.

Dennoch fiel es diesen Königsdaina schwer, ihre Truppen hinaus zu scheuchen.

Hier kam das Schwarmprinzip zum tragen. Meistens waren es einer oder eine Gruppe, die zuerst herauskamen. Ihnen folgten weitere. Waren es genug, kamen alle anderen hinterher, wie ein Schwall Wasser aus einem offenen Hahn.

Danach dauerte es noch ein wenig, bis sie das aktuelle Kampfgebiet erreichten. Das war unser großer Vorteil. Sie kamen zu uns, zu den offensichtlichen Zielen. Dadurch ließ sich einiges steuern. Zum Beispiel konnte verhindert werden, dass wir große Teile der besiedelten Regionen von Mu verloren. In der Vergangenheit hatte es das gegeben, tausende Dämonen waren gestorben oder infiziert worden. Aber seit einem Jahr ging es nicht mehr rückwärts, es ging voran.

Oh, unsere Feinde wurden nicht weniger, oh nein. Aber wir wurden besser.
 

Einzelne Daina erschienen in der Wüste, ihnen folgten kleine Gruppen. Und darauf folgte eine schwarze, wogende Masse aus Leibern. Männer, Frauen… Und Kinder. Es waren alle, die auf die eine oder andere Art im Cluster überlebt hatten.

Was sie zu unseren Feinden machte.

„Noch nicht“, mahnte ich, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Meine Freunde standen erwartungsvoll bereit, aber niemand neigte hier zu Überreaktionen. Alle die das taten waren schon vor langer Zeit gestorben.

Die ersten Daina erhoben sich in die Luft, um die AO direkt anzugreifen, verformten dabei ihre Körper zu monströsen Chimären. Andere eilten auf dem Boden weiter, um die Bugluken anzugreifen.

Als die fliegenden Daina den Abwehrparameter erreicht hatten, begannen die Schnellfeuerkanonen ihre explosiven Geschosse auszuspucken. Raketenklappen öffneten sich und feuerten. Binnen weniger Augenblicke war die Luft vor dem Bug der AO von Tod, Blut und Sterben erfüllt.

Derweil begannen auch die Kanonen am Kiel der AO zu feuern, um die angreifenden Bodentruppen auf Distanz zu halten.

Ich setzte die Oni-Maske auf und spürte, wie sie sich auf meinem Gesicht verwandelte. Dann zog ich mein Katana blank. Diese Waffe war ein Oopart, ein Out of Period Artefact, oder um es mal einfach auszudrücken, das Mistding war zwanzigtausend Jahre alt und stammte von Mu, während die eigentlichen Katana der japanischen Schmiedekunst, der diese Waffe so frappierend glich, erst vor fünfhundert Jahren perfektioniert worden waren. Eigentlich hätte es vor zwanzigtausend Jahren niemanden geben dürfen, der diese Waffe hätte schmieden können. Und eigentlich war mir das reichlich egal, denn sie erfüllte ihren Zweck, und das war alles, was ich von ihr verlangte.

„Akari!“ „Ja, Meister.“ Die Klinge leuchtete weiß auf, als der Oni sie mit seiner Kraft erfüllte.

Ich lächelte matt unter der Maske. Es wurde wieder einmal Zeit. Wortlos stieß ich mich ab und sprang in den Pulk fliegender Daina.

Die anderen griffen nun auch in den Kampf ein, entweder in den Luftkampf oder in die Bodenkämpfe.

Während ich sprang, zog ich meine Waffe vor und erweiterte die Klinge mit meinem KI. Ich führte sie über den Boden; in fünfhundert Metern Tiefe riss sie eine Schneise der Zerstörung durch den Boden und jeden unvorsichtigen Daina, der nicht schnell genug ausweichen konnte.

Als ich sie durch die Luft riss, erwischte ich drei weitere Daina. Dann landete ich hart auf dem Boden, federte in den Knien nach und steckte die Waffe wieder ein.

Ein unförmiger Daina, groß und gewaltig wie ein Sumo-Ringer, versuchte mich mit seinen drei Hörnern aufzuspießen. Etwas, was ich nicht besonders mochte. Beiläufig zeigte ich auf ihn und entließ einen KI-Schlag, der den Daina erfasste, vom Boden hoch wirbelte und Dutzende Meter davon trug. Er überschlug sich mehrmals und blieb liegen.

Neben mir landete Ami auf einer Hand und dem linken Knie; beides hinterließ tiefe Abdrücke im Bodengestein. Ruckartig zog sie die rechte Hand nach vorne, und ich wusste, was nun geschah. In ihrer Hand hielt sie die Enden von mehreren Rollen KI-gesteuerten Titanstahldrahtes, zusätzlich mit ihrem KI verstärkt. Fünf unwirkliche Schreie klangen auf, und ich wusste, sie hatte fünf oder mehr Daina eingewickelt, und zertrümmerte nun ihre Körper.

„Du wirst immer besser, Ami-chan“, bemerkte ich.

Sie musterte mich einen Moment. „Rechte Seite. Sieben.“

„Verstanden.“ Ich riss mein Katana wieder hervor, ließ Akaris KI erneut aufleuchten und führte einen lockeren Schlag auf die rechte Flanke aus. Wieder fuhr die verstärkte und verlängerte Klinge durch Gestein und unvorsichtige Daina-Leiber. Ich zählte nicht mit, aber sechs bis sieben würden es schon gewesen sein.

„Du bist auch nicht gerade unbedingt schlechter geworden, Akira“, sagte Ami mit dem Anflug eines Lächelns und sprang davon.

Damit hatte sich meine persönliche Schlächterrechnung auf wie viel erhöht? Zwanzig für diesen Tag? Bei siebentausend nicht unbedingt eine wirkliche Hilfe. Selbst wenn ich annahm, dass meine Kampfgefährten zusammen ein gutes hundert pro Angriff erledigten, bevor die Daina zu erschrocken oder zu abgekämpft waren und sich zurückzogen, war das nicht wirklich eine Hilfe. Denn jeden Tag kamen dreihundert hinzu. Wenn wir diesen Kampf gewinnen wollten würden wir die Festung nehmen müssen.

„Hast du schon geübt? Morgen haben wir die Prüfung in Mathe“, rief Yoshi herüber. Er schoss seinen Bogen in schneller Folge ab, und jeder Schuss war ein Treffer. Einen überwitzigen Daina, der es wagte, den Fernkämpfer anzugreifen, erledigte Doitsu mit seinem riesigen Schwert.

„Ich brauche nicht üben. Ich habe die Materie verinnerlicht“, erwiderte ich und sprang ein wenig zur Seite, um den Krallen einer Daina-Furie auszuweichen.

Dieses Biest ging mich hart an, drängte mich fast zurück und gab erst Ruhe, als es zweigespaltet durch meinen Ziehschlag zu Boden fiel.

„Wir werden es an den Zensuren sehen. Duck dich.“

Ich machte eine Rolle nach vorne, Yoshi bekam freies Schussfeld und riss einen Daina mit einem sicheren Schuss von den Beinen. Natürlich. Ein Einhorn-Typ wie neulich. Hatte es sich zwischen ihnen herumgesprochen, dass ich einem von ihnen eine schwere Verletzung verdankte?

Yoshi nutzte die Lücke, die sich vor ihm auftat, sprang vor und ließ seine Waffe einmal um sich herum wirbeln. Die Daina, die bedauernswert genug waren, in seine Waffenreichweite zu gelangen, hatten nicht viel Zeit sich darüber zu ärgern.

„Seid froh, dass Ihr zwei nicht in meiner Klasse seid“, rief Doitsu. „Ich bin so gut, Ihr würdet Depressionen schieben.“

„Da! Sie beginnen sich wieder zurückzuziehen!“, klang Makotos Stimme auf. Auch eine der Neuerungen, die Vater eingeführt hatte: Funk. Alle Mitglieder des Teams standen permanent mit der Zentrale der AO in Kontakt, wo das Feuer des Schiffs und der Angriff der Verteidiger koordiniert wurden – meistens von meinem Cousin.

Rückzug bedeutete in diesem Fall, dass die ersten Daina in ihrem Blutdurst von der kreatürlichen Angst vor dem Tod durch unsere Hand überwältigt wurden.

Das Ergebnis war, dass die vorderen Linien zurückfluteten, mitten zwischen jene, die noch nicht gekämpft hatten. Daraufhin stockte der Angriff, die Linie erstarrte. Und irgendwann begann sie aufzubrechen. Dies war gleichbedeutend mit dem Rückzug aller infizierten Daina.

Dennoch, ich blieb wachsam. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass aus der Mitte der Infizierten ein neuer Angriff vorgetragen wurde. Unwillkürlich rieb ich meine Schulter. So etwas zu ignorieren war eine große Dummheit.
 

Erst als die Infizierten mehr als zehn Sekunden von mir entfernt waren, erlaubte ich mir, ein wenig zu entspannen. Langsam steckte ich die Waffe zurück. Hinter und neben mir taten es meine Freunde gleich.

Nun begann die grausigste Aufgabe, aber auch sie war notwendig. Wir töteten die verletzten Daina, die sich nicht hatten zurückziehen können.

Es gab immer eine Handvoll von ihnen, und sie am Leben zu lassen hätte nur bedeutet, ihnen zu erlauben, uns das nächste Mal erneut angreifen zu können.

Sie kannten keine Gnade, woher auch? Ihre Gehirne und ihr Verstand waren zerfressen. Daher wussten sie auch nicht, wie man Gnade akzeptierte, geschweige denn gewährte.

In einem Anflug von Zynismus dachte ich daran, dass sie tot wesentlich besser dran waren. Und ich hasste mich für diesen Gedanken, denn er war richtig.

Wütend ballte ich die Hände. Wäre dies ein normaler Krieg gewesen, man hätte die Fußsoldaten retten können, nachdem man die Anführer ausgeschaltet hätte. Man hätte sie interniert, den Krieg gewonnen und sie dann freilassen können. Aber in diesem Fall, in dieser Realität, bedeutete jeder infizierte Daina, den wir internierten, eine potentielle Ansteckungsgefahr für die Dämonen. Und damit neue Feinde, ausgerechnet im Rücken.

Nicht, dass wir es nicht versucht gehabt hätten. Nicht, dass wir nicht spektakulär gescheitert waren. Nicht, dass nicht die Leben von einem guten Dutzend Dämonen ausgelöscht werden musste, weil wir genau diesen Fehler gemacht hatten.

Nicht, dass ich nicht alles besser machen wollte, die Kämpfe beenden, das töten beenden.

Ich spürte, wie mir die Tränen die Wangen hinab liefen. Selbst aus den Augenschlitzen meiner Maske kamen sie geflossen. Verdammt, war ich immer noch nicht hart genug?
 

„Notsignal nahe der kryogenen Anlage“, klang Makotos Stimme auf.

Verwundert sah ich auf. „Haben die Dämonen Leute an der Festung?“, fragte ich hastig. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die Dämonen wie terranische Kommandotruppen versuchten, das Übel an der Wurzel zu packen, sprich, die Tanks zu zerstören, in denen die Daina ruhten. Oder die Königsdaina zu töten.

„Negativ. Es ist aber eindeutig ein Funkfeuer, kein Leuchtsignal. Jemand will definitiv, dass die infizierten Daina es nicht zu früh bemerken.“

„Entfernung?“

„Zwei Kilometer vor der Festung, dreiundfünfzig Kilometer von uns entfernt.“

„Hm.“ Das Gros der aktiven Daina war noch über fünfzig Kilometer von der Anlage entfernt. Selbst mit ihren grotesken Fähigkeiten würden sie zehn Minuten oder länger brauchen, um sich zurückzuziehen. Allerdings waren wir nicht viel schneller. Wir hatten vielleicht, wenn wir sofort loseilten, ein Zeitfenster von einer Minute. Und dann standen wir einer riesigen Wand zurückkehrender Daina gegenüber, die wirklich sauer über den unangemeldeten Besuch waren.

„Akira! Der Einsatz wurde noch nicht genehmigt! Akira!“, klang Makos Stimme auf.

Ach, war ich etwa schon unterwegs? Im selbst belügen war ich auch nicht so berauschend, aber was machte das schon? Ein Notsignal war in jedem Fall eine Untersuchung wert, und wir konnten jede Hilfe gebrauchen.

„AKIRA!“

„Ihr wisst doch wie es ist! Wenn ein Daina aus dem Tank befreit wird, hat er eine Inkubationszeit von dreißig Minuten bis neun Stunden. Weitergegeben wird die Infektion mit dem Liberty-Virus lediglich als Aerosol von den Bomben in einem unbekannten Radius, aber auf keinem Fall mehr als einen Kilometer, oder direkt von Wirt zu Wirt. Wenn wir es bei dem Notsignal mit einem Neunstünder zu tun haben, kann er uns in der verbleibenden Zeit, die er seine Sinne noch beisammen hat, einiges über die Festung erzählen, oder?“

„Es gibt auch Fälle, die von fast zwei Tagen sprechen.“

„Noch besser, Makoto. Zwei Tage Daten von jemandem bekommen, der in der Festung war. Ist das nicht großartig?“ Ich stieß mich vom Boden ab, machte einen Riesensatz. Ich würde die Daina umgehen müssen, das kostete sicherlich eine halbe Minute. Aber ein Kampf hätte mich weitaus mehr verzögert.

„Idiot. Du wolltest doch wohl nicht alleine gehen, oder?“

Der Boden kam rasend schnell näher. Ich stützte mich bei der Landung mit der Rechten ab und federte in den Knien nach, bevor ich mich erneut abstieß und einen weiteren Gigantsatz machte. „Danke, Kumpel“, sagte ich zu Yoshi, der direkt neben mir war.

Links von mir tauchte ein Fuchs auf. Er sprang ebenso weit wie wir. „Ihr macht auch jeden Quatsch, solange es nur interessant genug ist, oder?“, tadelte Kitsune.

„Okay, hergehört. Commander Otomo hier. Den Vorstoß von Akira, Yoshi und Dai-Kitsune-sama können wir wohl nicht mehr abbrechen. Außerdem scheint er das Risiko wert zu sein. Alle anderen beziehen Verteidigungsstellung und versuchen den dreien einen Rückzugskorridor offen zu halten, verstanden?“

„Hm, Kitsune, als Fuchs hast du irgendwie Spielzeugcharme, finde ich. Akira hier, habe verstanden.“

„Ich gebe dir gleich Spielzeug. Neulich wolltest du mir nicht mal den Nacken kraulen“, warf sie mir vor. „Kitsune verstanden.“

„Notsignal ändert Intervall. Die Datenbank identifiziert das Intervall als Notsignal höchster Dringlichkeit. Alter des Codes: Dreißigtausend Jahre.“

„Da geht wohl jemandem der Arsch auf Grundeis. Yoshi hat verstanden. Hey, Doitsu, halt uns schön die Tür auf, ja?“

„Ich will sehen was ich tun kann. Aber spielt nicht zu lange. Wenn die Daina wieder in Schwarmlust kommen, wird es hier brenzlig.“

„Optimist.“
 

Das besondere an der KI-Beherrschung war die Befähigung, den eigenen Körper zu kontrollieren, ihn zu verstärken und Grenzen niederzureißen, von denen man nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. Oder das man sie jemals sehen würde.

Im Moment verstärkte ich die Kraft meiner Muskeln um ein Faktum, das jenseits von Beschreibung und Maß lag. Ich konnte es nicht mit meiner normalen Kraft vergleichen, denn das letzte Mal als ich mich ohne die Verstärkung durch mein kontrolliertes KI bewegt hatte, war ich elf gewesen; aber ich verglich es mit meinen Zuständen, wenn ich das KI gezielt sammelte, fokussierte und benutzte. Im Moment war ich erschöpft durch den Kampf, aber ich trieb mich an. Damit erreichte ich etwa achtzig Prozent meiner maximalen Kraft. Ausgeruht wäre ich wahrscheinlich noch weiter gesprungen.

Ebenso meine Freunde.

KI existierte immer im Körper. Aber es war wie Wärme. Man produzierte KI unbewusst, um leben zu können, aber ein Großteil wurde nutzlos an die Umgebung abgegeben. Doch so wie man Körperwärme mit Kleidung einfangen oder zumindest etwas bremsen konnte, so war es auch möglich das KI an sich zu binden. Es war auch möglich KI zu produzieren, so wie man durch Bewegung mehr Wärme im Körper erzeugte. Und konnte man erst einmal seine übliche Kraft an KI kontrollieren, gelang dies auch mit mehr KI. Es war kein besonders langer Prozess, und es war auch nicht schwer zu erlernen. Aber die Wenigsten wussten davon oder hatten den richtigen Weg gefunden, der zur Beherrschung dieser körpereigenen Kraft führte.

Im Moment erzeugte und bündelte ich KI in einem Maß wie selten zuvor. Na, ich freute mich schon auf das späte Abendessen. Nach solch einer Anstrengung würde ich wieder reinhauen wie ein Scheunendrescher.

Nun, auf diese Art ließen wir die Daina schnell an uns vorbei fallen und schließlich hinter uns, während wir uns der Quelle des Notsignals näherten. Es war definitiv möglich, auf noch nicht Infizierte zu treffen. Vielleicht fanden wir sogar einen Immunen, das wäre für die Liberty-Forschung ein Riesenschritt nach vorne gewesen. Aber ich wollte nicht zu optimistisch sein. Ein paar Hinweise über den inneren Aufbau der kryogenen Anlage reichten mir für den Anfang.

„Ich frage mich“, begann Yoshi neben mir, „wie weit wir noch vordringen können. Ich meine, sieh uns an! Wir springen mit jedem Satz über dreihundert Meter weit! Und ich habe noch Luft, um mit dir zu quatschen. Das ist weit mehr als Menschen eigentlich erreichen sollten.“

„Das ist richtig“, japste Kitsune und sprang auf meine Schulter. „Ihr seid schon sehr weit, aber es gibt noch eine Steigerung, eine ultimative Bewegung, die aber sehr viel KI erfordert. Es dauert Jahrhunderte, sie zu lernen, und nur die talentiertesten erahnen auch nur jemals einen Hauch dieser Technik.“

„Nanu. Schon müde?“, scherzte ich.

„Ich spare nur etwas Kraft, Akira. Wir wissen ja nicht, ob uns da vorne eine Falle erwartet. Du wirst dankbar für eine voll kampffähige Kitsune sein, wenn das der Fall ist.“

„Zugegeben. Und wie heißt diese ultimative Bewegung?“

„Schritt ohne Zeit.“

„Schritt ohne Zeit?“ Argwöhnisch runzelte Yoshi die Stirn.

„Fragt Dai-Kuzo-sama danach. Ich glaube sie ist eine von drei Wesen auf dieser Welt, die den Schritt ohne Zeit beherrschen.“

„Das werden wir. Sobald wir zurückkommen.“

Kitsune blies ärgerlich die Wangen ihrer Fuchsgestalt auf. „FALLS wir zurückkommen.“

„Sei nicht so pessimistisch“, brummte ich als Erwiderung.

„Leute, Ihr seid fast da. Könnt Ihr schon etwas erkennen?“

„Nein, Makoto. Aber wenn wir keinen Pulk halbverrückter Daina sehen, die einen anderen zu Tode hetzen, ist das doch ein gutes Zeichen, oder?“

„Im Zusammenhang mit Infizierten gibt es kein gut, Akira“, tadelte Mako. „Seid vorsichtig. Sehr vorsichtig.“

„Sind wir doch immer.“

„Ja, klar, Yoshi. Wer das glaubt, der zieht sich mit KI auch die Stiefel aus.“

Die Antwort von Yoshi war nicht sehr freundlich. Zudem fragte ich mich, woher er derart detaillierte Kenntnisse in menschlicher Anatomie hatte. Und warum er uns daran teilhaben ließ.

„Ihr Menschen seid komisch“, stellte Kitsune fest und sprang von meiner Schulter. „Und damit meine ich lustig.“
 

„Achthundert Meter vor euch befindet sich der Sender. Könnt Ihr dort etwas erkennen?“

„Mako, das hier ist eine kleine Geröllwüste. Eine Armee könnte sich zwischen den Felsblöcken verstecken. Wir rücken vorsichtig weiter vor.“

Nun, zumindest wäre das mein Plan gewesen, wenn nicht in diesem Moment ein KI-Schlag einen Daina angehoben und in die Luft gerissen hätte – ziemlich genau in der richtigen Richtung und zudem auch noch in der korrekten Entfernung. Dieser Daina war ein Infizierter, die Reißzähne waren ein deutlicher Hinweis. Auch die Tatsache, dass er plötzlich Flügel entwickelte und in der Art eines Falken niederstieß.

„AKARI!“, rief ich und sprang.

„Ja, Meister!“

Ich zog meine Klinge, Akari erfüllte sie mit ihrem KI. Als ich die Waffe zog, erzeugte ich eine Druckwelle, die mit KI angereichert war. Die Druckwelle war nicht stärker als eine Handbreite, aber sie war in der Lage, sogar Stahl zu scheiden. In diesem Fall war es Fels, noch mal Fels und ein wie ein Falke im Sturzflug herabstürzender infizierter Daina. Alle drei Dinge hielten nicht wirklich stand.

Junge, Junge, wer immer dem Daina das fliegen beigebracht hatte, wusste was man mit seinem KI anstellen konnte.

Mit gezogener Klinge stürmte ich voran; Yoshi sprang auf einen nahen Fels und schoss einen ersten Pfeil ab, Kitsune hielt sich an meiner Seite. Während sie lief verwandelte sie sich in einen Menschen zurück.

Als wir den Peilsender erreichten, erstarrte ich. Daina kämpften hier gegeneinander. Daina in den unterschiedlichsten Stufen der Infektion. Zumindest eines konnte ich klar erkennen: EINE Gruppe verteidigte, die ANDERE attackierte. Binnen einer Sekunde wusste ich, wo ich meine Sympathien zu setzen hatte. Ich griff an.

Kitsune blockte einen angreifenden Daina und machte ihm unmissverständlich klar, dass ihre Kräfte für einen durchschnittlichen Infizierten tödlich waren – sie behielt in diesem Fall Recht. Ihr Weg führte sie zum Notsignal.

Als sie erschrocken aufkeuchte, fuhr ich herum. Ironischerweise entging ich so einem vehement geführten Hieb mit einer Klaue.

Kitsune hatte schützend einen Arm um eine Frau gelegt, die deutliche Anzeichen der Infektion zeigte. Mann, auch wenn sie noch bei Sinnen war und gegen die Infizierten kämpfte, jede Sekunde konnte sie ihren Verstand verlieren und genauso besessen sein wie die armen Teufel hier.

Doch ich erkannte die Wahrheit sehr schnell. Kitsune ging es nicht um die Frau. Die schien sich auch nicht primär um sich zu kümmern, sondern um den kleinen Jungen auf ihrem Arm.

„AKIRA!“, blaffte Kitsune.

Sofort ließ ich von meinen Gegnern ab, eilte zu ihr. Yoshis zielsichere Schüsse gaben mir dabei Deckung.

„Immun?“, fragte ich atemlos, als ich auf den armen Burschen herabsah.

„Sie spricht nur Groß-Dai, aber ja, sie vermutet, dass der Junge immun ist. Wir müssen ihn für diese Leute hier raus schaffen“, sagte Kitsune. „Und…“

Die Fuchsdämonin schluckte schwer. „Und wir müssen sie töten, bevor sie sich auch in das da verwandeln.“

Ich erstarrte. Die harte und kalte Realität hatte mich wieder. Zudem begann die Abwehr der halb infizierten Daina zusammenzubrechen. „Kitsune. Nimm ihn.“ Ich nickte der Frau zu. Sie verstand und gab das Kind weiter. „Jetzt lauf.“

Wortlos erhob sie sich und machte einen gewaltigen Satz nach hinten, in Richtung Yoshi.

Ein Infizierter, der ihr folgen wollte, machte die Erfahrung, wie weit ich meine Klinge mit KI dehnen konnte.

Ich lächelte die Frau vor mir an, die immer deutlicher Anzeichen der Infektion zeigte. Sie lächelte zurück, aber ich sah an ihren Zügen, wie sehr sie bereits litt. Was mussten diese Daina auf sich genommen haben, um den Jungen zu beschützen? Zu retten? Wie hatten sie einander gefunden? Wie dazu entschlossen, wenigstens ihn zu beschützen? Welcher Heldenmut war nötig, um so weit gehen zu können?

Sanft nahm ich sie in die Arme. Sie schluchzte an meiner Brust. „VERSCHWINDE, YOSHI!“

„Oh nein, Akira, du willst doch nicht etwa… AKIRA!“

„HAU AB!“

„Okay, bin weg.“

Hinter mir zerbrach die Abwehr. Einige Verteidiger wurden überwältigt, andere verwandelten sich vollends. Die Frau in meiner Umarmung schrie vor Angst und Schmerz, aber sie bewegte sich nicht einen Millimeter.

„Ganz ruhig“, flüsterte ich ihr zu. „Es ist bald vorbei.“

Für einen Moment, einen winzigen Moment sah sie mich an als würde sie meine Sprache verstehen. Sie murmelte ein einziges Wort. Und ich glaubte, es war ein Danke.

Als ich den heißen Atem der Infizierten im Nacken spürte, war es soweit. „Akari!“

„Jawohl, Meister.“ Grelles weißes Licht flammte auf und erfüllte die Umgebung. Zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig Meter weit. Und das war erst Stufe eins!
 

4.

Noch immer stand über der Region nahe des kryogenen Trakts die Staubsäule am Himmel, die ich mit meiner Attacke erzeugt hatte. Sie reichte bis zum oberen Rand der Barriere und staute sich dort. Nun, in der ohnehin staubigen Luft war sie in bester Gesellschaft, fand ich.

„Der Kleine steht dir aber gut, Akira“, scherzte Doitsu und versuchte den Jungen dazu zu überreden, eine Tasse mit Milch zu nehmen. Seufzend gab er auf und reichte sie mir.

Aus meiner Hand nahm er sie entgegen. Nun, er hing mir auch schon eine geschlagene Stunde am Hals, da war das wohl das Mindeste.

„Na? Jetzt geht es dir doch sicher gleich besser, oder?“ Ich lächelte, und das Ergebnis war nicht sehr nett. Wieder brach der Junge in Tränen aus, heulte Rotz und Wasser und war kaum zu beruhigen. Wenigstens hatte er die Milch getrunken.

Es war absolut kein Wunder, nach all dem, was er in der Festung der Infizierten gesehen haben musste.

Wie war das wohl? Der einzige Vernünftige in einer Horde Wahnsinniger zu sein? Mit dem Sprichwort über Blinde und Einäugige kam ich hier jedenfalls nicht weiter.

„Akira, gib ihn mir“, sagte Kitsune und gähnte erschöpft.

Er löste sich nur zögerlich von mir, aber genauso schnell hatte er sich Kitsune um den Hals geworfen, als der Abstand klein genug gewesen war.

Irgendwie fühlte ich mich eifersüchtig. So schnell war seine Liebe neu vergeben, was?

„Sein Name ist Laysan. Er ist ohne seine Eltern aufgewacht. Die Daina, die ihn entdeckt, dann versteckt und schließlich beschützt haben, kennt er nicht. Er ist fünf Jahre alt, und ich will mir gar nicht vorstellen, was er alles erlebt hat, seit er vor fünf Tagen aufgetaut wurde.“

„Fünf Tage?“ Yoshi pfiff anerkennend. „Das ist wie der einzige Mensch in einer Horde Zombies zu sein.“

„Du guckst die falschen Filme“, tadelte ich ernst. „Ist er also immun? Und wenn ja, warum ist er immun?“

Kitsune schob Laysan ein wenig höher, damit sie ihn besser halten konnte. „Die Untersuchung der Proben läuft. Selbst wenn er immun ist, kommt er immer noch als Überträger in Frage, wir machen gerade entsprechende Tests.“

„Wie lange werden diese Tests dauern, Kitsune-tono?“, fragte Vater ernst. Er stieß sich von seinem Platz an der Wand ab und kam zu uns herüber.

Mit der Rechten fuhr er Laysan durch die Haare, was dieser mit einem Quieken beantwortete. Merkwürdigerweise klang es erfreut. Er ließ Kitsune zwar nicht los, aber ich sah ihn das erste Mal lächeln. Wenn auch nur kurz.

„Hier kann er jedenfalls nicht bleiben. Dies ist ein Kriegsschiff, und auch außerhalb der Schwarmzeiten kommt es zu Kämpfen. In die Dämonenhaine können wir ihn auch nicht bringen, die Gefahr, dass er ein Überträger ist, ist einfach zu groß.“

Als sich das Schott zur Brücke öffnete, hatte ich das Gefühl, jemand würde mir mit rostigen Nägeln über den Rücken fahren – extra tief und extra langsam. Oh ja, das fühlte sich definitiv nach Ärger an.

„Gib ihn mir bitte, Dai-Kitsune-sama“, erklang die sanfte Mädchenstimme hinter mir. Ich musste mich nicht extra umdrehen um zu wissen, dass der kleine Bengel auch diesem Mädchen um den Hals fiel. „Er mag mich“, stellte sie fest.

Ich wollte hinzufügen, dass ich sie auch mochte, aber irgendwie erschien es mir unpassend.

„Bringen wir ihn in die Menschenwelt“, schlug Megumi vor.

Betreten ließ ich den Kopf hängen. Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, jeden einzelnen von uns dazu zu überreden, sie mit in die Dämonenwelt zu nehmen, nicht nur, dass sie äußerlich vollkommen unbeeindruckt von der Schlacht schien, deren Zeugin sie gerade gewesen war. Nicht nur, dass sie noch nie zuvor Dämonen und infizierte Daina gesehen hatte. Nicht nur, dass Laysan auch ihr erster nicht infizierter Daina war… Nein, sie ergriff auch noch Initiative.

„Hm. Guter Vorschlag. Menschen können nicht infiziert werden. Wenn Laysan also immun ist, aber Überträger, können wir die Seuche so beenden. Akira. Du nimmst ihn mit nach Hause.“

„Akira hat überhaupt keine Ahnung, wie man mit einem kleinen Kind umgehen muss!“, widersprach Megumi energisch.

„Es gibt keinen besseren Ort. Er gehört mir und ich vertraue Akira. Und Yohko wird auf ihre Art sicher auch irgendwie hilfreich sein.“

„Ich werde Sakura bitten, ein Auge auf Laysan zu haben“, sagte Makoto. „Immerhin hat sie geholfen, mich, Akira und Yohko groß zu kriegen. Das kann nicht alles nur Glück gewesen sein.“

„Gute Idee. Aber ich werde auch helfen. Er lässt nur mich, Kitsune-sama und Akira an sich heran. Kitsune-sama wird hier bleiben, oder? Laysan braucht eine weibliche Bezugsperson.“

„Weibliche was? Er ist ein Junge! Er braucht, wenn schon, eine männliche Bezugsperson!“, erwiderte ich streng.

„Davon verstehst du nichts. Du bist ein Mann.“

Ich fühlte mich überfahren. Mächtig überfahren. Mindestens mit einem Dreißigtonner. Sie hatte nicht nur meine Argumente davon gewischt, sie hatte es auch noch geschafft, dass ich mich schlecht fühlte, weil ich ihr widersprochen hatte.

„Vorsicht, Akira. Wenn du dich immer so unterbuttern lässt, sehe ich schwarz für deine Zukunft“, raunte Yoshi mir zu.

„Und damit das nicht eintritt“, sagte ich wütend und krallte meine Hand in Yoshis Kleidung, „wirst du bei mir einziehen, Kumpel. Alleine gegen drei Frauen habe ich keine Chance.“

„Laysan spricht nur Groß-Dai“, sagte Kitsune, „aber er lernt schnell. Er sollte in wenigen Tagen ausreichend gut sprechen können, um sich verständlich zu machen. Ich gebe euch aber ein Lexikon mit, damit Ihr wenigstens die wichtigsten Wörter beherrscht, okay?“

Ich nickte knapp. Nichts war peinlicher als Toilette mit Bett zu verwechseln. Sowohl die Wörter als auch die Objekte.

Der Junge sah zu Kitsune herüber und sagte ein paar Worte in seiner fremden melodischen Sprache. Kitsune sah betreten zu Boden. „Er will wissen, wo die Leute sind, die ihm geholfen haben.“

Ein raunen ging durch den Raum. Betreten, nervös und schuldig.

„Kommt mal mit.“ Ich winkte Megumi mit Laysan und Kitsune, mir zu folgen.

Wir traten auf die Kampfplattform am Bug hinaus. Über uns schickte sich gerade die Sonne an, unterzugehen.

„Sag ihm, dass die Staubsäule da hinten eine Treppe ist. Eine Treppe in den Himmel, wo es ihnen jetzt besser geht als in der Anlage.“

Kitsune übersetzte und der Junge stellte eine Gegenfrage.

Sie sah mich an, mit Entsetzen im Blick. „Laysan fragt, ob seine Eltern auch die Treppe in den Himmel genommen haben.“

Megumi schluchzte verräterisch auf, aber sie bewahrte die Fassung. Ami war nicht so stark. Sie vergrub ihr Gesicht in Doitsus Uniform.

„Ja. Das sind sie. Das sind sie alle“, erwiderte ich und lächelte den Jungen an. Eines Tages würde er mich dafür hassen, fürchterlich hassen.

„Er sagt, er will auch in den Himmel zu seinen Eltern.“

Ich lächelte das falscheste Lächeln meines Lebens, fuhr Laysan auf die gleiche Weise durch die Haare wie mein Vater kurz zuvor und sagte: „Später, kleiner Mann. Jetzt musst du erst Mal ins Bett.“

Nun, es wirkte. Es wirkte gut genug, um den Jungen dazu zu bringen, müde gegen Megumis Schulter zu sinken. Er musste ja todmüde sein. Nach allem, was er erlebt hatte.

„Ich bin ein Lügner“, zischte ich wütend.

„Sicher bist du das. Alle Erwachsenen sind Lügner“, sagte Yoshi und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Aber das sind wir vor allem deshalb, weil Kinder die Lügen besser verstehen als die Wahrheit.“ Er deutete auf die Staubsäule. „Du hast den Daina, die für Laysan gekämpft haben, ein riesiges Fanal gesetzt.“ Wieder landete seine Hand auf meiner Schulter. „Beachtlich, alter Freund.“

Beachtlich? Ich fühlte mich nicht beachtlich. Ich fühlte mich leer und wollte ein paar sichere Dinge in meinem Leben. Schulalltag und dergleichen. Von Joan als Kuroi Akuma gejagt werden. In der Schule gehasst… Okay, das vielleicht nicht, aber in einer überfüllten U-Bahn mitfahren wäre auch nicht schlecht gewesen. Normale Dinge halt. Vertraute Dinge. Keine Dämonen, infizierte Daina, kein Liberty-Virus und kein verschwundener Kontinent Mu.

Erstaunlich, dass ich mich in meinem Leben nach Langeweile sehnte.

***

Es konnte erstaunlich sein, wie ein Mensch sich auf eine neue Situation umstellen konnte.

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie Vater und Onkel Jerry zusammen mit Tante Karen und Mutter gekämpft hatten, lange bevor meine Kontrolle überhaupt weit genug fortgeschritten war, um selbst einzugreifen. Das kam erst Jahre später, nach sehr intensivem Training. Aber wir hatten den Generationswechsel geschafft, und der Kampf gegen die Daina war selbstverständlich für mich geworden.

Ebenso verhielt es sich mit dieser Situation. Ich hatte mich sehr schnell an Laysan gewöhnt. Nun, ehrlich gesagt machte es mir Spaß, mich um ihn zu kümmern. Soweit Megumi und Yohko das zuließen, heißt das. Ich hatte ganz schön hart darum kämpfen müssen, dafür verantwortlich sein zu dürfen, ihn zu duschen und ihm die Zähne zu putzen. Ich fand, ein Mann konnte seinen männlichen Stolz gar nicht früh genug entwickeln, und mit fünf Jahren noch von Mutter… Himmel, wann hatte ich angefangen, so zu denken? Es fehlte nicht viel, und ich würde mich selbst in Gedanken als Vater bezeichnen.

Aber auch dieser Gedanke machte mir Spaß, und als ich mit dem auf Hochglanz polierten kleinen Daina wieder aus dem Bad kam, erwarteten ihn drei Paar glänzender Frauenaugen.

Ich stöhnte unterdrückt. Verdammt, Makoto hatte wirklich seiner Schwester Bescheid gesagt.

„Oh, der ist aber süß“, hauchte Sakura und griff nach dem Jungen. Laysan leistete keinen Widerstand, im Gegenteil. Als meine Cousine den kleinen Daina an ihren Brustkorb, besser gesagt, an ihren voll entwickelten Busen drückte, seufzte er und schlief beinahe sofort ein.

Sakura lächelte sanft. „Das erinnert mich an die Zeit, als ich dich noch so halten konnte, Akira. Es ist so lange her… Wo soll er schlafen gehen?“

Megumi hob eine Hand. „Ich dachte, wir rollen ihm einen Futon in meinem Zimmer auf, denn ich habe einen leichten Schlaf und…“

„Und du hast keine Ahnung von Kindern. Das ist kein Tadel, Megumi-chan. Aber er wird bei mir schlafen. Ich nehme mein altes Zimmer, Akira.“

Ich nickte. Was anderes blieb mir auch gar nicht übrig.

„Und wir müssen ein Zimmer für ihn vorbereiten. Er wird nicht ewig brauchen, um sich an uns zu gewöhnen. Und in ein paar Jahren wird er den Freiraum brauchen.“

„In ein paar Jahren?“, fragte ich erstaunt. An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich mit sechs Jahren gewesen war, mit sieben, mit acht oder mit elf. Mir schauderte. Hoffentlich schlug er nicht nach mir.

Langsam legte ich eine Hand an die Stirn. Das war ja wie eine schwere Seuche, eine tödliche Infektion. „Yohko-chan, kannst du den Futon in Sakuras altem Zimmer vorbereiten?“

„Natürlich, O-nii-chan.“

„Ist es recht so? Oder kann ich noch etwas für euch tun?“, fragte ich mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme.

„Ooooh, du bist mir ja einer, Akira-chan. Keine Sorge, du bist und bleibst Sakura-o-nee-chans absoluter Liebling.“ Sprachs, und brachte meine Frisur durcheinander.

Ärger und Zufriedenheit hielten sich die Waage, weshalb ich nur zustimmend grunzte und im Wohnzimmer verschwand.

Auf der Veranda setzte ich mich und lehnte mich gegen einen Pfosten.

Hm, Yoshi war bereits dabei, einen Teil des Gartens zu seinen Zwecken umzufunktionieren. Er stellte Holzpfähle für sein Morgentraining auf. Das bewies eindeutig, wie lange der Freund zu bleiben gedachte. Und auch der Gedanke gefiel mir.

„Also, Papa, was machen wir jetzt?“, fragte Megumi, als sie sich neben mir hin hockte.

„Na was wohl. Wir warten die Testergebnisse ab… Mama.“

Obwohl sie diese Antwort, genauer gesagt, diese niedliche Bezeichnung erwartet haben musste, wurde Megumi rot.

„Und dann? Selbst wenn sie feststellen, dass er nicht infiziert ist, dass er kein Überträger ist, was dann? Laysan braucht ein Zuhause. Wie viele Daina sind gestorben, um ihm das Leben zu retten? Wir sind ihnen gegenüber in der Pflicht.“

Da hatte sie Recht, schlicht und einfach Recht. Als wir Laysan von den halb infizierten Daina übernommen hatten, hatten wir auch die Pflicht für ihn übernommen. Ich seufzte leise. Vielleicht sollte ich mich an den Namen Papa gewöhnen. Irgendwann würde Laysan mich so nennen. Mich oder Yoshi, oder Eikichi oder Opa Michael…

„Hm“, machte ich in Gedanken. Wenn ich Laysan nun beibrachte, Eikichi Opa zu nennen, dann konnte das lustig werden. Ach nee, eventuell brachte es ihn auf dumme Gedanken, oder noch schlimmer, es gefiel ihm.

„Woran denkst du, Akira?“

„N-nicht so wichtig.“

„So?“ Megumi streckte sich. Es war bereits zwei Uhr morgens, aber wir benahmen uns, als wäre helllichter Tag. Der nächste Tag würde schwer werden, sehr schwer. Eigentlich war es höchste Zeit für uns alle, im Bett zu verschwinden, und wenn ich mir das hübsche Mädchen neben mir ansah, dann musste es nicht unbedingt mein Bett sein und… Himmel, was dachte ich denn da? Und vor allem, warum dachte ich es mit der Begründung, Laysan schlief ja schon? War ich doch für den Liberty-Virus empfänglich und begann er gerade mein Hirn aufzulösen?

Sie gähnte neben mir. „Wenn es nicht wichtig war, gehe ich jetzt schlafen. Das solltest du auch tun, Akira. Es war ein harter Tag für dich.“

„Irgendwie glaube ich nicht daran, dass er schon vorbei ist.“ Nein, der Ärger begann erst. Wir mussten Papiere für Laysan besorgen, Bekleidung, uns um seine Schule kümmern und… Nun, zum ersten Mal war ich dankbar, dass Sakura rüber gekommen war. Sie würde sich um den Schriftkram kümmern. Die Mädchen würden dann mit dem Jungen einkaufen und… Der Arme.

„Ich frage mich, wann wir Laysan ordentlich befragen können. Er hat fünf Tage in der Festung überlebt. Er wird zumindest den Weg kennen, um aus ihr heraus zu kommen. Vielleicht weiß er noch ein wenig mehr.“

„Hm. Denkst du wirklich, das ist die richtige Zeit, an so was zu denken? Außerdem, ist das nicht unfair einem kleinen Jungen gegenüber? Er braucht Liebe, und keine Verhöre.“

„Tadel mich nicht. Ich bin im Krieg, und der Junge ist vielleicht der Schlüssel dafür, ihn endlich zu beenden. Wenn wir verhindern können, dass weitere Daina aufgetaut werden, bricht der Nachschub an Infizierten ab. Und dann rückt das Ende des Krieges in greifbare Nähe. Wenn du das nicht verstehst, ist das in Ordnung. Aber dran hindern kannst du mich nicht.“

Für einen Moment erwartete ich eine saftige Ohrfeige, verbunden mit dem Hinweis, wie unheimlich oder grausam ich doch war. Stattdessen bekam ich einen Kuss auf die Wange. „Ich bin sicher, du wirst nichts tun, was schlecht für Laysan ist“, hauchte sie. „Außerdem verdienst du noch ein Lob für die Geschichte mit der Treppe. Es hat uns allen viel bedeutet, dass er sich beruhigt hat.“

Sie erhob sich, strich ihre Kleidung glatt und gähnte. „Gute Nacht, Kuroi Akuma. Egal wie Joan die Sache sieht, für mich bist du ein Held.“

„Helden sind pathetisch“, erwiderte ich. „Und das trifft wohl auf mich zu, oder? Gute Nacht, Megumi.“
 

Eine halbe Stunde später war Yoshi fertig. Auch er gähnte herzhaft, als er zu mir herüber kam. „Ein langer Tag und eine viel zu kurze Nacht, hm? Du solltest ins Bett gehen.“

„Ich habe auf dich gewartet, alter Freund“, brummte ich statt einer Antwort. Ich sah ihn an. „Wie sehr kann ich dir vertrauen?“

„Nun, wenn es um Frauen geht, nicht einen Millimeter weit. Aber ansonsten so weit wie du Makoto werfen kannst.“

„Das ist ne Menge“, stellte ich fest.

„Ja, nicht?“ Yoshi zwinkerte mir zu.

„Ich habe den Ärger mit Joan, du erinnerst dich?“

„Nur zu gut. Aber so einen Ärger hätte ich auch gerne. Ich meine, hast du sie dir mal angesehen? Sie ist hübsch! Ich meine, sie ist ein Cop, aber sie ist hübsch.“

„Hübsch hin, hübsch her, würde sie sich mit der Erklärung zufrieden geben, dass ich die Welt rette – und zwar nicht auf dem PC?“

„Ähemm!“

„Okay, dass wir die Welt retten.“

„Schon besser, schwarzer Teufel.“

„Ich muss sie irgendwie loswerden. Ich meine, ich will nicht, dass sie aus meinem Leben verschwindet oder so. Aber diese Kuroi Akuma-Sache, die würde ich gerne aus der Welt schaffen.“

„Das ist einfach. Hör auf damit. Ich war schon immer der Meinung, dass… Okay, ich weiß ja, ich weiß. Du spielst damit Lockvogel für KI-Biester. Dann leg dir ne neue Maske zu oder zieh ein Superheldenkostüm an. Oder such dir ein Vorbild aus deinen Mangas. Es gibt da diese Magical Girl-Serie, die du so gerne liest. Wäre das nicht was für dich?“

„Bah! Miniröcke und Ballkleider stehen mir einfach nicht.“

„Gut, wenn die dir nicht zusagen, dann vielleicht der Smoking vom Helden?“

„Die Serie hat einen Helden? Ich kenne nur dieses bedauernswerte Würstchen, das ständig entführt, in Stein verwandelt, dann wieder entführt und letztendlich ein Dutzend mal gerettet werden muss.“

„Aber er trägt einen tollen Smoking, oder?“

„Zugegeben“, erwiderte ich. „Zugegeben. Aber ich hasse den Kummerbund.“

Wir lachten, und es tat gut, richtig gut.

„Morgen ist Emi wieder einsatzfähig, oder?“

„Mako erwähnte etwas in der Richtung, ja.“

„Das heißt, wir könnten morgen die Schwarmzeit schwänzen, oder?“

„Akira, dieser Blick gefällt mir gar nicht. Das bedeutet doch wieder Ärger, Ärger, Ärger. Ich bin dabei.“

„Du wirst es bereuen, alter Freund.“

„Das will ich auch schwer hoffen.“ Yoshi zwinkerte mir zu. „Stell die Welt auf den Kopf, Otomo-Pest.“

„Mehr als sonst schon?“, erwiderte ich, gähnte herzhaft und erhob mich. Ich entschied mich dafür, den Tag für beendet zu erklären.

Morgen würde es lustig genug werden…

Zweiter Traum: Finale

Prolog:

„Guten Morgen, Akira.“

„Morgen, Dai-chan“, murmelte ich und wälzte mich aus dem Bett. Ich ersparte mir die üblichen Fragen wie: Wo kommst du denn her oder wie kommst du hier rein. Wenn man lange genug Seite an Seite gekämpft hatte, nahm man manche Dinge als gegeben an und konzentrierte sich auf das Wesentliche. In unserem Fall war es der Kontinent Mu. „Ärger drüben?“

Der schwarz gekleidete Krieger schüttelte leicht den Kopf. Im Gegensatz zu mir und den anderen war er fast immer auf Mu und verrichtete dort seinen Dienst als Offizier auf der AO. Es kam selten genug vor, dass er einmal in seine Heimat zurückkam. Soweit ich wusste, hatte er schon vor langer Zeit mit seiner Familie gebrochen, ein Umstand, den ich persönlich sehr traurig fand.

„Kein Ärger, Akira. Aber Otomo-sama hat mir aufgetragen, mal nach dir und dem Jungen zu sehen.“ Er senkte leicht den Blick. „Entschuldige, dass ich dir kaum eine Hilfe bin, und dass ich dir heute auch noch auf die Nerven gehe.“

„Keine Hilfe, wie meinst du das?“

„Du weißt was ich meine“, erwiderte Daisuke.

Dai-chan war unsere Nachhut, unser Torwächter. Während wir, die Offensiven, den Feind direkt angriffen, räumte er hinter uns auf und verhinderte, dass die verseuchten Daina die AO stürmen konnten. Sicher, für einen unbekümmerten Beobachter konnte das durchaus wirken, als wäre Daisuke weniger stark oder weniger fähig als die anderen. Teufel, letzte Nacht hatte ich nicht mal daran gedacht, dass er auf unserer Seite kämpfte. Aber auf ihn verzichten? Niemals!

„Jeder hat seine Last zu tragen, und jeder nach seinem Talent. Du bist flink und stark, aber nicht besonders ausdauernd. Das macht dich zur idealen Nachhut. Das ist doch kein Fehler.“ Misstrauisch wölbte ich die Augenbrauen. „Und nimm mich nicht als Beispiel, hörst du, Dai-chan? Gegen mich verliert selbst Kitsune, also ist das eine schlechte Idee.“

Daisuke schloss seinen Mund. Hatte er etwa wirklich mich als Maßstab nehmen wollen? Konnte man noch unfairer gegen sich selbst sein?

Ich seufzte und stand auf. „Okay, Kumpel, was ist los mit dir? Willst du vorne mitspielen? Sollen wir dir mehr Gegner übrig lassen? Oder ist es etwas völlig anderes?“

„I-ich weiß nicht. Vielleicht brauche ich einfach mal Urlaub, etwas Abstand vom ewigen töten. Ich meine, wenn Emi zurück ist, kann sie mich am Tor ersetzen, oder? Sie ist auch stark, ziemlich flink, hat aber nur eine geringe Reichweite.“

„Treffend formuliert, Dai-chan. Du willst Urlaub? Meinetwegen. Nimm dir Zeit, wenn du dir selbst nicht mehr sicher bist. Und wenn du schon mal da bist, kannst du gleich hier bleiben. Da steht noch ein Zimmer leer, das du haben kannst.“

„Weißt du, Akira, ich will dir keine Umstände machen.“

„Umstände machen? Kumpel, ich verlasse mich beinahe jeden Tag auf dich. Es ist dein gutes Recht, dass du dich auch mal auf mich verlassen kannst, okay? Also zögere nicht lange und nimm das Zimmer. Außerdem bleibst du so in meiner Nähe, falls wir alle Krieger brauchen.“

„Was? Du würdest mich aus meinem wohlverdienten Urlaub reißen?“, argwöhnte Daisuke.

„Ohne zu zögern.“ Ich lachte rau. „Ich verzichte nicht gerne auf dich, damit das klar ist.“

Die Miene des Freundes hellte sich auf. Nun, diesen Felsen im Fluss seiner selbst zerstörerischen Argumente hatte ich umschifft.

„Außerdem, mein alter Freund, kommst du gerade zur rechten Zeit. Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Akira, deine Augen gefallen mir gerade überhaupt nicht. Was planst du schon wieder?“

„Nichts Besonderes. Nur eine kleine Tragödie aufzuführen.“

Daisuke zog die rechte Augenbraue hoch. „Und welche Rolle soll ich dabei spielen?“

Ich musterte den Freund für einige Zeit. „Hast du eigentlich ein Handy?“

***

Merkwürdig. Beim Frühstück wunderte sich niemand darüber, dass Daisuke mit am Tisch saß. Sicher, Megumi hatte ihn drüben gesehen, auf der AO. Aber das erklärte nicht, warum er jetzt in diesem Haus war.

„Also, ich gehe mit Laysan heute einkaufen. Ich habe noch ein paar Urlaubstage, die ich ohnehin nehmen wollte“, sagte Sakura bestimmt. „Aber das kann kein Dauerzustand sein. Akira, wir müssen uns eine bessere Lösung überlegen.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber im Moment habe ich keine bessere Idee, als ihn in den Kindergarten zu schicken.“

„Hm. Das wäre zumindest ein Anfang.“

Zufrieden nickte Sakura.

„Ob es den Kindergarten noch gibt, den wir zusammen besucht haben, Akira?“, fragte Megumi nachdenklich. „Der war doch gut, oder? Vielleicht sollten wir uns den mal ansehen.“

„Was denn, was denn, Mama, bist du schon in deiner Rolle aufgegangen?“, neckte ich sie.

Ich wartete ihre Antwort nicht ab und winkte in die Runde. „Bevor ich es vergesse, ich nehme mir heute einen Tag Auszeit. Bitte erfindet eine Ausrede für mich.“

„Kein Problem. Ich erledige das schon, Akira“, sagte Yohko. „Willst du vielleicht einkaufen helfen?“

„Nein, ich muss mich um ein paar Sachen erledigen, um die ich mich seit gestern kümmern muss. Ich habe so das unbestätigte Gefühl, dass nicht nur die Zahl meiner Bewunderer, sondern auch die Zahl meiner Feinde sprunghaft in die Höhe geschnellt ist.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Megumi, hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?“

„Oh. Oh! Oh, tut mir Leid, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich wollte einfach nur nicht, dass diese Amerikanerin mir… Ich glaube, ich kann es jetzt nicht mehr ändern, oder?“

„Nicht wirklich. Damit wären wir schon beim nächsten Thema. Ich will sehen, wie weit Miss Reilley gehen wird, wenn ich nicht in der Schule bin. Bevor ich mich… Bevor WIR uns endgültig um dieses Problem kümmern werden.“ Ich grinste auf eine Art, wie ich sie immer bei Dai-Okame-sama sah, wenn er Menschengestalt angenommen hatte und sich auf einen Kampf freute. Normale Menschen und Dämonen nahmen nach diesem Grinsen immer einen Sicherheitsabstand zu ihm ein.

Mein Grinsen wurde erwidert, zuerst von Yoshi, dann von Daisuke.

„Jungs“, fragte Sakura mit mühsam beherrschter Neugier, „was habt Ihr vor?“

„Oh, nur ein kleines Laienspiel. Eine simple Tragödie, um… Etwas abzuschließen.“

„Ich bin sicher, ich will keine Details hören“, erwiderte sie. „Oder besser gesagt, ich sollte wohl besser keine wissen.“

„Große Jungs“, tadelte Yohko. „Immer müssen sie ihren Spieltrieb ausleben.“

Das hätte mich beinahe zum lachen gebracht. In gewisser Weise trafen die Worte meiner Schwester auf den Kopf.

Ich erhob mich, strich Laysan über die Haare und winkte in die Runde. „Viel Spaß in der Schule heute. Übrigens wäre es nett, wenn mich jemand auf meinem Handy anruft, sobald Miss Reilley die Schule verlässt.“

„Moment, hast du nicht was vergessen? Ist da nicht noch was für dich zu tun, bevor du deinen obercoolen Abgang zelebrierst, O-nii-chan?“

„Richtig. Richtig. Willst du das übernehmen, Yohko-chan?“

„Natürlich, Megumi-chan.“ Sie lächelte und kniff dabei die Augen zu. „Ich habe meinen Bruder bisher noch immer in den Griff gekriegt.“

Sie erhob sich mit dem Lächeln eines Engels – und der Energie eines sprungbereiten Panthers. „So, O-nii-chan, ab ins Badezimmer. Es gibt da ein paar Poren zu retten.“

Ich wollte etwas erwidern, ablehnen, mich in mein Zimmer retten, aber ihre Rechte schloss sich mit der Endgültigkeit eines Grabdeckels um meinen Kragen. In einer sehr unbequemen Pose musste ich ihr folgen. Wenigstens lachten meine Freunde nicht. Aber ich wette, sie grinsten sich gegenseitig an.
 

1.

Den Vormittag verbrachte ich damit, lässig in eine schwarze Lederjacke gehüllt – immerhin war noch frühester Frühling – und mit genügend Tarnfarbe im Gesicht, um einen Marine begeistert pfeifen zu lassen, einige der Ecken auszukundschaften, die ich als Kuroi Akuma besucht hatte, wann immer mir mein anderer Job im Krieg mit den Daina Zeit dazu gelassen hatte.

Es war erstaunlich, wie oft ich wirklich auf ein Verbrechen gestoßen war. Etwas zu oft. War dieser Stadtteil so gefährlich, oder hatte ich einfach nur eine Nase für Gewalttaten?

Relativ früh hatte ich einen Schatten, der mich aufmerksam observierte. Wie weit würde der junge Mann in der legeren Baseball-Jacke wohl gehen, um mich zu verfolgen?

Hm, das versprach, spaßig zu werden. Ich nahm einen Zug in die Innenstadt, mein Schatten folgte mir. Nun war ich von meinem eigentlichen Aktionsradius entfernt, aber es entsprach dem neuen Muster, das ich in mein Verhalten einbauen wollte, damit Joan Reilley und ihre Vorgesetzte – Sarah war ihr Name, mehr wusste ich nicht – ordentlich ins Schwitzen kamen, wenn sie meinen nächsten Schritt vorhersagen wollten.

Shibuya oder Roppongi? Beides war relativ leicht zu erreichen, und der Shopping-Distrikt Shibuya würde es mir selbst so früh am Morgen erlauben einfach zu verschwinden, während in der Partyzone Roppongi um diese Zeit bestenfalls ein paar hundert Touristen unterwegs waren.

Hm, ich konnte auch den Shinkansen nehmen und Tokio verlassen. Runter nach Kyoto, obwohl das weit länger dauerte als ich für meine kleine Tragödie vorgesehen hatte. Aber es gab da ein paar Spezialitäten, die ich schon lange mal probieren wollte, und um mein Mittagessen musste ich mich heute ja selbst kümmern. Nudelsuppe mit gesüßtem Räucherhering sollte wirklich gut schmecken, hatte ich mir sagen lassen. Und mit gutem Essen war es wie mit gutem Wein. Je besser, desto weniger sollte er reisen.

Guten Wein trank man da, wo er gekeltert wurde, anstatt ihn zu sich zu holen. Auch ein gutes Essen genoss man am besten dort, wo es gekocht wurde.

Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, die berühmte Cancer Soup in Bread Bowl, Krebssuppe im Korbbrot, eine Spezialität in San Franzisko, hier in Japan zu probieren. Es wäre nur ein Abklatsch gewesen, wenngleich es mich sehnsüchtig an meinen einzigen Besuch in dieser Stadt erinnern würde.

War mein Schatten noch da? Oh ja.

Ich hatte auch noch nie das berühmte Essen in Hong Kong probiert. Es wäre nur ein kurzer Flug, und zum Abendessen wäre ich wieder daheim gewesen und… Nun, vielleicht sollte ich das Budget für Joans Ermittlungen nicht mit Gewalt überstrapazieren.

Letztendlich entschied ich mich für Shibuya. Niemand verlangte ja von mir, zu ernst zu bleiben und das nützliche nicht mit dem angenehmen zu verbinden. Es gab da ein paar Mangas, die ich mir endlich kaufen wollte. Außerdem standen noch ein paar Manhwas auf der Liste, Mangas von koreanischen Künstlern, die ich endlich mal ausprobieren wollte und…

Nun, mein Schatten war jedenfalls noch immer da und ließ sich nicht irritieren.
 

Als mein Handy klingelte, ließ ich mich auf der nächsten freien Bank nieder. „Ist sie auf dem Weg?“

„Du hast richtig geraten. Sie ist zwischen den Stunden einfach nicht wiedergekommen. Ich habe ihr zwanzig Minuten Vorsprung gegeben, um auf Nummer sicher zu gehen.“

„Danke, Yoshi. Das war gute Arbeit.“

„Nicht der Rede wert. Nur, um mit dir telefonieren zu können, musste ich mich aus der Klasse werfen lassen. Der Part war nicht so nett.“

„Nichts, was du mit deinem hinreißenden Lächeln nicht wieder hinkriegen würdest, alter Freund.“

„Ja, ja, spotte du nur. Ach, noch etwas, Akira. Megumi-chan wurde heute auf dem Schulweg mächtig umschwärmt. Sei froh, dass du heute nicht mitgekommen bist. Die Emotionen haben ganz schön hoch gebrodelt. Während die Mädchen versucht haben, Megumi-chan davon zu überzeugen, dass du ein brutaler, Mädchenverschlingender Dämon aus der Hölle bist, der sie mit seiner Anwesenheit nicht verunreinigen darf, haben die Jungs einfach nur tödliche und endgültige Rache geschworen, um Megumi-chan von dem Bann zu befreien, den du über sie geworfen hast.“

Ich lachte leise. Na, das waren wenigstens normale Zustände. Mit so etwas konnte ich umgehen, das war ich gewohnt. „Scheint so als würde ich morgen eine Menge Spaß haben. War noch irgendwas los? Ist Hatake-sempai auch bei Megumi gewesen?“

„Ja, und er war wirklich sauer. Er meinte, du würdest dein Training vernachlässigen.“

„Mein Training? Was ist denn ist denn mit Oberarschlochhalbgott Mamoru los?“ Unwillkürlich sah ich auf um mich zu vergewissern, dass er nicht gerade vor mir stand und mir aufmerksam zuhörte.

„Keine Ahnung. Aber ich soll dir sagen, dass du gefälligst morgen zum Training kommen sollst. Immerhin geht es um die Meisterschaften.“

„Ich überlege es mir. Immerhin gibt es wichtigere Dinge als Kendo im Leben.“

Ich seufzte leise. „So, das sollte eigentlich reichen, um mich zu orten. Du kannst wieder auflegen, Yoshi.“

„Was denn, was denn, hast du keinen Beobachter?“, spottete der Freund.

„Der muss nicht unbedingt zwingend von der Polizei sein, oder?“

„Apropos Polizei. Was, wenn sie dich hier als Schulschwänzer anschleppen, Akira?“

„Dann haben wir alle einen guten Grund, um mal richtig zu lachen. Bis bald.“

Ich legte auf, verstaute das Handy. Die Karten waren gemischt.

***

Eine Stunde später fand mich Joan Reilley auf einer Parkbank. Ich hatte mich weit nach hinten gelehnt und ließ mir die Sonne auf den Pelz scheinen, während sie sich von einem der Cops einen vorläufigen Bericht geben ließ. Ich sah sie aus den Augenwinkeln seufzen.

„Hier treibst du dich also rum, Kuroi Akuma“, sagte sie und nahm neben mir Platz.

Vorwurfsvoll sah sie mich an. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Du kannst es nicht lassen, egal ob mit oder ohne Maske. Was hat dich dazu getrieben? Ich meine, sie waren zu dritt.“

„Komm wieder runter. Sie waren untrainiert und haben außerdem nacheinander angegriffen. Außerdem, was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Daneben stehen und zusehen?“

„Es war ein Raubüberfall“, betonte sie.

„Ja, ein Raubüberfall. Mit Messern. Du weißt selbst, wie schnell das bei diesen Halbstarken ausarten kann. Welche Schlagzeile ist dir lieber? Jugendliche töten Ausländer bei Raubüberfall oder Oberstufenschüler zeigt Courage?“

„Wie wäre es mit: Akira Otomo schwänzt nicht die Schule?“, erwiderte sie. „Akira, das hätte furchtbar ins Auge gehen können! DU hättest… Hättest…“

„Was denn, was denn, du hast doch gesagt, ich bin Kuroi Akuma. Und dieser Knabe kann nicht verletzt werden, oder?“

„Du hast deine Maske nicht getragen. Ich weiß nicht, wie es zusammenhängt, aber deine enorme Kraft und die Maske sind eins.“

Es juckte mir in den Fingern, sie diesbezüglich zu korrigieren, aber dieser Erkenntnis von ihr spielte mir viel zu gut direkt in die Hände. Grandios. Phantastisch. Genial. Was für ein Klischee.

„Also, bin ich jetzt verhaftet? Wegen wiederholtem Vigilantentums?“

„Du hast ihnen doch nicht zu sehr wehgetan?“, argwöhnte sie.

„Nicht so sehr wie sie es mit ihren Messern gekonnt hätten“, erwiderte ich. „Ich war gnädig. Ein Schulterwurf, ein verstauchtes Handgelenk, und einer hat auch gekotzt, als sich herausgestellt hat, dass meine Faust härter als sein Magen ist. Wirklich, vollkommen untertrainierte Flaschen ohne Rückgrat. Stell dir vor, sie haben gebrüllt, bevor sie angegriffen haben. Gebrüllt! Genauso gut hätten sie ihre Angriffe ansagen können.“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Erstens, weil diese unkoordinierten Attacken so furchtbar lächerlich gewesen waren, zweitens, weil ich mein Glück, in diese Möchtgernverbrecherbande gerauscht zu sein, immer noch nicht fassen konnte.

„Diesmal ging es noch gut, Akira, aber das nächste Mal endest du vielleicht mit einem Messer zwischen den Rippen!“

„Pah. Habe ich was nicht mitgekriegt? Sind Polizisten seit neuestem gepanzert? Ein Messer ist ein Messer, und es ist ihm egal, durch welches Fleisch es schneidet, oder?“

„Das mag sein. Aber wir sind dafür ausgebildet. Und wir werden auch dafür bezahlt, zerschnitten, erschossen und Tot geprügelt zu werden. Du nicht. Verdammt, Akira, kannst du uns nicht einfach unsere Arbeit machen lassen? Warum musst du den Vigilanten spielen? Warum begibst du dich unnötig in Gefahr?“

Ich seufzte. Sollte ich ihr verraten, warum ich nach meinen Einsätzen auf der AO ab und an durch Tokio streifte? Sollte ich ihr von meinen Gewissensnöten erzählen, weil ich auf der Dämonenwelt kämpfte, mein Leben riskierte, aber hier, in diesen Straßen Menschen starben, weil ich es nicht verhinderte? Sollte ich ihr sagen, dass ich mich als Krieger verstand, und als dieser Krieger die Pflicht sah, meine Mitmenschen zu beschützen – notfalls voreinander?

„Zur Entspannung. Das wäre meine Antwort, wenn ich der schwarze Teufel wäre.“

„Verdammt! AKIRA!“

Für einen Augenblick sah ich Sternchen. Also, mit der Kelle hätte sie einem Pferd die Hufeisen mit bloßen Händen aufschlagen können. Und hätte ich eine Sonnenbrille getragen, hätte ich sie wahrscheinlich auf Okinawa wiedergefunden.

„Wofür war die?“, fragte ich ärgerlich und hielt mir die schmerzende Wange.

„Die war dafür, dass du so ein Riesenidiot bist!“, fauchte sie. Wütend stand sie auf, stapfte davon. „Und geh in die Schule, oder ich lass dich bringen und… Akira?“

Die paar Sekunden, die sie mir den Rücken zugewandt hatte, hatten mir gereicht, um zum nächsten größeren Baum zu springen. Dort stand ich nun hinter dem Stamm und beobachtete, wie Joan nach mir zu suchen begann. Richtig, ein normales menschliches Wesen konnte einhundert und mehr Meter nicht binnen von drei Sekunden bewältigen. Aber vermutete sie nicht ohnehin, dass ich kein normaler Mensch war?

Eigentlich war ihre Sorge rührend, auch wenn es nur beruflich war. Irgendwie.

Als mein Handy klingelte, nahm ich ohne zu zögern ab. „Otomo!“

„GEH ZUR SCHULE!“, blaffte Joan und legte wieder auf.

Ich grinste dünn. Meine Wange tat immer noch weh.

Als es erneut klingelte, hielt ich es nicht so nahe an mein Ohr. „Otomo.“

„Black Knight.“

„Treffpunkt?“

„Ja.“

Ich legte wieder auf und schaltete mein Handy ganz ab. Die Gefahr, durch das Stand by-Signal geortet zu werden war gering, aber ein vermeidbares Risiko.

Langsam wandte ich mich um und verließ den Park.
 

In einem modernen Fresstempel erwartete mich Black Knight bereits, oder genauer gesagt, Daisuke Honda. Sein Tablett war für das, was er sich ausgesucht hatte, gerade groß genug.

„Nanu? So verfressen?“

Missmutig starrte er mich an. „Dein toller Auftrag hat mich ne Menge Kraft gekostet. Weißt du wie schwierig es war, diese Sarah zu finden und zu beschatten? Das Mädel ist taff.“

„Hat sie dich bemerkt?“

„Bemerkt, festgenagelt, aber nicht festnehmen können. Wenn das der Boss von deinem Schwarm Joan ist, dann legt die aber noch ein paar Briketts aufs Feuer. Hey, das sind meine Burger! Hol dir selbst welche.“

„Sei nicht so ichbezogen. Die schaffst du doch sowieso nie alle.“

„Du holst die zweite Rutsche, klar?“

„Abgemacht. Also, wie ist sie?“

„Sarah Anderson. Amerikanerin wie Miss Reilley. Beide seit zwei Jahren im Land. Irgend so ein internationales Austauschprogramm. Sie sind auf Ausländerkriminalität und Jugendkriminalität spezialisiert. Aufgrund ihres erfrischend jungen Aussehens – was übrigens kein Fake ist, ich habe ihre Geburtsdaten in ihren Akten verifiziert, zusammen mit enorm guten und enorm schnellen Abschlüssen an ihrer Polizeiakademie – werden sie oft Undercover eingesetzt. Die beiden wechseln sich dabei als Lockvogel ab, wobei Sarah Anderson aber eher das Gehirn und Joan Reilley der Muskel ist.“

„Muskel. Kaum zu glauben bei diesem zarten Geschöpf“, brummte ich.

„Zweiter Dan in Karate, brauner Gürtel in Karate. Und Aikhido macht sie auch, soweit ich weiß.“

„Was? Kein Sumo?“, scherzte ich.

„Hat sie mal gemacht, aber ihre enorme Brutalität, mit der sie ihre Gegner aus dem Ring geworfen hat, führte zu ihrer lebenslangen Sperre.“

Mir fiel der Burger aus der Hand. „Du verarschst mich.“

„Natürlich verarsche ich dich.“

„Du verdammter…!“

Daisuke stopfte mir einen weiteren Burger zwischen die Zähne. „Klappe zu und Ohren auf. Also, soweit ich es ermitteln konnte, haben sie ein Team von elf erfahrenen Inspekteuren, die auf den Vigilantenfall Kuroi Akuma angesetzt sind. Außerdem haben sie Zugriff auf ein bis drei Einsatzkommandos, falls es hart auf hart geht.“

Daisuke grinste mich an. „Und weißt du, warum sie so einen Aufwand draus machen? Du erinnerst dich an die Fahrerflucht vor drei Monaten?“

„Hm. Sag mir nicht, das war Daddys Lieblingssohn, und Daddy ist zufällig in der Politik.“

„Fast. Daddy ist bei der Polizei und stinksauer, dass sein Sohn jetzt vorbestraft ist. Der Bengel muss mächtig leiden, aber auf dich hat er richtig Wut. Frag mich nicht, warum sie nicht einfach mit einem maskierten Kommando vorbei kommen, um dich durchzuprügeln, und dich stattdessen von zwei Schönheiten observieren lassen.“

Ich runzelte die Stirn. „Die Maskentypen waren Polizisten? Das erklärt ihren Kampfstil.“

Nun war Daisuke überrascht genug, um seinen Burger fallen zu lassen. „Du verarschst mich.“

„Natürlich verarsche ich dich. Erzähl weiter. Wie sind sie auf mich gekommen?“

„Es gibt ein paar Aufnahmen von Kuroi Akuma. Dazu Schätzungen zu deinem Gewicht, deiner Größe und eine Bestimmung deiner Haarfarbe. Danach haben sie alle Aufnahmen verglichen, die sie haben und Berechnungen angestellt. Das brachte sie zum Schluss, dass du noch im Wachstum bist. Und da begann die eigentliche Ermittlung mit den jüngsten Fotos. Braune Haare sind jetzt nicht so selten, aber deine Körpergröße ist es. Du bist zu groß für den durchschnittlichen Oberstufenschüler. So sind sie dir auf die Schliche gekommen. Es gab noch ein paar andere Kandidaten, aber anscheinend ist die Otomo-Pest gefrustet genug gewesen, um sich mal eben als Held der Nacht abzureagieren. Nun, die Wetten stehen neun zu eins gegen dich, aber die Ermittlungen wurden noch nicht abgeschlossen. Das ist der einzige Grund, warum du noch nicht verhaftet wurdest.

Oder um es mal anders auszudrücken, die beiden hübschen Käfer meinen es gut mit dir. Wenn du den Vigilantenkram sein lässt, dann werden sie den Fall als ungelöst zu den Akten legen.“

„Stand das in meinem Dossier? Vielleicht ein kleiner Hinweis, den ich finden sollte?“

Für einen Moment war Daisuke sprachlos. „Es würde passen. Mist, werde ich alt?“

„Schon in Ordnung, schon in Ordnung. Der Gedanke ist mir auch gerade erst gekommen. So, ich kaufe jetzt eine neue Rutsche Burger. Wir werden eine Menge Kraft brauchen, nachher.“

„Einverstanden.“

Operation Hydra konnte beginnen.

***

Der Vorteil daran, ein absoluter Egomane zu sein war, dass man tun und lassen konnte, was immer man wollte. Ich begann, Gefallen an dieser Einstellung zu finden, während ich auf der oberen Plattform des Tokio Towers stand – um präzise zu sein, auf dem Dach – unter mir das nächtliche Tokio sah und den Wind durch meinen nagelneuen Umhang rauschen spürte.

Es war etwas kühl, genauer gesagt saukalt. Aber ich widerstand der Versuchung, mir eine dicke Jacke zu besorgen oder den Umhang eng um meine Schultern zu ziehen.

Immerhin wollte ich meine coole Pose nicht ruinieren.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die nächtliche Stadt schweifen, über das Lichtermeer, die Autokolonnen, das Menschentreiben. So musste sich einer dieser Comic-Superhelden fühlen, wie sie in diesen schrecklich pathetischen Vielfarbigen Heften dargestellt wurden, ging es mir durch den Kopf. Nun, da ich dieses Gefühl selbst erlebt hatte, konnte ich es ihnen nicht mehr übel nehmen. Hm, wenn die Stadt nur etwas toleranter gegenüber Vigilanten gewesen wäre, dann hätte es vielleicht irgendwann auf dem Dach des Polizeihauptquartiers einen Gigantscheinwerfer gegeben, der das Kuroi Akuma-Zeichen an den Nachthimmel geworfen hätte, um mich bei besonders kniffligen Fällen zu Hilfe zu rufen.

Ich hätte mir einen Sidekick auswählen können, vielleicht sogar ein ganzes Team, und gemeinsam hätten wir die Menschen beschützt und… Himmel, das machte ja richtig besoffen. Ich beschloss, coole Posen von meinem Tagesplan zu streichen. Das verführte nur zu Unsinn.
 

„So. Hier bist du also.“

Ich wandte mich um und rückte die Maske zurecht. Mit der anderen raffte ich den Umhang um mich. „Guten Abend, schöne Dame“, empfing ich Joan Reilley. Zum ersten Mal wusste ich es zu schätzen, dass meine Stimme unter Akaris Maske dumpf klang.

„Du hast dir meine Worte also nicht zu Herzen genommen, Akira“, stellte sie fest und setzte sich neben mich. „Was bist du? Ein dämlicher Adrenalin-Junkie? Dann spring doch mit einem Gummi-Seil von Brücken, lerne Fallschirmspringen, aber lass das!“

Ich lachte amüsiert. „Ich denke, Sie verwechseln mich, junge Dame. Weder bin ich ein Adrenalin-Junkie, noch dieser Akira.“

Sie sah zu mir herüber und konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Natürlich hatte sie mich so genau und endgültig erkannt wie ein durchschnittlicher Fernsehzuschauer den aktuellen Sender am Symbol in der Ecke des Bildschirms. Es war unvermeidlich. Und das war auch Teil meines Plans.

„Was muss ich tun, damit du mit diesem Unsinn aufhörst? Denk dran, du kannst deine Jagd nach Ganoven legal machen. Alles was du tun musst, ist nach der Schule auf die Akademie kommen. Du hättest eine große Zukunft bei uns.“

„Abgelehnt. Ich habe keine Zeit für Kindereien.“

„Das sind keine Kindereien. Das sind alles Gelegenheiten, bei denen ein Kind wie du schwer verletzt oder sogar getötet werden kann. Kapierst du das nicht? Geht das nicht in deinen dämlichen Schädel rein? Ich mache mir Sorgen um dich! Ich habe Angst um dich! Kannst du es nicht einfach lassen, vielleicht mir zuliebe?“

Ich hörte es und ich spürte es, Joan meinte jedes einzelne Wort ernst, bitter ernst.

„Was… Kann ich irgendetwas tun? Bist du bestechlich, Akira? Willst du ein Praktikum bei uns machen? Gibt es nichts, was dich überzeugen kann?“

Ihre Hand langte nach mir, und ich hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren.

Ihre Rechte war trocken, und sehr warm. Und ihre Augen waren verzweifelt und feucht von den Tränen, die ihre Wangen herab liefen. Oh ja, sie war eine wunderschöne Frau. Jetzt noch mehr denn je, wo sie vor meinen Augen vor Sorge fast verging.

Hätte sie die Wahrheit akzeptiert? Ein Ausflug auf die AO hätte ihr vielleicht gezeigt, wie unsinnig ihre Angst um mich hier in Tokio war. Und sie hätte gelernt, dass sie eher Angst um mich haben sollte, wenn ich auf Mu auf Leben und Tod kämpfte.

„Willst… willst du mit mir schlafen? Gibst du dieses Leben dann auf?“

Erschrocken zuckte ich zusammen. Meine Knie wurden weich, und nur mit Gewalt konnte ich mich auf den Beinen halten. Und ich sehnte mich sehr an mein Leben von vorgestern zurück, als mir die Frauen weder die Liebe erklärt, noch mir die Küsse gestohlen, noch mich plötzlich mit Sex konfrontiert hatten. In meinen Ohren rauschte es, als mein Gehirn Gemeinerweise entschieden hatte, einen besonders starken Cocktail an Pheromonen auf meinen Körper los zu lassen.

Meine Rechte krallte sich schmerzhaft in meinen Oberschenkel. Der Schmerz brachte mich ein wenig zur Besinnung. „Ist es das? Deine ultimative Waffe? Wie weit würdest du gehen, damit dein Vorgesetzter zu seiner kleinlichen Rache kommt?“

Ich spürte ihr Entsetzen. Und ich spürte, wie ihre Hand in meiner zu zittern begann. „Akira, ich…“

„Wie ich schon sagte. Ich kenne Akira nicht. Nein, das ist falsch. Ich kenne zehn oder elf Akiras. Aber ich bezweifle das dein Akira unter ihnen zu finden ist.“ Langsam zog ich meine Linke aus ihrem Griff. „Ja, ich weiß von dem Polizei-Offizier. Ich weiß von seinem Sohn und seiner Verurteilung nach der Fahrerflucht. Schäm dich, junge Dame.“

„I-ich…“ Sie schluckte hart. Ihre Stimme versagte und die Tränen begannen stärker zu fließen.

Oh, sie brauchte es nicht zu sagen, damit ich es wusste. Natürlich tat sie das alles nicht auf Anweisung ihres Vorgesetzten, der einen persönlichen Hass auf Kuroi Akuma entwickelt hatte. Alles, ihre Sorge, ihre Blicke und letztendlich auch ihr Angebot, mit ihr zu schlafen, waren ihr voller Ernst und ihre persönliche Entscheidung gewesen. Sie machte sich wirklich Sorgen um mich. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Das passte nicht in meinen Plan.

„Akira“, hauchte sie.

„Ist jetzt nicht der Zeitpunkt für das große Finale gekommen?“, erwiderte ich ernst. „Musst du jetzt nicht das Greifkommando rufen? Zwei bis drei Dutzend schwer bewaffneter Einsatzpolizisten mit scharfen Waffen?“

Ich deutete auf verschiedene Wartungsluken. „Hier, hier und hier.“

Die Klappen flogen auf, und die erwähnten Polizisten kletterten hervor, zielten mit ihren halbautomatischen Waffen auf mich und brüllten so lustige Sachen wie: Halt, Polizei! Oder: Auf den Boden!

„Hm. Das ist alles so unvollständig. Ich hätte noch einen Hubschrauber erwartet. Genau dort.“

Ich streckte meine Hand aus, und vor mir stieg ein Polizeihubschrauber auf. Er erfasste mich mit zwei grellen Scheinwerfern.

Unter der Maske grinste ich. Noch ein, zwei Fernsehsender dazu, und die Sache war perfekt.

„Akira! Lass dir helfen! Bitte!“, rief Joan herüber.

„Ich glaube, ich sollte lieber auf die Typen mit den Waffen hören! Weißt du, was sie sagen? Auf den Boden!“

Langsam trat ich an den Rand der Plattform heran.

„AKIRA!“

Dutzende Zielpunkte von Laservisieren vereinigten sich auf meinem Körper. Auf zu einem grandiosen kleinen Finale. Ich trat mit meinem rechten Fuß ins Leere.

Joan schrie entsetzt auf.

Dann zog ich den zweiten nach. Langsam begann ich zu Boden zu sinken. Mein Umhang wurde vom Wind aufgeweht. „Wir sehen uns auf dem Boden, junge Dame!“, rief ich über den Lärm des Hubschraubers hinweg, während ich langsam in die Tiefe sank.

KI war doch eine wundervolle Sache.

Eröffneten sie das Feuer auf mich, einen Verdächtigen auf der Flucht? Oder waren sie einfach zu ergriffen vom Anblick eines Menschen, der fliegen konnte?

Nun, ich musste den Einsatz erhöhen, so oder so.

Also sprang ich auf die untere Plattform herab, federte mit den Knien nach und stützte mich zusätzlich mit einer Hand ab. Der Hubschrauber folgte sofort, nahm mich in den Lichtkreis seiner Scheinwerfer auf, während auf der oberen Plattform die Polizisten an den Rand traten. Wieder tasteten die Laserzielpunkte ihrer Visiere nach mir.

Ich sprang erneut, diesmal bis auf den Platz hinab. Diesmal brauchte die Hubschraubermannschaft ein paar Momente, um mich wieder in den Spot ihrer Scheinwerfer zu kriegen. Allerdings waren sie hier nicht ganz allein, weitere Polizeieinheiten warteten hier.

Hm, da war wohl jemand besonders schlau gewesen.

Ich sah direkt in eine niedliche Walter und in ein noch niedlicheres Paar Augen, das mich entschlossen fixierte.

„Akira Otomo, Sie sind hiermit vorläufig festgenommen!“

Hm, das musste Sarah Anderson sein. In einem anderen Leben, in einer anderen Zeit hätten wir wunderbare Freunde werden können, ging es mir durch den Kopf.

„Sie irren in zwei Punkten“, erwiderte ich ruhig. „Der erste Punkt ist, ich bin nicht Akira Otomo, obwohl mir dieser Name irgendwie gefällt. Der zweite Punkt ist, ich bin nicht festgenommen!“

Ich wirbelte herum, mein Umhang flatterte auf, und ich sprang. Mit einem Satz war ich fünfhundert Meter vom Tower entfernt.
 

Dem Hubschrauber fiel es nun sehr viel schwerer, Kuroi Akuma wieder in den Fokus seiner Scheinwerfer zu bekommen, aber langsam bekam die Crew Übung darin. Der flatternde Umhang war natürlich ein deutlicher Hinweis. Dies war der Beginn eines Katz und Maus-Spiels, bei dem Kuroi Akuma mehr und mehr aus Roppongi raus getrieben wurde. Es war eine Hatz, die sich stundenlang hinzog. Noch hatte kein Polizist das Feuer eröffnet, und das passte auch ganz gut in meine Pläne.

Der einzige Fluchtweg war Osten, und das bedeutete die Bucht von Tokio.

Die Polizisten waren motiviert und angepisst, eine schlechte Kombination für ihre Beute, die sich immer wieder durch gigantisch weite Sätze zu entziehen versuchte. Aber sie schlossen den Ring immer enger um ihn, trieben ihn mehr und mehr vor sich her, während sich zum Polizeihubschrauber weitere gesellten – darunter die von einigen Fernsehsendern, die da eigentlich absolut nichts zu suchen hatten.

Und dann… Dann hatte Kuroi Akuma nur noch den Hafen im Rücken. Von Norden, Westen und Osten rückte die Polizei ein, Spezialeinheiten, Verkehrspolizei, Schaulustige, es hätte nicht viel gefehlt, und die Armee wäre ebenfalls aufgetaucht. Zumindest aber die Wasserschutzpolizei war eingeschaltet worden. Während sich Kuroi Akuma wie ein verängstigtes Raubtier auf den höchsten Punkt zurückzog, in diesem Fall die Spitze eines großen Verladekrans, kamen sie nun auch von der Seeseite mit ihren Schnellbooten heran.

Wieder wurde Kuroi Akuma vom Licht der Scheinwerfer gebadet. Und ich war mir sicher, ein paar Sender würden nun eine Live-Übertragung bringen. Letztendlich hatte ich in dieser Rolle nie das Image eines Robin Hoods, sondern war selbst irgendwie das böse gewesen.

Gut. Genau das brauchte ich für den finalen Akt.

„Akira Otomo! Sie sind vorläufig festgenommen! Kommen Sie herab und heben Sie die Hände!“

Ich schmunzelte. Danke, Sarah Anderson, das war das I-Tüpfelchen gewesen, das auf dem Kuchen noch gefehlt hatte.

Gigantisch, wie sich Menschen manipulieren ließen, wenn sie sich dessen nicht bewusst waren.

Kuroi Akuma bereitete nun das Finale Furioso vor. Er zog eine Waffe aus seinem Anzug. Es war eine Glock 17L, eigentlich eine Sportwaffe. Aber diese hatte ebenfalls ein Laservisier.

„ER HAT EINE WAFFE!“, rief jemand.

„NIEMAND SCHIEßT!“, blaffte Sarah Anderson.

„Otomo-kun, dies ist die letzte Aufforderung! Kommen Sie da runter!“

Der Laserpunkt erschien auf dem Beton der Kai-Anlage und wanderte mit quälender Langsamkeit zu einem der Scharfschützen herüber.

Nun, der Mann hätte es eigentlich besser wissen müssen als zu glauben, dass eine Sportpistole nur wegen eines Laserpointers auf zweihundert Meter genau schießen konnte.

Der Mann reagierte so, wie seine Natur es ihm vorschrieb. Er biss zuerst.

Deutlich konnte man sehen, wie Kuroi Akuma in der Brust getroffen wurde. Bei ihrem Austritt wehte sie seinen Umhang auf. Er breitete die Arme aus und fiel nach hinten, hinein in das Hafenbecken. Als kurz darauf eines der Schnellboote der Hafenpolizei über diese Stelle fuhr, färbte sich das Wasser im Licht der Scheinwerfer blutrot.
 

Ich lächelte dünn. Nun war es Zeit für meinen Auftritt. Die Menschen schrieen durcheinander, Polizisten eilten an die Kai-Anlage, eine ziemlich frustrierte Einsatzleiterin stauchte den Scharfschützen zusammen… Und Akira Otomo ging wütend auf genau diese Einsatzleiterin zu. „Na Klasse!“, fuhr ich sie an.

„Wie sind Sie durch die Absperrungen gekommen? Gehen Sie sofo… Otomo?“

„Richtig. Akira Otomo! Der Mann, den Sie verdächtigen, Kuroi Akuma zu sein! Sehen Sie mich an! Ich wurde nicht erschossen! Ich bin nicht klatschnass, weil ich ins Hafenbecken gefallen bin! Und ich kann auch keine dreihundert Meter weit springen! Dafür haben Sie jetzt aber einen Toten im Hafenbecken. Oder vielmehr viele kleine Reste, denn wie es aussieht, hat ihn eine Schiffsschraube zerfetzt!“

„AKIRA!“ Etwas Schweres fiel gegen mich, und es schien da nur zu gerne bleiben zu wollen. „Akira, ich dachte ich sehe dich sterben!“

Ich wand mich in dem unbequemen, aber recht angenehmen Griff. „Glaubst du mir jetzt, dass ich nicht Kuroi Akuma bin, Miss Reilley?“

Ich war mir sehr bewusst, dass diverse Fernsehkameras die Szene auffingen. Und Sarah Anderson war sich wohl sehr bewusst, dass sie gerade ihre Karriere gefährdete. Was wog schwerer? Ihre Liebe zur Polizeiarbeit, oder ihre Eitelkeit.

Mich traf eine Ohrfeige. Das zweite Mal schon an diesem Tag. Joan ließ mich los und sah mich anklagend an. „DU warst das auf dem Tower! Wie hast du das gemacht? Wie konntest du… Wie…? Wer ist da für dich gestorben? Akira!“

„Lass gut sein, Joan. Wir haben Kuroi Akuma erwischt. Daran besteht kein Zweifel. Er hat uns diese unglaublichen körperlichen Fähigkeiten präsentiert, oder? Dein Akira Otomo nicht.“

Sie sah mir in die Augen. Und ich sah alles darin. Sie glaubte mir nicht. Sie hatte mich nach wie vor im Verdacht, Kuroi Akuma zu sein. Und sie erkannte das, was da gerade passiert war, als Komödie. Aber es hatte einen Toten gegeben, und nun würde sie die Ermittlungen abschließen müssen, bis Kuroi Akuma erneut auftauchte. Oder die Obduktion der Leiche Zweifel erbrachte. Ich lächelte dünn. Es würde keine Leiche geben. Es würde keine Obduktion geben. Nur ein wenig Blut im Meerwasser, dessen Blutgruppe nicht mit meiner übereinstimmte.

„Heißt das, die Ermittlungen gegen mich sind eingestellt?“

„Es sieht so aus, als müssten wir den Fall abschließen“, erwiderte sie. Hm, sogar der rachsüchtige Vater würde sich mit diesem Ergebnis zufrieden geben müssen.

Ich nickte in ihre Richtung und wandte mich um. „Danke, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, Joan. Hm, irgendwas sagt mir, dass wir uns morgen in der Schule sehen werden, oder? Gute Nacht, die Damen.“

Der Fluch, der bis zu mir trug, disqualifizierte eine von ihnen vom Begriff Damen, aber merkwürdigerweise gefiel mir das.

***

Eine weitere Stunde später saß ich mit zwei anderen Männern auf dem Dach eines Lagerhauses und starrte auf die noch immer laufenden Ermittlungen der Polizei. „Gute Arbeit, Jungs.“

Links von mir saß Yoshi. Seine Haare waren noch immer nass, aber er hatte seine KI-Rüstung angelegt. Und die war trocken. Rechts hockte Daisuke, und er trug immer noch die Uniform eines Mitglieds der Wasserschutzpolizei.

„Danke. Aber nach all dem rumhüpfen habe ich das dringende Bedürfnis nach einer ordentlichen Mahlzeit.“

„Ich übrigens auch. Euch beiden zu folgen, die Polizei zu dirigieren und dann noch das Schnellboot zu übernehmen, und dazu dauernd die KI-Rüstung zu erzeugen, kostet eine Menge Kraft.“

„Ich habe verstanden. Sushi? Ich bezahle.“

„Und was wird aus Kuroi Akuma? Akira, gibst du ihn wirklich auf?“

„Es gibt auch noch andere Masken, oder, Yoshi?“, erwiderte ich schmunzelnd.

Wir sahen uns verschwörerisch an. Anschließend sprangen wir und verließen den Tatort so schnell wie es uns möglich war. Und das war sehr schnell.
 

2.

Endlich! Es herrschte Normalität. Freundliche, die Sinne schmeichelnde Normalität.

Ich ging zur Schule und wurde gehasst, geschnitten und verabscheut… Zumindest vom Gros.

Der Rest ignorierte mich entweder, oder warf mir versteckte Blicke zu.

Aber der Hass überwog! Ich meine, das war ich gewohnt, das war meine Welt! Nach dem Trubel der letzten Tage war es wenigstens eine Konstante in meinem Leben.

Auch meinen Sicherheitsabstand hatte ich wieder, drei Meter in jede Richtung. Das lag aber leider nicht mehr an meiner Aura als Otomo-Pest… Es lag an der erheblich gewachsenen Anzahl meiner Begleiter. Doitsu, Kei, Yoshi, Megumi, Yohko-chan, und seit heute auch noch Ami-chan. Sie bildeten alleine eine Barrikade mit ihren Leibern, und Megumis Charme hielt sie zusätzlich noch ein wenig ab.

Oh, vorher war es soviel einfacher gewesen.

Natürlich hörte ich sie tuscheln, und diesmal war ihr Thema keine ansteckenden Krankheiten, die von mir auf andere übergingen. Sie redeten über die Geschehnisse der letzten Nacht.

Kuroi Akuma war natürlich nie ein Guter gewesen, weder in den Medien noch im Internet war er so behandelt worden. Deshalb verwunderte es mich, dass ich bei einem Teil der Konversationen zum Bösen gestempelt wurde, der Kuroi Akuma bis zu seinem Tod benutzt hatte – und in den anderen zum unschuldigen Opfer, das Kuroi Akuma missbraucht hatte, um von sich abzulenken.

Wütend ballte ich die Hände. Letztendlich hatte ich es gut gemeint, immer nur gut gemeint. Ein altes Sprichwort sagte, dass die Menschen ihre Heiligen selbst töteten, und das entsprach im Moment genau meiner Stimmung. Ich war gut gewesen, so gut wie ich es vermocht hatte. Und die Menschen hatten mich getötet. Zumindest mein Alter Ego als Kuroi Akuma.

„Guten Morgen, Aki-chan!“

Ich hatte diese Worte erwartet, ich hatte diese Stimme erwartet, aber ehrlich gesagt bekam ich eine Gänsehaut, die sich wohlig rieselnd über meinen Körper ausbreitete.

„Guten Morgen, Miss Reilley“, erwiderte ich und ignorierte Megumis drohenden Wutausbruch so gut es ging. „Es scheint, als würdest du noch einige Zeit in unsere Klasse gehen.“

„Wie ich schon sagte“, erwiderte sie mit einem Lächeln, „Schule macht mir einfach Spaß. Und ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich dich mag.“

Lächelnd, die Schultasche mit beiden Händen hinter dem Rücken gehalten, beugte sie sich ein Stück vor. „Und wer weiß, wenn du brav bist und dein Alter Ego in der Kiste lässt, dann darfst du vielleicht die Prämie einfordern, die ich dir auf dem Tokio Tower versprochen habe.

Oh, wie süß, du wirst ja rot. Wir sehen uns in der Klasse, nicht?“

Sie winkte und eilte weiter.

„Prämie? Tokio Tower?“, fragte Yoshi argwöhnisch.

Ich hatte es fast vergessen, oder vielmehr mit aller Macht verdrängt. Bei dem Hormoncocktail, der jedes Mal durch meinen Körper tobte, wenn ich daran dachte, war das nicht einfach. Was sollte ich jetzt machen? Lügen, und die anderen mit der Nase drauf stoßen, direkt bei Joan zu fragen? So offen und freundlich, wie sie sich gab, würde sie ohne zu zögern Auskunft geben. Dazu auch noch wahrheitsgemäß. Ja, das würde dem Biest wirklich passen.

Zum Glück zog mich ein Ereignis vom Regen in die Traufe, dieses Mal aber in eine Traufe, die mir lieber war als eine Diskussion über Sex mit Joan Reilley und die Gefahren für meine Gesundheit durch Megumi.

„Akira!“ Mamoru Hatake, Halb-Arschloch und Ganz-Gott, winkte zu mir herüber. „Spektakulärer TV-Auftritt gestern. Aber vergiss nicht, dass du neben deinen Pflichten als Superstar immer noch Kendo-Training hast, ja?“

„Ja, ja, Sempai. Ich vergesse es schon nicht.“ Ich winkte ihm im vorbeigehen zu. Und erschrak zu Tode, als ich das Mädchen erkannte, das neben ihm stand und meinen Blick vermied. Akane-sempai. Dies war das erste Mal, seit ich die Oberstufe besuchte, dass ich sie sah. Und ehrlich gesagt, mir rutschte das Herz mächtig in die Hose.
 

Bei den Schuhboxen lehnte ich mich schwer atmend gegen die nächste feste Wand. Mir stand Schweiß auf der Stirn, und böse, alte Erinnerungen drohten mich zu übermannen. In der Geschäftswelt hätte man sagen können, dass ich mich an die Zeiten erinnerte, in denen ich gemobbt worden war. Und das kam der Wahrheit sehr nahe.

„Was hast du, alter Freund? Soll ich dir einen guten Rat geben? Oder lieber ein, zwei rechte Haken?“

„Ich nehme die rechten Haken, Yoshi“, erwiderte ich matt. „Im Moment fühle ich mich, als würde ich sie gebrauchen können.“

„Okay, was ist los? Ich kenne ja schon ein paar deiner Stimmungen, Akira, aber ich habe dich noch nie so erlebt. Was hat dich an Mamoru erschrocken? Oder war es die Kleine neben ihm?“ Keis Blick ging einmal durch meine Augen hindurch, runter bis zur Seele und wieder zurück. „Aha. Es ist also die Kleine, oder?“

„Akane Kurosawa“, half Yoshi aus. „Wir reden nicht über sie.“

„Du warst nicht dabei, Kei. Belassen wir es dabei“, stimmte Doitsu zu.

„Was? Wieso? Was ist passiert?“

„Man kann sagen“, sagte ich, stieß mich ab und ging zu meiner Schuhbox, „mit ihr fing mein Leben als Aussätziger an.“

„Vorsicht! Nicht aufmachen, bevor du nicht…!“

Yoshis Warnung kam zu spät. Ich hatte die Schuhbox bereits geöffnet – und wurde von einem Schwall Briefe begraben. Na toll, war wieder mal Zeit für die Drohbriefrunde? Allerdings, wurden Drohbriefe wirklich mit roten Herzen zugeklebt und parfümiert?

Die meisten rochen so wie sie es sollten, aber ein erheblicher Anteil hatte das Aroma von Erdbeeren, Kirschen und Vanille. „Auch das noch“, stöhnte ich. „Liebesbriefe. Ich glaube, ich gehe wieder nach Hause. Sakura kann sicher Hilfe mit Laysan gebrauchen.“

„Nix da. Du bleibst hier. Und in der Mittagspause verrätst du mir, was es mit Akane und dir auf sich hat“, bestimmte Kei. „Und wenn du nicht gehorchst, gehe ich bei Megumi petzen.“

„Kleiner, fieser Giftzwerg“, knurrte ich.

„Der gerade die besseren Karten hat, oder?“, erwiderte er selbstgefällig.

„Stimmt.“ Zum Glück war dieser kleine, fiese Giftzwerg auf meiner Seite. Hoffte ich.

***

In der großen Pause, und nach dem Studium der meisten Liebesbriefe, Mist, die schöne Freistunde, fanden wir uns geschlossen auf dem Dach ein. Sogar Makoto war hinzugekommen. Dankenswerterweise trug er keine Mädchenuniform.

Auch Daisuke hatte sich bei uns niedergelassen, obwohl er gar nicht als Schüler eingeschrieben war. Er hatte von mir den Auftrag bekommen, ein Auge auf Sarah Anderson zu halten, und wenn er hier auf dem Dach war, hieß das nur, sie war in der Nähe.

„Also, erklär es mir, Akira. Wieso fing mit Akane dein Untergang an?“

Ich seufzte. „Will nicht drüber sprechen.“

„Dann frage ich Megumi.“

„Ich will da auch nicht drüber sprechen. Das ist was, was ein Mädchen anfangs sehr tief erschüttert. Ich habe lange gebraucht, um damit klar zu kommen.“

„Dann Yohko.“

„Diesem Umstand verdanke ich ein Jahr in der Hölle, als Schwester vom großen Perversen. Mit ein Grund, warum ich alles dafür getan habe, um ein Jahr überspringen zu können, raus aus der Gerüchteküche.“

„Das macht mich alles noch neugieriger. Na, notfalls kann ich ja immer noch Akane Kurosawa selbst fragen, oder?“

„Okay, du hast gewonnen. Ich erzähl es dir. Bist du dann zufrieden?“

„Voll und ganz. Wollen wir uns dann alle im Halbkreis um Onkel Akira setzen, damit er uns seine Geschichte erzählen kann?“

„Vorsicht, übertreib es nicht, sonst überlege ich mir, dich zu einer interessanten, aber kurzen Karriere als fliegender Mensch zu verhelfen.“

„Ist ja gut, ist ja gut. Ich halte mich mit schlechten Witzen zurück. Ist es denn so schlimm, Akira?“

Ich lachte gehässig auf. „Schlimmer.“

Die anderen nickten.

„Weißt du, Kei, es war in meinem zweiten Jahr auf der Mittelstufe. Akane war damals im letzten Jahr und stand kurz davor, hier auf die Fushida zu wechseln. Alle Jungs waren verrückt nach ihr, na, zumindest die meisten. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht verrückt nach ihr war.“

„Gut umschifft, Akira“, säuselte Megumi neben mir.

„Danke, Megu-chan. Jedenfalls begann meine persönliche Hölle durch eine Verkettung unglücklicher Umstände.“

***

Es war ein launischer Regentag. Aprilwetter halt. Mal stürmisch, mal Schnee verweht, dann wieder kurz und knapp sonnig. Also eigentlich nichts Besonderes. Ich war noch nicht zu den Kämpfen auf der AO gerufen worden, aber ich befand mich bereits im Training, zusammen mit den anderen. Dementsprechend knapp war meine Geduld.

Zudem hatte ich seit einiger Zeit einen Ruf als Schläger, dabei war alles was ich getan hatte, mich gegen die führende Schlägertruppe zu wehren und die Frechheit zu haben, auch noch zu gewinnen. Schlechte Neuigkeiten verbreiteten sich eben immer schneller als gute, und so war ich relativ schnell abgestempelt. Soweit war das aber in Ordnung. Bis zu diesem einen Moment.

Ich ging nach Hause, und die Gedanken an mein KI-Training gingen mir durch den Kopf. Vor ein paar Sekunden hatte ich noch die eisige Umarmung eines frischen Aprilwindes genossen, schon wechselte das Wetter und ließ einen Spalt Sonnenlicht auf das Pflaster vor mir fallen. Die Szene hatte etwas Unwirkliches, denn dieser Strahl Sonnenlicht fiel genau auf eine Pfütze vor mir. Und in der Pfütze trieb ein Buch.

Ich wollte es liegen lassen, aber… Jemand hatte es verloren. Es gehörte ihm, und irgendwie sah ich es als meine idiotische Pflicht an, es zurückzugeben.

Also nahm ich es aus der Pfütze und mit nach Hause.

Dort sah ich es mir genauer an. Und schalt mich einen Idioten. Ich hätte es beherzt in den Papierkorb werfen können, aber ich tat es nicht, obwohl ich sehr genau erkannte, dass es sich um ein Tagebuch handeln musste, das mit einem kleinen Schloss gesichert war. Leider stand kein Name dran.

Ich haderte einige Zeit mit mir. Entweder das Schloss aufbrechen, um drinnen nachzusehen, wem es gehörte, oder ab in die nächste Mülltonne.

Letztendlich siegte die Neugier, und ich besiegelte meinen eigenen Untergang.

Wie es sich herausstellte, hatte ich tatsächlich das Tagebuch eines Mädchens erwischt. Gleich auf Seite drei stand ihre volle Adresse. Und natürlich hatte ich ausgerechnet das Tagebuch von Akane-sempai gefunden. In diesem Moment machte ich meinen letzten Fehler. Anstatt zu ihr rüber zu laufen und es ihr noch am gleichen Abend zu geben, egal wie gewagt das auch erschien, nahm ich mir vor, es ihr in der Schule zu übergeben.

Mein Weg führte mich in der ersten Pause direkt zu den Klassenräumen des Abschlussjahrgangs, und von dort Ziel gerichtet in ihre Klasse. JEDER Junge der Mittelstufe kannte ihre Klasse und ihren Sitzplatz.
 

„Hier, das ist doch deins, oder?“, hatte ich gesagt und das Tagebuch auf ihren Tisch gelegt.

„Danke, das ist meins, aber wo…?“, hatte sie gefragt und es in die Hand genommen. „Du hast es aufgebrochen?“

„Keine Sorge, ich habe nur die Adresse auf der Innenseite gelesen. Draußen stand ja leider nichts dran. Ich habe es übrigens vor der Schule in einer Pfütze gefunden. Du solltest sorgfältiger mit deinen Sachen umgehen.“ Mit diesen Worten und einer coolen Drehung inszenierte ich meinen Abgang. Von meinem Standpunkt aus gesehen war die Welt nun wieder gerade gerückt.

Was ich nicht ahnen konnte war, dass es die Mädchen und auch einige der Jungs nicht so sahen.

„Hast du schon gehört? Otomo hat Kurosawas Tagebuch gefunden. Dann hat er es aufgebrochen und in der Badewanne gelesen.“

„Wirklich. So was wie der ist wirklich das Allerletzte.“

Das waren zwei der harmloseren Sprüche, die mir zu Ohren kamen. Die meisten waren nicht sehr nett und noch wilder.

Das führte dazu, dass ich mich öfters gezwungen sah, mich in Hinterhöfen gegen eine Handvoll oder mehr Jungs des Abschlussjahrgangs durchzusetzen, mich den Vorwürfen einer Horde Mädchen ausgesetzt sah, die wie Racheengel auf mich herabkamen und kein Wort von mir als Rechtfertigung zuließen und sogar von den Lehrern schlechter behandelt wurde.

Ich kam mir in dieser Zeit als Aggressionsventil für die ganze Schule vor. Und das Ergebnis war, dass ich auch aggressiver wurde. Ich bin nicht stolz drauf, aber ich wurde jähzornig, unbeherrscht und rauflustig. Zum Schluss wagte es wenigstens niemand mehr, mir direkt Vorwürfe zu machen.

Dazu kam dann das Training für die Kämpfe auf der AO, und ich schaffte es, mich langsam wieder in den Griff zu kriegen. Mich und mein Leben. Aber das Stigma haftete an mir, und aus dem Musterschüler wurde die Otomo-Pest.

***

„Das ist ergreifend“, schluchzte Kei. „So ungerecht und so gemein, und du hast das alles mit stoischer Ruhe ertragen. Akira, du bist mein Held.“

„Jedenfalls“, beendete ich meinen Bericht, „gelang es mir nie, diesen Schatten abzuschütteln. Und das werde ich wohl auch nie. Aber jetzt und hier ist es mir egal. Wirklich egal.“

Ich ergriff Megumis Hand, und sie schenkte mir dafür ein hinreißendes Lächeln. Ja, so war die Welt annehmbar.

***

„ZU LANGSAM!“, rief Mamoru, und riss mir mit seinem Shinai die Beine unter dem Körper fort.

Ich grinste matt. Auch ohne dass ich mein KI einsetzte, hätte ich nicht nur seinem Schlag ausweichen können, ich wäre auch noch in der Lage gewesen, in seinen Rücken zu gelangen. Aber ich konnte Sempai ja nicht völlig verprellen. Nicht, nachdem er die letzten Tage so nett zu mir gewesen war. Er reichte mir eine Hand und ich ergriff sie.

Mit erstaunlicher Leichtigkeit zog er mich hoch. „Läuft alles mit Megu-chan?“

„Wieso fragst du, Sempai?“

„Weißt du, Megu-chan liegt mir wirklich am Herzen. Ich würde es nicht gut aufnehmen, wenn sie jemand schlecht behandelt.“

„Du hast mir schon Prügel angedroht, oder?“

„Das war noch viel zu harmlos. Jedenfalls, sei nett zu ihr, und ich bin es auch zu dir, verstanden?“

„Das brauchst du mir nicht erst zu sagen, Sempai“, erwiderte ich entrüstet.

„Ach, bevor ich es vergesse. Ich bin seit Jahresbeginn mit Kurosawa-kun zusammen, also brauchst du meine Konkurrenz nicht zu fürchten.“

„Ich gratuliere“, sagte ich frostig. Das wühlte ein paar der nicht so netten Erinnerungen auf.

„Ich habe übrigens eine Nachricht von ihr für dich.“

„Will ich sie hören?“, entgegnete ich wütend und wandte mich zum gehen. Keine schnellen Schritte kamen mir nach, keine Hand ergriff mich an der Schulter und riss mich zurück.

Aber Mamorus Stimme kam hart und unbarmherzig zu mir herüber. „Sie hat gesagt, dass sie es schön finden würde, wenn du ihr endlich erlauben würdest, sich für den ganzen Ärger mit dem Tagebuch zu entschuldigen. Anstatt sie aus dem Raum zu brüllen, oder selbst zu gehen, ohne ihr zu zu hören.“

Ich erstarrte. Das waren definitiv Szenen aus der Mittelstufe gewesen. Sie flackerten wie stakkatoartige Blitzlichteffekte vor meinem Inneren Auge. Damals hatte ich doppelt unter Stress gestanden, mit der Schule und der Rettung der Welt. Und ich hatte sie rausgebrüllt. Oder sie ignoriert und war gegangen. Ich hatte mir nicht noch mehr Ärger aufhalsen wollen.

„Es… Es waren schlimme Zeiten für mich.“

„Sie weiß das. Deshalb fragt sie ja, ob es jetzt in Ordnung ist.“

„Sag ihr… Sag ihr, ich kaufe ihr ein neues Schloss für ihr Tagebuch.“

„Eine gute Antwort“, sagte mein Sempai und lachte laut.

Ja, das Leben war definitiv wieder das, was es sein sollte. Endlich.
 

3.

„Akari!“

„Ja, Meister.“ Mein Oni gab mir seine Maske, danach reichte er mir das Schwert. Der Dämonenschlächter wog schwer in meiner Hand, und er wurde noch schwerer, als Akari sich mit ihm verband.

Die Maske verwandelte sich auf meinem Gesicht. Die lange weiße Mähne verschwand, die Fratze mit den kleinen Hörnern veränderte sich und nahm das altbekannte Theatergesicht an. Aber nur für einem Moment. Dann veränderte sich die Maske erneut und war nun vollkommen konturlos. Lediglich die Schlitze für die Augen waren vorhanden.

Unter der Maske grinste ich grimmig. Ich hatte eine Entscheidung zu treffen, und es sah ganz so aus, als würde mir keine Wahl bleiben.

„Bist du auf meiner Seite, Akari?“, fragte ich ernst.

„Meister?“ Ihre Stimme klang irritiert, überrascht. „Natürlich bin ich auf deiner Seite!“

Ich zögerte einen Moment, dann nahm ich die Maske wieder ab. Anschließend legte ich das Schwert an die Seite.

Der Oni entstand neben mir erneut. „Meister? Willst du heute nicht kämpfen?“

„Das ist es nicht, Akari. Ich… Möchte nur etwas ausprobieren.“

Ich spürte die Blicke meiner Kampfgefährten. Bisher hatte ich immer im Verbund mit dem Oni gekämpft, meine Stärke potenziert. Ohne Akaris KI zu kämpfen musste sie alle irritieren.

Ich hielt die Rechte horizontal vor der Brust und schloss die Augen. Diese Geste war nicht Teil meines Trainings gewesen, zumindest nicht in dieser Welt. Aber sie half mir, mich zu fokussieren und mein Ziel zu erreichen.

Als meine Augen wieder auffuhren, taten sie es mit einer Energie, die meine Freunde zurückweichen ließ. „Entsiegeln!“

Von einem Moment zum anderen umgab mich eine Wand aus Licht. KI peitschte auf, blendete meine Umgebung. Ich fühlte meine Kraft ansteigen, weit über das Maß hinaus, das ich in den Kämpfen mit den Daina gewohnt war.

Als das Licht abebbte, trug ich eine hellblaue KI-Rüstung mit einem weiten, weißen Umhang.

Die Rüstung war grob, geradezu klobig. Aber sie wog nichts, absolut nichts. Sie belastete mich nicht, sie behinderte mich nicht. Das war gut.

„Schwarmzeit“, kam Makotos Stimme über die Kom-Verbindung. „Akira, bist du dir sicher?“

Ich runzelte die Stirn. Ahnte er etwas? „Ja.“

„Gut. An alle! Wir führen in dieser Schwarmzeit einen Angriff auf die Festung aus. Akira bildet unsere Sturmspitze. Alle anderen unterstützen ihn so gut, wie es ihnen möglich ist. Die AO muss nicht beschützt werden, ich wiederhole, die AO muss nicht beschützt werden.

Ziel ist es, in die Festung einzudringen und die Kryo-Tanks zu vernichten. Haben das alle verstanden?“

Nun war es an meinen Freunden und Kampfgefährten, irritiert zu sein. Ein Großangriff auf das Herz der Daina? Das war nicht geplant gewesen.

Ich lächelte matt. „Danke, Mako.“

„Was man nicht alles tut für seinen kleinen Bruder. Sieh wenigstens zu, dass du erfolgreich bist, ja?“

„Versprochen.“
 

„Da kommen sie. Ich schlage vor, wir… AKIRA!“

Ich sprang. Der Umhang entfaltete sich und wehte hinter mir auf. Als ich fünfhundert Meter tiefer auf dem Boden landete, tat ich dies auf einem Knie und der linken Hand.

Die Front der Daina war keine fünfzig Meter von mir entfernt, und sie kam schnell näher.

Dann sah ich auf. „Überraschung.“

Ich entließ eine KI-Entladung, die eine dreihundert Meter weite Schneise in die Phalanx der infizierten Daina trieb. Sie hatte eine Breite von vierzig Metern und ging über acht Meter in den Boden hinein.

„Das ist, Wow, Akira, wo hast du das denn gelernt?“

„Keine Zeit, das zu erklären, Yoshi. Gib mir Deckung!“

Pfeile zischten heran, explodierten spektakulär, und säuberten die Ränder der Bresche von den Daina.

Links und rechts von mir eilten nun Doitsu und Ami herbei und hielten die Flanken auf.

Gut. Sehr gut. Mein Vorhaben wäre etwas schwierig geworden, wenn ich es hätte alleine ausführen müssen. So aber hatte ich eine solide Chance.

Ich richtete mich auf und setzte mich langsam in Bewegung. Ich trat in die Schneise, und mit jedem Schritt, den ich tat, wichen die Daina einen zurück. Vielleicht ahnten sie, welch große Macht mich genau jetzt erfüllte.

Am Ende der Schneise fiel ich in einen leichten Trab, und dies war für die Daina das Signal, zu fliehen.

Wieder setzte ich den KI-Angriff ein, schlug eine neue Bresche in die fliehenden Infizierten. Dann sprang ich.

„Akira! Lauf nicht zu weit vor! Wir können deine Flanke nicht decken, wenn du zu schnell bist! Akira!“

Ich landete in einem fliehenden Pulk Daina. Einige flohen, die anderen attackierten mich mit dem Mut der Verzweiflung. Ich lächelte dünn.

An den Spitzen meiner Finger erschienen dünne blaue Lichtstrahlen. Ich zog sie über die Angreifer und ging weiter. Ich musste nicht nachsehen um zu wissen, dass die blauen Lichtstrahlen ihre Körper zerschnitten hatten wie ein heißes Messer Butter.

Dies erhöhte das Entsetzen der anderen Daina. Wenngleich die meisten Emotionen vom Liberty-Virus zerfressen waren, Furcht konnten sie empfinden. Also brandeten sie zurück, zurück zur kryogenen Anlage.

„Ist… Ist das noch Akira?“, hauchte eine entsetzte Stimme.

Nein, ging es mir durch den Kopf. Dies war nicht der Akira, den meine Freunde kannten. Dieser Akira war sehr viel mächtiger.

Wieder sprang ich, wieder landete ich in einem Pulk Daina. Wieder fuhr ich mit den blauen KI-Klingen an meinen Fingern zwischen sie. Wie viele hatte ich jetzt schon erwischt? Zweihundert? Mehr? An einem Tag löschte ich mehr Daina aus als in drei Jahren zuvor. Und auch wenn es für die Infizierten eine Erlösung sein musste, ich spürte langsam die Belastung, mich mit dem Tode so vieler intelligenter Wesen zu versündigen.

Aber es gab keinen Weg zurück mehr. Ich konnte nur noch voran schreiten, solange wie mir noch die Zeit blieb. Ohne einen Blick zurück zu werfen. Kurz hielt ich inne, um mir ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. Megumi. Yohko. Yoshi. Dai-chan. Doitsu. Ami. Kei. Eikichi. Kitsune. Laysan. Verdammt.
 

„Hör auf zu träumen und tu endlich, wofür du hergekommen bist!“, rief eine zornige Frauenstimme neben mir.

Kitsune war da, und sie fuhr in ihrer Fuchsgestalt - der XXXXL-Version – durch die Infizierten beinahe schlimmer als ich.

„Du bist auf meiner Seite?“, fragte ich freudig und erstaunt.

„Bin ich das nicht immer?“, erwiderte sie und schenkte mir ein kurzes Lächeln. „Genau so wie die anderen. Daran solltest du nie zweifeln, Akira.“

Meine Freunde holten mich ein, vergrößerten die Bresche in den Reihen der fliehenden Daina.

„Nun beeil dich endlich!“, rief Yoshi. „Und mach dir keine Sorgen um die Königs-Daina! Überlass sie uns, ja?“

„Danke!“

Ich eilte weiter so schnell ich konnte, überholte die Welle der Fliehenden und erreichte vor ihnen die kryogene Anlage.

„So hast du dir das gedacht, Akira Otomo!“ Eine höhnische Stimme erklang über mir.

Ich sah auf. Über mir schwebte ein Daina. Nun, schweben war eine Eigenschaft, die nur beste KI-Beherrschung vermitteln konnte. Etwas, was die Daina nicht konnten. Sie schafften es lediglich, ihre Körper zu verformen und Flügel auszubilden, was ihnen das schweben erlaubte. Aber nicht das fliegen. Ein Königs-Daina.

„Ich habe eine Überraschung für dich und deine Freunde. Ihr denkt, wir haben erst siebentausend Daina erweckt, oder?“ Er lächelte mich wölfisch an. „Es sind fünfzehntausend. Und die Stärksten sind noch in der Festung. Ihr habt immer nur mit den Schwächsten gekämpft.“

Der Mann schnippte mit den Fingern. Auf dieses Signal hin traten hunderte, tausende Daina aus den vielen Schlupfwinkeln der Festung hervor. Ich konnte es sehen, spüren, riechen. Diese da waren von einem anderen Level als jene Infizierten, die ich Tag für Tag bekämpft hatte.

„Freu dich auf dein Ende, Akira Otomo!“, rief der Königs-Daina und lachte rau.

„Ihr lernt wohl nie dazu, oder?“, erwiderte ich trocken und begann mein KI zu fokussieren, wie ich es neulich bei Laysans Rettung getan hatte.

„Willst du wirklich dein bisschen Kraft verschwenden? Mir soll es Recht sein. Mit der Energie werden wir problemlos fertig. Wir… Moment. Das ist mehr als vor zwei Tagen! Du Bastard hast noch Reserven! Doppelt so viel? Es geht noch weiter? Wo nimmst du diese Kraft her? Akira Otomo, wieso bist du so stark?“

„Weil ich es so will“, hauchte ich und entließ die angestaute Kraft auf einen Schlag.

Eine Welle an weißem Licht, identisch mit dem von mir entlassenen KI, brandete auf, flutete in alle Richtungen davon. Es erfasste den Königs-Daina, die Daina hinter mir, und jene die gerade aus der Festung kamen. Mein KI hüllte einen Radius von über fünfhundert Metern ein, bevor ein alles blendender Blitz das Sonnenlicht auslöschte.
 

Als ich wieder sehen konnte, schwebte ich über einem Krater. Er maß einen Kilometer im Radius und hatte eine Tiefe von fünfhundert Metern. Ich hatte mit meiner KI-Explosion Teile der Festung abgetragen, einen Großteil des zurückflutenden Heeres erwischt und den Königs-Daina mit seinen stärkeren Daina-Truppen. Und wie ich gehofft hatte, bot sich mir jetzt ein Eingang direkt in die Festung an.

„Akira… Bist das wirklich du?“, hauchte Makoto erschrocken über Funk.

„Nein, Mako. Ich bin nur ein Traum. Allerdings ein sehr mächtiger Traum.“

Ich ließ mich herab sinken, berührte den Kraterboden und ging langsam voran. Nun würde sich alles entscheiden. Wirklich alles entscheiden.

***

Die Struktur der Festung war die eines verschachtelten Bunkers. Viele kleine, isolierte Zellen, die lediglich durch Korridore miteinander verbunden waren. Größere Cluster der Zellen waren autark, die einzelne auf einen Generatorraum angewiesen. Aber dieser Aufbau in einem riesigen Volumen garantierte selbst bei Beschuss mit Kernwaffen, dass ein Teil der Bunkeranlagen überlebte.

Die Autonomie gestattete es sogar, eine Situation zu überleben, in denen der ganze Berg runterkam. Normale Menschen hätten die Zeit und die Mittel gehabt, sich selbst wieder auszugraben. Ich konnte nicht umhin, die Voraussicht der Daina zu bewundern.

Aber genau das machte mir nun das Leben schwer. Was war so falsch daran, einen riesigen Hohlraum zu verwenden, an dessen Innenwänden die Kryokammern aufgehängt waren? Warum sie auf Dutzende Bunkerzellen verteilen?

Und warum ein dezentralisiertes Computersystem mit regionalen Kernrechnern?

Was war aus dem guten alten Hauptrechner im Zentrum geworden? Kannten die Daina keine Klischees?

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich durch zu kämpfen. Die verseuchten Daina leisteten Widerstand, bekämpften mich in den engen Verbindungskorridoren oder versuchten mit in den Zellen zu stellen, aber sie schafften nicht mehr als mich zu verlangsamen.

Allerdings raubte mir die Situation meine größte Kraft. Ich konnte meine Fähigkeiten nicht vollständig einsetzen, wenn das was ich suchte, erhalten bleiben sollte.

Meine bisherigen Fundstücke, rudimentäre Computerkerne, hatten nicht enthalten was ich suchte. Untereinander standen sie nur auf einem Sublevel in Verbindung, um Strom, Wasserversorgung und Atemluft zu koordinieren. Mit meinen beschränkten Fähigkeiten, Daina-Computer betreffend, war es mir nicht möglich, mich ins System zu hacken und auf diese Weise an das Wissen zu kommen, dass ich haben wollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als die einzelnen Kerne abzuklappern. Wenigstens war der Aufbau der Bunkeranlage streng geometrisch, sodass ich keinen Raum zweimal absuchte. Aber auch so war es eine Belastung. Ich musste kämpfen, ich musste suchen, und bereits zweimal hatten die Daina versucht, mir die Decke auf den Kopf zu werfen. Dabei nahmen sie auf nichts Rücksicht, nicht einmal auf die Kryotanks mit ihren nicht infizierten Artgenossen.

Der Funkkontakt zu meinen Freunden und den anderen Kämpfern war abgebrochen, seit ich in der Festung war. Aber sie würden ohnehin draußen die Hände voll zu tun haben und konnten mir schwerlich zu Hilfe eilen. Immerhin stand eine ganze Festung gegen sie, und ich war nicht da draußen, um ihnen zu helfen.

Mist, sie hätten mir vielleicht suchen helfen können, solange ich ihnen nicht erzählte, was ich eigentlich suchte.

„Was suchen wir eigentlich?“, klang hinter mir eine vertraute Stimme auf.

Ich wandte mich überrascht um. Ein Fuchs sprang auf mich zu und landete auf meiner Schulter. Bevor ich es versah, leckte er mir die Wange ab.

„L-lass das Kitsune, das kitzelt.“

„Ist dir das bei einem Fuchs unangenehm? Ich kann mich auch wieder in einen Menschen verwandeln, wenn dir das lieber ist.“

„Es wäre einen Versuch wert“, erwiderte ich schmunzelnd. „Aber nicht unbedingt jetzt. Ich muss…“

„Ich kann es mir denken. Du suchst die Aufzeichnungen der kryogenen Anlage, oder? Heißt das, du hast auch diese Traumwelt überwunden? Ich war dir diesmal keine große Hilfe, aber meine Fähigkeiten waren auch stark eingeschränkt.“

„Das macht nichts, ich bin alleine dahinter gekommen.“ Ich runzelte die Stirn. „Es war nicht sehr schwer.“

„Dafür hast du aber reichlich lange mitgespielt, Akira.“ Sie sprang von meiner Schulter herab und verwandelte sich in einen Menschen.

„Der Preis ist es wert.“

„Die Aufzeichnungen? Sind sie so wertvoll für dich?“

„Information ist Munition. Hat ein kluger Soldat mal gesagt, und auf kluge Soldaten sollte man hören, denn die sorgen dafür, dass sie nicht zu oft und zu viel kämpfen müssen.“

Kitsune blies sich eine Strähne ihres roten Ponys aus dem Gesicht. „Tadel ist angekommen. Also suchen wir die Zentrale. Aber verrate mir eines, Akira: Warum bewegst du dich wie ein besoffener Regenwurm durch einen Misthaufen?“

„Was?“, fragte ich bestürzt.

„Na ja, ich weiß nicht ob da ein System hinter steckt, aber von meiner Warte sieht es so aus, als würdest du willkürlich Ebenen wechseln, die Richtung ändern und ganze Sektionen auslassen. Korrigiere mich, wenn ich mich irre, aber hast du dich verlaufen?“

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde ein wirklich schwerer Felsbrocken mit der Aufschrift „Idiot“ auf meinen Kopf knallen. „Irre ich wirklich so ziellos umher?“

„Total ohne jede Orientierung“, tadelte Kitsune. „Folge mir einfach, wenn du ins Zentrum der Anlage willst.“

Ich seufzte zum Steinerweichen. Und ich hatte wirklich gedacht, die Daina hätten so verschachtelt gebaut. Andererseits, wenn Kitsune sich nicht zurecht fand, wer dann?

„Musst du eigentlich einen Mini tragen, wenn du vor mir herläufst?“, tadelte ich.

„Wieso? Steht er mir nicht?“

„Das ist es nicht. Aber wer kann sich denn da noch konzentrieren? Mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn ich deine Unterwäsche sehe.“

„Oh“, meinte sie und lächelte mir zu. „Damit habe ich kein Problem.“

Ich verdrehte die Augen. Da war sie wieder, die unerschütterliche, grundehrliche und hundsgemeine Kitsune-chan.

„Ich trage nämlich gar keine, Aki-chan.“ Sie zwinkerte mir zu und begann zu rennen.

„D-dann lauf doch nicht so, Dummkopf!“ Kam es nur mir so vor, oder musste ich wirklich dicht hinter ihr bleiben? Damit wir nicht getrennt wurden, selbstverständlich.
 

„Es ist zu ruhig, Aki-chan“, hauchte sie plötzlich. Sie blieb stehen, und beinahe wäre ich in sie hinein gerannt. Das war gut so, denn ich hätte es in dieser Situation schwerlich zu schätzen gewusst.

Kitsune hatte Recht. Seit wir beide zusammengefunden hatten, waren wir noch nicht angegriffen worden. Das konnte nur bedeuten, dass uns weitere Hinterhalte erwarteten. Na Klasse.

„Okay, Kitsune-chan. Sag mir die Richtung, in der du den Zentralrechner vermutest.“

„Willst du etwa irgendeinen Unsinn anstellen, geboren aus Übereifer, zuviel Wagemut und deiner üblichen Waghalsigkeit?“

Ich grinste. „Selbstverständlich.“

Die Fuchsdämonin grinste nicht weniger breit als ich. „DAS ist mein Akira. Hier, diese Wand, leicht abwärts, gut zwei Ebenen und neun Zellen entfernt.“

„Danke, Kitsune-chan.“ Ich trat an die Wand heran, versuchte mir das Zentrum vorzustellen. Dann legte ich meine Rechte, zur Faust geballt, auf die Wand des Bunkers und konzentrierte mein KI in der Faust. „Falls die Decke auf uns herabkommt, geh rechtzeitig in Deckung, hast du verstanden, Kitsune?“

„Du brauchst nicht gleich so ernst zu werden“, erwiderte sie ärgerlich. „Ich habe lange genug gelebt um zu wissen, was ich tue.“

„Dein Wort in Dai-Kuzo-samas Ohr“, erwiderte ich, konzentrierte all meine Sinne, und drückte meine Faust ein wenig fester auf die Wand.

Es geschah nichts. Lediglich etwas Betonstaub rieselte von der Decke. Dann drang ein fernes Donnern an unsere Ohren, es kam näher, wurde lauter, wuchs an, der Staub von der Decke wurde dichter. Und schließlich zerriss es die Wand vor mir, sie zerstob in Abermillionen Fragmente. Ich ließ einen KI-Blast folgen – hauptsächlich deshalb, weil ich keinen Staub fressen wollte. Das klärte die Luft genug, um zu betrachten, was ich angerichtet hatte.

Ein unebener, mit Trümmern übersäter Tunnel war entstanden. „Zwei Etagen tiefer, neun Zellen entfernt, bitteschön, gnädige Frau.“

„Endlich mal Präzisionsarbeit“, flötete Kitsune und ging voran. „Man merkt, dass du deutsche Vorfahren hast, Akira.“

Ich lachte leise. Als wenn es daran gelegen hätte.
 

Während wir uns den Gang hinunter arbeiteten, tauchten an den Seiten immer wieder Aufrisse zu anderen Zellen auf. Die Daina hatten tatsächlich Hinterhalte gelegt. Aber diese waren teilweise von eingestürzten Decken begraben worden. Nicht, dass ich mich bei der Erkenntnis, in einem labilen künstlichen Höhlensystem herumzugeistern merklich besser fühlte. Um ehrlich zu sein bemerkte ich leichte klaustrophobische Tendenzen an mir, jedes Mal wenn mich wieder mal ein Stück Decke um ein paar Zentimeter verfehlte.

Aber immerhin, wir hatten unseren Weg.

Und er führte uns direkt ans Ziel.

„Da hast du ja was schönes angerichtet, Akira“, brummte Kitsune belustigt, und deutete auf die anderen Seite des gigantischen Doms, in dem wir uns befanden. Also doch! Es gab einen zentralen Hohlraum! Und an seiner Innenseite waren tausende, Zehntausende Kryokammern aufgehängt… Bis auf die eine Stelle, aus der wir gerade hervor kletterten und die andere, in die mein KI eingeschlagen war, nachdem es diesen Tunnel geschaffen hatte, aber nicht aufgezehrt gewesen war. Außerdem hatte der Angriff ein paar Dutzend Daina von den Beinen gerissen.

Kitsune deutete nach oben. „Da ist dein Zentralrechner. Die Bedienung ist nicht weiter schwer, die kennst du von der AO. Ein Passwort gibt es normalerweise nicht, da es kein Eindringling bis hierher schaffen sollte. Eigentlich.“

„Danke, Kitsune-chan. Es wird nicht lange dauern.“

„Ist in Ordnung, ist in Ordnung. Ich decke dir solange den Rücken, Aki-chan.“ Sie lächelte, aber es war ein fieses Lächeln. Mit langsamen und völlig uneleganten Schritten – sie ging wie ein Drill Sergeant und nicht wie das hübsche Mädchen, das sie eigentlich war – stapfte sie auf die ersten Daina zu. „Jetzt geht es rund!“

Nun, damit wurde es auch Zeit für mich. Ich stieß mich ab und schwebte zum Computer hoch. Er hatte fünf Terminals. Eines reichte mir.

Ein Daina sprang mich an, aber bevor er mich erreichen konnte, wischte ihn ein KI-Schlag aus der Luft und warf ihn gegen die nächste Wand, wo er zwei Tanks zerstörte und liegen blieb.

„Akira! Konzentriere dich auf die Daten! Ich mach den Rest, okay?“, rief Kitsune mir zu.

Dankbar nickte ich. Einen Augenblick später stand ich auf der kleinen Plattform mit dem Terminal. Dann war ich drin.
 

4.

Als ich die Augen auf den Monitor richtete, verschwand alles um mich herum in blendender Helligkeit. Einen weiteren Augenblick später stand ich wieder in dem weißen Raum.

Direkt neben mir stand Laysan und hielt meine Rechte umklammert.

Ich tätschelte ihm mit der Linken den Kopf. „Das hat Spaß gemacht, was, mein Kleiner?“

„Ja, war lustig. Aber ich hatte ganz schön Angst am Anfang. Sakura war nett. Sind das deine Freunde, Akira?“

„Das sind Abbilder meiner Freunde, entstanden aus meiner Erinnerung. Ich denke, du würdest dich bei mir Zuhause sehr wohl fühlen. Wollen wir eines Tages mal hin und die anderen besuchen?“

Die Augen den Jungen strahlten. „Oh ja, das würde ich gerne. Ich würde die alle so gerne richtig kennen lernen! Sakura und Yohko und Kitsune und Yoshi und Daisuke und…“ Erhielt inne um Luft zu holen.

Ich lachte. „Wir kriegen unsere Gelegenheit, mein Kleiner.“

„So, so“, erklang eine spöttische Frauenstimme vor mir, „du hast also auch diese Konstruktwelt erkannt. Wann?“

„Ich glaube, es war als… Irgendwann zwischen dem Turnier und Joans Anti-Pickel-Aktion. Weißt du, ich habe nicht genug Frust und Hass in mir, um die Rolle, die ich spielen sollte, wirklich auszufüllen.“

„Und dann hast du so lange damit gewartet, die Konfliktwelt aufzulösen? Warum?“

Ich lächelte und legte die Linke an meinen Hinterkopf. „Das hat doch Spaß gemacht. Ich meine, Hey, du wirst mich noch in ne Menge Konstruktwelten stecken, darum freue ich mich über jede, in der ich mich amüsieren kann. Und ja, das war witzig. Ich als Superheld, der die Straßen meiner Heimatstadt durchstreift, das hat doch was. Nur die Maske fand ich kitschig. Warum kein diffuser Nebel? Oder eine Samurai-Rüstung? Das hätte doch Stil gehabt.“

„Ich gebe zu, da ist es mit mir durchgegangen. Es war ein Hinweis an dich. Ein Hinweis, dass du in dieser Welt ein Schauspieler bist.“ Aris, Beherrscherin der Welt, senkte den Blick. „Du hast meinen Hinweis übersehen und auf ganz andere Indizien geachtet.“

Sie sah wieder auf und blickte mir direkt in die Augen. „Und? Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?“

Ich kniff meine Augen zusammen. „Du weißt, dass ich Informationen zusammengetragen habe?“

„Dein letzter Angriff. Er war zu wagemutig. Du hast alles auf eine Karte gesetzt, nicht?“

Ich nickte. „Ja. Ich merkte, dass die Konstruktwelt nicht mehr lange existieren würde. Alles ist ins Lot gekommen. Mein schlechter Ruf, mein Verhältnis zu meinen Freunden, die Existenz als Kuroi Akuma, der Streit mit Akane. Die Geschichte war kurz davor, zu Ende erzählt zu werden. Ich musste handeln.“

„Aber die Informationen, die du haben wolltest, hast du nicht erhalten, oder?“

„Nein. Du hast die Konstruktwelt zu früh aufgelöst. Ich konnte den wichtigsten Geheimnissen nicht auf die Spur kommen.“

Aris lächelte freundlich. „Erzähl es mir. Was hast du erfahren?“

„Dankenswerterweise hast du diese Welt mit Anspielungen nur so überhäuft. Mu, der verlorene Kontinent, die Dämonenwelt, die Dai, die Daina und der Exodus der Daima, dazu der Liberty-Virus. Ich hätte gerne mehr darüber erfahren. Zum Beispiel hätte es mich brennend interessiert, ob es diese kryogene Anlage auch in der Wirklichkeit gibt.“

„Interessant. Ich hätte den Liberty-Virus nicht in der Konstruktwelt einbauen sollen, in der du dich fünfundzwanzig Jahre zurückgezogen hattest. Aber du hast etwas gebraucht, um den Hinweis aufzunehmen.“

„Wie, etwas gebraucht? In der ersten Welt gab es den ersten Hinweis, in der zweiten ging ich der Sache auf den Grund.“

„Denkst du wirklich, du hast erst zwei Welten erlebt? Denkst du wirklich, ich lasse dir die Erinnerungen an alle Konstruktwelten? Weißt du überhaupt, wie lange du schon hier lebst, Akira?“

Ich lachte gehässig auf. „Ein guter Versuch, Aris. Ich wusste nicht, dass du so boshaft sein kannst. Aber du scheinst eines nicht zu wissen. Wenn ich nicht verrückt werden will, dann darf ich dir einfach nicht glauben. Selbst die Informationen, die ich aus deinen Konstruktwelten ziehe, muss ich in Zweifel ziehen, bis ich wieder in meinem Körper stecke und sie selbst prüfen kann.“

„Du denkst wirklich, du wirst jemals in deinen eigenen Körper zurückkehren, Akira?“ Besorgt sah sie mich an. „Aber warum? Du bist im Paradies! Warum sollte jemals ein Daina dieses Paradies verlassen wollen? Hier kannst du alles sein, alles erleben! Du bist am Puls des Kosmos, und… Oder ist das die Herausforderung für dich? Diese Welt zu verlassen, reizt es dich, weil du es erreichen willst?“

„Du hast mich ohne meinen Körper hier reinstecken lassen“, erwiderte ich. „Das ist ein Zustand, den ich nicht hinnehmen kann. Natürlich werde ich versuchen, wieder in meinen Körper zu gelangen. Und ich werde das auch. Daran habe ich nicht die geringste Zweifel.“

„Du willst mich verlassen? Du bist doch gerade erst gekommen.“ Enttäuscht sah sie mich an. „Gibt es denn nichts, was dich hier halten kann? Was ist, wenn ich dir mehr Wissen verspreche? Wissen über die Dai? Wissen über die Zivilisation, die vor fünfundzwanzigtausend Jahren diesen Sektor der Galaxis besiedelte? Wissen über den Core?“

„Mich würde interessieren, worauf die Cores gestoßen sind, seit sie von Iotan geflohen sind. Die Relikte der alten Hochkultur, sind sie identisch mit den Daina, den Daima oder den Dai?“

Aris lächelte mich an. Sie verschränkte beide Hände hinter dem Rücken und beugte sich leicht vor. „Nein, nein und nein.“

„Herrin!“ Neben Aris entstand Kiali, die Frau in dem schwarzen Kapuzenkleid. „Er ist noch immer ein Feind! Gebt ihm nicht zu viele Informationen.“

„Du befürchtest, dass er sie gegen uns verwenden kann, richtig?“, fragte sie traurig.

Die große Frau nickte langsam.

Aris seufzte. „Gut, gut, du hast die große Erfahrung, wenn es darum geht, gegen die Daina Krieg zu führen. Also muss ich dir da wohl vertrauen.“

Ihre Augen blitzten spöttisch auf. „Aber heißt das nicht, dass du Akira bereits zu schätzen gelernt hast? Respektierst du ihn so sehr, dass du ihm zutraust, aus dieser Situation einen Vorteil zu ziehen?“

Die steife Frau in schwarz räusperte sich vernehmlich. „Nun, meine langjährige Erfahrung sagt mir einfach, dass der Arogad sehr fähig ist. Ihn zu unterschätzen wäre ein sträflicher Leichtsinn. Und ich verbiete es dir, Herrin, ihn mit Wissen zu päppeln, das sich gegen uns wenden kann.“

„Och, aber das gehört doch zu meinem Plan“, erwiderte Aris mit zu einem Schmollmund verzogenen Lippen. Mit leichten Schritten kam sie auf mich zu und tippte mir mit der Rechten auf die Brust. „Wie sieht es aus, Akira, wollen wir nicht Verbündete werden?“

„Wo sind denn unsere gemeinsamen Berührungspunkte?“, erwiderte ich. „Auf der Erde habe ich hart gekämpft, damit ich stets tun konnte, was ich für richtig hielt. Ich hasse Kompromisse und dumme Befehle.“

„Das hasse ich auch. Aber das wird kein Problem sein, denn du wirst ja die Befehle geben. Was denkst du? Willst du mein oberster General sein? Willst du draußen im Universum einen Körper führen?“

„Einen Körper führen?“

„Mach dir keine Hoffnung. Du wirst ihn steuern, aber dein AO verbleibt im Paradies. Dennoch… Es wäre Bewegungsfreiheit.“

„Wem muss ich dafür meine Seele verkaufen?“

„Aber, aber“, tadelte sie mich. „Die gehört doch schon mir, und alles andere dazu. Hm, ich kann deine Hintergedanken sehen. Ich kann sie fühlen. Und ich schmecke sie.“

„Du schmeckst sie?“

Aris stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mir einen Kuss auf. „Ich schmecke sie“, wiederholte sie amüsiert.

„Hey, Moment. Du wirst mir doch nicht etwa mit Haut und Haaren verfallen? Ich meine, es gibt eine Warteliste, und die ist beträchtlich lang“, wandte ich ein und hielt sie mit der Linken etwas auf Distanz.

„Oh, das ist kein Problem. Ich verfalle dir schon nicht. Und was die Warteliste betrifft, ein paar Jahrtausende, und die hat sich erledigt. Auf dich wartet die Ewigkeit im Paradies, Akira. Der Ort, der am besten zu dir passt.“

„Danke, aber ich hätte gerne die Realität. Ich muss Laysan zeigen, wie man mit Stäbchen umgeht.“

„Nicht das du eine Wahl hast“, fügte sie hinzu.

„Ich habe es befürchtet.“

Laysan zog an meiner Kleidung. „Akira, was ist wenn wir sie mitnehmen? Vielleicht will sie dein Haus auch mal sehen und deine Freunde kennen lernen. Vielleicht will sie ja einfach nur Spaß haben?“

„Spaß? Ich habe jeden Spaß, den ich haben will. Ich regiere das Paradies“, erwiderte sie irritiert.

„Spaß ist mehr als das. Spaß ist ein Gefühl der Leichtigkeit. In etwa so.“

Ich beugte mich vor und küsste die junge Frau meinerseits. Ich war mir sicher, einen Zungenkuss kannte sie noch nicht. Und auch wenn ich Zweifel hatte, dass diese Konstruktebene Körperlichkeit bei einem Wesen wie mir, das gerade nur als KI existierte, richtig umsetzen konnte, so spürte ich doch, wie Aris wegsackte.

Ich wollte zugreifen, sie vor dem Sturz bewahren, aber sie wehrte ab und kam mit wackligen Beinen wieder hoch. „Na warte“, sagte sie wütend. „Das sage ich alles Megumi!“

„Soviel zum Versuch herauszufinden, ob sie ein Mensch ist.“

„Ich glaube, du musst noch ein paar Manieren lernen! Niemand küsst die Herrin des Paradies ungefragt! NIEMAND!“ Betreten sah sie zur Seite. „Anders wäre es ja, wenn du mich vorher gefragt hättest.“

„Sie ist sehr menschlich“, murmelte ich mehr zu mir selbst.

„Dennoch, Strafe muss sein! Verschwinde vor meinen Augen, Akira Otomo!“

„Warte, warte, nun reagiere doch nicht gleich so böse! Wir können doch über alles reden! Und die Sache mit dem Körper klang wirklich interessant und…“

Gleißende Helligkeit löschte meine Umgebung aus. Und ich verlor den Griff um Laysans Hand.

„Eine neue Welt, geschaffen von einer wütenden Herrin des Paradieses der Daina und Daima“, murmelte ich. Hm, sie hatte nie erwähnt, dass sich auch Dai im Paradies aufhielten.
 

Epilog:

Nach etlichen Stunden, in denen ich mich auf dem harten Feldbett hin und her gewälzt hatte, war ich endlich in der Lage gewesen, ein wenig Schlaf zu finden.

Der Wecker hatte das letzte Mal drei Uhr morgens angezeigt, bevor ich eingenickt war. Als ich an der Schulter gerüttelt wurde und mein benommener Blick als erstes auf die Uhr fiel, zeigte sie halb fünf an. Mist, nicht mal zwei lächerliche Stunden Schlaf hatte ich bekommen.

„Mylord, Sie wollten geweckt werden.“

Ich wehrte Harris mit einer Hand ab und wischte mir mit der anderen über die Augen. „Hab schlecht geschlafen, Junge.“

Seine Stimme tat weh, so sehr troff sie vor Mitgefühl. „Ich kann das Stabsmeeting auf den Mittag verschieben. Eine wichtige Nachricht der Kaiserin, und alles…“

„Nein“, entschied ich. „Das heben wir uns für einen richtigen Notfall auf, okay?“

„Ja, Mylord.“

Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. Total verkrustet. Hatte ich im Schlaf wieder geweint? Eigentlich musste gerade ich es besser wissen. Ich war lange genug dabei, um längst keine Tränen mehr zu haben.

Harris legte einen Packen Kleidung auf mein Feldbett. Dazu stellte er frisch geputzte Armeestiefel. Besorgt sah er mich an. „Mylord?“

„Es geht mir gut. Sag den Offizieren, ich komme gleich. Was macht das Turnier?“

„Es wird morgen wie geplant stattfinden. Die Franzosen haben vor zwei Stunden bestätigt.“

„Das sieht ihnen ähnlich. Seit fünf Tagen liegt ihnen die Herausforderung vor, und mitten in der Nacht sagen sie zu. Geh jetzt, Harris.“

„Ja, Mylord.“

Als der junge Offizier im Range eines Sho-sho das Zelt verlassen hatte, ging ich zum einzigen Spiegel im Raum. Dankenswerterweise hatte der Junge eine Schüssel heißes Wasser gebracht. Ich hatte mich dran gewöhnt, aber das waren Zustände wie im Mittelalter. Während die Soldaten und niederen Offiziere ihre Waschstuben hatten, musste ich mir so behelfen. Außer, ich wollte jeden Morgen einen der Duschwagen absperren lassen. Abends war das eher möglich. Deshalb hatte ich meine Gewohnheiten umgestellt.

Ein übernächtigter Akira Otomo mit Augen, die tief in den Höhlen saßen, blickte mich aus dem Spiegel an. „Guck nicht so, ich wasch dich trotzdem“, murmelte ich in einem Anflug von Humor. Dank der gründlichen Dusche am Vorabend beließ ich es dabei, mein Gesicht abzuwischen und über meinen Nacken zu gehen.

Danach zog ich die bereitliegende Uniform an. Sie saß wie eine eins. Bei maßgeschneiderten Uniformen durfte man das auch erwarten. Allerdings bewies es mir, dass ich weder dramatisch zu- noch abgenommen hatte. Was mich, ehrlich gesagt, sehr beruhigte.

„Mylord, der Stab ist zusammengetreten.“

„Danke, Harris. Ich komme.“ Gründlich und langsam schloss ich meine Uniformjacke. Ich strich ein paar Falten glatt, griff nach der Dienstmütze und betrachtete mich kurz im Spiegel. Auf den Schultern prangte das Abzeichen eines Tai-sa, und am Kragen hingen die Symbole eines Knights. Das diskrete Schildchen, das mich dem Adel zugehörig ausgewiesen hatte, hatte ich bereits an meinem ersten Tag in der Armee unauffällig entfernt. Respekt verdiente man sich nie durch die Leistungen anderer, immer nur durch die eigenen Taten.

Harris hielt die Plane für mich auf und ich trat in die frische Morgenluft des englischen Kanals hinaus. Es hatte geregnet. Das bewies, wir waren quasi halb in England. Ich hätte schief gelächelt, aber das erlaubte ich mir nur in einem engen Kreis Vertrauter. Stattdessen ließ ich den Jubel meiner Krieger über mich ergehen. Eine ganze Division mit Panzereinheiten, Infanterie, Luftkavallerie und Knights, fast viertausend Männer und Frauen des Kaiserreichs, jubelten mir zu. Eine beachtliche Leistung für die frühe Morgenstunde. Für mich, den ausgestoßenen Herzog, sowieso. Wütend über mich selbst ging ich in schnellem Schritt zum Stabszelt hinüber. Diesen Teil meiner Vergangenheit hatte ich ruhen lassen wollen. Was blieb war die Zukunft im Dienst der Kaiserin.

Traum und Aufbruch

Prolog:

„Das ist nicht Ihr Ernst!“, blaffte Sakura Ino, ihres Zeichens jüngste Volladmirälin der Erde und vierthöchste Offizierin der United Earth Mecha Force.

Julian Gardio, derzeitiger Ratsvorsitzender der UEMF und damit direkt Bevollmächtigter über den gesamten Finanzhaushalt der riesigen Organisation, brummte ärgerlich.

„Nun tun Sie nicht so, als wäre ich hier der Böse! Der Plan ist Wahnsinn, und das wissen Sie! Für einen Mann ein so großes Risiko einzugehen ist…“

„Ich glaube, Sie verstehen hier nicht ganz, worum es wirklich geht!“, rief Admiral Ino wütend. „Dieser eine Mann ist vielleicht nur ein Mann, zusammengesetzt aus Materie für einen Wert von zwanzig Dollar, aber er hat für diese Welt tausendmal sein Leben riskiert, zweimal den Mars attackiert und einmal erobert! Er hat über dreihundert Mechas abgeschossen, ein anderes Sonnensystem erobert und ein Riesenreich, das unser direkter Nachbar ist, mit einem Husarenstück dazu gebracht, aus seiner Hand zu fressen! Denken Sie nicht, dass wir es ihm schulden, nach seiner Seele zu suchen?“

„Bringen Sie mich nicht in diese Zwickmühle. Ich kenne Division Commander Akira Otomo persönlich, und deshalb weiß ich, was er sagen würde: Sucht nicht blind nach mir, sondern wartet auf die Explosionen, die euch den Weg weisen.“

Sakura konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. Ja, das klang nach ihm. Und wahrscheinlich hatte Gardio damit auch noch Recht.

„Außerdem hätte er ein wirkliches Problem damit, wenn vierzigtausend Menschen und Soldaten auf der Suche nach ihm ihre Leben riskieren“, schloss der Italiener seine Rede.

Sakura sackte in sich zusammen. Treffer.

„Ich will ihn doch auch finden“, wandte der Ratsvorsitzende abmildernd ein. „Ich weiß, wie viel wir ihm schulden. Also geben Sie uns doch bitte eine Chance, Admiral, ein paar Fregatten für Ferneinsätze auszurüsten, sprungfähig zu machen und nach ihm auf die Suche zu schicken. Geben Sie uns ein weiteres halbes Jahr, und wir können mit den besten Leuten beginnen, die wir haben.“

„Noch ein halbes Jahr? So lange hat es gedauert, bis die AURORA wieder einsatzbereit war!“, rief sie wütend. Resignierend winkte sie ab. „Vielleicht hängen wir wirklich bereits viel zu sehr hinterher, sodass es keinen Unterschied mehr für Akira macht, wie viel Zeit wir brauchen.“

Gardio sah mit traurigem Blick auf. „Vier Monate. Geben Sie uns vier Monate. Aber lassen Sie die AURORA da wo sie ist. Wir werden ihre Sprungfähigkeiten und ihre Kapazitäten bestimmt noch brauchen. Wenn nicht für uns, dann für die Naguad. Offiziell sind wir zwar ein Protektorat der Arogads und unangreifbar, aber wir sind damit auch Verpflichtungen eingegangen. Wenn das Militär der Naguad ruft, wenn die Anelph unsere Hilfe wünschen, müssen wir etwas haben, um darauf zu antworten. Die AURORA ist das mächtigste Raumfahrzeug in diesem Teil des Universums. Und Sie sind die Anführerin der erfahrensten Einheit, die wir haben. Bitte, lassen Sie uns das alles nicht vergeuden.“

Megumi Uno erhob sich, berührte Sakura sanft an der Schulter und trat vor den Rat der UEMF. „Richtig, Ladies und Gentlemen, ohne zwingenden Grund sollten wir diesen Vorteil nicht aufs Spiel setzen. Die Erde steht besser da als je zuvor, und solange es Yohko Otomo alias Jarah Arogad gibt, können wir nicht nur sicher sein, dass das Protektorat durch Haus Arogad weiterhin besteht sondern dass auch die Verträge mit den Daness eingehalten werden.“

Sakura blinzelte. Megumi war eine Daness. Warum wies sie nicht darauf hin?

„Und für Division Commander Otomo ist es irrelevant, ob er ein halbes Jahr oder ein halbes Jahrzehnt verschollen ist. Immerhin ist sein Körper bei uns und altert nicht, solange er im Biotank ruht.“

Julian Gardio zog die Augenbrauen hoch. „Worauf wollen Sie hinaus, Division Commander Uno?“

„Darauf, dass Ihr Vorschlag der Vernünftigste ist. So sollten wir es machen. Schicken wir kleine Kräfte aus, die nach Otomos Verbleib suchen. Und sobald diese eine Spur haben, senden wir stärkere Kräfte nach.

Diese Idee, aus der Verwandtschaft der Familie Arogad mit dem Kaiserreich Kapital und Information zu schlagen, war ohnehin sehr gewagt.“

„Es ist schön, dass Sie mir da zustimmen, Division Commander Uno“, sagte der Italiener zaghaft.

„Gut“, erwiderte Megumi und sah in die Runde. „Dann lassen Sie uns dieses kostenintensive und uninteressante Projekt kippen und gegen ein rationaleres, effektiveres Konzept austauschen.“

„Megumi!“

„Meister Daness! Was tun Sie?“

Lässig winkte die junge Frau ab. „Es geht hier um Rationalität, nicht um Emotionen. Der Rat kann und darf sich niemals durch Emotionen leiten lassen, richtig?“

„Schön, dass Sie das so sehen, Division Commander“, erwiderte Gardio.

„Gut. Dann macht Ihnen dies hier sicher nichts aus.“ Megumi drehte sich um und öffnete die Doppeltür zum Nebenraum. Dort trat sie an die Balkontür heran und öffnete sie. Kaum war das geschehen, klang ein Raunen in den Sitzungssaal, als würde eine Springflut in den Raum schwappen. Neugierig erhoben sich die Teilnehmer der Konferenz und folgen der jungen Frau.

Auf dem Balkon angekommen wurde jeder an die kleinen Sünden erinnert, die er oder sie auf dem Altar der Vernunft erbracht hatte.

Vor ihnen, auf einer normalen Straße, nicht einmal einem Platz, hatte sich dennoch eine riesige Menschenmenge versammelt. Das Gros machten Soldaten aus den größten Nationen aus, viele von ihnen Mars-Veteranen. Aber auch Kronosier und Anelph waren vertreten. Über den Häusern der Stadt flogen Mechas dahin, einige hatten das Kunstwerk geschafft, auf Häusern zu landen ohne sie kollabieren zu lassen.

Und allen war eines gemein: Sie skandierten.

„Was Sie hier sehen“, rief Megumi über den Lärm hinweg, „sind Einheiten aus allen großen Staaten der Erde und Dutzende aus kleinen Nationen – durchweg UEMF-Länder. Und wissen Sie, was sie rufen? Wissen Sie, was diese Menschen wollen?“

Gardio lauschte dem einen Begriff, der sich wiederholte, immer wiederholte und schwieg ergriffen. „Vielleicht müssen wir unsere Pläne umstellen“, gestand er ein. „Wir reden drinnen weiter, wo es ruhiger ist.“

Sie verließen den Balkon, und fünfhunderttausend Menschen, die der UEMF und den Hekatoncheiren direkt oder indirekt etwas schuldeten, hörten nicht auf diese beiden Worte zu skandieren: Blue Lightning.
 

1.

Die Welt, in der ich lebte, war nicht ideal. Sie war auch weit davon entfernt, annähernd ideal oder wenigstens einigermaßen ideal zu sein. Sie war laut, schmutzig, von Konflikten erschüttert und ständig am Abgrund der Selbstvernichtung. Das Übliche also.

Ich persönlich hatte keinen Anteil an der schmutzigen Seite der Welt. Im Gegenteil, im Namen der Kaiserin räumte ich die Spielzeuge der anderen auf.

Ich, der verstoßene Herzog, der Sohn des Verräters, der Bruder der Gegenkaiserin, der treueste Vasall meiner Kaiserin und ihr größtes Risiko. Akira von den Otomo.

***

Meine Offiziere empfingen mich mit Hochachtung im Blick. Wir dienten schon lange genug zusammen, um einander gut zu kennen, und jeder einzelne hatte die persönliche Entscheidung getroffen, unter mir, dem Verräter, zu dienen. Dies bedeutete für die meisten von ihnen, dass ihnen der Weg in die reguläre Armee versperrt blieb. Und da sich die Verluste meiner Division in Grenzen hielten, waren es auch die Aufstiegsmöglichkeiten durch den Tod der Vorgesetzten.

„Auf die Pest und blutige Kriege“, sollen sich englische Offiziere zugeprostet haben. Nur in solchen Zeiten starben ihre Vorgesetzten, höhere Ränge wurden frei und sie hatten nachrücken können. Nicht einmal das konnte ich meinen Offizieren bieten. Die Kaiserin hielt uns von den meisten Konflikten zurück.

„Mylord. Der Joust wird wie geplant stattfinden. Ihr Knight wird bereits von Kampfbereitschaft auf Turnierbewaffnung umgestellt.“ Julian Andrews, Oberstleutnant in meinem Regiment und mein Stellvertreter, schob mir über den Konferenztisch eine Liste zu. „Die Namen der Knights, die am Joust teilnehmen möchten, Mylord.“

Ich nahm die Liste entgegen und studierte sie. Praktisch jeder Knight-Pilot hatte sich eingetragen. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Viel zu selten kamen meine Leute dazu, ihre Fähigkeiten aufzupolieren oder wenigstens zu zeigen. „Dein Name fehlt, Julian.“

Der groß gewachsene, goldblonde Mann schüttelte wehmütig den Kopf. „Mylord, wenigstens ein Knight-Pilot sollte Wache halten, während der Rest dieser vergnügungssüchtigen Bastarde mit den Franzosen spielt.“

Ich lächelte dünn. „Genehmigt. Aber dafür hält das nächste Mal ein anderer Wache.“

Ein leises raunen ging durch den Raum. Ich ahnte die Wahrheit, ohne dass sie ausgesprochen worden war. Beim letzten Joust hatte es Major Maria Utrecht erwischt, davor war es Hauptmann Kunz Krönig gewesen. Sie wechselten sich ab, und das bedeutete Teamarbeit. Ein beruhigender Gedanke für einen Anführer und Offizier.

„Was steht noch an, Herrschaften?“

Harris winkte herüber. „Mylord, wir werden wie immer Gerichtshof abhalten. Ich habe bereits eine Auswahl an Gerichtsverfahren getroffen, die mir auf den Missbrauch der Bürger durch den Adel hindeuten. Außerdem haben sich bereits zwanzig Bittsteller eingetragen, die dem Vertreter der Kaiserin ihr Anliegen vortragen wollen. Siebzehn Bürger und drei Männer von Adel.“

Ich seufzte tief und schwer. „Bitte, Carl, sorge dafür, dass die Adligen als erste drankommen, damit ich mich so schnell wie möglich um die wichtigen Themen kümmern kann.“

Major Harris nickte und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Aber die verräterisch zuckenden Mundwinkel sagten mir genug.

„Gibt es sonst noch etwas wichtiges, bevor wir zum Tagesdienst übergehen können?“

„Es liegen zwei Depeschen vor. Einer von ihrer Majestät, der Kaiserin und eine von Eurer Schwester, Mylord.“

Ich seufzte tief. Kaiserin und Gegenkaiserin. Das versprach ein spannender Tag zu werden.

„Ich werde sie nachher einsehen. Kommen wir zur Einsatzbereitschaft des Regiments und…“

Wenigstens konnte ich mit Routineaufgaben das Unvermeidliche etwas aufschieben.

***

„Guten Morgen, geliebter Bruder.“ Die Lilienkaiserin lächelte auf mich herab, während die Kamera sich bemühte, ihre Schönheit so gut es ihr möglich war, einzufangen.

„Wenn du diese Botschaft erhältst, sind wir nahe daran, die Macht der Kaiserin in den Neuen Kolonien zu brechen und ihre Invasionstruppen in den Pazifik zurückzutreiben. Die Republik und die kaiserliche Instanz gebieten dann über den gesamten Nordkontinent. Dies wird für die Republik ein erster großer Schritt sein, um nie wieder unter die Fuchtel des Adels zu geraten.“

Ich schwieg bedrückt. Schwester, wie hattest du dich jemals ernsthaft derart instrumentalisieren lassen? Aushängeschild der Republik warst du nun, und solltest du tatsächlich die Kaiserin besiegen können, würde die Republik dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

„Ich biete dir hiermit in meinem Namen und dem des republikanischen Rates an, über mein irisches Protektorat mein Reich zu betreten und an meiner Seite zu kämpfen. Jetzt haben wir eine reelle Chance, und mit dir in unseren Streitkräften wird der Sieg schon sehr bald erfolgen. Bruder, ich vermisse dich. Bitte, nimm mein Angebot diesmal an.

Deine Schwester Yohko.“

Ich schwieg, frustriert, verärgert und vor allem verunsichert. Dann entkrampfte ich meine Hände. Ich würde antworten müssen. Verdammt, Yohko, warum hattest du dich für die Demokratie einspannen lassen? Warum hattest du nach Vater die Monarchie ebenfalls verraten müssen?
 

Ich wechselte den Datenträger. Die Kaiserin erschien.

Sie trug nur einen Morgenmantel, und ihr ansonsten kunstvoll frisiertes Haar fiel ihr in langen braunen Strähnen auf die Schultern. Ihre Augen wirkten erneut älter als sie es durften.

„Akira. Ich habe schlechte Neuigkeiten. Yohko ist es gelungen, unsere Brückenköpfe an der Westküste zu vernichten. Wir müssen uns mitten im Winter über Sibirien zurückziehen. Das ist ein schwerer Schlag für uns, und ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist. Ich will, dass du nach Japan gehst, und die Operation untersuchst. Ich will einen Schuldigen, und ich will DEN Schuldigen, nicht ein armes Würstchen, das mir als Opferlamm zugeworfen wird.

Sobald du deinen Joust mit meinen französischen Untertanen und deinen Gerichtstag beendet hast, brichst du auf. Zu dem Zeitpunkt wird das Ostpazifikheer eingetroffen sein. General von Berger weiß noch nicht, dass ich eine Untersuchung angeordnet habe, und er wird sich nicht darüber freuen, dass ich meinen bissigsten Bluthund auf ihn gehetzt habe. Dennoch erwarte ich perfekte Arbeit von dir. Da drüben starben schon fünftausend meiner Soldaten, außerdem wurden ein paar tausend Zivilisten getötet, dreimal so viele verletzt und zehntausende obdachlos gemacht. Ich kann eine derartige Unfähigkeit nicht tolerieren.

Akira, du bist der einzige meiner wandernden Herzöge, der vor dem Adel keine Angst hat. Nur du kannst herausfinden, wieso ich eine ganze Division verloren habe. Von Soldaten, die darauf vertraut haben, dass sie für die richtige Sache kämpfen. Die darauf vertraut haben, dass ihre Offiziere in meinem Namen Befehle geben.“

Sie schwieg, und um ihre Lippen erschien ein verkniffener Zug. Ich kannte diese Mimik. Im Moment war die Kaiserin sauer, und diesen Ausdruck musste man bei ihr fürchten. Schon so mancher Adliger hatte auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, dass Anastasia die Erste keinesfalls die willfährige Marionette einer schattenhaften Eminenz war, sondern trotz ihrer Jugend im eigenen Wissen und in eigenster Verantwortung regierte. Vater hatte sie sehr gut auf ihre Aufgabe vorbereitet. Bevor er sie verraten hatte.

„Finde das für mich heraus und finde heraus, wie schwer seine Schuld wiegt. Wenn der Kommandeur der Republikaner einfach besser war, lass ihn leben. Aber wenn es Unfähigkeit war, geboren aus der üblichen Überheblichkeit und Korruption, dann schleif ihn vor meinen Thron!“ Ihre Augen blitzten zornig. „An den Haaren, Akira.“

Das entlockte mir ein schmunzeln. Vor ihr waren alle Menschen gleich, wenn sie erst einmal vor ihrem Thron standen.

Ihre Miene wurde wehmütig. „Und… Akira… Ich erwarte immer noch eine Antwort auf mein Angebot. Musst du wirklich so lange darüber nachdenken, wenn ich dir die Ehe anbiete? Gibt es etwas, was du an mir hasst? Ich meine…

Entschuldige bitte, aber ich habe nicht viel geschlafen. Da wird man wohl etwas redselig. Erfülle deine Aufgabe und antworte mir, wann es dir am besten passt. Auf bald.“

Auch auf diese Botschaft würde ich antworten müssen. Und langsam würde ich mich nicht mehr vor einer Antwort auf ihre Frage drücken können.

Mit einem aufatmen schaltete ich ab. Einen General in die Ecke drängen war nicht weiter schwer. Auch wenn es ein adliger Halunke war. Das war eine Aufgabe recht nach meinem Herzen.

Der einzige Haken bei der Geschichte war, dass ich dabei Japan und damit Edo erschreckend nahe kam. Edo, eine der vier Residenzen der Kaiserin, war dann nur einen Katzensprung entfernt. Entweder konnte meine Kaiserin mir befehlen, an ihrem Hof zu erscheinen, oder sie konnte sich entschließen, mich aufzusuchen. In jedem Fall eine… unerfreuliche Entwicklung.
 

2.

Als sich die beiden Frauen musterten, geschah dies mit einer Mixtur aus nahezu sichtbaren Emotionen, die einen Geringen an die nächste Wand gedrückt hätte. Und dabei standen sich die zwei lediglich als Hologramme in einem speziell präparierten Raum irgendwo auf dem Anelph-Planeten Lovtose gegenüber.

Eine Frau stand in diesem Moment auf der Erde in ihrem Hologrammgenerator. Die andere benutzte den in ihren Arbeitsräumen im Turm der Logodoboro auf Nag Prime.

Beide waren einander sehr ähnlich, hatten helle Haut, langes schwarzes Haar und schmale Gesichter. Aber die eine hatte stahlgraue Augen, die andere bernsteinrote.

Endlich ergriff jene mit den stahlgrauen Augen das Wort. „Hallo, Eidbrecher.“

„Hallo, Tyrann“, erwiderte die Frau mit den roten Augen.

Dann schmunzelten beide und traten so weit aufeinander zu, wie es die Hologrammprojektion zuließ.

Die dritte Person im Raum, die als Beobachterin anwesend war, der einzige Grund, warum sich die beiden ihre Projektionen nicht direkt schickten, war ebenfalls nur als Hologramm anwesend. Sie spürte wohl die Macht und die Spannung zwischen den beiden Frauen, aber ihre in vielen Jahrzehnten gereifte innere Ruhe konnte nicht so schnell erschüttert werden. Nie mehr.

„Dir scheint es gut zu gehen, Kleines“, sagte die mit den stahlgrauen Augen schließlich.

„Und du, Oma, siehst immer noch so gut aus wie am ersten Tag“, erwiderte die andere.

So ging es einige Zeit hin und her, die beiden stritten nicht wirklich, aber sie klopften einander verbal ab, machten kleine Scherze, stichelten ein wenig und wirkten mehr wie junge, rivalisierende Mädchen und nicht wie zwei uralte Frauen mit unendlicher Erfahrung.

Endlich bewegte sich die dritte Frau im Raum und trat vor. „Wir sollten beginnen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis diese illegale Leitung entdeckt wird.“

Die Frau mit den eisgrauen Augen nickte zustimmen. „Natürlich, Eridia Arogad. Nun, Agrial Logodoboro, beginnen wir mit unserer Verhandlung.“

„Natürlich, Meister Kuzo.“

***

Der Joust war phantastisch. Die Arena der Normannen maß zwei Kilometer im Rund und bot achtzigtausend Menschen bequem Platz und erlaubte es acht Knights gleichzeitig zu kämpfen. Dieses Land hatte eine lange Ritter-Tradition, und dies spielte sich vor allem in ihren Stadien wider. Fast jedes Stadion war in der Lage, einen Joust abzuhalten, die Kämpfe der zwölf Meter hohen und vierzig Tonnen schweren Knights zu überstehen und zugleich nicht einen Funken Gefahr für die Zuschauer zu zulassen.

Die Franzosen hielten sich tapfer. Ihre besten Leute, so sie denn neben den Kämpfen in Afrika Zeit fanden an einem Joust teilzunehmen, hatten sich uns gestellt, und für Republikaner waren sie wirklich nicht schlecht. Unsere Verbündeten lieferten uns spannende Kämpfe, denen es an nichts mangelte. Nun, vielleicht an Siegen, denn neunzehn Kämpfe hatten meine Knights gewonnen, drei verloren. Und wir waren erst am Mittag.

„Ein guter Joust, Mylord“, sagte Catherine Deveraux hinter vorgehaltener Hand.

Die Frau in der Mitte ihrer besten Jahre war die Regionskommandeurin im Generalsrang, und dementsprechend verantwortlich für zweihunderttausend Mann unter Waffen. Außerdem fungierte die als Querschießerin bekannte Frau als Gastgeberin des Tages.

Quertreiber und Besserwisser – ich mochte sie auf Anhieb.

„Es ist eine gute Lektion für beide Seiten, Mylord General“, erwiderte ich mit der traditionellen Anrede für einen nichtadligen Stabsoffizier, was bei den Franzosen, die auf ihre republikanische Tradition sehr stolz waren, eigentlich nicht gebräuchlich war.

„Nicht doch. Sie schmeicheln mir, meinen Truppen und den anderen französischen Knights im Feld, Mylord.“ In einer verlegenen Geste schlug sie die Augen nieder. Dazu zierte eine gewisse Röte die Wangen der zierlichen, schwarzhaarigen Frau.

Hm, flirtete sie etwa mit mir? Nicht, dass ich was gegen Frauen knapp unter der vierzig hatte. Aber war sie sich des Risikos bewusst, das sie damit einging? Wenngleich ich ein fahrender Herzog war, und damit nur der Kaiserin gehorchen musste, so haftete doch der Geruch des Verrats an mir. Sich mehr als dienstlich mit mir einzulassen, und sei es nur auf freundschaftlicher Ebene, konnte für ihre weitere Karriere sehr hinderlich werden.

Aber wenn ich sie mir so ansah, dann wusste ich, dass ihr die Verteidigung gegen Irland wichtig war, nicht wie weit sie noch aufsteigen konnte. Das gefiel mir wirklich.

„Ehre wem Ehre gebührt. Meine Knights sind erfahrene Frontsoldaten aus aller Herren Länder. Es ist keiner unter ihnen, der nicht mindestens einen Knight in seinem Leben abgeschossen hat. Ihre Leute hingegen müssen den ereignislosen und frustrierenden Wachdienst ertragen, und wenn wirklich mal etwas passiert, hagelt es auch noch Vorwürfe, weil man angeblich in der Wachsamkeit nachgelassen hat.

Es sind ein paar Veteranen aus Nordafrika anwesend, aber sie sind nicht unbedingt besser als Ihre Leute, Mylord General.“

„Mylord Akira, Sie schmeicheln mir und meinen Leuten ja erneut“, strafte sie mich ab, aber ihr Lächeln bewies, dass sie nicht wirklich böse mit mir war.

Gerade machte Major Utrecht mit ihrem Gegner kurzen Prozess. Ihr Knight vom Typ Panther, der auf den klangvollen Namen „Lauernder Tod“ hörte, traf den gegnerischen Sturmtiger mittig auf der Brust und schleuderte die Maschine samt Piloten an die fünf Meter starke Stahlbetonwand der Arena.

Die Menge tobte und sprang von den Sitzen auf. Gut zu wissen, dass es ein toben aus lauter Begeisterung war, und nicht etwa eines aus Frust, da hier gerade ein Franzose besiegt worden war.

Major Utrecht reckte die rechte Faust des Knights siegreich in die Höhe und salutierte dann in meine Richtung, was ich mit einem deutlichen und huldvollen Nicken beantwortete. Für diesen grandiosen Sieg wollte ich sie reich belohnen.

Als nächster stand Carl Harris auf der Liste. Er würde einen Onager in die Schlacht führen, einen Artillerie-Knight, der nach den alten Wurfkatapulten der Römer benannt worden war.

Um die Chancen in diesem Duell einigermaßen fair zu halten – immerhin hatte das Los ihm einen leichten Späher vom Typ Luchs zugespielt – waren zwei der vier Rohre des Onagers mit dem klangvollen Namen Geisterkrieger versiegelt worden.

Der junge Mann war seit wie vielen Jahren mein Adjutant? Ich konnte es nicht sagen. Aber ich wusste, dass ich vieles besser ertragen hatte, weil er an meiner Seite war, die treue Seele. Ihn zu verlieren wäre ebenso schlimm für mich gewesen, wie meine Schwester zu verlieren, oder meine Kaiserin. Oder meine Eltern, die noch immer in Burg Edo unter Hausarrest standen, seit mein Vater den unheilvollen Schritt zum Verrat getan hatte.

Als sich Maria Utrechts Lauernder Tod und Harris´ stolzierender Geisterkrieger in der Pforte zu den Katakomben entgegen kamen, schlugen sie einander mit den voll modellierten Händen der Knights ab. Ich lächelte dünn dabei. Einen jungen Knight hätte ich für derart kindisches Verhalten natürlich so sehr abgestraft, dass er seine Nase noch Tage danach kaum eine Handbreit über dem Boden wieder fand, aber diese kampferprobten, in tausend Feuern gehärteten Veteranen konnten und durften sich eine ganze Menge mehr erlauben.

Hauptmann Harris salutierte in meine Richtung, dann für die Generälin und wandte sich anschließend seinem Gegner zu.

„Auch eure Knights sind mehr als respektvoll zu meinen Truppen“, murmelte Deveraux mehr zu sich selbst als zu mir.

Unter uns, in der Tiefe, entbrannte ein schneller und erschreckender Kampf, als Harris alles über Bord warf, was als Kampfdoktrin für den Onager galt. Er griff im Sturm an und brachte seine Masse zum tragen. Nach wenigen Sekunden präsentierte er sich als Sieger durch Aufgabe des Gegners. Er war kurz davor gewesen, die leichtere Maschine regelrecht zu zerquetschen, und hätte der französische Knight-Pilot nicht aufgegeben, dann hätte ich den Sieg meines Knights befohlen, um das Leben des Franzosen zu retten. Natürlich wäre ich damit General Deveraux zuvorzukommen, um sie vor dem Gesichtsverlust zu bewahren, einen ihrer Knights zur Aufgabe befohlen zu haben.

„Ihr seid zu gütig, Mylord. Aber es wäre meine Aufgabe gewesen, meinem Knight das Leben zu retten“, tadelte sie mich.

„Ich habe keinen Ruf mehr zu verlieren“, wies ich die Frau meinerseits zurecht.

„Mylord!“ Ihre Stimme klang entrüstet.

Harris trat mit Geisterkrieger vor unsere Empore und schlug mit lautem Knall die Knightfaust vor die linke Brust. Ich nahm die Ehrenbezeugung mit einem kaum merklichen Nicken entgegen. Danach verbeugte sich Geisterkrieger vor der Generälin, was diese mit einem militärischen Salut erwiderte.

Als Geisterkrieger das Stadion verließ und der beschädigte Luchs abtransportiert worden war, riefen die Fanfaren des Stadions zur Mittagspause. Achtzigtausend Menschen würden nun ihre Plätze verlassen und zu den Zelten und dem Jahrmarkt vor dem Stadion eilen, der auf den umgebenden Wiesen aufgebaut worden war – und das bei bestem Wetter in herrlicher Vorfrühlingsluft. Wir hatten wirklich Glück mit unseren Joust.

Ich erhob mich und bot der Frau neben mir die Hand zum aufstehen. „Mylord General.“

Dankbar ergriff sie die Hand und ließ sich von mir auf die Beine ziehen. Danach bot ich ihr meinen Unterarm an, wie es am Hofe ihrer kaiserlichen Majestät üblich war, und mit einem dünnen Lächeln, aber erfreut blitzenden Augen, weil ich sie mehr wie eine Frau als eine Offizierin behandelte, legte sie ihren linken Unterarm auf meinen.

So schritten wir aus der Loge hinaus und Dutzende Menschen folgten uns.
 

Auf dem Festplatz wimmelte es von Leben, denn zusätzlich zu den achtzigtausend Menschen, die das Glück gehabt hatten, eine Karte für das Stadion der Normannen zu bekommen, gab es auch noch gute zweihunderttausend Menschen, die auf die großen Leinwände gesehen hatten, welche rund um das Stadion aufgebaut worden waren.

Public Viewing nannte man das, und ich fand es netter, als den Tag und den Joust zuhause vor dem Bildrundfunkempfänger zu verbringen.

Ich führte die Generalin zu meinem persönlichen Zelt; Ordonnanzen und die jüngeren Offiziere hatten derweil das Essen für einen kleinen Empfang vorbereitet. Die Plätze waren wohlweislich limitiert, und die Kontrollen sehr streng. Auch wenn ich der Verrätersohn war, so wussten doch alle, dass ich das Ohr der Kaiserin besaß, und das war es wert, selbst ein wenig in Verruf zu geraten.

Selbstverständlich war ich für diese Speichelleckerei nicht empfänglich. Also hatte ich zu diesem Empfang lieber die lokalen Größen eingeladen, dazu selbstverständlich jeden einzelnen Knight, der an diesem Tag angetreten war oder noch antreten würde – die Mannschaften des Wartungspersonals obendrein, wenn sie es denn noch zu einer Dusche und in eine saubere Ausgehuniform geschafft hatten.

Das trug mir den Verdruss der Offiziellen ein, sicherlich, aber ich war ja nicht hier, um mir Freunde zu machen. Im Gegenteil. Am nächsten Tage schon würde ich Gericht halten, und etliche Offizielle von ihren Posten entfernen, um der hier wie überall wuchernden Korruption entgegen zu treten.

Ein französischer Offizier im Hauptmannsrang und mit der Jacke der Ordonnanzen bekleidet, servierte uns Champagner und bat sodann mich und die Admirälin nach unseren Wünschen vom Buffet. Für ihn schien es undenkbar, dass wir uns selbst bedienen wollten wie die einfachen Offiziere und Knight-Piloten. Aber zu einem Gang zum Essen und zu einem oder zwei ordentlichen Schwatzern war später noch Zeit.

Zuerst einmal trat ich mit der Generälin an der Seite vor die Versammelten.

Ich hob mein Glas, und sofort wurde es leiser, bis auch der letzte Redende verstanden hatte, dass der Herzog etwas sagen sollte.

„Meine Damen und Herren, trinken wir auf die Kaiserin, zu deren Ehren wir dieses Turnier veranstalten.“

„Auf die Kaiserin!“, hallte es mit hundertfach entgegen.

Ich trank einen kurzen Schluck aus meinem Glas und hob es dann erneut. „Und trinken wir auch auf dieses wundervolle Land, unseren treuen Verbündeten, unser sicheres Standbein, Geburtsort so vieler tapferer Knights und sicherlich Geburtsort vieler weiterer tapferer Helden. Auf Frankreich!“

„Auf Frankreich!“, wurde zurückgerufen, und es klang noch ein wenig enthusiastischer als der Toast auf die Kaiserin. Was verständlich war, denn die Franzosen waren und blieben zutiefst in ihren Herzen republikanisch. Etwas, was ihr Adel in mehreren Bürgerkriegen hatte lernen müssen.

„Und lassen sie uns auch auf Akira von den Otomo und seine tapfere Division trinken, die gerade mit unseren besten Leuten den Boden aufwischt“, fügte die Generalin hinzu.

Leises, zustimmendes Gelächter, vor allem von den Knights, antwortete ihr. „Auf den Herzog und seine Mannen.“

„Auf den Herzog und seine Mannen!“

Ich nahm den Trinkspruch freundlich und mit einem Nicken entgegen. Er hatte nicht so sehr etwas von der üblichen Speichelleckerei, mit der man mich sonst bedachte, ich empfand ihn im Gegenteil als ehrlich und erfrischend.

„Wer sich in Gefahr begibt kommt darin um, dass wisst Ihr doch, Mylord General?“, tadelte ich die Französin schmunzelnd.

„Und wer mit dem Hintern immer zuhause hockt, wird runzlig und fett“, konterte sie. „Außerdem lebe ich ohnehin schon gefährlich genug, mit den Iren im Gesicht und den Deutschen im Nacken.“

Ich lächelte zustimmend. Dankbar nahm ich dem Hauptmann – oder Capitain – meinen Teller ab, der bis zum Rand mit Fingersnacks gefüllt war. Man meinte es anscheinend gut mit mir. Oder man wollte mich verfressen aussehen lassen.

Deveraux hatte einen weniger gefüllten Teller erhalten, allerdings mit allerlei erlesenen Leckereien.

Diese fand ich auch auf meinem Teller wieder, ordentlich verstärkt durch die eine oder andere Spezialität.

„Versucht die Austern, Mylord“, riet die Frau mir. „Ich habe sie heute Morgen aus der Bretagne einfliegen lassen. Selbstverständlich habe ich dafür Sorge getragen, dass auf Eurem Teller die größten liegen. Ein weiteres Dutzend liegt mindestens noch parat, falls sie Euch schmecken.“ Sie sah meinen unsicheren Blick und lächelte. Mit einem niedlichen Pardon nahm sie eine Austernschale vom Teller und trank sie zu meinem Entsetzen und einem leichten Schlürfen aus.

Nun, jetzt wusste ich zumindest, wie man Austern aß. Aber ob sie mir schmeckten stand auf einem anderen Blatt. Gehorsam und unter dem strengen Blick meiner Lehrmeisterin trank – oder aß – ich die Erste und fand es nicht schlecht, gerade mit dem Hauch Zitrone.

Danach kostete ich mich durch die anderen Leckereien, die durchweg entweder mit teurem Champagner oder noch teurerem Trüffelpilz zubereitet zu sein schienen.

Schließlich entdeckte ich in all den kleinen Kunstwerken auf meinem Teller etwas einfaches, eine grobkörnige schwarze Paste auf dem berühmten französischen Weißbrot – nur um mich von Deveraux belehren zu lassen, dass ich gerade Stör-Rogen aß, besser bekannt unter seinem Namen Kaviar, unter dem er Weltruhm erlangt hatte.

„Ich wünschte mir, ich hätte nur etwas Baguette auf dem Teller“, meinte ich schließlich verdrossen.

„Aber, aber, Mylord, nun lasst mich Euch doch ein wenig verwöhnen.“ Das sagte sie mit einem beinahe schüchtern zu nennenden Lächeln, was mich noch mehr für diese Frau einnahm.
 

Es folgte eine lange Abfolge von paradieren, mir wurden viele der Knights und Offiziere vorgestellt, und selbstverständlich auch die Offiziellen der nahen Stadt Caen, der das Stadion der Normannen gehörte und die es unterhielt. Der Bürgermeister Malaincourt, sein Stellvertreter, der ironischerweise auf den Nachnamen Krüger hörte, die Ratsherren und einige hochrangige Veteranen im Ruhestand, von denen nicht wenige unter dem Befehl meines Vaters gekämpft hatten. Was mich ehrlich gesagt erstaunte, denn von einem französischen Kontingent in seiner reisenden Division hatte ich bisher nichts gehört, als er selbst noch wandernder Herzog war – vor seiner Zeit als oberster Berater der Kaiserin. Vor seiner Zeit als Verräter, der ihre Majestät gefangen gesetzt, Edo besetzt und die Republik ausgerufen hatte, nur um all das dem ersten erscheinenden General auf das Ehrenwort hin seine Offiziere und Mannschaften straffrei ausgehen zu lassen sofort zu übergeben.

Erst Jahre später hatte ich verstanden, dass Vater keinen Verrat begangen hatte, sondern der Kaiserin die wichtigste und letzte Lektion ihrer Ausbildung erteilt hatte.

Der bezeichnende General, Ariel Moore von den Freiwilligen Black Watch ihrer Majestät der britischen Königin, unterstellt der Kaiserin, hatte nämlich vorgehabt, trotz Ehrenwort die Offiziere und Mannschaften der meuternden Truppen zu dezimieren. Eine alte Sitte des noch älteren Roms, das seine unruhigen Truppen, von den Meuterern bis zu den Feiglingen stets auf die gleiche Weise diszipliniert hatte.

Aus der angetretenen Truppe wurde jeder Zehnte herausgenommen und hingerichtet. Dies wurde so lange getan, bis die Einheit wieder gehorchte, oder bis sie als Kampftruppe ausgelöscht war.

Die Kaiserin aber hatte es ihm mit Erinnerung an ihr Ehrenwort verboten und die Meuterer mit allen Ehren und Ämtern wieder in Dienst gestellt. Danach wurden sie mir unterstellt, einem Frischling, der noch auf der Schule war und nie mit auch nur einem Gedanken daran gedacht hatte, Soldat zu werden. Plötzlich hatte ich die Leute meines Vaters unter mir – später dann ihre Kinder. Und ich hatte seinen Titel, seine Ländereien und sein Amt als wandernder Herzog inne.

Gott, manchmal wünschte ich mich zu diesen einfachen Zeiten zurück als alles so klar gewesen war. Als mein einziger Verbündeter Anastasia gewesen war.

Bevor die Lage noch schlimmer geworden war, weil meine Schwester ins Exil gegangen war, um eine Armee aufzustellen. Warum wusste der Teufel. Aber die Republikaner hatten begeistert eingeschlagen und sie als Gegenkaiserin etabliert.

Zu ihrem Pech aber hatte es meine Schwester mit ihrer Ausbildung und ihrem Charme geschafft, dieses luftleere Gebilde mit Leben zu füllen und tatsächlich das Oberhaupt der Vereinten Republiken zu werden. Und sie war jederzeit nur einen einzigen Schritt davon entfernt, auch die politische Macht an sich zu reißen. Aber noch tat sie es nicht.

Das hatte alles für mich schlimmer gemacht, denn fortan galt meine Division als die nächste, die desertieren würde, um an die Seite meiner Schwester zu eilen.

Mordanschläge hatte es auf mich gegeben, offene wie versteckte, die Hinrichtung meiner Eltern war gefordert worden, wieder und wieder.

Und jederzeit musste ich damit rechnen, dass man erneut versuchte, mir einen Dolch in den Rücken zu stoßen.

Von all dem war ich aber gerade so weit entfernt wie ich nur sein konnte, solange ich die Veteranen und die Offiziellen von Caen vor mir paradieren sah, Hände schüttelte und einige Worte wechselte.

Danach fühlte ich mich wohler, auch wenn die Mittagspause dadurch für mich erheblich verkürzt worden war.

Deveraux deutete meinen Gesichtsausdruck richtig und bestellte den Capitain wieder ein, damit er mir einen Kaffee brachte.
 

Dankbar nahm ich das heiße Getränk entgegen.

„Verzeiht, Mylord, aber es gibt da eine Frage, die sich mir wieder und wieder aufdrängt. Darf ich sie stellen?“

„Verstößt sie gegen die Disziplin, die allgemeine Sicherheit, oder ist es gar Hochverrat?“

„Nein, Sir.“

„Dann, um Himmels Willen, stellen Sie Ihre Frage, Mylord General.“

Catherine Deveraux lächelte für einen Moment. Dann holte sie tief Luft. Ein deutliches Anzeichen dafür, wie wichtig die Frage für sie war. „Mylord, ich habe gehört, ihre kaiserliche Majestät hat Euch einen Heiratsantrag gemacht.“

Ich nickte bestätigend, während einige meiner Offiziere, die möglichst unauffällig um uns herum standen, stumm zu grinsen begannen.

„Das ist richtig, Mylord General.“

„Warum nehmt Ihr den Heiratsantrag nicht an? Es würde doch vieles leichter für Euch werden, Mylord.“

Ich schmunzelte. „Nun, Mylord General, vielleicht kann ich das Dilemma in dem ich stecke, am besten durch ein Beispiel erläutern.

Ah, Maria, meine Beste, komm doch einen Moment zu uns“, sagte ich mit lächelnden Augen zu Major Utrecht.

Die Offizierin löste sich aus der uns umstehenden Menge, als hätte sie jemand plötzlich herbei gezaubert. „Mylord?“

„Hast du die Frage von Mylord General gehört, Maria?“

Die junge Frau nickte knapp und verkniff sich ein Lächeln.

„Nun, dann sei so gut und spiele einen Moment lang die Gräfin zu Bombay für mich.“ Ich sah Deveraux grinsend an und fügte hinzu: „Ihre Gnaden, die Gräfin von Bombay, ist eine besonders ernste und streitbare Verfechterin der Tradition. Genauer gesagt, sie ist sehr mächtig und hat viel Einfluss unter den Konservativen und eine genaue Vorstellung davon, wie es am wandernden Hofe ihrer Majestät zugehen sollte. Zudem ist sie eine alte Soldatin, die man durchaus ernst zu nehmen hat. Fertig, Maria?“

„Fertig, Mylord.“

„Nun gut. Beste Rosamunde, ich komme, um Euch mitzuteilen, dass ich dem Werben ihrer Majestät, der Kaiserin, nachgeben werde.“

Mit Maria Utrecht ging eine erschreckende Verwandlung vor. War sie zuvor ein bescheidenes, dunkelblondes Persönchen mit frechen Augen gewesen, schien sie nun vor den Augen aller zu wachsen. Arroganz trat in ihren Blick und sie schien auf mich herab zu sehen, obwohl ich größer war als sie.

„So? Ihr wagt es, Verrätersohn? Dann gebietet es mir meine Ehre, Euch sofort des Hochverrats anzuklagen! Wenn mir das nicht gelingt, werde ich meine Garde sammeln und Euch vernichten, wo ich Euch treffe!“

Ich machte ein unsicheres Gesicht und wich einen Schritt zurück. „Gnade, meine Beste, Gnade. Dann lehne ich das Werben ihre Majestät eben ab!“

Nun blitzten ihre Augen vor Zorn nur so auf. Wütend hob sie den Kopf und pures Gift schien sich über mich ergießen zu wollen. „Was? Wie könnt Ihr es wagen, Ihr, ein kleiner Herzog, der nur durch die Gnade ihrer Majestät, der Kaiserin, hier überhaupt stehen kann, der ihr alles zu verdanken hat, wie könnt Ihr so unverschämt sein und so tun, als hätten Ihr überhaupt das Recht, einen Wunsch ihrer Majestät, der Kaiserin, abzuwehren? Wenn Ihr das tut, seid Ihr in meinen Augen nicht mehr als Gewürm zu meinen Füßen, und Gewürm zertritt man. Seid gewiss, dass ich ein Heer aushebe und Euch für diese Beleidigung töten werde. Euren Kopf werde ich abschlagen und ihrer Majestät, der Kaiserin, als Geschenk darbieten.“

„Genug, genug, Maria“, sagte ich hastig, und aus der Zornversprühenden Furie wurde wieder meine liebe, sanfte Offizierin und Bataillonsführerin.

„War es in Ordnung so?“, fragte sie und lächelte freundlich.

„Es war perfekt. Aber ich denke, in Osaka war die Vorstellung besser“, neckte ich sie.

„Man kann nicht alles haben“, erwiderte sie, und in diesen Worten lagen tausende Anspielungen und ein Versprechen.

„Seht Ihr nun mein Dilemma, Mylord General?“

„Sehr, sehr deutlich, Mylord. Erlaubt mir, dass ich an Eurer Stelle zutiefst verstört bin.“ Sie hob die Augenbrauen. „Adel.“

In diesem einen Wort hatte sie alles zusammengefasst, was sie zu diesem Thema zu sagen hatte, und mit einem Lachen stimmte ich ihr zu.

Da erschollen wieder die Trompeten und verkündeten das Ende der Pause.

Zu gerne hätte ich mich selbst mit meinem Knight in den Joust geworfen, aber es hatte sich kein Gegner gefunden, der bereit war, ausgerechnet gegen Akira von den Otomo zu jousten. Wie bedauerlich.

***

Der folgende Tag war Gerichtstag. Catherine Deveraux war meine Beisitzerin zur Linken, seine Ehren, der Bürgermeister von Caen, Monsieur Malaincourt Beisitzer zur Rechten, die mit mir Gericht halten würden, während mein Stab Ermittlungen vornahm, Beweise aufarbeitete und mir zutrug.

Die ersten Fälle wurden von Adligen vorgetragen, die in diesem Land noch immer einiges Gewicht hatten und sich von mir Hilfe bei ihren Anliegen erhofften.

Einem gab ich wirklich Statt, weil der Marquis, der ihn vorbrachte, wirklich bei seinem Streit mit den Küstenstädten im Recht war.

Die anderen schmetterte ich ab und befahl sogar die Enteignung und die Fortnahme des Titels bei einem Baron, der sich zu offensichtlich der Korruption schuldig gemacht hatte, und von mir, ausgerechnet von mir, Absolution dazu erhofft hatte. Wie idiotisch.

Danach kamen die Bürger an die Reihe, und bis zum Mittag hatte ich ein Dutzend Fälle zur Zufriedenheit der meisten Beteiligten abgearbeitet.

Ein mysteriöser Mord kam mir dazwischen, und ich befahl die Exhumierung der Leiche auf der Stelle, weil auch mir die Ungereimtheiten bei der polizeilichen Ermittlung aufgefallen waren. Tatsächlich hatte Harris mich mit einer Fußnote in der Akte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Witwe gegenüber vieles vertuscht worden war und auch die Todesursache im Unklaren lag. Pikant wurde die Sache, weil der Tote Polizeileutnant gewesen war, der bei der Grenzwache gedient hatte.

Ich hätte lachen mögen, als ich der Witwe eine Stunde später, zwischen zwei anderen Terminen, in einem Gespräch unter vier Augen erklärte, dass sie Recht gehabt hatte und die Ermittlungen nun wegen Mordes an einem Polizeioffizier fort gingen und in Händen der Gendarmerie-Zentrale in Paris lagen.

Auch wenn das ihr den Gatten nicht wiederbrachte, so würde es doch eine erhebliche Ecke aus der Fassade der französischen Vetternwirtschaft brechen, die natürlich hier wie anderswo vertreten war und wie die Hydra der Sage wirkte: Schlug man einen Kopf ab, wuchsen zwei nach.

Aber es würde Gerechtigkeit geschehen, dafür würde ich sorgen. Meine Offiziere würden den Fall bis zu ihrem Abschluss nicht aus den Augen lassen.

Das war alles, was ich der Frau als Trost mitgeben konnte. Das und die nicht unbeträchtlich erhöhte Rente, da ihr Mann nun offiziell im Dienst ermordet worden war.
 

Als ein langer Tag endlich sein Ende fand, kroch ich müde und zerschlagen in mein Zelt. Mein Bett fand ich vorgewärmt.

„Was denn, will Mylord etwa bereits schlafen gehen?“, erklang eine amüsierte Stimme aus der Dunkelheit vor mir.

„Nein, meine Beste, nur ins Bett.“ Mit dem Gedanken daran, dass ich noch jung war und mein Körper einiges an Raubbau ertragen konnte, schlüpfte ich unter die warme Decke und kam so noch zu meinem eigenen Joust.
 

3.

Selbst auf der Erde dieses Zeitalters gab es immer wieder Überraschungen. Es gab Neuerungen, Einmaligkeiten und Wunder.

In welche Kategorie diese Pressekonferenz eingeordnet werden musste, war nicht so offensichtlich, wenngleich pikant.

Blue Slayer, in ihre volle KI-Rüstung gehüllt, hatte den Vorsitz dieser Pressekonferenz, während General Makoto Ino zu ihrer Rechten als Vertreter der UEMF fungierte.

Auf den anderen Plätzen saßen die anderen sechs Slayer, unter ihnen natürlich auch Yellow.

Die Presseleute waren bunt gemischt und kamen aus aller Herren Länder. Die Sicherheitsbestimmungen im Hamburger Vier Jahreszeiten waren natürlich nicht so streng wie jene der Titanen-Station, deshalb drängelten sich die Interessierten sogar durch die einzige Tür in den Saal hinein. Natürlich unter dem wachsamen Blick gut und diskret bewaffneter Wachtposten. Unter ihnen waren zwei KI-Meister, zudem konnte man die Slayer nicht als wehrlos bezeichnen.

Das hinderte die Kameramänner aber nicht, die acht Menschen am Tisch in ein wahres Blitzlichtgewitter zu hüllen.

„Meine Damen und Herren“, sagte Blue Slayer ruhig, und sofort wurde es still, wenngleich das Blitzlichtgewitter hektischer wurde. „Wir, das heißt alle sieben mit der United Earth Mecha Force verbündeten Youma Slayer, haben diese Pressekonferenz einberufen. Ihnen allen ist sicherlich bekannt, was die Slayer für den Schutz der Erde geleistet haben. Zuerst in Japan, dann auf dem Mars und nicht zuletzt auf der AURORA und im Kanto-System.“

Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Saal. Die Berichte der AURORA, soweit sie für Zivilisten freigegeben waren, füllten noch immer ganze Glossen, bildeten Schlagzeilen und waren Kolumnen der Chefredakteure.

„Als diese Verbündeten haben wir uns verpflichtet, mit der UEMF zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit kann von uns an diesem Punkt aber nicht mehr gewährt werden.“

Zwischenrufe klangen auf, erschrocken raunten die Reporter. Makoto wehrte die fragend hochgereckten Hände mit einer eindeutigen Geste ab.

„Um die rechtliche Handhabung unserer Weigerung, weiter mit der UEMF zusammenzuarbeiten zu erleichtern, habe ich mich als Anführerin der Youma Slayer zu einem radikalen Schritt entschlossen.“ Blue atmete kurz tief durch. „Von dieser Minute an erkläre ich die Magical Youma Slayer für aufgelöst.“

Das Blitzlichtgewitter wurde nun zum Sturm, zur Urgewalt, und es begann die sieben Mädchen zu martern.

Dutzende Hände schossen hoch. Fragen wurden in den Raum geworfen, in der Hoffnung, die Mädchen würden sie beantworten.

„Díe UEMF“, begann Makoto mit lauter, durchdringender Stimme, „bedauert den Entschluss der Slayer, sich aufzulösen. Damit verlieren wir einen sehr wichtigen Verbündeten, der uns in Zeiten großer Not und großer Gefahr oft hilfreich zur Seite gestanden hat.“

Er erhob sich und öffnete eine kostbare Holzschatulle, um den Inhalt in die Kamera zu halten. „Aus diesem Grund, und im Namen einer dankbaren Menschheit überreichen wir deshalb den Magical Youma Slayer, namentlich Blue Slayer, Red Slayer, Orange Slayer, Green Slayer, Black Slayer und White Slayer den Orden Service under Fire der Klasse eins.“

Makoto nahm die Orden einen nach den anderen heraus und überreichte ihn den angesprochenen Slayern. Er verzichtete darauf, die Orden persönlich an die hautengen KI-Rüstungen zu heften, um keinen Neid der anwesenden Männer auszulösen.

„Wir wünschen den Slayern alles Gute für die weitere Zukunft und betonen noch einmal unsere tief empfundene Dankbarkeit. Ihre Fragen bitte.“

„New York Times. Warum hat Yellow Slayer diese Auszeichnung nicht erhalten? Auch wenn sie erst auf der AURORA aufgetreten ist, so hat sie in dieser Zeit doch nicht weniger geleistet als die anderen Slayer.“

„Sie hat den Orden bereits. In beiden Klassen“, informierte Makoto, und unterdrückte dabei ein Schmunzeln. „Wie Sie wissen, kann der neu gestiftete Orden in jeder Klasse nur einmal vergeben werden. Aber ich werde anregen, einen Klasse eins mit Ehrenzeichen zu stiften, der den normalen Klasse eins ersetzen kann, wenn es Ihnen Recht ist.“

Diesen Worten folgte ein wilder Tumult aus Worten, Fragen und Vermutungen, die Makoto mit einer harschen Handbewegung abbrach. „Ihre Fragen, bitte. Ordentlich, bitte.“

Nun, Reporter in Sensationslaune konnten nicht ordentlich sein, deshalb brach der Offizier der UEMF an dieser Stelle die Pressekonferenz ab.

***

Die UEMF gibt bekannt: In Dienst gestellt wird eine neue Kompanie unter direkter Führung von Division Commander Megumi Uno; aufgestellt werden namentlich genannt folgende Mecha-Piloten: Hina Yamada, Major, Ami Shirai, Lieutenant, Sarah Anderson, Spezialistin, Akane Kurosawa, Captain, Emi Sakuraba, Lieutenant, Akari Otomo, Lieutenant.

Die neu aufgestellte Kompanie dient als persönliche Einheit von Division Commander Uno und ist für Spezialeinsätze vorgesehen. Executive Commander Eikichi Otomo teilt die neu aufgestellte Einheit der AURORA zu und wünscht ihr Glück im Kampf und im Frieden.

***

Als Makoto Ino Tage später zum Mars reiste benutzte er einen zivilen Pendler. Zwischen Mars und Erde – und, zugegeben, dem Mond – gab es einen erheblichen Transfer an Menschen und Material. Den Transport übernahmen große Luxuskreuzer, riesige Frachtschiffe, kleine Yachten und Passagierschiffe. Die NYX OLYMPUS war ein solches Passagierschiff. Aufgebaut auf der Zelle eines Sierra-Klasse Zerstörers verfügte das Schiff über die Triebwerke, um den Mars selbst dann binnen von zwei Wochen zu erreichen, wenn er sich gerade auf der anderen Seite der Sonne befand. Dazu hatte das Schiff die Kapazität, dreitausend Passagiere und obendrein zweitausend Tonnen Ware zu befördern.

Nun, beides war gut aufgefüllt, mit Makoto befanden sich nahezu dreitausend Passagiere an Bord. Die meisten waren Geschäftsleute, Neueingestellte für das Plattformsystem CASTOR und POLLUX, UEMF-Personal für die auf dem Nyx Olympus-Vulkan geplante regionale Flottenadmiralität, ein gewisser Anteil an Touristen sowie Anelph und Kronosier. Wusste der Himmel, warum sie zum Mars flogen.

Makoto selbst war der rote Planet zu kalt, der Luftdruck zu niedrig und die Schwerkraft zu gering. Gewiss, rund um Martian City gab es normale Erdschwere, und der CO2-Ausstoß der speziell dafür aufgestellten Anlagen sorgten für einen Treibhauseffekt in der Großklimazone Olympus, und dies schon seit über zehn Jahren. Aber man musste nur ein paar Dutzend Kilometer von der Stadt und ihrem grünen Gürtel entfernt sein, um die harte Realität des Mars zu sehen. Endlose rote Steinwüsten, eiskalte, dünne Luft und blanke, unbesiedelte Erde.

Man hätte sagen können, der Mars sei tot, aber das war so nicht ganz richtig. Unter dem roten Fels existierten gigantische Kavernen, die mit Wasser gefüllt waren. Genauer gesagt erstreckten sich unter dem Gestein Abermilliarden Hektoliter an…Meeren. Und diese Meere wimmelten zumindest von bakteriellem und viruellem Leben. Selbst einzellige Pflanzenarten waren bereits festgestellt worden. Diese Kavernen waren zur Grundlage für das Leben in der grünen Zone geworden, indem man sie angestochen und das Wasser gefördert hatte.

Die Kronosier waren dabei nicht sehr zimperlich gewesen und hatten nicht gerade viel Wert darauf gelegt, das „intakte unterirdische Ökosystem Marsmeer“ unberührt zu halten, geschweige denn von ihren Wissenschaftlern dokumentieren zu lassen. Für sie war es einfach nur eine hervorragende Gelegenheit, an Wasser zu kommen ohne auf groß angelegten Raubbau am Pol-Eis angewiesen zu sein.

Natürlich gab es hier und da private Aufzeichnungen, die nun halfen, das, wie terranische Wissenschaftler es nannten, „mittlerweile stark kontaminierte Ökosystem“ zu rekonstruieren, aber der Aufschrei in der Fachpresse war groß gewesen.

Ja, die Damen und Herren Fachwissenschaftler hatten sich sogar so sehr hinein gesteigert, die Wasserförderung aus den Kavernen als größtes Verbrechen der Kronosier zu bezeichnen.

Eine Formulierung, die der UEMF und speziell Eikichi Otomo so quer im Hals gesessen hatte, dass man sich erzählte, NACH seiner harschen Beschwerde hätten sich mehrere offene Professuren ergeben.

Für Makoto spielte das alles keine Rolle. Auch nicht, dass die wenigen privaten Aufzeichnungen mit dem derzeitigen Zustand der Kavernen weitgehend übereinstimmten, sich also das Ökosystem da unten gar nicht oder nur wenig verändert hatte. Er war Soldat, und ein Soldat hatte zu kämpfen, und nicht die Umwelt zu retten.

Der junge Taral seufzte lange und tief. Noch saß er hier in der Lobby der Ersten Klasse und konnte es sich gut gehen lassen. Aber schon sehr bald würde wieder die Hektik der vorzubereitenden Mission nach ihm greifen. Was konnte er tun, um die Annehmlichkeiten eines zivilen Fluges für seine Entspannung zu nutzen? Ein wenig Sport? Die Bibliothek belagern? Sich im Wellness-Bereich massieren lassen? Vielleicht ein paar Runden im Fünfundzwanzig Meter-Becken drehen. Oder weiter hier sitzen, nach den Sternen gaffen und Eikichi Otomo einen guten Mann sein lassen? Letzteres hatte zumindest was.
 

„Sir? Würden Sie bitte den Arm freimachen?“

Makoto sah auf und erkannte die Stewardess, die sich seit dem sechs Tage dauernden Flug um seinen Block gekümmert hatte. „Darf ich fragen, wieso?“

„Nun, die auf dem Mars eingetroffenen Anelph haben einige bakterielle und viruelle Spezialitäten mitgebracht. Alle Besucher des Mars sind dazu aufgefordert, sich gegen diese Erreger impfen zu lassen, anstatt eine neue Epidemie zu riskieren. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, Sir…“

„Nein“, sagte Makoto schlicht.

„Sir, es tut mir Leid Ihnen das sagen zu müssen, aber dies ist eine offizielle Anweisung der Gesundheitsbehörde. Es würde mir persönlich wehtun, wenn ich die Schiffssicherheit rufen müsste, nur um Sie impfen zu können.“

Makoto sah auf. Die junge Frau war Schwarzafrikanerin, wirkte sehr gebildet, und in ihren dunklen Augen stand tatsächlich die flehentliche Bitte an ihn, es nicht so weit kommen zu lassen.

Makoto seufzte ergeben. „Sie missverstehen mich. Oder besser gesagt habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich brauche Ihre Impfung nicht. Ich habe sie bereits erhalten.“

„Oh, dann waren Sie schon auf dem Mars?“, fragte sie überrascht, ja hocherfreut.

„Nein.“

„Nein? Aber diese Impfung wird exklusiv für Marsreisende ausgegeben! Die einzige andere Möglichkeit wäre…“ Die Stewardess wurde bleich und schluckte trocken.

„Richtig“, brummte Makoto. „An Bord der AURORA während des Kanto-Einsatz.“

„I-ich muss das verifizieren, Sir.“

Makoto griff in die Innentasche seines Anzugs, zog seine Brieftasche hervor und reichte der jungen Frau seinen Chipkartenausweis.

Sie steckte die Karte in ihren Leser und hatte kurz darauf eine Übersicht über all seine Impfungen. Ihre Wangen röteten sich heftig. „Verzeihung, General, aber ich dachte… Ich dachte… Ich dachte Sie wären größer!“, platzte es aus ihr hervor. „Und es gibt ja so viele Kerle, die meinen, wenn sie erzählen, sie wären auf der AURORA gewesen, dass…“ Wieder schluckte sie, und Makoto lächelte dünn. Nicht mit einem Wort hatte er in den letzten sechs Tagen seinen Job erwähnt. „Es ist in Ordnung. Aber Sie würden mir einen persönlichen Gefallen tun, wenn Sie mir einen Kaffee bringen würden, sobald Sie fertig sind.“

Die junge Frau reichte die Chipkarte zurück und stammelte eine Bestätigung.

Makoto dankte mich einem Lächeln und lehnte sich wieder zurück.

Die Stewardess, die ihm keine fünf Minuten später frischen Kaffee servierte, war eine andere, eine hochgeschossene Vietnamesin, aber sie hatte einen so dämlichen Glanz in den Augen, dass sich Makoto für einen Moment wie das Opfer einer Verwechslung fühlte. Verwechselt mit irgendeinem Superstar.

„Bitte sehr, General. Wenn Sie irgendetwas brauchen, bitte zögern Sie nicht, uns Bescheid zu geben. Das ganze Team der NYX OLYMPUS steht Ihnen zur Verfügung. Und hätten Sie schon früher gesagt, wer Sie sind, dann…“

„Junge Dame“, erwiderte Makoto mit einem dünnen Schmunzeln, „was verbinden Sie mit dem Begriff: Anonym reisen?“

„Oh“, machte sie. „OH! Ent- entschuldigen Sie, Sir. Es ist nur so dass… Den Freund von Joan Reilley an Bord zu haben ist so…“

Lauthals begann Makoto Ino zu lachen. Das hatte ja kommen müssen. Nun, es war nicht gerade so, dass die Stewardess ihn anhand seiner Freundin identifiziert hatte. Nein, es war eher so, dass sie diese Erkenntnis zu seiner Klassifikation hinzugefügt hatte. Und die lautete in erster Linie Makoto Ino, UEMF-General. Dann erst kam „Freund von Joan Reilley“ dran.

„Ich kann Ihnen leider kein Autogramm von ihr versprechen, junge Dame.“

Nun war es um die Fassung der Frau ganz geschehen. Heftig mit der Fassung ringend stand sie vor ihm und Makoto befürchtete schon, sie mehr als notwendig gegängelt zu haben.

Als sie aufkreischte, schrillten in seinem Bewusstsein die Alarmglocken, leider nicht die Richtigen. Einen Moment später befand er sich in einer sehr intensiven und erstickenden Umarmung, das Gesicht auf den Busen der Stewardess gepresst.

„MAKOTO INO! AN BORD VON UNSEREM SCHIFF! KYAAAAAAA!“

Damit hatte die junge Frau etwas ausgelöst, was die anderen Passagiere in der Lobby später nur noch als Massenphänomen bezeichnen konnten – soweit sie sich nicht selbst dran beteiligten.

Als die hysterische Meute aus jungen Frauen – und einigen Männern – endlich schuldbewusst von ihm abließ, hatte der junge Taral eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutete, ein Superstar zu sein – in seinem Fall einer zum anfassen und abknutschen. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer so tiefen Zufriedenheit, dass er der Entschuldigung des Skippers nur mit halben Ohr zuhörte und sie schließlich ganz abtat. Stattdessen lächelte er den alten Offizier mit seinem hübschesten Lächeln an – auch mit Kurzhaarschnitt konnte der kleine blonde Mann verdammt niedlich aussehen – und würgte die Entschuldigung ab. Etwas, das so viel Spaß gemacht hatte, konnte doch nicht schlecht gewesen sein.

Als er schließlich auf dem Raumhafen von Martian City die NYX OLYMPUS verließ, ließ er einen Kapitän zurück, der mit sich haderte, weil er den jungen General am liebsten selbst umarmt und liebkost hätte.
 

Martian City war längst gewachsen, expandiert. Von jenen Anfangstagen in der isolierten Kaverne, in der ein künstliches Ökosystem den ersten Menschen, die die Gift erhalten hatten, das Überleben ermöglicht hatte, den weiteren Zeiten mit den Fabriken und Werften über der Kaverne am Fuß des riesigen Schildvulkans bis zu diesen Tagen, in denen Kaverne um Kaverne im Gestein unter dem Olympus erschlossen worden war und auf der Oberfläche Fabrik um Fabrik hinzu gekommen war, hatte eine Menge Zeit vergehen müssen.

Es waren sogar schon erste Wohngebäude an der Oberfläche entstanden, deren Zugänge allerdings allesamt unterirdisch im Höhlensystem lagen. Noch war der Mars zu unwirtlich, um außerhalb der Tagesstunden betreten zu werden. Es wurde stetig besser, aber bis zu einem terraformten Mars war es noch ein sehr, sehr weiter Weg.

Dennoch brodelten die Kavernen vor Leben.

Als Makoto mit einem Taxi in die Tiefe rauschte, und dabei auf dem Weg gefahren wurde den er damals bei der zweiten Marsattacke mit seinem Eagle Zeus genommen hatte, erkannte er viele Ecken und Winkel wieder. Für den Moment fühlte er sich in diese Zeiten zurückversetzt, sah das Sterben, die heranflutenden Cyborgs, die doch nicht mehr gewesen waren als ein Haufen hirnloser, programmierter Schrott, sah das Legatenhaus, bevor sie es abgerissen hatten.

Die Wiese, auf der Joan damals ihr Konzert abgehalten hatte, auf der Akira den Grundstein für eine vereinte Menschheit gelegt hatte – zumindest was die Planeten betraf – war einem großzügigen Park gewichen, in der hunderte Gedenktafeln standen.

Makoto wusste, dass die meisten Tafeln den Tod der Kronosier und ihrer Söldner betrauerten, die Minderzahl war mit den Namen terranischer UEMF-Soldaten beschriftet worden.

Eikichi hatte gesagt, dass man den Menschen und Kronosiern einen zentralen Trauerpunkt auf dem Mars hatte geben müssen. Immerhin waren die meisten Menschen dort ebenfalls Familienväter gewesen, Befehlsempfänger und dergleichen. Das war besser als aus der Trauer einen geheimen Personenkult im Verborgenen zu machen, der irgendwann zu einer verklärten Geschichte führen konnte – und von da vielleicht zu einem Aufstand.

Auch die Stadt war weiter gewachsen, expandiert. Alleine die zugezogenen Anelph der ersten Tage hatten eine Erweiterung um ein Viertel erfordert.

Mittlerweile empfand Makoto es als Unsinn, von Kronosiern und Anelph zu sprechen. Bei sich nannte er sie Marsianer. Aber er sprach es nie aus. Es konnte falsch aufgefasst werden. Solange der Vorwurf in der Luft schwebte, die UEMF würde eine Ghettoisierung der Außerirdischen und der Träger der Gift betreiben, musste man mit solchen Begriffen vorsichtig sein.

Der Kurs des schnellen Taxis führte ihn mitten durch die Stadt, und das zur Rush Hour. Dennoch fand der Fahrer zielsicher seinen Weg in die neu erschlossene Kaverne, in der vor allem die neuen Industrien von der Erde siedelten. Auch hatte man in ihr das regionale Oberkommando der UEMF installiert. Übrigens waren neunzig Prozent des Personals ehemalige Truppen des Legats. Und das bezog sich nicht auf die unteren Ränge.

Als sie den Park passierten, der auf dem Platz angelegt worden war, der früher einmal vom Legatshaus eingenommen worden war, erschauderte Makoto. Dort hatte Akiras Prime gelegen, durchbohrt von Henrys Herkules-Schwert. Da wäre beinahe Megumi umgekommen, wenn Akira sie nicht in einem unheimlichen Kraftakt gerettet hätte.

Da hinten hatte sich Makoto vor die Entscheidung seines Lebens gestellt gesehen. Er hatte seine Waffen abfeuern müssen, um Yohkos Leben zu retten. Eine Entscheidung, die er nicht bereut hatte. Und dort, dort hatte Joan Reilley mit bloßen Händen eine Artemis-Lanze und den am anderen Ende stehenden Daishi abgefangen.

Unwillkürlich sah sich Makoto seine Arme an, aber da war nur die Erinnerung an ihre Liebkosungen, ihre Zärtlichkeit, die er überhaupt nicht mit der monströsen Stärke gleichsetzen konnte, die ein Mensch aufbringen musste, um einen Daishi aufzuhalten, einen ausgewachsenen, zwölf Meter hohen und vierzig Tonnen schweren Kampfroboter!

Die Fahrt ging weiter, und die Straße wurde noch lebhafter, als sie die Kavernen wechselten.

Nun kam das Hauptquartier der UEMF in Sicht. Ein riesiger Fahrstuhl verband das Gebäude mit der Oberfläche, und Makoto wusste, dass die Plattform in der Lage war, sogar eine Korvette zu transportieren.

Makoto wurde anstandslos mitsamt dem Taxi auf das Gelände gelassen – irgendjemand im Stab musste besonders effizient sein, wenn der inkognito reisende General nicht nur erkannt worden war, sondern sogar an der Torwache frei Fahrt erhalten hatte.

Als der Wagen vor dem eigentlichen Eingang hielt, stand eine Ehrenformation bereit. Die meisten waren Anelph und Kronosier, stellte er zufrieden fest.

Er bezahlte, legte ein dickes Trinkgeld drauf und verließ den Wagen.

Dies war für die Wache das Zeichen zu salutieren.

Makoto trug keine Uniform, also beschränkte er sich darauf, die Reihen schweigend bis zum Eingang abzugehen. Dennoch rührten ihn die Ehren, mit denen er empfangen wurde. Letztendlich war er einer von denen, die das Legat zerschlagen hatten, und viele der angetretenen Männer und Frauen hatten unter ihnen gedient.

Waren sie wirklich schon so sehr zusammengewachsen? Hatten sie jetzt schon, nach nicht ganz drei Jahren, eine solche Einheit erreicht?

Makoto dachte an die Horrorvisionen guter und auch nicht so guter Science Fiction-Autoren, die den Krieg der Welten heraufbeschworen, sobald der Mars besiedelt war – weil man sich ja so schnell fremd wurde und so.

Aber jetzt, in diesem Moment sah es für ihn genau anders herum aus, und das gab ihm eine gewisse Genugtuung.
 

Im Hauptquartier wurde er weniger martialisch, aber kaum weniger herzlich begrüßt.

„Schön, dass Sie es noch geschafft haben, Ino“, begrüßte Admiral Richards ihn.

„Um nichts in der Welt hätte ich mir diese Show entgehen lassen“, erwiderte der junge Mann und schüttelte artig den anderen Anwesenden die Hand, allen voran Torum Acati.

Aris Taral, sein Großvater, trat auf ihn zu und musterte den Jungen kritisch.

Makoto wich nicht einen Zoll zurück und gab nicht mit dem leisesten Muskelzucken die Angst zu, die ihm diese Musterung seines Lehrmeisters, Vorbild und Opas verursachte.

Dann schloss der große Mann den kleinen in die Arme. „Es tut so gut, dich zu sehen, mein Kleiner.“

„Du hast mich auf dem ganzen Heimflug gesehen“, erwiderte Makoto und versuchte aus der Umarmung des Älteren zu entkommen. Natürlich nicht ernsthaft, aber man konnte wohl von einem Bluthund erwarten, dass er einen General nicht vor versammelter Mannschaft umarmte.

Auch nicht wenn es „der“ Bluthund war. Auch nicht wenn es „der“ General war.

„Nun hab dich nicht so. Ich musste lange genug auf dich, deine Schwester und eure Mutter verzichten.“

„Opa, wir sind im Dienst“, tadelte Mako ernst, obwohl ihn innerlich die Tränen der Rührung fortzuschwemmen drohten.

„Richtig. Und der Dienst beginnt in zwei Stunden. Warum sind Sie nicht mit einem militärischen Flug gekommen? Das hätte Ihre Reise um ein bis zwei Tage verkürzt, General Ino“, stellte Richards fest.

„Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und spanne etwas aus. Die Reise auf der NYX OLYMPUS war sehr entspannend. Und hat mir ein paar neue Erkenntnisse gebracht.“ Vor allem die Erkenntnis, dass manche Menschen in ihm wohl einen Popstar sahen. Oder irgendetwas Ähnliches.

„Verstehe. Ich lasse Ihnen eine Liege zuweisen. Ein eigenes Zimmer wird nicht lohnen, fürchte ich. Haben Sie die Dokumente?“

Makoto nickte. „Gesiegelt und unterzeichnet von Eikichi Otomo und beglaubigt von Jarah Arogad und Solia Kalis.“

„Na dann, lassen Sie uns Nägel mit Köpfen machen, bevor die Ratsmitglieder der UEMF aus der Schockstarre kommen und erkennen, dass immer noch sie die Befehlsgewalt haben, und nicht Megumi Uno.“

Makoto nickte nur dazu.

***

Ziemlich genau zwei Stunden später wurde Makoto geweckt. Eine gnädige Seele reichte ihm einen frischen Kaffee, den der junge Offizier vorsichtig antrank – auch wenn Akira gerade nicht da war, er würde nie, nie, niemals vergessen, einen Kaffee auf Zimt zu testen. Oh, er hasste Zimt. Und Akira wusste das. Elender Halunke.

Makoto wischte sich eine Träne aus dem linken Auge. Verdammt, wenn der große Trottel nur zurückkam, würde er seinen Kaffee freiwillig nur noch mit Zimt trinken! Ach was, er würde Zimt essen, tonnenweise!

Einigermaßen erfrischt ließ sich der junge Offizier durch das Gebäude führen, traf am Fahrstuhl mit den anderen Admirälen und Offizieren zusammen und fuhr mit ihnen in die Höhe, wo bereits eine Foxtrott-Korvette auf sie wartete.

Es folgte eine aufregende Fahrt auf der Fahrstuhlplattform, von der sie einen wunderbaren Blick über die Stadt hatten.

„Was ist das für ein Geräusch? Streikt die Hydraulik?“, fragte Makoto irritiert.

Richards und Aris Taral tauschten einen amüsierten Blick aus. „Das sind Hupen. Die ganze Stadt da draußen hupt was sie kann.“

„Warum hupt sie?“

„Weil sie weiß, dass Makoto Ino in diese Korvette steigen wird.“

Der junge Bluthund spürte wie er rot wurde. Nicht, dass er Aufmerksamkeit nicht mochte. Ein Bluthund verbarg sich entweder in der Anonymität, oder direkt im Rampenlicht. Dennoch, eine ganze Stadt, die… Die was tat? Ihn tadelte? Ihn lobte? Auf jeden Fall bemerkte, das war eine Erfahrung, die er noch nicht gemacht hatte.
 

Die Korvette startete, kaum das der Fahrstuhl die Oberfläche erreicht hatte. Ihr Ziel war die Großwerft auf Deimos, dem Mond des Mars, den Akira in Ruhe gelassen hatte, wie ein gängiger Witz unter den Mannschaften und Offizieren der UEMF lautete. Die gleichen Stimmen wollten auch wissen, dass der ehemalige Executive Commander striktes Verbot hatte, den Erdmond zu betreten – für den Fall der Fälle.

Zur Zeit stand die SUNDER in der Werft. Sie war auf Kiel gelegt worden und erhielt ihren Sprungantrieb zurück. Im Austausch wurde die Mecha-Kapazität extrem heruntergeschraubt. Ein Kompromiss, den die UEMF eingehen musste, weil sie in ihrer Doktrin die Bewegung zwischen den Sonnensystemen nie berücksichtigt hatte. Beziehungsweise zu beheben versucht hatte, indem sie zuerst die AURORA und danach die anderen Bakesch als Superträger in Dienst gestellt hatte. Aber über kurz oder lang würde die UEMF nicht um weitere sprungfähige Schiffe herumkommen.

Na, wenigstens erhielt die SUNDER eine ganze Flotte als Begleitschutz, um der verminderten Mecha-Tragfähigkeit Rechnung zu tragen.

Der Trip zur Werft war kurz, nicht einmal drei Stunden. Es war gerade genug Zeit, um die wichtigsten Aspekte zu besprechen, gemeinsam einen Kaffee zu trinken und ein paar Anekdoten auszutauschen. Die meisten Offiziere waren wie er selbst Veteranen des Mars-Feldzugs, und Opa platzte fast vor Stolz, wenn einer der anderen Offiziere die Leistungen des jungen Tarals ansprach und entsprechend würdigte.

Auf der Werft wurden sie von Ban Shee Ryon persönlich empfangen. Die Erste Offizierin der SUNDER im Range eines Kapitäns war über ihr Kommen informiert gewesen, aber nicht über die Gründe.

Als sie über die Werftschleuse auf das fast wiederhergestellte Schlachtschiff der Bakesch-Klasse wechselten, geschah dies in strenger Reihenfolge. Zuerst Admiral Richards als ranghöchster Offizier. Danach Konteradmiral Acati, danach er selbst als ranghöchster BodenCommander. Schließlich und endlich die anderen Offiziere, und jeder wurde mit Schiffspfeifen und Salut empfangen.

Ban Shee Ryon hatte es mal ein Relikt der terranischen Seefahrt genannt, angewidert und beinahe beleidigt. Mittlerweile war sie eine wahre Verfechterin der Tradition und ließ einen Großteil der Manöver von ihren Signalgasts pfeifen.

Ihr lapidarer Kommentar dazu war: Weil es schneller geht.

Natürlich empfing Kei Takahara die Offiziere persönlich. Er begrüßte jeden einzelnen mit Salut und anschließend mit Händedruck.

Makoto machte die selbstsichere und energische Art des kleinen Mannes Spaß. Er war selbst auch nicht gerade mit Größe gesegnet worden und freute sich wirklich jedes Mal, wenn einer der „Kleinen“, wie er die Bedauernswerten Menschen nannte, die der japanischen Norm entsprachen, eine große Leistung vollbrachte, die ihn auf eine Stufe mit den „Großen“, wie Akira oder Yoshi stellte.

Admiral Richards sah den Untergebenen streng an. „Konteradmiral Takahara. Lassen Sie die Mannschaft im großen Hangar antreten.“

„Aye, aye, Sir. Mannschaft im großen Hangar antreten lassen.“ Er sah zu Ryon herüber, die sofort Signal pfeifen ließ. Dann klang ihre Stimme im ganzen Schiff auf. „Mannschaft, geordnet in Divisionen, im großen Hangar antreten!“

Kei machte eine einladende Bewegung. „Bitte hier entlang, Gentlemen.“

Als die Stabsoffiziere den Hangar betraten – drei von ihnen immerhin hochrangige Flaggoffiziere – war die Mannschaft bereits geschlossen versammelt.

„Bitte treten Sie zu Ihrer Besatzung, Konteradmiral Takahara.“

„Aye, aye, Sir.“

Nun war die Crew der SUNDER komplett.
 

Wie selbstverständlich stellte sich Makoto vor den Reihen auf. Eine eilig improvisierte Verbindung mit dem Lautsprechersystem wurde ihm auf ein Headset gelegt, welches er anlegte.

„Besatzung der SUNDER. Ich verlese hiermit vier Befehle, auf Anweisung und unterschrieben von Executive Commander Eikichi Otomo, der Vertreterin der Arogad Jarah Arogad beziehungsweise Colonel Yohko Otomo und der jetzigen Verwalterin des Lehens von Aris Arogad, Solia Kalis beziehungsweise Division Commander Megumi Uno.“

Leises Raunen ging durch die Menge, bevor es den Abteilungschefs gelang, die Reihen zum verstummen zu bringen.

Makoto nahm den ersten Befehl aus der Tasche. Er entfaltete ihn und las laut daraus hervor.

„Hiermit wird Konteradmiral Kei Takahara, namentlich Kapitän des Schlachtschiffs SUNDER, von seinem temporären Rang als Konteradmiral entbunden. Seine Leistungen in diesem Rang waren vorbildlich und gereichen sowohl der jungen Tradition der Raumschifffahrt als auch der legendären erdgebundenen Schifffahrt zur Ehre. Die United Earth Mecha Force ist stolz auf diesen Kommandanten und bedauert, die Feldbeförderung zurückziehen zu müssen. Eine Bestätigung kann aufgrund der veränderten Rechtslage nicht erfolgen.“

Wieder ging ein leises Raunen durch die Menge, und diesmal hielten die Offiziere ihre Leute nicht zurück. Keis Gesicht erstarrte zur Maske.

Makoto zog den zweiten Befehl hervor.

„Im Namen der United Earth Mecha Force ergeht folgende Anordnung: Mit Dankbarkeit nimmt die UEMF zur Kenntnis, dass die Anelph die SUNDER als Leihgabe der Flotte zugeteilt haben. In Zeiten, in denen wir defacto aber nicht länger nur Verbündete sind, sondern dem gleichen Herrn dienen, ist diese Leihgabe nicht länger nötig. Die SUNDER wird vollends in die UEMF integriert, dient aber fortan unter Kommando der Anelph. Terranischen und kronosischen Offizieren und Mannschaften wird gestattet, auf andere Schiffe zu transferieren.“

Nun erfolgte ein erschrockenes, vielstimmiges Geräusch, das nicht mehr viel mit einem Raunen zu tun hatte.

Makoto öffnete den dritten Befehl.

„Im Namen von Haus Arogad ergeht folgender Befehl: Die freien Streitkräfte der Anelph sind fortan in die Hausstreitkräfte des Hauses integriert, unterstehen aber eigenem Befehl. Deshalb ergeht folgende Anweisung. Kommodore Takahara wird mit sofortiger Wirkung abgelöst und versetzt.“ Makoto musste kurz unterbrechen, weil das laute Gebrüll ihn übertönte.

„Stattdessen“, fuhr er laut fort, laut genug, um den Lautsprechern Dissonanzen zu entlocken, „wird mit sofortiger Wirkung Kapitän Ban Shee Ryon zum Kommodore befördert und mit dem Kommando der SUNDER beauftragt. Beförderung und Kommando gelten ab sofort.“

Das versöhnte die Crew der SUNDER etwas.

Makoto zog den vierten und letzten Befehl hervor.

„Auf Anweisung von Solia Kalis, namentlich Division Commander Megumi Uno, ergeht folgende Anweisung. Die SUNDER hat sich schnellstmöglich der AURORA im Erdorbit anzuschließen. Die Teilnahme an der Rettungsaktion für Aris Arogad, namentlich Division Commander Akira Otomo, hat höchste Priorität.“

Wieder musste er einen Moment unterbrechen. Diesmal war es der Jubel, der ihn im Redefluss unterbrach.

„Auf der AURORA hat sich die SUNDER bei dem Befehlshaber des Begleitverbandes zu melden, sprich dem Nachfolger von Admiral Richards, der mit sofortiger Wirkung die Regionaladmiralität als Vize-Admiral verstärkt.

Ihre Meldung bei Kommodore Kei Takahara, zur Beförderung anstehend, hat nicht später als fünf Tage nach Verlassen der Werft zu erfolgen.

Unter sämtliche Befehle für die SUNDER gezeichnet: Executive Commander Eikichi Otomo, Vertreterin der Arogad Jarah Arogad beziehungsweise Colonel Yohko Otomo und Verwalterin des Lehens von Aris Arogad, Solia Kalis beziehungsweise Division Commander Megumi Uno.“ Makoto sah auf. „Kommodore Ryon, die Mannschaft kann wegtreten.“
 

Eine Stunde später, nachdem sich der Trubel und die Aufregung gelegt hatten, saßen Kei und Makoto alleine in der Kajüte zusammen, die dem jungen Computerfreak so lange als Zuhause gedient hatte. Und die er nun für seinen ehemaligen Ersten Offizier räumen musste.

„Du bist ein Arschloch, Mako-chan“, tadelte Kei grinsend und schenkte seinem Gegenüber einen neuen Schuss Scotch in sein Glas. „Du hast mich genauso auflaufen lassen wie Akira damals nach der Schlacht um den Mars.“

„Das gehört zur Ausbildung, Kei“, erwiderte Makoto und nippte an seinem Drink. „Damit du uns nicht abhebst.“

Kei lachte leise. „Ist vielleicht nicht so verkehrt.“

„Und, Kei? Wie läuft es mit dir und Ami?“

„WAS? Hat Takashi geplaudert?“

„Nein, das ist es nicht. Aber beim Rückflug habt ihr einander so auf der Pelle gehangen, da lag der Verdacht nahe.“ Zufrieden lehnte sich Makoto in seinem Sessel zurück. „Danke, dass du den Verdacht gerade bestätigt hast.“

„DU!“, rief Kei drohend, die Flasche zum Wurf erhoben, besann sich aber eines besseren. „Besser nicht. Der Scotch ist zwölf Jahre alt.“

„Na danke“, erwiderte der Taral amüsiert. „Also, wie läuft es?“

„Geht so. Sie ist zur Zeit dauernd auf der Erde, und wir sehen uns kaum. Außerdem hat sie mich verdammt an der Nase herumgeführt, bis ich endlich gemerkt habe, worum es ihr ging.“

„So sind sie, die Frauen. Wenn ich daran denke, wie ich mit Joan zusammengekommen bin… Frauen sind ein Geschenk des Himmels, aber der Teufel hat sie gemacht. Und das mit außerordentlicher Kreativität, Kei. Vergiss das nie, oder du wirst untergebuttert.“

„Bei Joan Reilley stelle ich es mir nett vor, untergebuttert zu werden“, warf Kei ein.

„Zugegeben“, brummte Mako.

Er griff in seine Jacke und zog einen fünften Befehl hervor. „Dein Marschbefehl, Kei. Sobald du auf der AURORA eintriffst, wirst du die Flottenzentrale Poseidon übernehmen. Sobald du deinen Fuß auf die AURORA setzt, wird außerdem deine Beförderung zum Konteradmiral aktiv. Diesmal ist es keine Feldbeförderung, sondern errungen und bestätigt durch deine Aktionen im Kanto-System gegen die Raider des Cores.“

„Steige ich nicht etwa schnell auf? Wann hat man jemals von einem einundzwanzigjährigen Konteradmiral gehört?“

„Als du noch zwanzig warst, hat es dich anscheinend nicht gestört, Kei“, tadelte Makoto. „Sieh es einfach ein. Es sind interessante Zeiten, und Menschen mit Talent wie wir beide steigen zu himmeljauchzenden Sphären auf, weil die üblichen Kriegsgewinnler, Kinder reicher Eltern und Arschkriecher mit der Materie noch nicht annähernd so vertraut sind wie wir beide. Also nimmt man das Beste, solange man kein Füllmaterial braucht.“

„Na, das kann ja ne Marine werden, wenn du Recht behältst“, erwiderte Kei amüsiert.

Der Kommodore sah den General über den Rand seines Glases an. „Wann geht es los?“

„Drei Tage nachdem die SUNDER eintrifft, wird die Versorgung ihren Höhepunkt erreicht haben. Sakura übernimmt wieder das Kommando. Ich habe übrigens dafür gesorgt, dass Winslow befördert wird und ein neues Schiff bekommt. Die STADTHAGEN wird gerade ausgebaut und wird pünktlich zum Termin fertig sein. Frag mich nicht wieso, aber der alte Pirat ist geradezu versessen darauf, Akira zu retten. Hat irgendwas gemurmelt wie: Ich werde ihn jedenfalls nicht so schnell vergessen. Frag mich nicht, was das bedeuten soll.“

Kei hustete stark. Zu dem Thema hatte er anscheinend etwas zu sagen.

„Was ist?“

„Schon gut. Wie sieht es weiter aus?“

„Wir haben zwanzig Schiffe nach Kanto geschickt. Die gleiche Zahl patrouilliert die Nachbarsysteme. Dadurch stehen die Hekatoncheiren komplett für die AURORA-Mission zur Verfügung, ohne unser Bündnis zu vernachlässigen. Ich meine, wir sind zwar jetzt alle ein wenig Arogad, aber deshalb können wir unsere Präsenz bei unseren allerersten Verbündeten nicht vernachlässigen.“

„Gemeinsam bluten, eh? Mako, du hast eine sehr dunkle und sehr primitive Seite.“

„Ich weiß. Hast du schon die Gans geschlachtet, mit deren Blut wir uns nachher gegenseitig Runen der Verbrüderung auf den nackten Körper schmieren werden?“

„Nein. Ich dachte, wir beißen ihr gemeinsam den Kopf ab“, erwiderte Kei sarkastisch.

„Oh, welche Ehre.“

Die beiden Männer musterten sich einen Moment und brachen dann in lautes Gelächter aus.

„Ausgerechnet wir beide. In einem martialischen Männerritual. Was für ein Gedanke.“

„Ja“, bestätigte Makoto. „In so einer Szene stellt man sich eher Kenji und Takashi vor.“

„Himmel, es gibt Leute, die dafür bezahlen würden, so etwas zu sehen.“

Wieder lachten die beiden.

„Kriegen wir eine ähnlich starke Begleitflotte?“

„Fast. Wir bieten diesmal vier Bismarck auf. Auch die anderen Schiffe werden unmaßgeblich verstärkt. Aber durch Umverteilungen müssen mehrere Veteranenschiffe wieder auf grün runtergestuft werden. Aber wir kriegen die schon noch wieder auf den richtigen Level.“ Mako prostete dem anderen zu. „DU kriegst sie schon wieder hin.“

„Na danke.“ Kei fuhr sich mit einer Hand durch den weißen Schopf. „Grau kann ich zum Glück ja nicht mehr werden.“

„Du könntest eine Glatze kriegen“, warf Mako ein.

„Monster.“

„Ich zähle nur die Fakten auf.“

„Ich hasse dich.“

„Ich liebe dich auch.“

Kei schnaubte auf und prustete dabei Whisky durch die Nase. „Mistkerl“, tadelte er.

Nachdem er sich abgetrocknet hatte, fragt er ernst: „Und? Wo wird es hingehen? Wo suchen wir zuerst nach diesem elenden Rumtreiber?“

„Wir haben nur einen Anhaltspunkt. Das ist eine Welt, die Akiras Vorfahren erobert haben, vor beinahe zweitausend Jahren.“

„Die Core-Welt“, stellte Kei zufrieden fest. „Also müssen wir ins Kaiserreich. Mann, werden die sich freuen, die AURORA zu sehen.“

„Das wollen wir doch hoffen“, erwiderte Makoto mit einem wölfischen Grinsen.

„Stehen eigentlich alle Chancen gegen uns?“, fragte Kei nüchtern.

„Die meisten.“

Der Kommodore erhob sein Glas und Makoto stieß an. „Dann ist ja alles wie immer, oder?“
 

4.

Ich stand auf der Schulter meines Knights, als ich den Abzug meiner Division beobachtete. Es war immer wieder ein Erlebnis, dabei zu zu sehen, wie dreitausend Soldaten, Männer wie Frauen, binnen weniger Stunden ein komplettes Feldlager abbrachen und Abmarschbereitschaft herstellten. Die unglaubliche militärische Disziplin bewirkte dabei wahre Wunder.

Aber wahrscheinlich war meine fahrende Division sowieso die einzige, die sich solcher Geschwindigkeit rühmen konnte – immerhin waren wir es gewohnt, von der Kaiserin von Brennpunkt zu Brennpunkt geworfen zu werden.

Kurz bevor die Klarmeldung kam, erschien im Norden eine schwarze Wand am Himmel. Ein anderes Wort für die zweihundert Atlas-Transportmaschinen gab es nicht. Die Schar der herankommenden Flugzeuge verdunkelte tatsächlich den Himmel.

Auch hier stellte ich bewundernd die Präzision des Landemanövers fest.

Die anschließende Verladeaktion hatte ich bereits hundert Male gesehen, aber dennoch war es faszinierend, dabei zu zu sehen, wie das Material der Division nach und nach in den großen gewölbten Bäuchen verschwand.

Kurz nachdem sich die letzte Heckklappe der gigantischen Transporter geschlossen hatte, stiegen die ersten Atlas auf ihren Startdüsen senkrecht in den Mittagshimmel über der Normandie auf. Auch die ersten Knights erhoben sich als Begleitschutz in den unendlich blauen Himmel.

„Mylord. Es wird Zeit“, klang Marias Stimme durch mein KommSet.

„Was? Schon wieder? Du hast zuviel Energie“, neckte ich die Offizierin.

Wie ich erwartet hatte, ließ sie ein entrüstetes MYLORD hören. Als wenn unsere Beziehung in der Division ein Geheimnis gewesen wäre.

„Ich bin auf dem Weg“, brummte ich amüsiert und erklomm meinen Knight.

Kurz darauf trat ich die Schubpedale für die Sprungdüsen durch und raste ebenfalls in den Mittagshimmel.

„Salut für General Deveraux und ihre Division“, ordnete ich an.

Kurz darauf blühte buntes Feuerwerk über dem Landstreifen auf, auf dem lediglich ein paar dunkle Flecken verkündeten, was sich noch wenige Stunden zuvor dort befunden hatte.

Die Knights der französischen Division nahmen den Salut mit Feuerwerk entgegen, indem sie mit ihren Waffen auf die gigantischen Schilde schlugen. Ich glaubte fast, das Geräusch hier oben noch hören zu können.

Es stimmte also doch: Aussätzigeneinheiten unter sich wurden schnell zu Freunden. Es war ein beruhigender, wenngleich ernüchternder Gedanke.

„Abflug“, befahl ich ernst, bevor mich die Emotionen übermannen konnten.

Nach und nach schwenkten die Atlas-Transporter mit den sie begleitenden Knights nach Norden ab. Uns erwartete ein Flug über den Pol, und von dort eine direkte Reise über Teile Sibiriens nach Japan, wo sich von Berger mit seinen Truppen reorganisierte.

Ich bezweifelte, dass der Karriereoffizier sehr erbaut davon sein würde, ausgerechnet vom blutigen Herzog ins Gebet genommen zu werden. Aber das war genau der Grund, der mir diesen Job schmackhaft machte, der mich bei der Stange hielt.

Ich entschied als einer der höchsten Inspektoren der Kaiserin über Leben und Tod, über Karrieren und Schicksale, und das Beste daran war, ich war absolut unbestechlich.

Ein Mann wie ich, der die Abgründe des Hades gesehen hatte, der den Styx bereits einmal überquert hatte, war nicht mehr zu bedrohen, zu erschrecken, und nur schwer zu manipulieren. Ich konnte nach reinstem Wissen und Gewissen handeln.

Die einzigen beiden Möglichkeiten, auf meine Entscheidungen Einfluss zu nehmen waren die Kaiserin selbst oder einer meiner Offiziere, die mir bei Gerichtsverhandlungen, Kriegsgerichtsverfahren und öffentlichen Entscheidungen zuarbeiteten.

Vielleicht war ich deshalb der gefürchtetste der reisenden Herzöge. Menschen mit schlechtem Gewissen mussten ahnen, dass sie sich vor meinen Augen nicht freikaufen konnten.

Ja, das machte den Job wirklich liebenswert.

Drei Stunden später war die Armada über dem Nordpol. Es juckte mir in den Fingern, mitten in der finsteren Nordpolnacht landen zu lassen und bei minus fünfzig Grad dem einsamen Pfahl einen Besuch abzustatten, der den Nordpol markierte, aber angesichts der harschen Temperaturen ließ ich es dann doch.

Weitere zwei Stunden darauf überquerten wir bereits Kamschatka. Die Sibirien vorgelagerte pazifische Halbinsel war Ausgangsbasis für die Hälfte aller Missionen in Amerika.

In diesem Fall hatten auf ihr nicht nur die Vorbereitungen für die Landeoperation General von Bergers stattgefunden, über sie waren die Truppen auch zurückgeflutet. Verdammt, dreitausend Tote. Dreitausend! Meine ganze Division umfasste dreitausend Soldaten, aufgeteilt auf Knights, Infanterie, Panzerabteilungen, Nachschub und Logistik. Und von Berger schaffte genauso viele Menschen in schwarzen Säcken nach Hause.

Ich schwor mir, wenn dieser Mann schuldig war, wenn er das Desaster verursacht hatte – aus Starrsinn, aus Angst, aus Geltungssucht oder weil ihm die Leben seiner gemeinen Soldaten egal waren – dann würde ich ihm zeigen, dass der Arm der Kaiserin erst recht zu den Generälen reichte. Und das ihre fahrenden Herzöge in der Lage waren, Gerechtigkeit geschehen zu lassen.
 

„Mylord. Wir sind in Kurzwellenreichweite von Hokkaido.“

„Und dafür störst du mich, Carl?“, fragte ich mit einem Seufzen.

Der kleinere Mann runzelte die Stirn. „Es gibt Unregelmäßigkeiten in der Kommunikation, Mylord.“

„Unregelmäßigkeiten?“ Meine Leute gehörten zu den Besten. Wenn Carl Harris von Unregelmäßigkeiten sprach, dann schrillten bei mir die Alarmglocken.

„Sie sprechen akzentfreies englisch, Mylord. Und als wäre das nicht ungewöhnlich genug, vermissen wir einen Großteil der Routinekommunikation zwischen den einzelnen Stationen.“

Englisch war die international anerkannte Gemeinsprache des Flugverkehrs, ein Trostpflaster, das man dem König von England zugestehen musste, damit er der kaiserlichen Allianz beitrat. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass die japanischen Stationen auf Englisch kommunizierten. Genau gesagt mussten sie es sogar. Aber wenn ich eines wusste, dann dass die meisten Japaner, sofern sie es überhaupt lernten, mit englisch gewaltig auf dem Kriegsfuß standen. Grund genug, um sich darüber Gedanken zu machen. Entweder um ein paar pfiffige Soldaten unauffällig ein paar Ränge zu fördern, oder um misstrauisch zu werden. Die Tatsache, dass ein Großteil der internen Kommunikation fehlte, ließ mich zu letzterem neigen.

„Alarm für die gesamte Division“, befahl ich.

„Jawohl, Mylord. Alarm für die gesamte Division. Darf ich empfehlen, sofort mit der kaiserlichen Residenz Edo zu kommunizieren?“

„Gut, Carl, rufen Sie Edo an, aber erst nachdem die Knights ihre Abwehrstellungen um die Luftflotte eingenommen haben.“

„Sehr wohl, Mylord.“ Harris griff an sein Kinn und aktivierte ein KommSet. „Befehl seiner Lordschaft: Alarm für die ganze Division! Ich wiederhole: Alarm für die ganze Division!“

Ich konnte es regelrecht vor mir sehen, wie nun an Bord der Atlas-Maschinen die Hektik ausbrach. Gesehen hatte ich es oft genug. Alles was nicht ohnehin schon angezurrt war, wurde nun befestigt, weitere schwere Güter doppelt gesichert. Die Infanteristen drängten sich nun vor den Magazinen, um ihre Fallschirme zu empfangen, falls ein Landungsangriff erforderlich wurde. Und die Panzer machten sich bereit, abgeworfen zu werden.

Weitere Knights schleusten aus und reihten sich ein. Die Abwehrphalanx stand, mit mir an der Spitze. Es war schon so oft gedrillt worden, dass es jedem Soldaten in Fleisch und Blut übergegangen war. Und genau das war der Grund für unser Überleben.

„Wir erreichen die Landgrenze von Hokkaido, Mylord.“

„Gut, Carl. Funken Sie Edo an.“

„Jawohl, Mylord.“

„Julian.“

Lieutenant Colonel Andrews meldete sich sofort. „Mylord?“

„Sollten wir beschossen werden, so unwahrscheinlich das klingen mag, führe einen Fernbeschuss durch. Ich wünsche Effizienz durch Geschwindigkeit, nicht durch Präzision.“

„Ich habe verstanden, Mylord.“

„Nicht, das ich glaube, wir würden ausgerechnet über Japan beschossen werden“, fügte ich hinzu.

„Raketenbeschuss, Mylord! Die Abwehrstellungen auf Hokkaido greifen uns an.“

„Abfangen. Julian, dein Auftritt.“

„Sehr wohl, Mylord!“

Über fünfzig Knights verließen unsere Formation und strebten dem Erdboden entgegen. Vor, zwischen und unter uns explodierten Granaten der Luftabwehr. Unwillkürlich fragte ich mich, wer hier gerade mit seinem Leben spielte. War von Berger wahnsinnig genug, sich ausgerechnet gegen den blutigen Herzog zu stellen? Dann war seine Vernichtung nicht mehr fern. Und wenn ein Atlas, ein einziger Atlas meiner persönlichen Division abgeschossen wurde, wenn ich auch nur einen Mann durch diesen Akt verlor, dann würde ich… Dann sollte…

„Mylord, wir können keinen Kontakt mit Edo etablieren!“

„Wir bereiten eine Landeoperation vor. Primärziel ist die kaiserliche Residenz. Die Bodentruppen gehen um und in Edo in Stellung. Die Knights bilden Abwehrgürtel über der Bucht und über der Stadt, bis wir wissen, was hier passiert. Julian, wie weit bist du?“

„Ich bin vielleicht nicht euer Cousin, Mylord, aber so ein paar Popelige Raketen und Abwehrstellungen kriege ich noch in den Griff. Eine Minute, bitte.“

Ich grinste dünn. Es war vielleicht nicht besonders klug, mich an meinen Cousin zu erinnern, der zusammen mit meiner Schwester desertiert war.

„Du hast deine Minute, Julian.“

In der Luft explodierten die Raketen, lange bevor sie ihre Ziele erreichen konnten. Das Flakfeuer ebbte ab und erstarb dann ganz, während die Knight-Abteilung unter uns ganze Arbeit leistete.

Aber noch immer wusste ich nicht, woran ich war, was gespielt wurde. Im schlimmsten Fall gerieten wir mitten in einen Invasionsversuch der Republik, im besten versuchte nur jemand, den Blutherzog auszuschalten.

„Maria, hast du Informationen für mich?“

„Leider nein, Mylord. Ich fange Routinemeldungen auf, aber die kommen anscheinend alle aus der Konserve. Ein paar Mal haben meine Leute ein paar stark gestörte Funkanrufe empfangen und wir sind noch bei der Bearbeitung. Aber bisher lässt sich noch nichts sagen.“

„Das ist übel! Mensch, Major, ich brauche Fakten!“

„Das weiß ich, Mylord! Und ich könnte schneller arbeiten, wenn seine Lordschaft mich arbeiten lassen würde!“

Ich schluckte meinen Ärger runter. Richtig, mit den harschen Worten tat ich ihr Unrecht. Ich wusste selbst wie kompetent sie war, wie hart sie arbeitete.

„Entschuldige.“

„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Du tust deinen Job, ich tue meinen, okay?“ Zögerlich fügte sie hinzu: „Mylord.“

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Sie war großartig, einfach großartig.

„Na, dann will ich mal meinen Job machen. Carl!“

„Mylord?“

„Fanfaren.“

„Sehr wohl, Mylord.“

Sekunden später fuhren die stärksten Sender der Division hoch und sendeten mit Maximalenergie das Erkennungssignal der Division, des wandernden Herzogs und mein persönliches Signal. Jeder kaiserliche Soldat, der einen Empfänger bei sich trug, würde nun wissen, dass ein fahrender Herzog nahte – übrigens auch jeder Feind.

„Wir verlassen das Land über Hokkaido und nähern uns der Hauptinsel Honshu, Mylord.“

„Wir gehen weiter wie ich befohlen habe. Es wird auf jeden gefeuert, der es wagt, seine Waffe gegen mich zu erheben, selbst wenn es die Leibwache der Kaiserin ist.“

Aufgeregtes Gelächter erklang auf der Frequenz. Die Kommandeure und Knights schienen sich über den Gedanken zu amüsieren, sich die arroganten Leibwachen der Kaiserin einmal vornehmen zu können. Bei den letzten Jousts hatten sie jedenfalls haushoch verloren.

„Die Sicherheit ihrer Majestät hat absoluten Vorrang vor allem anderen!“, blaffte ich hart, eigentlich härter als ich wollte. Versöhnlicher fügte ich hinzu: „Sobald ihre Majestät sicher ist, gilt als zweite Priorität der Schutz der Zivilbevölkerung.“

„Jawohl, Mylord!“
 

„Wir erreichen Honshu, Mylord. Und wenn ich das anmerken darf, wir werden erneut beschossen. Die ID-Transponder der Stellungen weisen sie zudem als republikanische Einheiten aus.“

Ich stutzte. Und die wildesten Phantasien brandeten durch meinen Geist. Was wenn eine republikanische Armee den zurückflutenden Truppen des Generals von Berger gefolgt war? Was wenn sie zuerst Hokkaido erobert hatte und dort den Anschein eines normalen Betriebes simuliert hatte? Und was, wenn sie später auf die Hauptinsel gestürmt war? Vielleicht gerade jetzt? Waren wir mitten in den Eroberungskampf um Edo geplatzt?

Entschlossen umklammerte ich die Steuerungssticks meines Knights stärker. Nun, diese Woche hatte viel zu viele Tote und ein verdammt gutes Turnier gesehen. Ich hatte nicht vor, die Mächtigen dieser Welt weiter ihre Spiele spielen zu lassen. Nicht wenn ich in der Nähe war.

„Feuer frei auf alle Stellungen aus denen Beschuss erfolgt“, sagte ich ernst.

Carl Harris bestätigte sofort und ohne Widerworte.

Kurz darauf lag die Küstenabwehr von Honshu hinter uns; unser Kurs auf Edo war fest.

„Hergehört, Leute. Wenn es irgendwie möglich ist, landen die Bodentruppen in und um Edo. Sollten die Feindverbände zu stark sein, suchen wir uns einen guten Platz außerhalb.

Wenn das Gelände bereits in der Hand des Feindes ist, bauen die Bodentruppen einen Abwehrgürtel in der Nähe der Stadt auf, der uns als Zufluchtsort und Sammelpunkt aller loyalen Kräfte dient. Derweil gehen die Knights rein und sichern die Flucht ihrer kaiserlichen Majestät.“

„Jawohl, Mylord.“

„Betet, dass es noch nicht so schlimm ist.“
 

Es war schlimmer, viel schlimmer. Aber es gab noch keine Entscheidung. Im Norden der Hauptstadt hatte sich eine Front etabliert, republikanische Kräfte und kaiserliche Einheiten standen sich hier im Schlagabtausch gegenüber.

„Alter Plan! Die Infanterie sichert Edo! Julian, du kommst mit deinen Leuten mit mir!“

„Jawohl, Mylord!“

Wir schwenkten ab und wurden bereits vom Abwehrfeuer der Republikaner erwartet, während die Atlas-Transporter, von den anderen Knights gedeckt, bis nach Edo flogen und dort auf Plätzen und Straßen landeten, um Abwehrstellungen einzunehmen.

„Carl, dreh die Fanfaren auf Maximum!“, befahl ich gepresst.“

„Jawohl, Mylord!“, rief Harris begeistert. Kurz darauf erklang ein fürchterliches Feedback, welches grauenhaft an meinen Nerven zerrte. Oh ja, Harris hatte wirklich auf Maximum gedreht. Bei manchen mochte es gereicht haben, um die Plomben zu lockern.

Ich sah der Erfolg dieser Maßnahme, als die Frontreihen der Knights und Bodentruppen ins Stocken gerieten.

Automatisch zog ich meinen Knight zwischen die kämpfenden Einheiten.

Als die Maschine auf dem Boden landete, tat sie dies mit einer Leichtigkeit, als wäre sie ein kleiner Junge von zwanzig Kilo, und keine vierzig Tonnen schwere Kriegsmaschine.

„Mein Name ist Akira von den Otomo!“, rief ich, und meine Stimme wurde von den hervorragenden Lautsprechern meines Knights und der anderen Maschinen verstärkt. „Ich bin fahrender Herzog ihrer kaiserlichen Majestät Anastasia! Republik-Kommandeur, Ihr Invasionsversuch ist gescheitert. Ziehen Sie sich und Ihre Truppen sofort zurück. Ich gewähre Ihnen freien Abzug und räume Ihnen ein großzügiges Zeitlimit zum bergen Ihrer Verwundeten und Toten ein. Nehmen Sie an, oder sehen Sie dem Tod ins Auge!“

Innerlich zitterte ich. Nicht vor Erregung oder Angst. Nein, es war Gram. Gram darüber, dass mein Gegenüber auf der Republik-Seite vielleicht nicht auf meine Forderung einging. Dass ich Menschen töten musste, die letztendlich meiner Schwester dienten und glaubten für eine gute Sache zu arbeiten. Dass ich erneut die voll modellierten Hände meines Knights blutrot färben musste – ironischerweise mit Blut. Vater, darauf hattest du mich nie vorbereitet.

„Akira von den Otomo! Die Lilienkaiserin bietet euch an, sofort in ihren Dienst zu treten und…“

„Abgelehnt!“, blaffte ich. „Sie haben fünf Minuten für die Entscheidung, meine Bedingungen anzunehmen!“

„Das ist nicht so einfach, Mylord Otomo! Ich habe meine Befehle und…“

„IHR ANGRIFF IST GESCHEITERT! Wie viele Leute haben Sie bereits verloren? Sollen noch mehr hinzukommen? Und reichen die Toten an der amerikanischen Westküste noch nicht aus? Sollen wir auf Teufel komm raus noch ein paar hinzufügen?“

„Nein, Mylord. Ich nehme Ihre Bedingungen an. Geben Sie mir und meinen Leuten fünf Stunden für den Abmarsch.“

„Gewährt.“

„Mylord. Ihre kaiserliche Hoheit ist gesichert. Wir haben den Schutzwall der kaiserlichen Wachen verstärkt und patrouillieren die Stadt.“

„Gute Arbeit, Carl. Weiter so.“

„Ja, Mylord.“

„Kaiserliche Truppen! Dies ist die Gelegenheit! Zum Angriff auf…“

„STOPP!“, blaffte ich wütend. „Die kaiserlichen Truppen halten ihre Stellungen!“

„Dies ist die Gelegenheit, sie anzugreifen wenn sie am verletzlichsten sind!“, erklang eine trotzige Stimme, die ich als jene erkannte, die den Angriffsbefehl gegeben hatte.

Ich wandte meinen Knight um und hob die schwere Klinge in der Rechten. „In diesem Moment spreche ich mit der Stimme der Kaiserin. Alle Streitkräfte halten ihre Positionen. Wer dem zuwider handelt, wird bestraft!“

„Aber sie fliehen! Sie verschwinden! Dies ist unsere Gelegenheit! Wir werden einen glorreichen Sieg erringen und…“

„HALT DIE KLAPPE!“ Endlich hatte ich den Sprecher identifiziert. Ich ließ meinen Knight springen, landete vor dem schweren Modell des Sprechers und warf die sechzig Tonnen schwere Konstruktion um.

„Abgesehen davon, dass ich Truppen nicht traue, die ein angreifendes republikanisches Heer erst auf der Hauptinsel Honshu verlangsamen können, und abgesehen davon, dass ich nicht die Leben meiner Leute riskiere, um mit diesen Stümpern zu kämpfen, ist da hinten immer noch Edo! Edo ist kaiserliche Residenz und fasst zwanzig Millionen Menschen! Und zu allem Überdruss befindet sich ihre kaiserliche Majestät in der Stadt! Ich werde kein Risiko eingehen, weder für ihre Majestät, noch für die Bürger dieser Stadt, wenn ich einen Kampf vermeiden kann, der Tod und Verwüstung über sie bringt!“

Ich ließ den Knight einmal um die eigene Achse rotieren. „Sei es kaiserlicher Gardist, sei es republikanischer Pilot. Wer immer zu kämpfen wünscht, muss sich zuerst mit mir messen! Und glauben Sie mir, wenn es um so viele Menschenleben geht, bin ich nicht zimperlich!“

Das Geräusch der überschweren Kanone eines Knights klang hinter mir auf.

„Und nur um es klarzustellen“, klang die Stimme von Julian Andrews auf, während er seinen Knight über die rauchenden Trümmer eines kaiserlichen Knights beugte, „wenn Mylord sagt, dass sich die Hitzköpfe mit ihm messen müssen, so gibt es noch immer eine Reihenfolge. Wer meinem Herzog an den Kragen will, muss zuerst an seinen treuen Knights vorbei!“

Auf die letzten Worte folgte Jubel, Jubel der von meinen Leuten stammte.

Ich schnaubte zufrieden aus. „Also?“

Es verwunderte mich nicht, dass sich niemand mehr meldete.
 

Epilog:

Die junge Frau, die als die Herrin des Paradieses der Daima und Daina galt, schüttelte traurig den Kopf. „So habe ich mir das nicht vorgestellt. So sollte Akira nicht sein. Ich werde eine neue Simulation ansetzen.“

Die ältere Frau mit dem schwarzen Kapuzenkleid hingegen lächelte leicht. „Dafür aber ist er genau so, wie ich es mir gewünscht habe. Willkommen im Team, Akira Otomo.“

Ein Fluch namens Liberty

Prolog:

Die Core-Zivilisation war eine geheime Zivilisation, ein Gespenst, das für viele Daina ein regelrechtes Schreckgespenst war.

Die Cores kamen, sie raideten mit ihren schwachen, doch zahlenmäßig überlegenen Schiffen, und zogen sich wieder zurück, um ihrer hohen Verluste zum Trotz erneut anzugreifen. Wieder. Wieder. Und wieder.

Das Leid, das sie damit über die Daina-Welten brachten, schien ihnen egal zu sein, musste es sogar, denn gesteuert wurden die Flotten des Cores vom Verbund der Cores, einer Iovarschen Waffe, die einst ins All geschickt worden war, um Stützpunkte für einen Aufstand gegen das Kaiserreich aufzubauen.

Was daraus aber wurde, ist die wohl grausamste, geheimnisvollste und gefährlichste Macht, der sich die Daina je gegenübersahen. Die seelenlosen, nicht enden wollenden Truppen des Core, der künstlichen Intelligenz, die von ihrem Weg, Stützpunkte zu errichten, nicht abgewichen war. Aber die Stützpunkte dienten nun einem neuen Zweck, und niemand wusste, welchen.

Was konnte man auch anderes erwarten, wenn die gewaltige aufgebaute Kriegsmaschinerie der kalten Logik einer Künstlichen Intelligenz gehorchte? Wenn jegliches Menschliches aus ihr verbannt war? Wenn der Core eine Aufgabe verfolgte, die den Tod aller Menschen im Sinn hatte?

Nun, in einem Punkt irrten all jene, die solche Vermutungen anstellten. Es war nicht längst alles Menschliche aus dem Core gewichen. Im Gegenteil. Das Menschliche war höchst lebendig und aktiv.
 

1.

Vor zweitausend Jahren:

„Was geschieht hier?“, rief Maltran Choaster erschüttert. Er starrte auf die weite Ebene, das glücklich Sonnen beschienene Grün und verfolgte die Massenpanik, die um sich griff.

Dort, wo sich Daina und Daima im friedlichen Dialog trafen, wo die Einheit der Menschheit die Perfektion geworden war, dort wo sich fast alles erfüllte, was sich Menschen mit Visionen erhofften, dort geschah das Entsetzliche. Vor Maltrans Augen verschwanden die Menschen in ihren weißen Umhängen, als hätte es sie nie gegeben. Sie gingen ohne Nachricht, ohne Hinweis. Sie waren einfach fort.

„Was passiert hier? Was?“ Er sah das Entsetzen der anderen, sah sie wild durcheinander laufen, bei Freunden Schutz suchen. Hörte ihr Klagen und ihr ängstliches Wimmern bei dem Gedanken daran, vielleicht als nächstes verschwinden zu müssen – und niemals wiederzukehren.

Dann geschah das Entsetzliche. Auf einen Schlag verschwanden Dutzende, Hunderte in mehreren Etappen. Riesige Lücken wurden in die Reihen der Daina gerissen, als ginge ein grimmiger Riese mit gigantischem Stab durch die Reihen und wischte sie einfach fort.

Die Ruhe, die darauf folgte, wurde nur unterbrochen von den ängstlichen Schreien der Verschonten, dem leisen Weinen jener, die Freunde verloren hatten, dem Schluchzen jener, die ihr Glück darüber, verschont worden zu sein, nicht fassen konnten.

Erschüttert sank Maltran auf seine Knie. Was für eine Katastrophe. Was für ein Aderlass.

Kiliat Mortes trat neben ihm. Sein Gesicht war verschlossen, beinahe grotesk hart verzerrt. „Es ist der Raegi-Core. Das Kaiserreich hat den Biocomputer vernichtet. Und wie es aussieht, haben sie die Gehirne jener, die sie nicht rechtzeitig abtransportieren konnten, vernichtet, bevor unsere Entsatztruppen eintreffen konnten.“

„Aber… Aber warum? Warum haben sie das getan? Warum haben sie diese Menschen nicht einfach leben gelassen? Sie haben ihnen doch nichts getan! Wenn sie jemanden bestrafen wollen, dann sollen sie sich Soldaten nehmen, aber doch keine einfachen Daina!“

Der Ältere räusperte sich vernehmlich. „Es kann sein, dass sie glauben, den Bewusstseinen in den Gehirnen einen Gefallen getan zu haben. Den Iovar, die sie aus den Tanks geholt haben, wurde durch die Sicherheitsschaltung das Gedächtnis gelöscht, um zu verhindern, dass taktische Daten an den Feind gelangen. Sie können nicht wissen, ich welch glücklicher Welt sie gelebt haben. Und wenn sie es wüssten, hätten sie es vielleicht nicht geglaubt.“

Maltran starrte betroffen zu Boden. Wieder einmal war es das Militär gewesen, auf dessen Kosten Menschen hatten geopfert werden müssen. Wieder einmal hatten jene, denen man ein Leben in Glück und Zufriedenheit versprochen hatten, den Preis dafür gezahlt, dass das Militär diese Versprechen nicht hatte halten können.

„Ich nehme an, die Offiziere konnten sich zurückziehen, oder?“, knurrte Maltran angriffslustig.

„Natürlich konnten sie sich zurückziehen. Bis auf eine Handvoll, deren Gehirne ebenfalls auf Raegi stationiert waren.“

„Ich glaube es ist an der Zeit, ihnen zu zeigen, wie man so etwas besser macht.“ Abrupt wandte sich der junge Mann ab. Seine weiße Kleidung verschwand und machte einer schwarzen Uniform Platz, die von einem dunkelroten Umhang umkränzt wurde. „Ich nehme mein Amt als General an. Folge mir, Kiliat Mortes.“

„Sehr wohl, mein Lord.“
 

Vor zwei Stunden:

Das Geheimnis der großen Schlagkraft der Streitkräfte, gerade der Flotte als kleinen, agilen Schiffen, waren ihre Offiziere. Wenngleich die Mannschaften, so die hoch automatisierten Raider überhaupt Mannschaften benötigten, aus den Drohnen des Technikprogramms bestanden und statt mit einem Gehirn mit einer einfachen Künstlichen Intelligenz ausgestattet waren, so gab es doch Offiziere, Anführer, die all das regelten, was eine K.I. nicht vollbringen konnte. Der große Vorteil, den die Offiziere des Cores hatten, war ihre Langlebigkeit. Die meisten der Offiziere kämpften bereits zweitausend Jahre oder länger auf ihren Posten und wussten zu genau was ihre Gegner tun würden. Es gab hier und dort mal eine Überraschung, die sie in den Planungen zurückwarf, aber meistens musste man nur ein paar Jahrzehnte warten, bis der Lauf der Zeit diese viel versprechenden Genies in den Ruhestand oder den Tod geschickt hatte.

Die Offiziere des Cores jedoch waren unsterblich. Solange ihre Leiber in den Biotanks ruhten, alterten sie nicht, und selten kam es vor, dass sie aus dem ewigen Dämmerschlaf geweckt werden mussten. Denn die meiste Zeit hielten sie sich – wenn sie nicht in Gastkörpern auf einem Schiff an der Front oder in einer heiß umkämpften Stadt weilten – hier im Paradies der Daina und Daima auf.

Und im Paradies gab es einen Bereich für sie alleine. Zivilisten war der Zugang untersagt, an jenem Ort, an dem sie arbeiteten und lebten, um endlich das zu erreichen, was ihrer aller Lebensziel geworden war.

Natürlich gab es hier nicht nur Funkstationen, Schalt- und Kommunikationszentralen, Konferenzräume und unzählige Büros für die Verwaltung.

Es gab auch Ruhezonen, dem Paradies nicht unähnlich, in denen sich die Offiziere und Mannschaften – ja, richtige Mannschaften und keine hirnlosen, K.I.-gesteuerten Cyborgs – außerhalb ihrer Schichten trafen um zu entspannen. Denn wenngleich ihre Körper keine Ruhe brauchten, so hatte es sich doch mehr als bewährt, dem Geist ab und an etwas Abwechslung und Wege jenseits der Routine anzubieten.

Das Ligura war ein solcher Ort. Auf einer von Naguad bewohnten Welt hätte man es wohl Offizierskasino genannt. Wenngleich Admiralskasino zutreffender gewesen wäre, denn hier traf sich in der kargen Freizeit alles, was unter den Offizieren des Cores Rang und Namen hatte.

Und das Casino war sehr gut besucht. Der letzte Streich, ein Aufstand im Gebiet der Naguad, war überraschend erfolgreich verlaufen, und die angespannte Stimmung der letzten Tage war gewichen. Nun fuhren die Menschen, Daina wie Daima, die als Soldaten dienten, die wohlverdiente Ernte ein und gönnten sich etwas Entspannung, um bei einem Drink und heiterer Musik darüber zu diskutieren, wie sie das größtmögliche Kapital aus der unerwartet guten Entwicklung ziehen konnten.

Das allgemeine Raunen der vielen Gespräche machte es fast unmöglich, das eigene Wort zu verstehen, aber Kiliat Mortes verstand es dennoch, seinem Freund und Vorgesetzten für den letzten gelungenen Streich ausgiebig zu loben, wenngleich selbst seine kräftige Bariton-Stimme kaum gegen den Lärm ankam.

Umso erschreckender war die binnen weniger Sekunden eintretende absolute Stille.

Maltran Choaster sah sich überrascht um. Schließlich erkannte er den Grund der allgemeinen Stille. Die Herrin des Paradieses war zu ihnen gekommen.

Es war erwartet worden, aber eigentlich hatte man eine solche Ehre nicht zu hoffen gewagt.

Maltran runzelte irritiert die Stirn, als er bemerkte, dass ihr Gewand schwarz geworden war. Dies war immer ein sicheres Zeichen, dass der Herr des Paradieses der Daina und Daima eine schwere Entscheidung getroffen hatte, und diese Entscheidung war fast immer militärischer Natur. Oder um es anders zu formulieren: Von einer reinen, den zivilen Bereich verwaltenden Administratorin war sie nun auch das militärische Oberhaupt geworden. Glücklicherweise waren die meisten Herren des Paradieses aber schlau genug, nicht auch tatsächlich die Führung der Streitkräfte der Core-Zivilisation anzustreben. Die Meisten wählten einen Champion, einen erfahrenen Soldaten, für diese Aufgabe.

Maltran kniff die Augenbrauen zusammen, als er den hochgeschossenen jungen Mann sah, der neben ihr den großen Saal betrat. Die Uniform, die er trug, leuchtend blau und gold abgesetzt, wies ihn als Naguad aus. Und das empfand Maltran durchaus als Affront. An diesem Ort! In dieser Zeit.

Aber was ihn noch mehr irritierte, das war der goldene Stern, der am Kragen seines blauen Umhangs prangte. Ein goldener Stern mit fünf Zacken, von denen jede einzelne versilbert war.

Erschrockenes Raunen ging durch den Raum. Seit eineinhalbtausend Jahren war ein fünfzackiger Stern nicht mehr vergeben worden. Nun aber stand jemand vor ihm, ihm, einem Vierzackenträger, der eine Naguad-Uniform trug, an diesem beinahe heiligen Ort.

Und der junge Mann mit den braunen Haaren und den grünen Augen, die interessiert jedes Detail an diesem Ort in sich aufnahmen, der eigentlich ihr Feind sein musste und es sicherlich auch war, trug eine Insignie der Herrin des Paradieses, die ihn derzeit zum Anführer aller Streitkräfte des Cores machte. War er etwa der Champion der Lady?

Wenn dies ein Scherz war, dann kein besonders guter, fand Maltran.
 

„Meine Damen und Herren“, sagte die Herrin mit fester Stimme, und man glaubte ein wenig Belustigung daraus zu erkennen, „gestatten Sie mir, Ihnen diesen Mann zu übergeben. Sein Name ist Akira Otomo.“

Sie sah den jungen Mann an, und ihre Augen schienen dabei zu glitzern und zu strahlen. „Akira, hiermit übergebe ich dir deine Streitkräfte. Führe sie gut.“

Für einen Moment glaubte Maltran, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Nicht nur, weil dieser Mann wirklich ihr neuer Anführer war. Nein, er kannte diesen Namen! Und er kannte die Namen und Geschichten, die dahinter standen. Die Logodoboro waren mit Informationen über ihn äußerst freigiebig gewesen.

Und daher wusste Maltran, dass dieser Mann, Akira Otomo, auch Aris Arogad genannt, einer der Gefährlichsten in diesem Sektor der Milchstraße war.

Und – der Gedanke bereitete ihm das größte Entsetzen und auch das größte Vergnügen – er war ab sofort auf ihrer Seite.

Akira sah sich im Raum um, blickte einzelnen Personen in die Augen, schmunzelte hier oder warf einen wütenden Blick als Antwort auf einen anderen wütenden Blick, blieb kurz mit Wohlwollen bei Kiliat hängen und strich über ihn hinweg.

Dann sah Akira Otomo die Herrin an und sagte: „Ich danke dir, Aris.“

Ein aufgeregtes Raunen ging durch den Saal. Akira Otomo hatte der Herrin einen Namen gegeben! Weder über seine Kompetenz noch über seine Loyalität konnte es fortan Zweifel geben!

Dann sah er wieder im Kreis herum und ließ den Blick als letztes auf dem vierzackigen Stern an Maltrans Kragen ruhen, bevor der Blick des Terraners endlich die Augen des Core-Kriegers erreichte. Ihm war als spreche Otomo nur zu ihm alleine, und das hatte für wenige Augenblicke etwas Berauschendes: „Auf gute Zusammenarbeit.“

„Auf gute Zusammenarbeit!“, antworteten die Anwesenden laut, und Maltran wusste, er war einer der Lautesten gewesen.

***

„Das war knapp“, sagte Maltran Choaster ernst. Sein Blick tadelte den Mann in der blauen Uniform, der nur verlegen grinste. „Akira, ich meine das ernst!“

„Ruhig, Maltran. Alles was ich getan habe ist ein Kommandoschiff zu verlieren. Und ich kann nicht mal etwas dafür.“

„Das ist es nicht! Es war nur ein dämliches Kommandoschiff! Wir bauen fünfzig davon im Jahr, und jedes einzelne ist in der Lage, einem Offizier zu ermöglichen, einhundert Schiffe zu koordinieren. Außerdem kann jeder weitere Offizier an Bord weitere fünfzig Schiffe koordinieren. Die Schiffe und die Drohnen an Bord sind egal. Auch wenn die beweglichen Besatzungsmitglieder und die Bodentruppen entfernt iotanisch aussehen, es sind nur bessere Roboter. Wenn wir ihre Einzelteile im Brutbecken züchten, achten wir schon darauf, dass sie weder AO noch Bewusstsein entwickeln.“

„Wie nett“, brummte Akira. Es klang vorwurfsvoll.

„Du weißt, dass wir keine andere Wahl haben“, erwiderte Maltran. „Erstens würde es zu lange dauern, einen Offizier erst aus seinem Biotank zu holen, zweitens weiß der Henker, auf welcher weit entfernten Siedlungswelt er in einem Tank liegt und drittens geht der AO-Transfer des Bewusstseins schneller und sicherer. Die bereit gestellten Drohnen, die das AO eines Offiziers aufnehmen können, sind besonders hergerichtet, um ihm besonders gut zu dienen, aber auch hier gilt, wir bauen tausend im Jahr!“

„Reg dich endlich ab, Maltran. Es war ein Triebwerksausfall. Wenn, dann schimpfe auf die Koordinatoren der Wartung.“

„Ich rege mich nicht wegen der Havarie deines Kommandoschiffs auf. Ich rege mich auf, weil du bis zum letzten Moment geblieben bist, obwohl es schon anfing in der Atmosphäre zu verglühen! Du hättest früher transferieren müssen!“

„Erstens war das eine gute Gelegenheit, die Technik der Raider zu studieren und ihre Grenzen einzuschätzen“, sagte Akira und weckte in Maltran erneut das kurzlebige Schreckgespenst, der Arogad könnte seine Loyalität nur spielen um so viel Wissen wie möglich über seinen alten Gegner zu sammeln, „und zweitens bin ich wirklich schlecht darin, eigenes Material so freigiebig aufzugeben. Ihr baut vielleicht hundert Kommandoschiffe im Jahr und tausend Drohnen dazu, die Offiziere aufnehmen können. Aber genau in dem Moment, in dem ich sie opfere, stehen sie mir nicht mehr zur Verfügung. Damit habe ich ein Problem.

Und schließlich und endlich musste ich sicher gehen, dass das Schiff nicht in eine bewohnte Region rast.“

„Du hast den Absturzpunkt berechnet?“

„Bis zu letzten möglichen Sekunde. Hätte eine Gefährdung von Zivilisten bestanden, hätte ich die Selbstzerstörung ausgelöst. Das wäre zwar ein weit größerer Wumms gewesen und hätte die Atmosphäre stark durcheinander gebracht. Aber immer noch besser als zwanzig Millionen Tote.“

„Du warst trotzdem waghalsig. Du hättest das einen deiner Offiziere machen lassen können“, tadelte Maltran nur noch halbherzig.

„Vergiss es endlich“, brummte Akira und schritt ernst voran. „Wir haben zu viel zu tun, um uns über zerschlagene Eier zu streiten.“

Maltran holte auf und ging neben dem großen Mann her. „Das wollte ich dich ohnehin fragen. Warum hast du die Operationen in den Logodoboro-Marken nicht gestoppt? Du hast die Befehlsgewalt dazu.“

„Warum? Weil ich ein Arogad bin und die Logodoboro die Naguad an den Core verraten haben? Was geht hinter deinem Kopf vor? Denkst du, ich verkaufe mich hier auch gerade? Oder glaubst du, ich habe eine Teufelei vor?“

„Du bist eher der Typ für eine offene Feldschlacht. Also, was planst du?“

„Ich bin nun mal jetzt der Anführer der Streitkräfte des Cores. Und damit sind die Logodoboro unsere Verbündeten. Aber um dich zu beruhigen, ich habe alle Streitkräfte auf erkunden und verteidigen gesetzt und allen Offizieren im Einsatz eingeschärft, nicht von sich aus die Konfrontation zu suchen. Gerade jetzt dürfen wir uns nicht noch mehr verzetteln.“

Akira atmete schwer aus. „Wir haben zu wenige Offiziere, zu wenig Kommandoschiffe, zu wenig Schlagkraft. Bevor ich kam hat sich der Core verausgabt.“

Maltran spürte ein Gefühl der Verlegenheit in sich aufwellen. Sicherlich, die Doktrin des Cores war immer Überlegenheit des Materials gewesen. Wenn man nur genügend Schiffe und Drohnen in die Schlacht warf, gewann man irgendwann. Selbst wenn diese kleiner als ihre Gegner waren – es mussten nur genügend sein!

„Zu wenig Offiziere wofür?“, hakte Maltran nach.

„Zu wenig, um sich dem Liberty-Virus zu stellen.“

Erschrocken blieb der Offizier des Cores stehen. Er diente bereits seit dreitausend Jahren, konnte sich sogar noch an seine körperliche Zeit erinnern, und soweit er wusste, hatte sich in all der Zeit kein Kommandeur des Cores an den Liberty-Virus gewagt. „Das ist eine scharfe Rakete in der Panzerung, die nicht hoch gegangen ist, Akira. Besser, man rührt sie nicht an!“

„Wenn man gar nichts tut, kann sie aber hoch gehen, und das im unpassendsten Augenblick“, versetzte der Arogad spöttisch. „Und das weißt du.“

„Du weißt was wir tun müssen, um den Liberty-Virus aufzuspüren! Ist es das Risiko wert?“

Akira nickte schwer. „Ja, das ist es. Wir gehen ins Kaiserreich und bitten darum, die verlorene Core-Welt Raegi aufsuchen zu dürfen.“

„Wir bitten darum? Warum erobern wir sie nicht einfach?“

„Und lassen sie wieder zu einem Schauplatz werden von Angriff, Gegenangriff, heroischer Verteidigung bis zum letzten Mann und dergleichen?“ Akira schüttelte den Kopf. „Warum sich etwas mit Gewalt nehmen, wenn man es geschenkt kriegt?“

Maltran Choaster blieb erstaunt stehen. „Das ist purer Wahnsinn!“

Akira wandte sich halb um und grinste den Core-Offizier an. „Willkommen in meinem Leben, Maltran.“
 

2.

„Es kann nicht so weitergehen!“ Der energische, breitschultrige Mann schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. „Es darf nicht so weitergehen! Wir können, wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Japaner verraten und verkaufen! Wir sind keine Arogad und wir wollen auch keine sein! Und egal, welche Verdienste sich Megumi Uno und Akira Otomo im Krieg erworben haben, es reicht gewiss nicht dazu, die beiden zum Herrscherpaar der Welt zu machen!“

„Ich weiß, du bist gerade logischen Argumenten nicht zugänglich, Thorsten“, sagte ein anderer Mann am Tisch, ein schlanker Inder mit dunklen, intelligenten Augen, „aber die UEMF betont jeden einzelnen Tag, dass das Besitzrecht an der Erde für Akira Otomo nur auf dem Papier existiert. Und dieser Konteradmiral der Naguad bestätigt das und sagt wieder und wieder, dass ihn nur die Naguad-rechtliche Seite kümmert, und nach der ist die Erde ein Arogad-Protektorat.“

„Es war mir wieder klar, dass du mir in den Rücken fällst, Edward. Sicher, Torum Acati hat kein Problem damit, dass wir auf der Erde sagen, dass die Kapitulation vor Aris Arogad nur zum Schein erfolgte. Aber er hat sicher auch kein Problem damit, einen Aufstand auf der Erde niederzuschlagen!“

„Was aber eine interne Angelegenheit wäre. Und Megumi Uno wird zur Niederschlagung eines Aufstandes sicherlich nicht die Naguad rufen. Im Gegenteil. Sie mischt sich im Moment nicht einmal in die Bürgerkriege oder anderen bewaffneten Konflikte der Staaten ein und lässt die diplomatische Arbeit von der UN verrichten, der die UEMF dienstlich unterstellt ist.“

„Auch das existiert nur auf dem Papier, Laury. Stattdessen dominiert die UEMF die UN, und die UEMF wird wiederum von den Japanern dominiert.“

„Wieso eigentlich von den Japanern dominiert? Nur weil der Executive Commander Japaner ist und…“

„Megumi Uno! Kei Takahara! Makoto Ino! Sakura Ino! Eikichi Otomo! Das sind fünf Japaner, die fünf der höchsten Ränge der UEMF innehaben! Willst du mir immer noch erzählen, die UEMF seien nicht von den Japanern dominiert?“

„Das sind nicht einmal zehn Prozent der Ränge. Sicher, die Zahl der Japaner ist hoch, aber immerhin war dieses Land während des Kronosier-Krieges schwer betroffen und hat besonders viele Soldaten für die Abwehr der Kronosier gestellt. Vergiss bitte nicht, dass ihre vier Top-Piloten um die ganze Welt gereist sind, um die Kronosier abzuwehren. Übrigens waren sie stets unter UEMF-Oberkommando, und nicht ein einziges Mal im Dienste des japanischen Verteidigungsheeres. Außerdem stehen immer noch einige sehr wichtige UEMF-Stützpunkte in diesem asiatischen Land.“

„Was nichts weiter als ein Beweis dafür ist, wie tief die Japaner in die Machtstrukturen der Organisation verstrickt sind. Oder glaubt ihr, Eikichi Otomo hält sich da oben alleine durch Fleiß und gute Arbeit? Einmal davon abgesehen, dass ihm Firmen gehören, die auf dem Mond Helium3 abbauen? Und dabei ist das nicht einmal die größte Gefahr.“

Der große Mann warf eine Zeitung auf den Tisch. Die fünf Männer und drei Frauen sahen sich interessiert die Schlagzeile an. Das Titelbild zeigte unverkennbar die Massendemonstration von Soldaten und Mechas vor der Ratsversammlung der UEMF.

„Ich weiß nicht was ich mehr fürchten soll. Die Möglichkeit der UEMF, fünfzigtausend oder mehr Soldaten binnen kürzester Frist zu dieser Kundgebung zusammen zu rufen, oder die Möglichkeit, dass diese Menschen wirklich freiwillig gekommen sind!“

Er streckte den Rücken, bis es dort leise knackte. „Das ist überhaupt die größte Gefahr. Die da oben betonen immer wieder, dass die Kapitulation nur eine Farce ist. Aber was, wenn die Menschen sie dennoch akzeptieren? Was wenn sie eine Monarchie wollen? Bereits jetzt gibt es erste Vereine, gibt es Geheimbünde in den verschiedenen Militäreinheiten für diese Monarchie! Mit einem König Akira Otomo an der Spitze und einer Königin Megumi Uno an seiner Seite!“

„Und? Was wäre schlecht daran?“

„Was wäre gut daran? Dieser Bursche ist Soldat, hat noch nicht einmal seinen Oberstufenabschluss geschafft und ist es gewohnt zu töten. Das letzte Mal als die Rangliste der ewigen Besten auf den neuesten Stand gebracht wurde, stand die Zahl der geschätzten Toten von Akira Otomos Hand bei dreitausendvierhundertacht!“

„Hä? Ich dachte auf der Seite stehen nur die abgeschossenen Mechas und Kampfschiffe.“

„Es gibt noch eine inoffizielle Seite, Edward. Wir sollten uns also eine Frage stellen: Nehmen wir diese Entwicklung hin zur absoluten Monarchie hin? Lassen wir uns freiwillig zu Menschen zweiter Klasse machen? Geben wir selbst die geringsten Grundrechte auf, die es seit der Magna Carta gibt? Oder setzen wir wenigstens, zumindest ein Zeichen und sagen: Keinen Schritt weiter in diese Richtung!?“

Die Männer und Frauen sahen sich an. „Wie soll dieses Zeichen aussehen?“

Ein Foto flog auf den Tisch. „Sakura Ino. Admiral von Eikichi Otomos Gnaden und Kommandeurin des AURORA-Kampfverbandes. Wir entführen sie und zeigen damit klar, dass es auch Menschen gibt, die nicht so blauäugig sind, um auf den Elite-Killer reinzufallen! Sollen sie ruhig den Schein gegenüber den Naguad wahren – ein Königreich werden wir nicht!“

„Sakura Ino? Thorsten, das ist nicht dein Ernst! Sie ist eine Heldin beider Marsfeldzüge!“

„Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen, Laury. Außerdem ist sie die einzige, die wir zu fassen bekommen. Wenn sie in Japan ist, wohnt sie im alten Haus von Akira Otomo. Dort ist sie für uns ein leichtes Opfer.“

Thorsten sah jedem einzelnen in die Augen. „Bis hierher und nicht weiter! Lasst es uns ihnen sagen!“

„Damit kann ich leben“, sagte Edward und nickte. Die anderen nickten ebenfalls.

***

„Hallo, Michael“, sagte der große, weißhaarige Mann und lächelte freundlich, als er sich neben dem Deutschen auf die Parkbank setzte. Es war ein herrliches Wetter, um in der hannoverschen Eilenriede spazieren zu gehen, und es war ein reines Vergnügen, dabei ein Eis zu essen. „Mir hast du keins besorgt?“, tadelte Juichiro Tora.

Michael Berger deutete auf den Eiswagen. „Hol dir selbst eins. Ich habe absolut keine Ahnung, was du magst. Ihr Japaner esst ja sonst nur dieses Crash-Eis mit Sirup.“

„Gibst du mir eines aus? Ich habe keine Euro dabei.“

Missmutig hielt Michael dabei inne, sein Vanille-Eis zu schlecken und drückte dem Japaner einen Fünf Euro-Schein in die Hand. „Dieses eine Mal, Magier.“

„Danke dir“, erwiderte der mit einem verschmitzten Lächeln.

Als er wiederkam, grinste er noch breiter. „Erstaunlich. Du hast keine Wachen mitgebracht. Keine Bodyguards und erst Recht keine Mechas. Hast du solches Vertrauen in deine Fähigkeiten, Naguad?“ Er streckte die Hand aus. „Wechselgeld.“

„Behalt es. Ich habe heute meinen großzügigen Tag.“

„Wie nett.“ Tora ließ sich wieder auf die Bank sinken. „Also, was willst du von mir? Falls du dich erinnern möchtest, wir sind immer noch Feinde.“

„Warum bist du dann gekommen, wenn du mein Feind bist?“

Der Japaner streckte die Beine aus. „Weiß nicht. Du hast mich gerufen. Warum hast du mich gerufen?“

„Du hast neulich deinen Sohn und meine Enkelin getroffen.“

Tora sah den anderen aufmerksam an. „Du meinst Akari, den Oni.“

„Meine Enkelin“, sagte Michael ernst und fest. „Und du hast sie gut behandelt wie ich gehört habe. Was ist los mit dir? Warum hast du sie nicht dafür büßen lassen, dass du dich so lange regenerieren musstest?“

Tora sah zu Boden. „Wer bin ich, dass ich meinem einzigen Sohn das Wertvollste wegnehme, was er besitzt? Ist vergeben bei euch Daina nicht so populär wie bei uns Daima?“

„Du sprichst ein interessantes Thema an.“ Michaels scharfer Blick verfolgte den Flug zweier Tauben über der nahen Wiese. Er verlor das Interesse daran, als sie landeten, um sich über verschüttetes Popcorn her zu machen. „Vergebung ist wichtig. Vergebung verhindert, dass wir die Welt ins Chaos reißen. Aber was hat dich dazu bewegt, Vergebung zu gewähren, Daima? Abgesehen davon, dass du so schuldig wie die Sünde warst, als sie dich zerstört hat?“

Tora zog die Beine an und legte seine Ellenbögen auf den Knien ab. „Weißt du, Daina, als ich in diese Welt kam, wollte ich so vieles tun. Ich wollte sie beeinflussen, verändern, mich austoben. Kurz, ich wollte meinen Spaß haben. Und irgendwann merkte ich Veränderungen an mir. Sagen wir ich lernte dazu. In meinen Augen sind die Menschen eine verachtenswürdige Rasse. Die Dai würden vor Scham die Augen bedecken, wenn sie sehen könnten, was aus ihren Nachfahren geworden ist. Sieh sie dir an, diese Menschen, diese Terraner! Sie setzen ungehemmt Nachwuchs in die Welt, überschwemmen die Erde mit ihresgleichen, ohne den Kindern eine Perspektive geben zu können. Ohne ihnen ein Leben geben zu können! Dabei müssten sie doch wissen, dass mit besserer Medizin auch mehr Kinder zu Erwachsenen werden. Und auch das Erwachsene mehr essen als Kinder. Aber so waren sie schon immer. Sie bekamen ein Limit vom Göttlichen auferlegt, sie fraßen sich an das Limit heran, und dann schafften sie es mit einem Trick, mit einer Wende, das Limit zu dehnen, zu erweitern und weiterhin zu wachsen. Und dieses Limit ging immer auf Kosten der anderen. Sieh dir die Expansion des chinesischen Reichs an.

Seine Vereinheitlichung, die Härte mit der es geführt wurde, die Verbreitung neuer Anbautechnologien für Reis und anderes Getreide erschufen ein sehr weites Limit. China hätte die Welt überschwemmen können, wenn nicht ein Kaiser auf den Gedanken gekommen wäre, dass Chinesen im Ausland ein Reich aufbauen konnten, dass seinem Reich gefährlich werden konnte. Also beschloss dieser Kaiser, sein ganzes Volk einzusperren. In dem restriktiven und hochorganisierten Land bedeutete dies absolute Macht für die Beamten.

Aber die Römer waren nicht besser. Sie bauten ihre Stadt nach dem Vorbild der griechischen Stadtstaaten in Griechenland und Asien auf und lebten vom Umland. Und dann wucherten sie auf dieses Umland hinaus, auf ganz Italien und später halb Europa. Wie taten sie das? Sie lebten vom Reichtum unterdrückter Völker, das eroberte Ägypten wurde ihre Kornkammer und Widersacher wie die phönizischen Khartager wurden gezielt vernichtet. Wusstest du was die Römer mit dem Land eines besiegten Gegners gemacht haben? Sie haben seine Äcker gesalzen! Auf gesalztem Land kann nichts mehr wachsen, und das für eine sehr lange Zeit – zumindest für Menschen, die nahe dem Hungertod sind. Salz war unendlich kostbar und schwierig zu bekommen. Dennoch haben die Römer Salz in Hülle und Fülle verschwendet, nur damit sich der einmal besiegte Gegner nicht wieder erholte.

Und wenn du glaubst, in der Neuzeit war es besser, dann bitte ich dich. Kaiser Karl, Richard Löwenherz, Oliver Cromwell, Napoleon Bonaparte, Richard Churchill, Josef Stalin, was unterscheidet sie alle von diesen Eroberern der Antike? Nichts! Auch sie eroberten, regierten ihre Reiche, ließen ihr Volk auf Kosten der anderen Völker leben, errichteten und verwalteten Kolonien. Und das Schlimme ist, der Besiegte von Gestern wurde als Sieger von Heute genauso wie der damalige Triumphator. Gibt es eine Gerechtigkeit? Gibt es einen Sieger, der mehr vermuten lässt, als dass die Terraner nichts weiter sind als Bestien mit einer geringen Tünche Zivilisation? Dass sie für einen geringen Vorteil alles verkaufen würden was ihnen heilig ist?

Und sieh dir unsere jetzige Zeit an. Offenbar hat jemand beschlossen, dass große Kriege nicht mehr zeitgemäß sind. Stattdessen führen die Terraner nun Kriege, um ihre eigene Zahl unbotmäßig zu erhöhen, um noch mehr auf Kosten der Natur zu leben.

Wundert es dich immer noch, dass ich die Terraner verachte? Mag sein, hier und da gab es einen Heiligen, aber die Terraner schlachten ihre Heiligen. Sieh dir Jesus an, Jeanne D´Arc oder Mahatma Ghandi. Die Beseeltesten, die Friedfertigsten, die reinsten werden von ihnen getötet. Terraner, die ich bessere Dai nennen würde als die Dai selbst. Aber die Terraner ereilen sie umso schneller und gründlicher, je näher sie dem Wesen der Dai sind.

Anfangs wollte ich nur meinen Spaß. Später dachte ich, ich könnte diese Welt, diese Menschen wirklich verändern. Dann erkannte ich, dass ich die Erde erobern muss, um sie ändern zu können.“ Tora sah seinen Sitznachbar streng an. „Eine hinterhältige Art wie deine, einfach über Jahrhunderte ein Netzwerk aus Firmen, Wohltätigkeitsorganisationen und Netzwerken zwischen Universitäten aufzubauen und aus dem Schatten über die Terraner zu regieren wäre mir jedenfalls nie eingefallen.“

„Jedem so wie er es kann.“

„Ja, ja. Schmeichle dir nur, Daina. Und spiel weiter dein undurchsichtiges Spiel mit deinem Schwiegersohn an der Seite.

Und verrate mir endlich, warum ich kommen sollte.“

„Akira.“

„Akira? Dein Enkel? Das letzte was ich gehört habe ist, dass das Core ihn entführt hat. Oder vielmehr sein KI. Ich kann es auch für dich verständlich ausdrücken. AO oder Seele. Wünsche dir mal lieber, dass er noch nicht verpufft ist wie eine Kerzenflamme in einem arktischen Sturm.“

„Du verstehst mich falsch. Ich bin nicht gekommen, um mit dir über Akira zu reden. Ich bin gekommen, um die Weichen für ihn zu stellen. Du hasst Dai-Kuzo-sama noch immer, oder?“

„Hass ist das falsche Wort. Aber ich lasse mich von ihr nicht gängeln und herumkommandieren. Auch wenn dasselbe Blut in unseren Adern fließt und sie zweitausend Jahre älter ist als ich, bin ich nicht ihr Spielzeug. Und hätte ich die Chance, dann würde ich sie stürzen und eine sinnvollere Regierung in der Dämonenwelt etablieren. Etwas mehr Demokratie, etwas weniger Absolutismus.“

„Du willst Dai-Kitsune-sama eine eigene Stimme in der Vollversammlung zugestehen?“

„Scheiße, an dieses Problem habe ich noch gar nicht gedacht!“

Die beiden Männer sahen sich an und lachten auf.

„Okay, Daina. Sag es mir. Wie willst du die Weichen für ihn stellen?“

„Das Legat wurde re-etabliert.“ So wie Michael es sagte war es eine Feststellung, und gewiss keine Frage. Tora wusste das. „Verschaff mir einen Termin vor der Vollversammlung.“

„Willst du sie sprengen, töten, gefangen nehmen?“, spöttelte der Magier.

„Ich will ihnen ein Bündnis vorschlagen.“

„Was, bitte?“
 

3.

„Es ist unglaublich!“, rief der Reporter in die Kamera. Rund um ihn war tiefdunkle, sturmgepeitschte Nacht, die nur von wenigen Blitzen erhellt wurde. Blitzen und den Düsen startender Daishis. „Sie sehen hinter mir, wie sich die Blue Razors, die neue Elite-Einheit vom umgebauten Flugzeugträger TICONDEROGA, in den Nachthimmel über den Atlantik schwingt! In diesem Moment, diesem einen Moment, ist alles hinfällig, was wir bisher wussten oder zu wissen glaubten! Die Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Wilson haben sich von der UEMF losgesagt und den Verteidigungsfall erklärt! Streitkräfte der U.S.A. überall auf dem Globus wurden in Defcon 2 versetzt, dem zweithöchsten Krisenfall des Militärs. Zugleich wurden UEMF-Basen auf amerikanischen Boden unter Quarantäne gestellt! Wie aus dem Pentagon verlautete, wird den UEMF-Kräften ein Ultimatum gestellt, binnen zweier Tage geschlossen abzuziehen und amerikanischen Boden zu verlassen!

Zur Begründung dieses radikalen Schritts ließ das Weiße Haus verlauten, es habe nicht tausende seiner Söhne und Töchter gegen die Bedrohung vom Mars entsandt und sich eines potentiellen Sklavenherren entledigt, um nun den nächsten in Form der Naguads anzunehmen.

Weiter hieß es, dass die U.S.A. in Folge neuer Waffenprojekte in der Lage ist, fortan das eigene Land und alle verbündeten Staaten erfolgreich zu verteidigen.

Da! Hinter mir sehen wir ihn schon! Die neue Trumpfkarte der Vereinigten Staaten! Der neue Mecha, der insgeheim vom Pentagon entwickelt wurde und nun von General Motors in Serie produziert wird: Der Stars and Stripes! Achtzehn Meter hoch, flug- und raumtauglich und jederzeit in der Lage, einen Hawk auszumanövrieren! Laut Pentagon werden genau in diesem Moment achthundert Modelle in Betrieb genommen und machen damit Amerika zur Nation mit der stärksten eigenen Mecha-Präsenz neben der UEMF!

Es sieht ganz so aus, als erwarte Admiral Ruyter, Kommandeur der TICONDEROGA-Flotte, einen harten Schlagabtausch mit der UEMF! Dutzende Mechas starten, um das Festland abzusichern, während der Präsident die freien Länder der Erde aufruft, sich dem Widerstand gegen die Naguad anzuschließen!

Moment, ich bekomme da gerade etwas rein. Es wurde ein Haftbefehl ausgegeben und ein Kriegsgerichtsverfahren ausgerufen. Admiral Richards wird nun offiziell als Kriegsverbrecher gesucht. Es ist unglaublich! Der Mann, der im Kronosier-Krieg mit seiner ENTERPRISE-Kampfgruppe wichtige Erfolge erzielt hat, der den Zweiten Marsfeldzug maßgeblich unterstützt hat, der federführend war beim Aufbau der Begleitflotte der AURORA, wird nun von seinem eigenen Heimatland als Landesverräter gesucht.

Ich als freier Reporter frage mich da: Ist der Admiral so tief gesunken, seit er in UEMF-Diensten steht oder ist es mein eigenes Land?

Da! Wieder startet ein Stars and Stripes und…“

„Sehr geehrte Zuschauer. Wir unterbrechen unser Live-Programm für eine Grußbotschaft unseres Sponsors und…“

***

„Executive Commander Otomo! Was sagen Sie zur neuesten Entwicklung auf dem nordamerikanischen Kontinent?“

„Nun, ich finde es höchst bedauerlich, dass sich die Regierung Wilsons dazu entschlossen hat, die gesamte Welt zu hintergehen und die bestehenden Verträge zu brechen. Ich finde es auch sehr bedenklich, dass die UEMF-Stützpunkte im Land unter Quarantäne gestellt wurden.

Ich kann gar nicht aufzählen, wie viele Kapitel internationalen Rechts von den Vereinigten Staaten gebrochen wurden. Es ist mir unbegreiflich, was Präsident Wilson damit erreichen will, den Stars and Stripe hin oder her.

Es bleibt nur absolute Fassungslosigkeit auf Seiten derer, die seit dem Kronosierkrieg bemüht sind, diese Welt zu beschützen.“

„Executive Commander, wie sehen Ihre weiteren Schritte aus?“

„Nun, nachdem die U.S.A. die Verträge einseitig gekündigt haben, räumen wir natürlich unsere Basen und Einrichtungen in Nordamerika. Solange sie unter Quarantäne gestellt sind, nützen sie uns nichts. Außerdem möchte ich nicht, dass zwanzigtausend Soldaten der UEMF in die Gefahr geraten, Druckmittel gegen unsere Einrichtung zu werden.“

„Wie wird das aussehen, Executive Commander? Die UEMF hat Einflugverbot auf dem Staatsgebiet der Vereinigten Staaten. Laut den neuesten Informationen hat Präsident Wilson angeordnet, einen Einflug von Einheiten der UEMF notfalls gewaltsam zu stoppen.“

„Wir werden unsere Leute da rausholen. Wie, wird sich sehr bald zeigen. Aber an dieser Stelle möchte ich Ihre Anwesenheit und die Aufmerksamkeit der Weltpresse nutzen, um aufs Schärfste zu protestieren, wie Admiral Richards behandelt wurde. Die Tatsache, dass ihm ein Kriegsgerichtsverfahren droht, ist nicht einfach nur peinlich, es ist ein Schlag ins Gesicht jedes Soldaten, der je unter diesem tapferen, umsichtigen Mann gedient hat. Und die UEMF sieht es als weiteren, persönlichen Affront an. Präsident Wilson, Sie haben sehr viel Porzellan zerschlagen, und das in einer Zeit, in der die Menschheit durch die Core-Bedrohung in allergrößter Gefahr lebt!

Entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss mich um unsere Leute in Amerika kümmern.“

„Executive Commander!“

„Commander Otomo!“

„Commander!“

„Sir, eine Frage noch…“

***

Müde rieb sich Eikichi Otomo die Augen. Verdammt, er hatte gewusst, dass der neue Präsident der U.S.A. Ärger bedeuten würde. Bereits als Außenminister hatte er sich weit mehr herausgenommen als ihm rechtlich zustand.

Leider hatte dieses Wissen nicht dazu geführt, dass Eikichi auf diesen Coup d´État vorbereitet gewesen wäre. Und nun waren zwanzigtausend Soldaten der UEMF auf fünf Stützpunkten in Nordamerika gefangen, isoliert und eigentlich nicht mehr als Geiseln, solange Eikichi ihnen nicht den gewaltsamen Ausbruch befahl.

„Einen schönen Geheimdienst haben wir“, tadelte Otomo die drei Männer, die vor seinem Schreibtisch standen. Tatewaki Hatake versteifte sich leicht. „Wir haben die Amerikaner vernachlässigt. Anders kann ich es nicht erklären.“

Eikichi sah den Geheimdienstoffizier aufmerksam an. Er wirkte alt, seine Wangen eingefallen und die Augen hatten riesige Ringe. Der Mann hatte die letzten dreißig Stunden nicht ein Auge zugemacht. „Gab es denn keine Warnzeichen? Der Bau dieses Stars and Stripes? Abzug geeigneter Piloten? Irgendwas?“

„Zuerst einmal müssen wir die Mentalität meiner Landsleute verstehen“, gab Admiral Richards zu bedenken. „Unser Militär ist, nun, absolutistisch organisiert. Befehle werden ausgeführt, und diese Befehle gehen vom Präsidenten ans Pentagon. Von dort sickert es die Befehlskette nach unten. Selbst wenn die meisten Soldaten gegen das Vorgehen ihres Präsidenten sind, sie werden zuerst einmal gehorchen. Und wenn wir uns in dieser Situation einen Fehler erlauben, wenn die ersten Schüsse fallen – und ich bin sicher, das wäre im Sinne von Wilson – dann haben wir verloren. Die Medien werden das Geschehen aufbauschen, es wird versucht werden, die Bevölkerung gegen die UEMF einzunehmen. Im schlimmsten Fall sucht sich die U.S.A. weltweit Verbündete und beginnt einen Krieg gegen uns.“

„Es freut mich, dass Sie in Ihrer prekären Lage wir sagen, wenn Sie von der UEMF sprechen“, sagte Eikichi ernst.

„Sir, was soll ich sagen? Ich habe mich mehr als einmal gegen die Entscheidungen meiner Regierung gestellt, wenn es zum Nutzen aller Menschen war.“

Eikichi Otomo nickte. Ja, das hatte der tapfere, alte Mann. Er war einer der ersten gewesen, der der UEMF Hilfe angeboten hatte, als der OLYMP von dem Resonator-Torpedo eingefroren worden war. Und er hatte nicht gezögert auf die AURORA und damit in UEMF-Dienstverhältnisse zu wechseln, als ihm der Posten als Admiral der Begleitflotte angetragen worden war.

Nein, dieser Mann war Amerikaner, aber in erster Linie Weltbürger.

„Wir werden der Sache Zeit geben müssen, um zu erkennen, wie viele so denken wie Sie, Admiral. Und wie viele der Linie von Wilson folgen werden.“

„Ich befürchte ein Schisma.“ Richards grunzte ärgerlich. „Wieder mal.“

Er spielte natürlich auf den amerikanischen Bürgerkrieg an, das war Eikichi klar. Damals hatten der reiche Süden und der Hochindustrialisierte Norden um die Vorherrschaft im Land gekämpft. Ein Bürgerkrieg war sicherlich das Schlimmste, was diesem Land passieren konnte.

„Wir könnten dieses Schisma provozieren“, gab der dritte Mann zu bedenken.

„Abgelehnt, Admiral Acati. Ein Bürgerkrieg im militärisch stärksten Land auf der Erde ist das letzte was uns nützt.“

„Aber wir dürfen uns auch nicht von ihnen gängeln lassen“, gab der Naguad zu bedenken. „Wenn Sie mir erlauben würden, Marine-Einheiten einzusetzen, dann…“

„Und die Vorurteile, die Wilson verbreitet auch noch bestätigen? Nein, das würde unserer Sache, das würde der Verteidigung der Erde überhaupt nicht dienen. Vergessen Sie nicht, Acati, der Core ist bereits in diesem System.“ Eikichi grinste schief. „Andererseits können wir uns wirklich nicht gängeln lassen. Admiral Richards, führen Sie Plan Fahrstuhl aus.“

„Jawohl, Sir. Bekommen unsere Einheiten Feuererlaubnis?“

„Sie dürfen sich angemessen verteidigen.“

Richards nickte. „Verstanden, Executive Commander.“

***

Zwei Stunden später bremste die BISMARCK, die bisher einen stabilen Orbit in einhundert Kilometer Höhe um die Erde eingehalten hatte, scharf ab. Zeitgleich taten dies auch die SUNDER, die PRINZ EUGEN, die SCHARNHORST und fünfzehn weitere Schiffe der Zerstörer- und Fregattenklasse.

Die Reduzierung der Fluggeschwindigkeit bedeutete die Störung des stabilen Orbits. Da die BISMARCK Geschwindigkeit reduziert hatte, bedeutete dies, dass eine Kraft, die Fliehkraft, die sie bisher im Orbit gehalten hatte, nicht mehr auf sie wirkte.

Dafür wirkte die andere Kraft, die Schwerkraft, umso stärker auf das Schiff ein.

Die Antigravitationseinrichtungen der BISMARCK verhinderten, dass das Schiff zu schnell in die Atmosphäre einsank und als gigantischer Feuerball beim Aufschlag auf die Erdatmosphäre verglühte. Auf diese Weise wurde die Reibung minimiert, und die Luftschicht der Erde wirkte nicht länger wie eine massive Stahlwand auf den riesigen Kreuzer.

Eine halbe Stunde nach Manöverbeginn war das Schiff um zwanzig Kilometer abgesackt und hielt nun einen stabilen Orbit ein, das bedeutete, dass die BISMARCK permanent über dem gleichen Punkt der Erdoberfläche blieb. Nun sank das Schiff mit zwölf Kilometern die Stunde weiter ab. Drei Fregatten begleiteten den Abstieg des Kreuzers in nächster Nähe.

Neun Stunden später befand sich die BISMARCK bereits in der Troposphäre der Erde und sank immer noch tiefer. Unter dem Schiff breitete sich die beeindruckende Salzwüste Kaliforniens aus. Hier unterhielt die UEMF direkt neben dem legendären Camp David eine eigene Einrichtung, und die vier Schiffe, die aus dem Orbit herabkamen, setzten allergrößte Anstrengungen und Unmengen von Energien darauf an, im Luftraum des UEMF-Stützpunktes zu bleiben.

Nun wurde es Zeit, für den Fall der Fälle die eigenen Mechas auszuschleusen. Die Eagles, Hawks und Sparrows der BISMARCK nahmen Verteidigungspositionen ein, verließen aber den Bereich des Stützpunktes nicht. Im Gegenzug wagten es die amerikanischen Mechas, die sie nun begleiteten, nicht diese imaginäre Grenze zu überschreiten.

Captain Roger Smith grinste still. Die Stützpunkte der UEMF galten als autarkes Staatsgebiet, deshalb hatte Wilson sie auch noch nicht angreifen lassen, bevor er nicht wusste, wie die anderen Staaten wir Russland und die EU reagieren würden.

Natürlich galt das auch für den Luftraum. Ein Kriegsschiff, das direkt aus der Mesosphäre auf das Gelände herabstieg, war permanent in UEMF-Luftraum und konnte damit unmöglich das Überflugverbot verletzen, welches für die U.S.A. galt. Eigentlich eine geniale Idee, aber sehr schwierig auszuführen. Die besten Piloten der UEMF waren hiermit beauftragt worden, und dennoch hatten viele dieses Manöver bestenfalls im Simulator ausgeführt.

Aber um einem Machtbesessenen Kerl wie Wilson eins auszuwischen war Smith jedes Opfer Recht. Er verspürte gegenüber diesem Präsidenten nicht einen Hauch Loyalität. Für das amerikanische Volk hingegen schon, und diesen Menschen nützte er am meisten, solange er eine hohe Position in der UEMF bekleidete und die Erde verteidigen half.

Die BISMARCK setzte sanft auf der provisorischen Landefläche auf. Sofort schleuste der Kreuzer Truppen und Techniker aus. Die drei Fregatten verfuhren ebenso.

Smith hatte sehr klare Anweisungen. Kein Mann durfte zurückbleiben. Material, dass er nicht abtransportieren konnte, musste zerstört werden. Die Gebäude waren zu verschonen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass die UEMF jemals hierher zurückkehren würde.

Und all das musste geschehen, ohne Porzellan zu zerschlagen, ohne den hochmütigen Stars and Stripes-Piloten eine Lektion zu erteilen.

Eine Bewegung am Rande seines Sichtfeldes nahm den Kapitän kurz ein. Auf einem der Bildschirme war der Phoenix vorbei geflogen, der neueste Mecha, der UEMF. An Bord war Colonel Ataka, einer der absoluten Top-Piloten. Wenn seine Landsleute wirklich den Versuch wagten, sich mit der UEMF anzulegen, würden sie zwei Dinge schnell fürchten lernen: Den Phoenix mit seiner überragenden Bewaffnung und seinem hervorragenden Kampfpiloten und die Fähigkeit des Phoenix, Kommandofunktion zu übernehmen.

„Wir beginnen die Evakuierung des UEMF-Stützpunkts Kalifornien“, sagte er bestimmt und löste damit geordnete Hektik in seiner Zentrale aus.

***

An einem anderen Ort auf der Erde war gerade Nacht. Genauer gesagt Mitternacht. Im Schutze dieser Tageszeit, die in einem gesitteten japanischen Vorort natürlich eine gewisse Ruhe und Stille bedeutete, lauerten acht junge Menschen auf ihre Chance, auf die Chance. Ihr Plan war einfach und narrensicher. Sie hatten vor, Admiralin Sakura Ino aus ihrem Haus zu entführen und damit ausdrücklich klar zu machen, dass die Welt nicht damit einverstanden war, dass Akira Otomo sich selbst zum König krönte. Auf eine Seite mit den imperialistischen Amerikanern wollten sie sich nicht stellen und Sakura Ino sollte auch kein Haar gekrümmt werden, wenn es sich vermeiden ließ. Sie brauchten nur den Schock, den Augenblick, das Bewusstsein, dass es Menschen gab, die sich gegen die Bevormundung durch die Naguad wehrten.

Edward saß vorne im Lastwagen und beobachtete den Haupteingang, während die anderen im Laderaum saßen und sich auf den Einsatz vorbereiteten. Sie hatten keine tödlichen Waffen dabei, aber genügend technische Ausrüstung, um auf das Gelände zu gelangen. Dazu kamen Elektroschocker und ein großzügig dosiertes Betäubungsmittel, um die Admirälin so lange auszuschalten, bis sie es in ihr Versteck geschafft haben. Alles was sie nun noch brauchten war eine Admirälin, die nach Hause kam. Doch es war still, so unendlich still.

„Immer noch nichts?“, fragte Torsten ungeduldig.

„Immer noch nichts.“ Edwards Stimme klang gelangweilt, sehr gelangweilt. Nun, er war ja auch schon seit fünf Stunden auf diesem Posten. Ob ihn jemand ablösen sollte?

„Moment, jetzt tut sich etwas!“

Unruhig sprangen die anderen auf, drängten sich an der kleinen Sichtluke.

„Was kannst du erkennen? Kommt sie nach Hause?“

„Oh Scheiße. Das sind Kommando-Soldaten! Richtige Kommando-Soldaten! Sie versuchen über die Mauer zu klettern und durch die Vordertür einzudringen! Und sie haben Maschinenpistolen dabei!“

„Wer ist das? Ein Team der Amerikaner?“

„Müssen wir nicht die Polizei rufen? Die haben bestimmt nicht vor, Ino nur zu entführen“, warf Laury ein.

„Ja, klar, und dann fragen die Bullen uns gleich, was wir um diese Uhrzeit mit einem Lastwagen gemacht haben.“

„Aber können wir das zulassen?“

„Ich weiß nicht genau wie Ihr dazu steht“, knurrte Edward, „aber wenn wir denen auffallen, werden sie uns töten, so ganz nebenbei, weil wir unliebsame Zeugen sind! Ich starte den Motor und hau hier ab!“

„Wir können doch nicht verschwinden! Was ist mit unserem friedlichen Protest?“

„Der hat sich gerade erledigt, Mädchen. Aber wenn du willst, kannst du gerne da rausgehen und dich töten lassen! Da! Sie dringen ein! Die wollen Blut, ohne Zweifel. Es ist als könnte ich das bis hier fühlen! Ich starte jetzt. Moment, was… DIE KOMMEN ZU UNS! NEIN! NICHT SCHIEßEN! ICH…“

„Edward! Edward, was ist los? Edward!“

Schüsse klangen auf, Schreie hallten durch die Nacht. Torsten starrte angestrengt durch die Sichtluke, aber außer Lichtschein konnte er nichts erkennen. Dann wurde das Heck des Lasters aufgerissen und die sieben Studenten sahen in die Mündungen von Automatikwaffen.

„Das war es dann wohl“, murmelte Torsten. Im Angesicht des Todes war er unendlich ruhig geworden.

Die Bewaffneten drangen ein und bevor es sich die Studenten versahen, begannen sie damit, die jungen Leute zu überwältigen und auf Waffen zu durchsuchen. Auch Torsten wurde gegen eine Wand gedrückt und auf Waffen kontrolliert, während sich ein Kabelbinder schmerzhaft in seine Handgelenke schnitt.

„Kindergarten ist sicher“, klang eine Frauenstimme auf. Es klang spöttisch, geradezu amüsiert.

Die Sprecherin nahm ihre Kapuze ab. Zum Vorschein kam das Gesicht einer hübschen Südländerin mit Kurzhaarschnitt, die jeden einzelnen der sieben Studenten amüsiert betrachtete. „Soviel zu eurem Entführungsplan. Euer Pech, das ihr mitten in eine Militäroperation der Kronosier geraten seid. Ihr könnt eurem Kumpel danken, dass er uns rechtzeitig über diesen Wahnsinn informiert hat. Hätten wir nicht gewusst, wer ihr seid, wären vielleicht ein paar getötet worden, so wie die da draußen.“

Die Italienerin deutete in Richtung des Anwesens, wo noch immer Schüsse aufbellten.

„Sie haben diesen Angriff erwartet“, stellte Torsten fest.

„Ja. Und ihr Idioten seid mitten rein gerasselt. Ihr könnt von Glück sagen, dass wir schneller waren als der Trupp, der euch als lästige Mitwisser töten sollte.“

In der Tür erschien Edward. Er war reichlich bleich, aber zumindest lebte er noch. Zudem war er ungefesselt. „Das war verdammt knapp, Gina. Eine Sekunde später, und mir hätte nicht mal meine Weste geholfen.“

„Tadel mich nicht, immerhin lebst du noch. Außerdem mussten wir so lange zögern, um auch den Kommandoposten zu identifizieren. Kitsune kümmert sich gerade darum.“

„Du warst das? Du hast uns verraten?“, rief Torsten aufgebracht.

„Nein, du hirnverbrannter Idiot. Ich habe euch nicht verraten, sondern eure Leben gerettet.“ Edward deutete zum Haus herüber. „Dort hinten werden die Attentäter gerade von der Elite der UEMF zerlegt. Und die meisten von ihnen wohnen in diesem Haus! Ein kleiner Haufen wie ihr wäre von ihnen binnen weniger Sekunden vernichtet worden, egal wie friedlich euer Protest ist und egal dass ihr keine tödlichen Waffen einsetzen wollt! Du hast dich zu weit vorgewagt, Torsten! Du hast alle zu weit vor gerissen! Ihr hättet alle sterben können, geht das in deinen verdammten Dickschädel hinein?“

„Es hätte aber auch klappen können, wenn du nicht gewesen wärst“, knirschte der Student.

„Hätte es nicht. Dieser Bereich wird von einhundert Einsatzagenten überwacht. Permanent stehen vier Mechas auf Abruf bereit, sowie fünf Hundertschaften Infanterie, um dieses Haus zu verteidigen. Falls die Agenten vor Ort nicht ausreichen. Außerdem wären da noch acht Kampfhubschrauber, die Sensoren und natürlich einige der besten Soldaten der UEMF, die ohnehin in dem Haus wohnen. Noch Fragen?“

„Um es einfach auszudrücken: Ihr hättet es vielleicht geschafft, die Türklingel zu drücken. Vielleicht.“

Torsten brummelte unzufrieden.

„Was passiert jetzt mit uns?“, fragte Laury ängstlich. Die anderen Studenten sahen auf.

„Nun“, begann die Frau namens Gina, „da Ihr keine tödlichen Waffen dabei habt, gehen wir davon aus, dass ihr nicht zum kronosischen Kommando gehört. Wir werden das untersuchen, aber wenn es wirklich keine Verbindungen gibt, werden wir euch wieder auf freien Fuß setzen. Bis jetzt habt ihr nichts falsch gemacht.“ Gina sah den Mann neben sich an. „Du bist zu sanft mit ihnen, Edward.“

„Jeder darf mal einen Fehler machen. Hauptsache er lernt daraus.“

***

Es ist nicht leicht, etwas zu tun, was gegen die eigene Überzeugung ist. Das habe ich und das hatte ich immer geglaubt. Zugleich war ich mir aber auch immer sicher, dass dies nur eine Fußnote in meinem Leben war – in dem Punkt hatte ich mich geirrt, als ich erwachte und feststellen musste, dass mich Aris, nicht mein Onkel, sondern dieses kleine gerissene Biest welches den Core verwaltet, durch ein halbes Dutzend Träume gejagt hatte. Nicht um mich zu manipulieren. Sondern um zu wissen wie ich ticke, funktioniere, arbeite.

Was immer sie dabei herausgefunden hat, es scheint ihr gefallen zu haben. Ich meine, Hey, sie hatte mir gesagt, ich wäre nicht so perfekt wie sie es sich gewünscht hatte, aber gut genug, um das gesamte Core-Militär zu übernehmen.

Seither habe ich mich oft gefragt, ob es wirklich genetische Veranlagung gibt.

Ich, ein Mischling, ein Hybride, ein kosmischer Mulatte, der Naguad-Gene, Iovar-Gene, Menschen-Gene und was weiß ich noch in sich vereint, war ich ein ungeschliffenes, unendlich kostbares Juwel? Sagte mir meine DNS, dass ich mit diesen Erbveranlagungen unbedingt ein Supermann werden musste?

War ich das ultimative Zuchtprodukt meiner Familie? War ich dazu erschaffen worden, so verdammt gut zu sein?

Ich betrachtete in letzter Zeit häufig meine Hände. Ich meine, mein Körper wurde mit Sicherheit in einen Biotank verfrachtet, während mein KI auf kosmischer Reise war, mein Verstand befand sich im Paradies der Daina und Daima, und die Hände die ich ansah waren nichts weiter als die Ergebnisse der Arbeit eines gigantischen Großrechners, durch dessen virtuelle Welt ich mich bewegte.

Die Hände waren nicht da, das war das grausame Fazit. Dennoch sahen sie genauso aus wie die meinen, sie fühlten sich so an und als ich einmal hinein gebissen hatte, einfach nur um zu sehen was passiert, hatte ich mir eine blutende Schmarre gebissen.

Dennoch standen sie sinnbildlich für das, was mit mir passiert war. Mein Verstand war hier, oder vielmehr mein KI, aber mein Körper war woanders.

Damit fehlte mir auch mein Herz… Und das war immer und überall stets bei meinen Freunden, bei meinem Mädchen.

Als ich aus der Abfolge der Tagträume entlassen worden war, als ich das Kommando erhalten hatte, da war meine erste Amtshandlung gewesen, die Schutzeinheit im Sektor Sol-System zu kontaktieren und mir eine Live-Sendung von der Erde einzuspielen. Es waren Nachrichten gewesen, und durch die Zeitverzögerung waren sie schon lange veraltet, fast achtzehn Stunden kalter Kaffee, aber das Datum welches genannt worden war hatte mich beruhigt.

Ich war keine fünf Jahre oder noch länger in meinen Träumen fortgesperrt gewesen. Ich war auch kein ganzes Jahr weg gewesen. Es war ein Vierteljahr, und damit konnte ich leben.

Meine Angst, ein Jahrhundert hier gefangen gewesen zu sein, war grotesk groß gewesen, ebenso meine Angst, Megumi und meine Freunde nicht mehr wieder zu sehen.

Hundert Jahre waren nicht das Ende des Lebens für einen Naguad, aber die meisten meiner Freunde waren normale Menschen. Selbst wenn die KI-Meister unter ihnen ihre Leben verlängerten, unsterblich wurden, es gab genügend, die nicht so lange leben konnten, um mich nach einhundert Jahren noch einmal zu sehen.

Es hatte mich beruhigt. Die Nachrichten hingegen hatten mich aufgeregt. Zerfiel die UEMF? Ausgerechnet jetzt, wo die Zeichen ohnehin auf Sturm standen?

Und in dieser Zeit, in der meine Heimatwelt mich am meisten brauchte, kämpfte ich für den Core? In einer Zeit, in der Megumi mich brauchte?

Alles was ich tun musste war zu befehlen, dass mich ein Core-Schiff zu meinem Körper brachte. Dort würde ich aus einem Kommandanten-Cyborg problemlos in meinen Leib zurückkehren können. Aber obwohl ich diese Befehlsgewalt hatte, tat ich es nicht.

Was waren meine Beweggründe? Wollte ich die Truppenstärke des Cores erkunden? Seine Schwachpunkte? Die Position seiner Welten? Oder ging es mir um all das – und um die Chance, die Anführer des Cores einzuschätzen?

Nein, das war es nicht, wenngleich mich die Menschen, die im Paradies lebten – ja, Menschen – beeindruckt hatten.

Es gab einen wichtigeren, schwierigeren und tödlicheren Grund für all das. Für die Isolation der Erde, die ich durchbrochen hatte. Für den Krieg zwischen Naguad und Iovar, der nie wirklich beendet worden war. Den wichtigsten Grund, den ich mir vorstellen konnte: Das Liberty-Virus.

Aris hatte mir tatsächlich Hinweise gegeben, als sie mich diese Traumwelten hatte erleben lassen. Hinweise, Fingerzeige, Daten und Fakten, die sich nach und nach in meinem Geist zu einem Bild zusammen fügten. Und dieses Bild wirkte wie von einem Wahnsinnigen gemalt.

Noch war es nur ein löchriges Mosaik, aber ich glaubte das Thema erkennen zu können. Und wenn mein Verdacht zutraf, wenn ich wirklich erkannt hatte, was ich bereits jetzt aus den löchrigen Fakten erahnte, dann steuerten die Daina auf eine riesige Katastrophe zu, an deren Ende die Vernichtung aller besiedelten Welten stehen würde.

Ich brauchte Fakten, unglaublich viele Fakten. Und ich glaubte daran, diese Fakten auf der ehemaligen Core-Welt Raegi zu finden.
 

„Akira, bist du so weit?“

Ich sah auf. „Maltran.“

„Du warst in Gedanken versunken. Entschuldige, dass ich dich gestört habe.“

„Schon gut. Die Vorbereitungen sind also abgeschlossen.“

„Ja, Akira. Wir haben den Körper für dich vorbereitet. Er wird gerade aus dem Biotank genommen. Aber ich bin immer noch der Meinung, du solltest einen Offiziers-Cyborg nehmen.“

Bedächtig schüttelte ich den Kopf. „Nein, die Iovar sind Meister des AO. Sie werden einen Robot nicht akzeptieren. Nur ein Wesen aus Fleisch und Blut. Und Laysan hat mich bereits einmal transportiert.“

„Ich halte es immer noch für ein verantwortungsloses Risiko. Deshalb begleite ich dich ja auch.“

Langsam legte ich eine Hand auf die Schulter des anderen, auch wenn dies nur eine Virtuellwelt war. „Und dafür danke ich dir.“

In den wenigen Wochen, in denen wir zusammen arbeiteten, waren wir Freunde geworden. Und ich fürchtete den Tag, an dem ich meine Pflicht über diese Freundschaft stellen musste.

„Dann loggen wir jetzt aus dem Paradies aus“, sagte er mit einem Lächeln.

Übergangslos wurde meine Welt schwarz.
 

4.

„Vitali Andrejewitsch Kuratov!“ Der groß gewachsene Blondschopf schien für einen Moment unschlüssig was er zu tun hatte. Schließlich rang er sich zu einer Verbeugung durch.

Megumi Uno hob eine Augenbraue. „Oberst, das ist kein sehr militärisches Verhalten.“

Der Mann verharrte in der Bewegung als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. „E-entschuldigen Sie, Division General, aber im Moment bin ich mir noch nicht ganz sicher, was ich zu Ihnen sagen soll.“

„Division Commander klingt doch ganz gut für den Anfang. Lady Death ist mir auch Recht. Und wenn sie mich Megumi nennen wollen, würde mich das freuen, Vitali Andrejewitsch.“

Erschrocken riss der Mann beide Augen auf. Die russischen Soldaten hinter ihm raunten.

„A-aber…“

„Vitali Andrejewitsch, wir haben zusammen über New York gekämpft. Wir haben über Peking gekämpft und wir haben eine Abwehrschlacht über dem Kaukasus ausgetragen, um die Kronosier von einem Angriff auf Moskau abzuhalten. Kameraden, die mit mir ihr Leben riskiert haben, dürfen mich jederzeit bei meinem Vornamen nennen.“

Der große Mann schniefte und zwinkerte eine vereinzelte Träne fort. „Division Commander, Ihre Worte ehren mich. Und ich freue mich, dass Sie sich noch an mich erinnern. Aber in diesem Fall muss ich Sie mit Ihrem Rang anreden, Ma´am. Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel.“

Die anwesenden Offiziere der Zentralebesatzung des OLYMP nickten zustimmend.

„Ma´am, meine Regierung hat mich ausgesandt, damit die Roten Falken ab sofort unter Ihrem Kommando stehen. Setzen Sie uns ein wo immer Sie wollen.“ Vitali schwieg für einen Moment und sammelte Kraft für seine nächsten Worte. „Präsident Wilson hat Premier eingeladen, sich der Allianz gegen Haus Arogad anzuschließen.“

Wieder raunten die UEMF-Offiziere. „Die Entsendung der Roten Falken sollte deutlich genug zeigen, was wir von diesem Vorschlag halten. Ma´am, verfügen Sie über mich und mein Bataillon.“

„Ich danke Ihnen für diesen Vertrauensbeweis, Vitali Andrejewitsch. Sie und die Roten Falken sind auf dem OLYMP mehr als willkommen. Sie kennen sicherlich noch Colonel Makoto Ino?“

„Natürlich, Division General! Ich bin nicht so töricht, den legendären Top-Piloten Zeus zu vergessen, das Rückgrat der alten Hekatoncheiren. Wie geht es Ihnen, Sir?“

„Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen, Vitali Andrejewitsch. Wir sind ranggleich. Und Sie sind zudem dienstälter. Sagen Sie einfach Mako zu mir.“

Der kleine Halb-Naguad und der riesige Russe tauschten einen freundlichen Händedruck aus.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen und ihren Leuten ein wenig den OLYMP. Anschließend gehen wir den Bereitschaftsplan durch und wir besprechen den Dienst. Sie kommen genau zur rechten Zeit, denn im Moment ist der OLYMP durch die Evakuierungsaktivitäten in den Staaten verletzlicher denn je. Oder anders ausgedrückt: Wir können die Roten Falken bitter gebrauchen.“

Diese Worte lösten freudige Zwischenrufe aus. Die Russen waren hellauf begeistert.

„Ma´am, darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit gleich meine Stellvertreterin vorstellen? Major Brinkmann ist…“

„Ich weiß. Wir waren zusammen auf dem Mars.“ Megumi schüttelte der verlegenen Russin die Hand. „Es ist viel zu lange her, Elena.“

„Es kann niemals so lange her sein, dass ich je vergessen würde, Megumi. Verlass dich auf mich“, flüsterte die Frau.

„Ich danke dir dafür.“

***

„DER NÄCHSTE!“

Mit einem gewissen Unbehagen erhob sich ein Kendoka, setzte seinen Men auf und trat auf die Kampffläche. Sein Gegner hatte nun schon sieben Siege in Folge erzielt und schien nicht ein kleines bisschen erschöpft.

Er betrachtete kurz die Unterschiede zwischen sich und dem Gegner. Er war eins neunzig groß, wog einhundert Kilo und war zudem Kampfpilot eines Hawks.

Sein Gegner war irgendwo in der Mitte von eins sechzig, wog bestenfalls fünfzig Kilo und steuerte einen Sparrow. Die Chancen sollten eigentlich auf seiner Seite sein. Aber die junge Frau, die in der klobigen Rüstung vor ihm stand, hatte in sieben Kämpfen nur viereinhalb Punkte abgegeben. Sie, das war Yohko Otomo, die derzeitige offizielle Vertreterin des Hauses Arogad und zweite Stellvertreterin der Hekatoncheiren. Und im Moment – eigentlich schon die ganze Woche – war sie mit ihrer resoluten, robusten und penetranten Art ein Schmerz im Arsch für das gesamte Kottos-Regiment.

„BEGINNT!“

Die anderen Gegner hatte Yohko heran kommen lassen, darauf setzte er nun auch, wartete auf eine Lücke in ihrer Abwehr. Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht, sondern attackierte direkt nach der Freigabe.

Bevor er es sich versah, hatte er einen Treffer am Helm eingesteckt.

Der Schiedsrichter rief sie wieder in die Ausgangspositionen, eröffnete den Kampf erneut und bevor er es sich versah, lag ihr Shinai an seiner Kehle.

Wütend riss sich Doitsu Ataka den Men vom Kopf. „Verdammt, Yohko, was ist los mit dir?“

„Was soll los sein? Ich habe nur eine Strähne, das ist alles!“

„Verkauf mich nicht für dumm! Dieses Training, deine Dienstauffassung, einfach alles schreit doch geradezu, das etwas nicht mit dir stimmt! Warum schleifst du die Leute so? Wir sind bereits die Besten!“

„Ist es schlecht, wenn man noch besser werden will? Außerdem ist das Kendo freiwillig. Ich zwinge niemanden dazu, hier…“

„Hier Kanonenfutter für dich zu spielen? Komm, selbst ein Blinder sieht doch, dass mit dir etwas nicht stimmt. Es wundert mich, dass Yoshi noch nicht aufgetaucht ist, um dir den Hosenboden stramm zu ziehen!“

„Vorsicht, ich bin Ihre Vorgesetzte, Major Ataka!“

„Lieutenant Colonel Ataka, schon vergessen? Und kehre hier nicht das Dienstverhältnis vor, wenn ich mir Sorgen um dich mache! Was ist es? Machst du dir wieder Sorgen um Akira? Steigt dir die Arbeit über den Kopf? Ich bin dein Untergebener und ich bin dein Freund! Ich bin dazu da um dir zu helfen, wenn es dir schlecht geht! Ich bin dazu da, um dir zu zu hören. Yohko, warum verausgabst du dich so sehr? Warum drillst du die Leute bis sie umfallen? Das passt doch alles nicht zu dir.“

Wütend riss sie sich ebenfalls den Men vom Kopf. „Warum sagst du nicht einfach, dass du nicht verlieren kannst? Predigen Sie jemandem, den es interessiert, Reverend!“

„YOHKO!“, rief Doitsu aufgebracht und griff nach ihrem Handgelenk.

„Einem anderen als dir hätte ich schon die Hand gebrochen, mit der er mich festhält“, zischte sie wütend.

Doitsu sah sie ernst an. „Nein, das hättest du nicht und das würdest du nie. Verstehst du jetzt endlich, dass etwas mit dir nicht stimmt?“

Wieder sah sie ihn wütend an, dann verletzt. „Es… Es…“

„Ist es Akira? Oder jagt Yoshi dich wieder mit dieser kleinen Box? Ist es die Verantwortung?“

„Nein, es… Es…“ Verlegen sah sie zu Boden. „Entschuldige, Doitsu-chan, ich wollte nicht… Ich wollte mich nicht so aufführen wie ich es getan habe. Aber ich dachte, wenn ich hart arbeite, wenn ich wirklich an mir und meinen Kottos feile, dann fällt es vielleicht nicht mehr so ins Gewicht, dass ich absolut kein Talent für KI habe.“ Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. „Was unterscheidet mich so sehr von Akira? Warum hat er diese Fähigkeiten und ich nicht? Warum geht es nicht? Sind es die Elwenfelt-Gene? Oder bin ich einfach unfähig?“

„Jeden anderen der es gewagt hätte, dich unfähig zu nennen würde ich jetzt niederschlagen. Und jeder andere in diesem Raum auch.“

Die anwesenden Piloten der Hekatoncheiren erhoben sich teilweise und murmelten ihre Zustimmung. „Deshalb hör auf, so einen Quatsch zu reden. Du bist jung, weit jünger als ich. Und dennoch erkenne ich dich als meine Vorgesetzte an. Ich bin nicht nett genug, um jemanden über mir zu dulden der schlechter ist als ich, das solltest du wissen. Und ich bin nicht eng genug an die UEMF gebunden, um nicht notfalls alle Brocken hinzuschmeißen, wenn mir etwas nicht passt. Du bist eine gute Pilotin und eine gute Anführerin. Wir alle respektieren dich. Egal ob du dein KI beherrschst oder nicht.“

„Aber Akira ist so mächtig mit seinem KI, und ich… Und ich… Warum denke ich so oft, dass es vielleicht richtig so ist? Dass ich mein KI nicht beherrschen sollte? Dass ich meinen Bruder nicht einholen, nicht überflügeln darf?“

„Ich bin sicher, Yohko, Akira wäre der erste, der dir gratulieren würde, wenn du besser geworden wärst als er. Yohko, denke nicht an KI. Wir haben viele hervorragende Soldaten in unseren Reihen, die auch ohne KI beispielhaft sind und ihren Weg gehen. Dein Bruder mag KI beherrschen, aber dein Vater ist mit seiner KI-Kontrolle miserabel, sonst hätte ihn der Resonanztorpedo damals auf dem OLYMP nicht eingefroren. Es liegt also auch in der Familie.“ Doitsu wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung fort. „Nein, Yohko, du wirst jetzt nicht das bisschen KI-Kontrolle über das Eikichi verfügt als Argument verwenden. Denn bevor du dich beschwerst, dass du dein KI nicht verwenden kannst, muss ich dich was fragen: Denkst du wirklich, die KI-Kontrolle wurde deinem Bruder in die Wiege gelegt? Oder mir? Oder Yoshi?“

„Nein.“

„Und denkst du wirklich, dass sie dir einfach verliehen wird, nur weil du tolle hellblaue Augen hast?“

„Nein.“

„Und warum reitest du lieber darauf herum, dass du dein KI nicht kontrollieren kannst, anstatt dir von einem KI-Meister in der Ausbildung helfen zu lassen?“

„Weiß nicht. Zuviel zu tun. Immerhin muss ich mit Megumi ein ganzes Sonnensystem verwalten.“

„Yohko“, mahnte Doitsu streng.

„Ist ja gut. Was würdest du mir raten?“

„Futabe-sensei ist noch immer auf der AURORA. Sobald wir aufgebrochen sind, wirst du dich zu einigen Sitzungen mit ihm treffen, verstanden? Und dann werden wir mal sehen, ob wir dir nicht etwas beibringen können. Okay?“

„Okay. Und danke, Doitsu-chan. Du bist ein echter Freund.“

Der hoch gewachsene Mann aus einer Yakuza-Familie strich der jungen Frau vollkommen unmilitärisch über ihr Haar. „Ist in Ordnung, Yohko. Ich finde es einfach nur gut, wenn ich auch mal für dich da sein kann.“

In dieses traute Bild platzte eine Lautsprecherdurchsage: „Die Hekatoncheiren bemannen sofort ihre Mechas! Ich wiederhole, die Hekatoncheiren bemannen sofort ihre Mechas! Über dem nordamerikanischen Kontinent sind Kämpfe ausgebrochen!“

Die beiden wechselten einen schnellen Blick. Die anwesenden Piloten reagierten sofort und sprangen auf. Und allen ging ein Gedanke durch den Kopf: Brach nun alles zusammen, was sie so mühevoll erkämpft hatten?

***

„Hier kommen sie.“ Daisuke Honda grinste abfällig, als von den Stars and Strikes, die rund um das UEMF-Gelände patrouillierten, eine Wand aus Raketen auf sie zuraste.

„Condor eins, hier Condor eins. Treibsand eins, hören Sie?“

„Treibsand eins hier. Ich höre dich laut und deutlich, Mako.“

„Okay, mein Freund, dann sperr die Lauscher auf. Ich nehme zweihundert Mechas in Fernkoordination. Die Raketen überschreiten in acht Sekunden die Grenze auf unser Gebiet.“

„Bestätigt.“

Daisuke hatte kaum ausgesprochen, als sein Raketenabwehrsystem begann, Feuer und Blei zu spucken. Mit und neben ihm erwachten Dutzende Abwehrsysteme weiterer Mechas zum Leben. Die Mahlstrom-Luftabwehrpanzer begannen, ebenfalls koordiniert von dem Long Range Area Observer in einhundert Kilometern Höhe über dem Gelände.

„Warum haben sie überhaupt das Feuer eröffnet? Sie müssen doch wissen, dass das Wahnsinn ist.“

„Nun, entweder liegt es daran, dass ein Bataillon Hawks die Belagerer verstärkt hat“, resümierte Makoto, „oder daran, dass wir hier beinahe fertig mit dem Aufbau sind und das Pentagon einfach keinen Vorwand findet, um uns anzugreifen, weshalb sie jetzt einfach frustriert auf die Feuerknöpfe drücken, hoffen zu gewinnen und die Geschichte dann so erzählen wie es ihnen genehm ist.

Oder, als dritte Variante, es liegt daran, dass Robert Kazama, ehemals Lieutenant der Hekatoncheiren und bis vor wenigen Sekunden Lieutenant Colonel der Air Force, den einzigen Phoenix im Besitz der Amerikaner gestohlen hat, um mit ihm zur UEMF zu desertieren.“

Daisuke pfiff anerkennend. Von einem Hekatoncheiren, selbst von einem Ehemaligen, der zudem im Temporalfeld gefangen gewesen war, erwartete er Schneid und Hingabe für die gesamte Menschheit. Aber dass sich der japanischstämmige Amerikaner für die UEMF und gegen sein eigenes Militär entschieden hatte, war eine sehr mutige Entscheidung. Zudem entzog er so den Phoenix, ihren derzeit stärksten Mecha, dem Zugriff ihrer Gegner. Denn nichts anderen waren die Amerikaner im Moment. Gegner.

Auch wenn dieser Gedanke schmerzte. Auch wenn die Kämpfe über New York und anderen großen Städten dieses eigentlich wundervollen Landes verraten und verkauft wurden.

„Erste Welle abgewehrt. Jetzt haben sie ja einen Grund, also werden sie sich nicht lange mit Raketensalven aufhalten. Sie werden angreifen, um die BISMARCK und ihre Begleitschiffe am Boden festzunageln. Kriegst du das hin, oder soll ich Hilfe schicken?“

„Schick die Hilfe besser zu den anderen vier UEMF-Stützpunkten. Ich komme klar.“

Daisuke schluckte einmal kurz und wünschte sich für einen Moment, Akira selbst zu sein. Bis er sich daran erinnerte, dass auch Akira nur mit Wasser kochte – was er auch noch anbrennen ließ – und normale Raketen abfeuerte.

Er zog die beiden Herakles-Schwerter von seinem Rücken und atmete aus. „Hergehört, Hekatoncheiren. Wir ziehen uns drei Kilometer aufs Gelände zurück. Das gilt auch für die Mahlstrom-Panzer. Dort erwarten wir den Gegner, damit es keine Fragen gibt, wer zuerst auf wessen Gelände gekommen ist.“

Hinter ihm zerstörte eine Detonation gerade ein Wartungsgerüst und in seinem Helm klangen Dutzendfach die Bestätigungen auf.

Die Zahl der Angreifer war enorm, um nicht zu sagen riesig. Er hatte zweihundert Mechas und vier Schiffe auf seiner Seite, alleine die BISMARCK wäre mehr als genug gewesen, um mit dem Gegner fertig zu werden, wenn sie nicht mit sämtlichen Luken geöffnet auf dem Boden ruhen würde, nicht viel besser als eine Schildkröte auf dem Rücken.

„Genug. Hier erwarten wir sie. Der Angriff wird aus nur einer Richtung erfolgen. Sie werden versuchen, mit purer Masse durchzubrechen und zur Evakuierung zu gelangen. Dort werden sie so viele unserer Kameraden und so viel Ausrüstung wie möglich töten und vernichten. Das darf nicht sein. Verstanden?“

„Roger!“

„Da überschreiten sie die Grenze und befinden sich nun auf offiziellem Territorium der UEMF“, klang Makos Stimme erneut auf. „Viel Glück, mein Freund.“

„Danke.“

Sie jagten heran, feuerten erneut die Raketen ab. Aber wieder waren es die Abwehrgeschütze, die diese Wand lichteten und schließlich aufrieben.

Die Mahlstrompanzer zogen sich noch weiter zurück, es war nun an ihnen, eingeschifft zu werden. Das dünnte ihre Feuerkraft merklich aus.

Unwillkürlich veranlasste Daisuke seinen Phoenix, die Schwerter fester zu umfassen. Nun würde sich bald zeigen, wie gut er mittlerweile geworden war.

„DRAN UND DRAUF!“

„Nicht so eilig!“ Es schien als würde der Daishi Epsilon aus dem Nichts auftauchen. Plötzlich war er da, und nicht nur einfach da, sondern mitten zwischen dem Angriffsstoßtrupp der U.S. Air Force. Der Epsilon zerteilte einen Stars and Stripes mittig, knapp über dem Cockpit, mit einer perfekt geführten Artemis-Lanze. Dann schoss er eine volle Salve Raketen auf den führenden Hawk ab, der dadurch hart zu Boden gerissen wurde und liegen blieb.

„Unbekannte Einheit, was tun Sie da?“, blaffte Daisuke. Verwundert registrierte er, dass der Angriffskeil stockte und schließlich abbrach.

Drei Ausfälle. Vier. Der Mann war gut. Und was noch erstaunlicher war, er vernichtete seine Gegner, ohne die Piloten zu töten. Für einen winzigen Augenblick dachte Daisuke, Akira wäre zurückgekehrt. Aber nur für einen winzigen Augenblick.

„Aber, aber, Dai-chan, ich helfe dir. Darf ich das nicht mehr, so von Haus-Krieger zu Haus-Krieger?“

Die Stimme kannte Daisuke nur zu gut. Er hasste sie längst nicht so sehr wie Akira das vor dem zweiten Marsfeldzug getan hatte. Aber er kannte sie und wofür sie stand. „Henry, was machst du da?“

„Dir helfen. Oder weißt du es nicht zu schätzen, dass ich den Angriff unterbrochen habe? Ihr dürft jetzt übrigens auch mitspielen. Das sind mir doch ein paar zu viel.“

„Henry William Taylor!“, blaffte Daisuke.

Neben dem Epsilon wurde einem Eagle der Sensorkopf abgeschlagen. Verdammt, war der Bursche gut.

„Was ist jetzt, kommt ihr spielen, oder kriege ich den ganzen Spaß alleine?“

Daisuke schnaubte auf. „Dass ich mal froh sein würde, dich in einem Mecha zu sehen… Hekatoncheiren, zum Angriff!“
 

5.

Michi Torah betrachtete den Fernseher aus halb geöffneten Augen. Er wirkte verschlafen, aber das schien nur so. In Wirklichkeit raste sein Gehirn. Es liefen gerade Berichte aus aller Welt, Staaten, die die UEMF verließen und die Stützpunkte schlossen, waren das Thema. Acht autonome Republiken hatten sich den Amerikanern bereits angeschlossen, aber sie setzten ihre Forderungen bei weitem nicht so radikal durch wie es die U.S.-Truppen taten.

Acht von über zweihundert, das war zu verschmerzen, selbst wenn eines dieser Länder das stärkste erdgebundene Militär besaß. Aber was wenn dieses Beispiel Schule machte? Eines war Michi klar, die Amerikaner hatten einen handfesten Komplex, weil sie im Kronosier-Krieg Hilfe der Russen und der UEMF hatten annehmen müssen. Und es lag ihnen schwer auf der Seele, dass der UEMF-Rat das oberste Gremium dieser Institution war, mit Eikichi Otomo als Vorsitzendem und Executive Commander. Sie hatten nicht einen einzigen Vertreter im Rat, und das musste sie seit jeher gezwickt haben.

Es war offensichtlich, dass die Amerikaner diesen Komplex nun versuchen würden auszuradieren. Sie würden ihre Verbündeten versuchen dazu zu bewegen, ebenfalls aus dem Bündnis auszutreten, vor allem die Staaten, die noch immer in der NATO organisiert waren.

Was das westliche Europa anging, so sah Michi nicht viele Chancen. Frankreich war nur lose mit der NATO assoziiert und hatte bereits erklärt, dass es nicht aus der UEMF austreten würde. In Deutschland befanden sich einige der wichtigsten Militärbasen der U.S.A., aber auch die größte der UEMF in Mitteleuropa. Bestenfalls würden sich die Deutschen neutral verhalten, im schlimmsten Fall die Amerikaner vor die Tür setzen, da jene mit dem Austritt aus der UEMF und der Ausweisung der Truppen mehr Verträge gebrochen hatten als Michi Finger an beiden Händen hatte.

Sorgen machten ihm jene Staaten, die kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und kurz vor den kronosischen Offensiven in die NATO gekommen waren. Militärisch gesehen waren diese Republiken nicht viel mehr als Spielbälle der Amerikaner, ihr Militär nicht besonders hoch gerüstet, dennoch würde die amerikanische, regierungsfreundliche Presse jede einzelne dieser Nationen feiern als wäre es Russland selbst, das sich auf ihre Seite schlug.

Sorgenvoll schüttelte Michi den Kopf. Es war nicht so als würde wieder mal der Allmachtsgedanke bei ihnen zuschlagen, das Hegemonie-Prinzip, welches die Amerikaner seit ihrem ersten Präsident Wilson verfolgten. Nicht gegen eine UEMF, die mehr Kampfschiffe im Weltall hatte als die Amerikaner auf dem Wasser. Nicht nur, jedenfalls. Nein, seine größte Sorge war, dass die U.S.A. die Koalition verlassen hatten, weil dies Teil einer größeren Strategie war. Die Reste der kronosischen Organisation? Eine neue Verschwörung? War eines der anderen Häuser der Naguad in der Operation verwickelt, wollten sie den lebensnotwendigen Rückhalt für Akira Otomo in seiner Heimat unterminieren, um innenpolitisch besser da zu stehen? Es gab so verdammt viele Möglichkeiten.

Letztendlich fühlte er sich mehr als unwohl wenn er daran dachte, dass die AURORA schon in wenigen Wochen aufbrechen würde, um Akira zu suchen. Sie würden die Erde allein zurück lassen und… Nein, das war unfair gedacht. Eikichi Otomo, Torum Acati, Admiral Richards, das waren alles sehr fähige Männer, die die Erde schon weitestgehend zusammenhalten würden.

Außerdem waren sowohl die beiden Plattformsysteme als auch der Mars weiterhin fest in der Hand der UEMF und stellten damit ein nicht unbeträchtliches Druckmittel dar. Eikichi konnte die Amerikaner jederzeit vom Nachschub an Helium 3 abschneiden, und der hoch industrialisierte Staat würde das nicht besonders lange durchhalten. Und das war noch der freundlichste Weg, über den der Executive Commander verfügte.

Andererseits hatten die Amerikaner bereits einmal zu überraschen gewusst, nämlich als sie den Stars and Stripe aus dem Hut gezaubert hatten, einen Mecha, der in eine Leistungsklasse mit dem Hawk eingeordnet werden musste, wenngleich seine Modulbewaffnung leicht von Vorteil für ihn war.

Was, wenn das nicht die einzige Innovation war? Was, wenn die Amerikaner sich nun stark genug fühlten, um einen offenen Krieg zu beginnen? Nicht gegen die UEMF, aber gegen die Naguad? Torum Acati würde eine solche Provokation nicht hinnehmen.

Und wie Aris Taral reagieren würde, konnte Michi nicht einmal ansatzweise sagen. Der alte Mann war Sakuras und Makotos Großvater, und er war ein sogenannter Bluthund. Die Bluthunde der Arogads waren, so sagte man, die besten und gefährlichsten Leibwächter aller neun Naguad-Häuser. Und Aris Taral war dazu abgeordnet worden, das Leben seiner Großnichte Yohko zu schützen. Ob der Taral bereits einen Plan in der Tasche hatte, um den amerikanischen Präsidenten… Nun, diesen Gedanken dachte Michi lieber nicht zu Ende, denn egal wie viele Verträge die Amerikaner gebrochen hatten, eine solche Tat würde ein absoluter, nie da gewesener Affront sein, der Dutzende Staaten in ihr Lager treiben würde. So gesehen sollte Aris Taral den Mann besser beschützen.
 

Das Programm wurde unterbrochen, ein Live-Bericht angekündigt. Interessiert setzte sich Michi auf. Das Bild wechselte, zeigte die kalifornische Wüste, ein Stück der BISMARCK und eine ausgewachsene Prügelei zwischen Mechas.

Mittendrin war ein gigantischer Daishi, den Michi auf den ersten Blick als Epsilon identifizierte. Er focht Seite an Seite mit einem Phoenix, und selbst ein Laie wie er selbst konnte erkennen wie hilflos die amerikanischen Hawks und Stars and Stripes gegen diese beiden Gegner waren.

Plötzlich ließen die beiden Mechas von ihren Gegnern ab, flogen zur BISMARCK.

Die anderen Hawks der UEMF gaben ihnen Deckungsfeuer und hielten die amerikanischen Einheiten davon ab, nach zu stoßen. Dann erbebte die Kamera und der Kreuzer erhob sich vom Boden. Dutzende Mechas landeten auf dem Deck der BISMARCK, jederzeit bereit, etwaigen Verfolgern eine blutige Nase zu verpassen.

Na, das war ja ein Klasse Einstand für den neuen Mecha der Amerikaner, der als so überlegen gepriesen worden war. Michi erkannte mehr als fünf von ihnen am Boden. Konnte es etwas Demoralisierenderes geben? Dies hier war nicht Pearl Harbour, aber vielleicht die amerikanische Völkerschlacht bei Leipzig.

Zufrieden schloss der junge Mann die Augen. Es würde schwer werden, sehr schwer. Aber leicht war es für sie ohnehin nie gewesen.

„Schlaf jetzt ja nicht ein“, tadelte Akari und zwickte ihn in die Seite.

„Einschlafen? Ich? Mit der schönsten Frau dieser Welt im Arm? Niemals.“

„Schmeichler“, murmelte sie und schmiegte sich an ihn an.

Alleine das war es wert, durch all den Ärger zu gehen, entschied Michi Torah.

Blieb noch sein persönlichstes Problem. Juichiro Tora, sein Vater…

***

„Bitte lassen Sie mich auf unserer heutigen Sitzung“, sagte Juichiro Tora und ließ seinen Blick über die anwesenden Legaten schweifen, „einen ganz besonderen Gast vorstellen. Sie kennen ihn sicher alle. Es ist Michael Berger.“

Irritiert raunten die Legaten auf. „Wenn das ein Witz war, Legat Tora, dann war es kein besonders guter.“

„Wieso Witz?“ Er drückte einen Knopf auf seinem Tisch. „Bitte lassen Sie Herrn Berger nun ein.“

Hinter ihm öffnete sich eine Tür und der hoch gewachsene Deutsche trat ein.

Erschrockenes Raunen empfing ihn. Einige griffen zu ihren Waffen.

„Keine Sorge, Herrschaften. Ich bin weder bewaffnet noch bereitet sich in diesem Moment ein Einsatzkommando darauf vor, diese Versammlung auszuheben.“ Michael trat ans Fenster, sah hinaus auf die Silhouette einer amerikanischen Großstadt. „Abgesehen davon, dass die UEMF in diesem Land keine wirklich Macht mehr hat. Meinen Glückwunsch, das war ein sehr geschicktes Manöver, Legat Wilson.“

Der Angesprochene versteifte sich. „Was wollen Sie damit sagen, Mr. Berger?“

„Ach, ist Ihnen die andere Anrede lieber, Mr. President?“

„Bitte, lassen wir doch die kleinlichen Sticheleien und kommen zum eigentlichen Grund deines Besuchs, Michael“, bat Juichiro Tora ernst. „Du hattest mir gegenüber ein Bündnis erwähnt.“

„Richtig. Ein Bündnis. Und zwar zwischen dem kronosischen Legat, und meinem Naguad-Haus Fioran.“

„Das ist Verrat!“

„Nicht mehr als das, was Sie hier im Namen von Haus Elwenfelt tun“, konterte Michael. „Also, meine lieben Legaten, wollen Sie sich ansehen, was Elwenfelt in dieses Bündnis einbringen wird?“

Interessiert beugte sich der Vorsitzende Legat, Gordon Scott, der bis jetzt nur zugehört hatte, vor. „Na, dann lassen Sie mal sehen, Michael.“
 

Epilog:

Als der Biotank geöffnet wurde, streckten sich hilfreiche Hände dem kleinen Jungen entgegen. Er hustete und blickte sich irritiert um, aber er lebte und war laut den Anzeigen am Tank gesund.

„Akira?“, hauchte er und sah sich um.

Die hilfreichen Hände gehörten sowohl zu speziell aufgerüsteten Cyborgs, aber auch zu Freiwilligen, die eine gewisse Zeitspanne ihres Lebens außerhalb des Paradies in ihren eigenen Körpern verbrachten.

„Ich bin hier, Laysan“, sagte einer der Cyborgs, unverkennbar als Offizier ausgezeichnet.

Die Helfer halfen dem Jungen, sich abzutrocknen und legten ihm frische Kleidung an.

„Akira, bist du das wirklich?“ Ängstlich sah der junge Naguad an dem großen Roboter hoch.

Der ging in die Hocke und lächelte, soweit es die starren, unfertigen Züge zuließen. „Natürlich bin ich das. Aber ich werde nicht lange in diesem Körper bleiben. Wenn du einverstanden bist, dann verpflanze ich mein AO wieder in deinen Körper. Wir bilden dann wieder ein Team, Laysan. Wäre das in Ordnung?“

Der kleine Junge sah zögerlich in das Gesicht des Cyborgs, dann in die Augen. „Ja, das ist in Ordnung, Akira.“

„Gut.“ Die Augen des Cyborgs leuchteten unwirklich hell auf, dann erhob sich die Maschine und stellte sich selbst in eine Ecke.

Zugleich umhüllte den jungen Laysan eine hell strahlende, weißliche Aura, die mit jeder Sekunde an Intensität zunahm.

Der Junge wuchs, wurde größer, seine Haarfarbe, seine Augen veränderten sich, und nur wenige Augenblicke später stand Akira Otomo an der Stelle, wo vor kurzem noch der kleine Granadar gestanden hatte.

Auf der Brust des Otomos ruhte der schwarze fünfzackige Stern, der ihn zum Oberbefehlshaber über alle Streitkräfte des Cores machte.

„Akira, alles in Ordnung?“ Maltran Choaster, der seit über eintausend Jahren zum ersten Mal wieder in seinem eigenen Körper steckte, sah den Arogad besorgt an.

„Keine Sorge, Maltran. Das hier ist eine Art AO-Rüstung. Laysan befindet sich in der Mitte und schläft.“

„Kostet eine solche AO-Rüstung nicht immens viel Kraft?“, fragte der Iovar zweifelnd.

„Nur, sie zu erschaffen. Danach genügt ein Funke Energie, um sie zu erhalten.“

Akira Otomo klopfte seinem Untergebenen auf die Schulter. „Komm, lass uns diesen unsinnigen Krieg beenden gehen.“

„Ich halte es immer noch für ein unverantwortbares Risiko! Auch wenn ich mich heimlich mit einem Kampfschiff und einem freien Offizierscyborg ins System schleiche, damit du jederzeit eine Rückzugsmöglichkeit hast. Akira, warum riskierst du soviel?“

Der junge Mann von der Erde wandte sich dem Iovar zu. Er schnaubte frustriert. „Der Liberty-Virus, Maltran. Der Liberty-Virus.“

General Choaster erschauderte. Der Halb-Naguad rührte tatsächlich an der größten Gefahr in diesem Universum. Aber seltsam, irgendwie war Maltran Choaster, dass ausgerechnet dieser Mann vor ihm das Wunder vollbringen konnte.

„Akira, warte, du verrückter Kerl!“ Eilig ging er dem Arogad nach.

Leben und sterben

1.

Als Doitsu Ataka in den Vorraum der Intensivstation der UEMF-Hospitalanlage gestürmt kam, lief er dabei fast zwei Schwestern und einen Pfleger um, aber das war ihm egal.

Sein Atem ging schnell, fast panisch, als er die kleine Gruppe Wartender erreichte, die durch ein Sichtfenster in den Intensiv-Bereich hineinsah.

„Wie steht es um sie?“, rief er aus und stürzte zum Zuverlässigsten aus der Gruppe, Makoto.

Der junge Mann sah ihn aus vor Tränen schwimmenden Augen an. „Yohko wird… Yohko wird…“ Seine Augen verschwammen vollends in Tränen.

Doitsu erstarrte. „Nein…“ Er sah zu seiner Freundin Hina Yamada, die vollkommen aufgelöst neben Mamoru Hatake stand. Der große Mann versuchte sie zu beruhigen, aber es war offensichtlich, dass er selbst eine tröstende Hand gebraucht hätte.

Akane, Mamorus Freundin, bemühte sich um Yoshi Futabe, der auf einem Stuhl saß und fassungslos mit der Welt haderte. Sakura Ino diskutierte mit einem Arzt, und jedes zweite Wort war ein derber Fluch.

„Kann mir einer sagen, was überhaupt passiert ist?“, rief Doitsu, um Fassung ringend.

„Wende dich an diesen Quacksalber!“, rief Sakura grimmig, wandte sich von dem harsch protestierenden Mediziner ab und klappte ihr Handy auf. „Admiral Ino hier. Wie lange noch, bis Admiral Acati eintrifft? Zu lang! Er hat in jedem Bereich absolute Priorität!“

„Sagen Sie mir die Details“, forderte Doitsu vom Mediziner. „Doktor Schneider, ich will alles wissen!“

Der Internist war von der Titanen-Station eingeflogen worden als ersichtlich wurde, dass die hiesigen Mediziner am Ende ihrer Fähigkeiten angelangt waren, er war so etwas wie Yohkos vorletzte Hoffnung. Man sagte, er habe früher sogar schon Akira behandelt, und viele der Verletzten des zweiten Marsfeldzuges hatten den akribischen und zähen Arzt zu schätzen gelernt.

Kurt Schneider sah ihn zuerst wütend an. Als er aber bemerkte, dass der UEMF-Offizier ihn wirklich um seine Expertise fragte, anstatt wie Admiral Ino ein Ventil für ihre Angst und Frustration zu suchen, entspannte er sich etwas. Soweit die Situation das zuließ.

„Colonel Otomo steht am Rande eines absoluten Kollapses. Ihr Herzschlag liegt bei hundertachtzig Schlägen, ihre Körpertemperatur beträgt einundvierzig Grad. Ihr Blutdruck liegt bei zweihundertzwanzig zu hundertzwanzig. Ein normaler Mensch hätte das keine fünf Minuten ausgehalten. Bei ihr sind diese Werte seit acht Stunden stabil.“

Acht Stunden. Vor fünf Stunden hatte ihn die Nachricht von ihrem schlechten Zustand auf der AURORA erreicht, und er hatte seinen Phoenix genommen, um so schnell wie möglich nach Tokio kommen zu können. Dass er dabei sämtliche Regeln der internationalen Luftfahrt missachtet hatte war ihm egal. Die Frau da in dem Bett, die japste wie ein hyperventilierender Spatz, das war Yohko. Yohko! Seine Hände verkrampften sich, als ihn eine Flut der Erinnerung übermannte. Zuerst war da nur Lilian gewesen. Lilian Jones, angebliche Austauschschülerin, die zusammen mit der heimatlos gewordenen Megumi Uno bei Akira Unterschlupf gefunden hatte. Ein Mädchen, dass ihn von Anfang an wegen den faszinierenden weißblonden Haaren, den hellen Augen, der naiven Art, aber auch wegen ihrer messerscharfen schnellen Auffassungsgabe fasziniert hatte. Eine Zeitlang hatte er wirklich gedacht, er… Eine Zeitlang hatte er gedacht, er könnte sich in dieses Mädchen verlieben. Und dann war alles ganz anders gekommen. Aus Lilian war Yohko geworden, ein Mensch den er nie kennen gelernt hatte, bevor sie zum Mars aufgebrochen war.

Aber die transformierte Lilian hatte ihm dennoch gefallen. Weiterhin fasziniert, auch wenn sie nie wieder die Leichtigkeit von Lilian erreicht hatte, ihren Funken Naivität, den sie vorgeschoben hatte, um von ihrer Umgebung zu kriegen was sie haben wollte. Ernster war Yohko, ernsthafter, um exakt zu sein. Aber die Freundlichkeit, die sie als Lilian gehabt hatte, die hatte sie behalten. Ihr großes, ihr riesengroßes Herz existierte auch in der Yohko, die er nun kannte. Manchmal dachte Doitsu, dass Yohko sich immer bewusst war, dass Lilian nur eine Fälschung war. Eine Rolle, genau wie es ihr Part als Lonne war, als die die Kronosier sie zu einem Selbstmordangriff auf die Erde geschickt hatten.

Und wie es bei einer Rolle war, Yohko hatte sie interpretiert, die Unbedarfte gegeben und darin brilliert. Später, als die Katze aus dem Sack war, als sie ihre intelligente Seite nicht nur zeigen sondern zelebrieren konnte, da hatte es wirklich Zeiten gegeben, in denen er Yoshi wirklich beneidet hatte. Nicht, dass er sich einen anderen Partner als Hina vorstellen konnte. Nein, dies war nach ihrer kurzen Trennung und ihrer grandiosen Wiedervereinigung vollkommen vom Tisch. Sie hatten beide ihre Zweifel abgelegt und letztendlich und ernsthaft zueinander gefunden, wie in einer schmalzigen Liebesgeschichte. Nur dass ihr Leben nach dem Abspann genauso weiter gegangen war wie es in der Geschichte war. Nein, es war sogar noch besser geworden.

Dennoch. Yohko war… Yohko war ihm mindestens so wichtig wie es ihm eine eigene kleine Schwester wäre. Sie gehörte zur Familie, war ein wichtiger Teil davon.

Nur zu genau erinnerte sich Doitsu an die Zeit, als er Zuhause raus geflogen war und bei Akira Unterschlupf gefunden hatte. An ihre glückliche Zeit in dem Haus in Tokio und in dem auf der AURORA. Sie waren eine große Familie gewesen, und er konnte nicht akzeptieren, eines der Mitglieder zu verlieren. Nicht schon wieder! Verdammt noch mal, nicht schon wieder! Er hatte bereits einmal geglaubt das Megumi tot war, und von Akira zu glauben, er wäre vergiftet worden, war auch nicht gerade dazu angetan gewesen seine Laune zu heben.

Yohko so zu sehen, ihre wahnwitzigen Werte über den Monitor flimmern zu sehen, ihre Atemmaske beschlagen zu sehen und ihren Körper in diesem ungleichen Kampf zu erleben spottete jeder Erfahrung.

„Was ist passiert, zum Teufel? Was ist passiert?“

„Ich habe die Berichte meiner Kollegen eingesehen, soweit mir die Zeit dazu blieb“, sagte Doktor Schneider. „Man hat auf dem Körper von Colonel Otomo eine intramusku… Eine entzündete Einstichstelle gefunden. Mikroskopisch klein, aber die Entzündung hatte sie klar identifiziert. Anhand der fortschreitenden Entzündung konnte ein ungefährer Zeitpunkt für die Penetration identifiziert werden: vorgestern Abend, also vor einunddreißig bis fünfunddreißig Stunden.“

„Vorgestern Abend?“ Als es über Tokio Abend gewesen war, da hatte er im kalifornischen Becken geholfen, den UEMF-Stützpunkt aufzulösen. Während er über amerikanischem Boden gekämpft hatte, da war hier in Tokio eine Geheimdienstaktion von unbekannter Seite furios gescheitert. Der Geheimdienst der UEMF hatte zusammen mit Spezialeinheiten eine Terroristengruppe hochgenommen, die versucht hatte, das Haus anzugreifen.

Was aber, wenn dieser Angriff nur eine Ablenkung gewesen war? Was wenn diese Einstichstelle der eigentliche Anschlag gewesen war?

„Was hat sie verabreicht bekommen?“

„Wir wissen es nicht. Wir testen ihr Blut, ihr Urin, ihren Speichel, ihre Lymphflüssigkeit und sogar ihren Schweiß auf alle uns bekannten Gifte. Fest steht nur eines: Was immer man ihr infiziert hat, es hat ihr KI aktiviert. Ich habe nicht viel Erfahrung auf dem Gebiet der KI-Medizin. Unsere Koryphäe auf diesem Gebiet, Futabe-sensei, befindet sich nicht auf der AURORA und kann nicht kontaktiert werden.

Ein Arzt, der bereits mit KI-Phänomenen zu tun hatte, wurde dem Projekt in der ersten Stunde nach der Einlieferung zugeteilt und hat das Profil des Leidens festgestellt. Colonel Otomos KI-Produktion wurde unnatürlich gesteigert. Im Moment entsteht in ihrem Leib das Einhundertfache von dem, was ein normaler Mensch schmieden würde, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie wissen, alle Menschen fabrizieren aus den Urkräften Yin und Yang permanent KI im Leib, dass einen ähnlichen Kreislauf im Körper einnimmt wie das Blut und…“

„Sie brauchen mir nichts darüber erzählen. Ich werde seit meinem sechsten Lebensjahr im Umgang mit meinem KI geschult. Hat schon jemand versucht, ihr KI zu absorbieren?“

„Es gibt nicht genügend fähige KI-Meister, um ein solches Experiment durchzuführen. Selbst ein fähiger Mann wie Yoshi Futabe produziert nur das achtfache an KI, wenn er sich anstrengt. Ein Meister wie Futabe-sensei bringt es auf das dreizehnfache von dem, was Colonel Otomo gerade schmiedet. Wir bräuchten mindestens zehn KI-Meister vom Schlage Yoshi Futabes, um überhaupt einen Versuch zu wagen. Denn soweit ich weiß kann es tödlich enden, wenn man versucht, fremdes KI zu absorbieren. Und vergessen Sie nicht, das wäre keine Angelegenheit von ein paar Sekunden. Sie produziert dieses KI permanent. Es erhitzt ihren Körper.

Permanente Linderung würde nur eine permanente Deregulierung bringen. Und dann ist da noch das Ernährungsproblem. Im Moment führen wir dem Colonel extrem kalorienreiche Nahrung über eine Magensonde zu, damit ihre unglaubliche KI-Produktion ihren Leib nicht auszehrt. Das ist alles was wir tun können, bis wir Futabe-sensei gefunden haben. Bis Admiral Acati eintrifft. Bis wir genügend erfahrene KI-Meister zusammen getrommelt haben, um wenigstens ihre KI-Produktion ableiten zu können. Und damit ist das Problem noch immer nicht behoben, wir schieben das Ende lediglich hinaus.“

„Deshalb wartet Sakura also auf Torum Acati.“ Demonstrativ setzte sich Doitsu auf einen Stuhl neben Yoshi. „Hier haben Sie einen weiteren KI-Meister! Und wenn Acati und Futabe-sama nicht rechtzeitig eintreffen, gehe ich da rein und versuche sie auf eigene Faust zu retten.“

„Nicht alleine. Wir alle gehen da rein! Notfalls mit Gewalt!“, rief Makoto, plötzlich mehr wütend als weinend.

„Ich habe die anderen schon benachrichtigt. Die Slayer kommen zusammen! Megumi hat den weitesten Weg von ARTEMIS, aber sie beeilt sich! Außerdem lasse ich nach Kitsune-chan und Okame-tono suchen“, sagte Hina fest, und Akane nickte grimmig zur Bestätigung. Das da drinnen war Yohko, ihrer alle Yohko.

Niemand in diesem Raum würde sie sterben lassen, ohne nicht wenigstens das eigene Leben riskiert zu haben.

„Bitte, seien Sie doch vernünftig! Die UEMF sucht mit Hochdruck nach Futabe-sensei, und er ist die absolute Koryphäe in der militärischen KI-Nutzung!“

„Doc, Sie werden bald über sieben Slayer verfügen, über mich, meinen Bruder Makoto, Lieutenant Colonel Ataka und Michi Torah. Außerdem wird mein Großvater jeden Augenblick hier eintreffen. Das sind schon mal zwölf Menschen, die selbst über die Fähigkeit verfügen, enormes KI zu schmieden!“

„Sakura, du beherrschst dein KI?“, fragte Doitsu erstaunt.

Die blonde Frau sah ihn wütend an. Ihre Augen waren rot vor Tränen. „Ich bin ein Bluthund, schon vergessen? Ich und Makoto wurden schon von klein auf im Gebrauch unseres KIs unterrichtet, um unserer Aufgabe zu dienen.“ Sie legte beide Hände vor ihr Gesicht und schluchzte. „Ich werde nicht schon wieder versagen!“

Die Tür flog auf, und zwei weitere KI-Experten kamen herein. „Wie steht es um Onee-chan?“, fragte Akari atemlos.

Michi Torah, der ihre Hand hielt, rief: „Was kann ich tun?“

„Das sind schon mal zwei. Und es werden noch viel mehr“, stellte Sakura tonlos fest. Grimmig ballte sie die Hände zu Fäusten. „Wir lassen sie nicht sterben! Nicht schon wieder!“

„Nein, diesmal nicht“, flüsterte Makoto, und bei dem Blick, mit dem er seine Worte begleitete, wurde Doitsu Angst und Bange. Wie weit würde der junge Mann gehen, um seine geliebte Cousine zu retten? Hoffentlich traf Joan Reilley auch bald ein, um den Chefanalytiker der AURORA von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten, ging es Doitsu durch den Kopf.
 

2.

Die Grenzregion zwischen Argentinien und Brasilien, markiert durch den Rio de la Plata, zeichnete sich durch zwei Dinge aus. Ein Großteil der Flussregion war nun ein Trainingsgebiet der UEMF, in der sie die gleichen Hoheitsrechte ausübte wie ein autonomer Staat auf dem Gebiet der eigenen Botschaft.

Und die Bevölkerung war sehr UEMF-freundlich, weil ihr großer Held, der unglaubliche Mecha-Pilot John Takei von der berühmten Firma Luna Mecha Research, dem ewigen Disput mit den argentinischen Behörden ein Ende gemacht hatte.

Gewiss, die Toba waren für die UEMF-Sicherheitskräfte nicht einfacher zu handhaben als sie es für die Argentinier waren. Nicht unbedingt. Aber die hier ansässigen Volksgruppen, hauptsächlich Abkömmlinge der Ureinwohner, Mischlinge und Nachkommen geflohener Sklaven, waren loyal gegenüber ihrem Retter, der sich als der noch grandiosere Akira Otomo entpuppt hatte. So war die Legende, die eine ganze Welt gerettet hatte, zu ihnen gekommen und hatte sie auch gerettet.

Nun, dieser Heldenverehrung verdankte die UEMF einiges. Erstens, dass die brasilianischen Streitkräfte sie nicht hatten überraschen können, als diese das argentinische Grenzgebiet angegriffen hatten – natürlich nur das autarke UEMF-Trainingsgebiet – und zweitens die derzeitige Operation, durchgeführt von einer gemischten Truppe aus ehemaligen Toba-Guerillas, argentinischen Luftlandesoldaten und UEMF-Infanteristen.

Brasilien hatte sich sehr schnell auf die Seite Amerikas geschlagen, und da in dem Riesenland keine militärischen Basen der staatenübergreifenden Organisation installiert worden waren, hatte das vorschnelle Militär den nächstmöglichen Ort angeblafft, der nach United Earth Mecha Force roch, und das war das neue autonome Toba-Gebiet.

Zum Glück aber war Argentinien loyal geblieben. Die neuen Verbindungen mit der weltweit agierenden Organisation hatten sich als fruchtbar für das argentinische Militär herausgestellt, und die neue Riege, die nach den Pensionierungen der alten Führung – ausgelöst durch das missglückte Attentat auf Akira und Megumi – an die Macht gekommen waren, hatten sich als Vertreter der neuen Zeit entpuppt, in der die UEMF einen sehr wichtigen Stellenwert hatte.

Wichtig genug, dass die Argentinier den Streitkräften im Toba-Gebiet zu Hilfe gekommen waren, bevor diese darum gebeten hatten.

Von UEMF-Ausbildern trainiert waren selbst die alten Daishis der Argentinier eine Überraschung für die Stars and Stripes und Hawks der Brasilianer gewesen, und das Militär hatte eine demütigende Schlappe einstecken müssen.

Dies hatte die neue Mission ermöglicht, die nun von zwanzig trainierten Soldaten aus allen drei Lagern ausgeführt wurde. Es war eine Operation im Hinterland der brasilianischen Grenze, und sie galt nicht einmal dem Militär selbst. Aber vor dem unprovozierten Angriff wäre selbst eine geheime Attacke auf diese Anlage zumindest riskant gewesen, bei einem Fehlschlag aber ein halber Genickbruch für die UEMF.

Die Anlage, die sich nun im Kreuzpunkt von fünf getrennt marschierenden Einheiten befand, war eine Einrichtung des kronosianischen Legats. Ein geheimes Forschungslabor in der Abgeschiedenheit des undurchdringlichen Amazonas-Dschungels, in der ein weiterer Supercomputer der Kronosier stand, Teil eines noch immer weltweiten Netzwerks aus Superrechnern, und noch immer betrieben von Entführten, deren Rettung oberste Priorität in dieser Mission besaß.

Aber eine der Personen, die dort in den Biotanks schwebten, und kronosische Operationen in der ganzen Welt und im All analysierten, bewerteten und lenkten war etwas Besonderes. Zumindest für die einzige Frau der Truppe, die noch vor wenigen Stunden in Japan gewesen war. Genauer gesagt für eine der drei Persönlichkeiten, die sie in sich trug.

Gina Casoli verfügte dank der kronosischen Agentin, deren KI ihr implantiert worden war – eigentlich um Akira Otomo zu töten – über die vollen Fähigkeiten einer ausgebildeten Attentäterin. Dank dem Bewusstsein von Ai Yamagata, einer UEMF-Geheimdienstoffizierin, die während eines Kampfes mit Torum Acati auf sie übergegangen war, hatte sie zudem das Wissen einer Einsatzsoldatin.

Und dank der Beharrlichkeit ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Ausdauer und natürlichen Zähigkeit hatte sich Gina auch die körperlichen Voraussetzungen für den Einsatz dieser Fähigkeiten erarbeitet. Und diese würde sie heute einsetzen, um Corinnes Körper zurückzuholen. Hier. Heute. Ein für allemal.

Die Nachricht, wo sich Corinnes Körper befand war für Gina überraschend gekommen. Aber es war wichtig genug gewesen, um sofort aufzubrechen und diese Operation selbst zu leiten.

Sobald sie diesen Körper wieder hatten konnten sie eventuell das KI der Attentäterin wieder in den eigenen Leib transferieren. Und ab da war es vielleicht nur ein kleiner Schritt, bis auch Ai in ihren eigenen Körper zurückkehren konnte, den sie auf unerklärlichen Wegen verlassen hatte, als Torum Acati sie nahezu getötet hatte.

Dann würde es zwar reichlich still in Ginas Kopf werden, aber wenigstens musste sie dann nicht drei verschiedene Interessen unter einen Hut bringen. Sie musste dann nicht mehr mit Corinnes Vernarrtheit in Akira fertig werden, brauchte sich nicht selbst mit eiserner Hand zu kontrollieren, sobald Taylor in der Nähe war und Ais Gedankenwelt kurz vor dem Kollaps stand. Und sie musste sich nicht mehr für ihr harmloses Interesse für Mamoru aufziehen lassen. Nun, es hatte alles seine Vorteile und seine Nachteile.

Ihr Funkempfänger, der permanent im Ohr steckte, übermittelte statisches Rauschen, nur kurz unterbrochen von einer Interferenz, wie es immer mal vorkommen konnte, wenn der Empfänger ein starkes Magnetfeld als Tonfolge interpretierte und entsprechend wiedergab. Es klang lediglich nach leichten magnetischen Störungen, aber für Gina war es das Signal, dass die letzte Angriffstruppe in Position war.

In schlechten Filmen gaben sich die Kommandotruppen immer Signale, indem sie auf den Funkgeräten kurz die Sprechtaste drückten, was ein Knacken über den Äther sandte. Für jemanden, der wusste worauf er zu achten hatte, war das natürlich ein gefundenes Fressen. Richtige Elitetruppen benutzten vermeintliche Störungen im Funk, verständigten sich über Handzeichen oder benutzten Lasergerichteten Direktfunk.

Gina zählte leise bis dreißig. Ai tat dies auch, allerdings auf japanisch. Corinne, die dem Einsatz mehr als alle anderen entgegenfieberte, dachte die dreißig Zahlen auf französisch.

Unter anderen Umständen hätte Gina das als interessant empfunden, aber die Operation erforderte ihre volle Aufmerksamkeit. Es war schon merkwürdig, was alles aus einer italienischen Köchin werden konnte, wenn man ihr Gelegenheit gab, ungewöhnliche Erfahrungen zu machen. SEHR ungewöhnliche Erfahrungen. RICHTIG ungewöhnliche Erfahrungen.

Als sie bei dreißig angekommen war, drückte sie die Sprechtaste ihres Kommunikators und rief: „GOGOGO!“
 

In diesem Moment erhoben sich mehrere Grashügel dicht vor dem Eingang. Die Elite-Soldaten hatten sich im Schutz der Nacht angeschlichen und mit Hilfe spezieller Kleidung und Tarnfarben vor der Entdeckung durch Wärmekameras geschützt. Das war in der heißen Luft eines Dschungels sicherlich nicht sehr angenehm, aber dadurch hatten sie zehn Mann quasi direkt vor der Tür. Nun, die Männer liefen etwas steif, aber sie waren effizient.

Fünf Sekunden nachdem Gina das Go durchgegeben hatte, sprengten sie bereits das Haupttor auf, während die restlichen Teams über vier Wege erst durch den Außenzaun des Geländes und dann bis zum Gebäude vorstießen. Ironischerweise waren sie es, die auf heftige Gegenwehr stießen; die Männer und Frauen, die sich bis auf das Gelände und vor das Tor gearbeitet hatten, waren noch nicht ins Ziel gefasst worden, sonst hätten sich die Wachtruppen nicht nur auf die neuen Eindringlinge konzentriert.

Es entspann sich ein heftiges Feuergefecht, welches das Vorankommen erheblich erschwerte. Ein Trupp kam sogar zum Stillstand. Aber das entlockte Gina nur ein müdes Lächeln. Welche ihrer drei Persönlichkeiten war eigentlich der Meisterstratege, der dieses komplexe Manöver entworfen hatte?

In dem Gebäude krachten Glasscheiben, Schüsse klangen auf, dann herrschte zumindest dort Ruhe.

„Safe!“, klang eine raue Männerstimme auf. Hm. Die zehn Elite-Soldaten hatten es geschafft. Der Biocomputer und seine Energieversorgung waren fest in ihrer Hand. Nun lag es an ihnen, was sie daraus machten.

„Tweety, Tweety, Tweety“, sagte Gina ruhig und deutlich. Nichts war schlimmer als eine Funkdurchsage, die gestört und dann auch noch undeutlich gesprochen war.

Sekunden darauf zogen schwer bewaffnete Kampfhubschrauber über die Bäume hinweg und beharkten das Gelände. Es waren nur Warnschüsse, aber für Gina in ihrer exponierten Logenstellung wirkte es, als würde sich die sichtbare Welt in die Hölle auf Erden verwandeln.

„Dies ist die erste und letzte Warnung! Kronosische Truppen, ergeben Sie sich! Sie haben keine Chance!“, erklang es aus dem Lautsprechersystem eines Kampfhubschraubers. Um diese Worte zu unterstreichen feuerten die Helis erneut Salven über das Gelände.

Als die ersten Waffen zu Boden fielen und die Hände sich gen Himmel reckten, musste die Italienerin grinsen. Nie hätte sie es sich träumen lassen, selbst einmal gegen die Kronosier zu kämpfen. Und dann auch noch zu gewinnen.

„Safe“, erklang die Stimme des Chefs der Hubschrauberstaffel in ihrem Funk auf.

„Roger. Wir ziehen die Techniker nach.“

„Roger.“

Langsam erhob sich Gina und klopfte ihre Tarnbekleidung sauber. Immerhin, ihr Trupp hatte die halbe Strecke bis zum Zentralgebäude bewältigt, bevor die Hubschrauber die Freigabe bekommen hatten. Das war für eine Köchin doch wirklich keine schlechte Leistung.

„Wir verstärken die Besetzung des Biocomputers. Treibt die Gefangenen zusammen, durchsucht sie und ordert weitere Verstärkung heran. Die Mediziner können jetzt ebenfalls kommen.“

„Roger!“

Über ihr erfüllte das dumpfe Wummern von einem Dutzend Rotoren die Luft, als weitere Kampfhubschrauber und Transporter das Gelände erreichten.

Erleichtert und zufrieden ging sie auf das Zentralgebäude zu. Nun konnte nichts mehr passieren.

Das dachte sie zumindest, bis vor ihren Füßen die Erde aufspritzte. Sofort warf sie sich in die nächste Deckung, eine kleine Bodenwelle und zog ihre Waffe wieder. Ais Reflexe hatten hervorragend gegriffen, und noch während Gina versuchte sich vom Schreck zu erholen hatte Corinne bereits übernommen und feuerte mit der schweren Dienstwaffe gezielte Schüsse auf den Sparrow ab, der sie unter Feuer genommen hatte.

Genauer gesagt griffen nun mehrere Mechas in den Kampf ein, drängten die Hubschrauber ab und zwangen die Infanteristen in Deckung. Mechas gegen Hubschrauber und Infanterie, das war ein ungleiches Rennen, das sehr schnell weh tun konnte.

Nun landete ein riesiger Mecha mitten auf dem Hauptgebäude und brach durch die Decke. Gina ging ein schmerzhafter Stich durchs Herz, während Corinne Todesängste um ihren Körper ausstand. Einzig Ai reagierte folgerichtig, ließ Gina aufspringen und auf das Gebäude zulaufen. Die Geschossgarben, die links und rechts von ihr weiter die Erde aufrissen ignorierte sie. Wenn man sie hätte töten wollen, dann hätte man das längst getan.

„Casoli hier! Bericht!“

„Es ist ein Stars and Stripes, Ma´am! Er bricht durch die Wände und hält direkt auf den Biocomputer zu! Wir sind nicht dafür ausgerüstet, und die Hubschrauber können die schweren Waffen nicht einsetzen, solange noch Menschen im Gebäude sind! Jetzt erkenne ich es, der Mecha ergreift einen der Tanks! Darin befindet sich eine junge Frau mit schwarzen Haaren und dunkler Haut, arabischer Typ! Er reißt die Verbindungsleitungen ab und nimmt den Tank auf!“

„Arabischer Typ?“

„Arabischer Typ. Ich stamme aus Algerien, schon vergessen? Da haben viele Leute französische Namen. Und viele Leute haben etwas gegen Franzosen, was es einem leicht macht, bei Organisationen wie den Kronosiern unterzukommen“, antwortete Corinne. Neben den Worten, die in Ginas Innerstem hallten, schwappte eine Welle der Angst über die drei herein, ausgehend von der Agentin. Angst um ihren Körper.

„Er startet! Ich wiederhole, er startet!“

„Nein, nein, nein, nein, nein!“ Gina beschleunigte ihre Schritte, und die hundert Meter erschienen ihr plötzlich hunderttausend zu sein, während der Stars and Stripe sich aufrichtete, den Biotank in den Händen, und Schub auf seine Düsen gab.

Zivilisten und Soldaten rannten und sprangen aus dem Gebäude hinaus, einige sogar durch Fenster, um nicht von der Feuerlohe der Düsen auf engstem Raum verbrannt zu werden. Diese Lohe zuckte ihnen prompt hinterher, und der gigantische amerikanische Mecha startete mit seiner Last.

Die Hubschrauber, die ihn daraufhin unter Feuer nahmen, wurden vermehrt von den Sparrows bedrängt.

Gina kam am Fuß des Gebäudes zu stehen und sah dabei zu, wie der Mecha Höhe gewann. Auch sie war verzweifelt. Das war ihre Chance gewesen, das war Corinnes Chance gewesen.

Hätte man das konfuse Innenleben in ihrem Kopf in Bilder fassen sollen, dann hätte man sicherlich gerade diese Szene gesehen. Eine Gina Casoli, die mit wütenden Augen dem Mecha hinterher sah, eine Corinne Vaslot, die verzweifelt zwischen dem Biotank und den anderen beiden Frauen hin- und herblickte und eine Ai Yamagata, die zuerst, stutzte, dann traurig lächelte und die Algerierin schließlich in die Arme nahm. „Nun geh schon. Wir werden dich finden, versprochen.“

Man hätte gesehen, wie auch Gina herantrat, ebenfalls Corinne umarmte und ihr anschließend burschikos wie sie war kräftig auf die Schulter klopfte. „Wir haben dich wieder bei uns, so schnell kannst du gar nicht gucken!“

Und man hätte Corinne selbst gesehen, wie sie mit Schmerz im Blick stumm Abschied von den beiden genommen hätte, sich umgewandt hätte, und dem Stars and Stripes hinterher gesprungen wäre.

Dies war der finale Moment für das Trio Ai, Corinne und Gina. In diesem entscheidenden Moment verließ das in KI gebündelte Bewusstsein der jungen Frau den Körper der Italienerin, raste wie von einem unsichtbaren Kabel gezogen zum Biotank hinauf und fuhr in ihren verwaisten Körper. Nur Augenblicke später öffnete Corinne zum ersten Mal seit fast zwei Jahren ihre eigenen Augen, sah auf die Anlage herab und erkannte die einsam am Gebäude stehende Frau wieder, die mit tränenden Augen zu ihr hoch sah. Gina.

Sekunden später war der Mecha bereits zu hoch, um Details zu erkennen.
 

Unten am Boden hingegen blieb keine Zeit zum trauern. Auf den ersten Blick war es nicht zu Verlusten gekommen, keiner der Hubschrauber abgeschossen worden. Aber erst eine genaue Untersuchung des halb zerstörten Gebäudes würde die Wahrheit ans Licht bringen. Vor allem um die Menschen in den Biotanks machte sich Gina Sorgen.

„Die Sanitäter“, sagte sie mit tonloser, trockener Stimme, die irgendwie nicht ihr gehörte, „können jetzt landen. Sie werden sicherlich dringend gebraucht.“
 

3.

Gordon Scott, Vorsitzender des neuen Legats, fuhr für einen Moment überrascht zurück, als er erkannte, nicht der einzige im Ratsraum zu sein. Aber dann fing er sich und ging zu der einsamen Gestalt, die an einem der Ostfenster stand und mit einem Drink in der Hand die Skyline von Manhattan betrachtete.

„Woran denken Sie, Michael Fioran?“

Der Angesprochene wandte sich dem Neuankömmling zu und lächelte dünn. „An viele Dinge, Erster Legat Scott. An viele Dinge. Zum Beispiel daran, dass der Präsident dieses Landes gerade all das zerschlägt, was die UEMF in all den Jahren aufgebaut hat. Oder dass der Legat immer noch über genügend militärische Mittel verfügt, um einen eigenen Kontinent zu erobern.

Oder daran, wie die UEMF nach und nach zerfällt.

Oder daran, dass meine Enkelin in diesem Moment mit dem Tod kämpft.“

Es war selten für Scott, dass er Gefühle zeigte. Aber was Kinder anging war er schon immer nachgiebig gewesen, geradezu weich. Das hatte ihn als einen der allerersten Daishi-Piloten nicht daran gehindert, in einer dicht besiedelten Stadt zu kämpfen. Oh nein, sicher nicht. Aber er hatte auch nicht gerade absichtlich auf Schulen geschossen, wie es manche dieser Psychopathen getan hatten, die es irgendwann in ihre Reihen geschafft hatten. Sie waren bevorzugte Ziele von Blue Lightning gewesen und soweit Scott wusste, hatte nicht einer bis zum heutigen Tag überlebt.

Außerdem ging auf seine Initiative die Gründung von Schulen in Martian City zurück. Kampfschulen, Technikschulen, Schulen für Allgemeinbildung. Wenngleich der Legat untereinander stets zerstritten und in Machtkämpfe verstrickt war, so hatten doch alle eingesehen, dass es ihnen das Genick brechen würde, wenn ihre Leute in den Daishis und Schiffen nicht wussten was sie taten. Und da die Pläne der Kronosier längerfristig waren, war es die richtige Entscheidung gewesen, bereits den Kindern eine gute Bildung als Grundlage mitzugeben.

Kurz und gut, in diesem Moment fühlte sich Gordon Scott in der Defensive. „Ich habe das nicht angeordnet, Michael. Bitte glauben Sie mir das.“

„Keine Sorge. Ich weiß, dass Sie es nicht waren, der meine Enkelin vergiftet hat.“

„Aber wenn es Sie beruhigt, werde ich die Täter suchen lassen. Ich meine, jetzt wo Sie dem Legat angehören, Michael, habe ich auch für Sie zu sorgen, oder?“

„Bemühen Sie sich nicht, Erster Legat. Ich weiß sowohl welches Gift verwendet wurde als auch wer es angesetzt hat. Und ich weiß auch in wessen Auftrag es verabreicht wurde.“ Michael sah dem Legaten in die Augen. „Ich habe es befohlen, Erster Legat. Ich bin gerade dabei, meine Enkelin umzubringen.“

Diese Eröffnung machte Legat Scott fassungslos. Bestürzt sah er den Groß-Industriellen an. „Was? Aber… Aber… Aber… Michael, wieso? Sie ist Ihre Enkelin, Ihr eigenes Fleisch und Blut!“

„Es muss sein“, murmelte Michael Berger ernst und sah auf die Uhr. „Sie hat nur noch drei Stunden zu leiden.“

Scott sah den Mann an und hatte das dringende Bedürfnis auszuspucken. „Als wir noch Krieg geführt haben, da fürchtete ich mich vor jedem Einsatz vor Blue Lightning, aber ich hatte auch Respekt vor ihm, weil er ein erfahrener Mecha-Pilot und ein großartiger dazu war.

Aber vor Ihnen, Michael, habe ich Angst. Was sind Sie nur für ein Mensch?“

„Sie vergessen da ein wesentliches Detail, junger Mann. Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Naguad. Genauer gesagt, ich bin ein Daina.“

„Und das berechtigt Sie dazu, Ihre eigene Enkelin zu töten?“

„Es ist für die Rettung der Welt“, erwiderte der Mann tonlos, und für einen Moment, einen winzigen Moment glaubte Scott zu verstehen. Er sah hinaus auf die Skyline und brummte: „Ich vergebe Ihnen.“

***

Da standen sie nun, seit fünf Stunden schon, und absorbierten KI, dass von Yohko noch immer in Massen produziert wurde. Der ganze Raum leuchtete irrlichternd in tausenden Farbschattierungen, und das freiwerdende KI verursachte Spukphänomene im gesamten Krankenhaus. „Doitsu, es ist genug! Du bist fertig. Ruhe dich etwas aus!“, sagte Hina scharf.

„Ich kann noch. Lass mich noch zehn Minuten hier stehen“, erwiderte der Yakuza trotzig.

„Ich leite diese Aktion, schon vergessen? Akane, lös ihn ab!“

Akane Kurosawa trat in den Raum und stellte sich neben Doitsu. Als ihre Hand Yohkos immense Aura berührte, löste Doitsu seine von ihrem Körper. Frustriert und vollkommen durchgeschwitzt verließ er das Behandlungszimmer.

Ein Fluch lag auf seinen Lippen, der aber nicht seine Freundin betraf, sondern seine mangelnde Kondition. „Wenn doch nur Akira hier wäre.“

„So etwas darfst du nicht sagen. Wir schaffen es auch so“, sagte Sakura. Sie hatte ebenfalls ihre Zeit neben dem Bett gestanden und war als erste vor Erschöpfung zusammengebrochen. Deshalb hatte Hina das Kommando an sich gerissen und führte die Aktion nun an. Sie war eben doch die geborene Anführerin und vor allem beherrschte sie ihr eigenes KI perfekt.

„Geht es dir gut?“, fragte Doitsu die Admirälin.

„Eine Dusche wirkt wahre Wunder“, erwiderte sie. „Solltest du vielleicht auch mal probieren.“ Sie reichte ihm einen Kaffee und bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen.

Dankbar nahm er das Koffeinhaltige Getränk entgegen und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Danke. Das macht mich hoffentlich fit für die nächste Sitzung.“

„Wie steht es um sie? Du bist direkt in ihrer Aura gewesen. Du musst es wissen.“

Augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden. Jener, die darauf warteten, einen der KI-Meister am Bett ablösen zu müssen und jener, die einfach aus tiefer Sorge her gekommen waren.

Doitsu ließ den Kopf sinken. „Sie produziert minütlich mehr und mehr KI. Wenn das so weitergeht, dann zehrt sie sich auf, künstliche Ernährung hin oder her.“

Ein erschrockenes Raunen ging durch den Raum.

„Es tut mir Leid, aber ich will nicht lügen.“

Verzweifelt beugte er sich vor, die Hände vor dem Gesicht gefaltet. „Oh, verdammt, Yohko. Was soll ich nur Akira sagen?“

„Noch ist sie nicht tot!“, mahnte Joan Reilley eindringlich. „Noch lange nicht! Und wir geben auch nicht auf! Wir werden Futabe-sensei finden, und dann wird alles wieder gut werden!“

Doitsu sah sie an und schüttelte den Kopf. „Selbst ein KI-Meister vom Kaliber Futabes kann ihr nicht mehr helfen. Es… Es geht zu schnell. Es ist zu stark. Sie entfaltet Kräfte, gegen die der Kampf zwischen Acati und Akira auf der AURORA ein Witz war. Sie…“ Kurz sah er durch die Sichtscheibe hinein. Torum Acati gab sein Bestes. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und Auszehrung, aber er forderte sich bis ans Limit. „Sie ist stärker als wir alle zusammen. Nicht einmal Kitsune oder Okame könnten sie jetzt noch aufhalten.“

***

Auf dem OLYMP ging alles seinen geregelten Gang. Wenn man einmal davon absah, dass die holographische Karte mit der politischen Gesinnung der einzelnen Staaten immer bedrohlicher von grün als Verbündete und blau als freundlich gesinnte zu rot wie feindlich wechselte.

Und wenn man einmal davon absah, dass die Ausrüstung der AURORA auf Hochtouren lief. Derzeit beteiligten sich nur Firmen unter Eikichis und Michaels Kontrolle an dieser Ausrüstung, um dem UEMF-Rat keine Handhabe zu geben, den Start der Flotte erneut zu verschieben. Selbstverständlich lieferten die Firmen unentgeltlich, was zumindest einer Diskussion über Vetternwirtschaft vorbeugte. Andererseits war diese Anstrengung für diese wenigen Unternehmen kaum zu meistern, und viele würden ihre Spitzenpositionen auf Jahre hinaus einbüßen, sobald die AURORA abflog. Eikichi nahm das wissentlich in Kauf.

Was er allerdings nicht akzeptierte, das war die Nachricht mit dem Anschlag auf seine Tochter. Er hatte bereits einmal geglaubt, sie verloren zu haben. Und dann hatten die Kronosier sie umprogrammiert, ihr die Elwenfelt-Gene verpasst und sie mit einer riesigen Bombe auf dem Rücken ihres Mechas auf eine Selbstmordmission geschickt.

Wenn Akira damals nicht, nun, Akira gewesen wäre, hätte er wenigstens beim Tod seiner eigenen Schwester zugesehen, sie vielleicht selbst getötet. So aber war sie gerettet worden. Und nun rang sie mit dem Tod, weil jemand ihr KI mit einem exotischen Medikament auf Hochtouren gedreht hatte.

„Gibt es immer noch keine Spur von ihm, Tate?“

Der Angesprochene, mittlerweile Chef des UEMF-Geheimdienst, räusperte sich verlegen. „Es tut mir Leid, Eikichi, aber es gibt weiterhin keine Spur von Futabe-sensei.“ Tatewaki Hatake senkte betreten den Kopf. „Aber ich bezweifle, dass er einen Unterschied machen würde. Vergiss nicht, was Sakura-chan berichtet hat. Yohko entfaltet da unten Energien, die eine Stadt versorgen könnten.“

„Das ist so nicht ganz richtig“, brummte Eikichi. „Weißt du überhaupt, was KI ist, mein alter Freund?“

„Eine Energie, die im Körper zirkuliert, ähnlich wie Blut.“

„Und die Sonne ist ein großer Glutball in zweihundert Millionen Kilometern Entfernung.“

Beschämt senkte der Geheimdienstchef den Kopf. Er hatte durchaus verstanden, was Eikichi Otomo ihm damit sagen wollte.

„Ich muss ein wenig ausholen, damit du verstehst, worum es wirklich geht. Unsere phänomenalen KI-Meister und ihr Einsatz als lebendige Waffen, es ist alles etwas… Nun, komplex und nicht ganz Sinn der Sache.

Zuerst einmal, KI gibt es überall. Ich kann dir nicht sagen, wer es zuerst so benannt hat oder wer es entdeckt hat, aber KI ist eine Eigenschaft, die alle lebenden Dinge haben. Die alle existierenden Dinge haben. Blumen, Tiere, Felsen, Menschen, ja, die gesamte Erde, alles hat KI.“ Eikichi fühlte, wie er bei seinem Monolog ruhiger wurde, gefasster, und fuhr dankbar fort. „KI besteht aus zwei Komponenten, Yin und Yang. Die beiden werden wie folgt umschrieben: Schwach und stark, böse und gut, schwarz und weiß. Du verstehst?“

„Ich denke schon.“

„Aber auch das sind nur Umschreibungen, Verbrämungen, die sich mit der Zeit etabliert haben. Vergleiche es am besten mit der griechischen Legende um Herkules. Einst war es ein Mann, der eine griechische Expedition in das damalige Indien geführt hat. Dreitausend Jahre später war aus ihm ein Halbgott geworden, und seine Taten waren als Legenden verbrämt worden.“

„Auch das verstehe ich noch.“

„Um aber Yin und Yang begreifen zu können musst du nicht wissen was sie sind. Und was letztendlich das KI ist. Du musst es nur erkennen und benutzen können.“

„Muss ich mir eigentlich Notizen machen, Herr Lehrer?“

„Nein, aber du solltest besser nicht vergessen, was ich dir gerade beibringe, Tate“, erwiderte Eikichi mit einem Schmunzeln. „Über was verfügt unser Körper, abgesehen von Wärme, dem Blutkreislauf, den inneren und äußeren Organen, einem leistungsfähigen Gehirn und einem ebenso leistungsfähigen Netz synaptischer Verbindungen im Verdauungstrakt?“

„Hm. Wenn du mich so fragst, eine eigene Elektrik.“

Eikichi warf den Geheimdienstmann einen bewundernden Blick zu, der diesem durch und durch ging. „Ich habe Recht? Aber das würde ja bedeuten, dass… Eikichi, erzähl mir nicht, das KI etwas mit dem körpereigenen elektromagnetischen Feld zu tun hat! Aber das würde bedeuten, dass positive und negative Aufladung, die erst den Fluss bildet, die… Es würde Sinn machen.“

„Du sagst es. Positive Aufladung, negative Aufladung, körpereigene elektromagnetische Felder, all das ist Teil des Ganzen. Jedes lebende Ding und viele tote Objekte haben elektromagnetische Felder. Die ganze Erde hat ein riesiges elektromagnetisches Feld. All das ist KI. Atemberaubend viel KI.“

„Das… ist ein beeindruckender Gedanke. Nein, atemberaubend und fast schon betäubend. Aber bedeutet das nicht, dass die Gaia-Theoretiker Recht haben und die ganze Erde ein beseelter Organismus ist?“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden“, erwiderte Eikichi schmunzelnd. „Dieses gigantische KI-Feld hat natürlich kein eigenes Bewusstsein, geschweige denn einen eigenen Instinkt. Es existiert nur, und das ist vielleicht der Grund, warum überhaupt erst Leben möglich war. Aber das führt schon zu weit.

Jedenfalls ist die Fähigkeit, eine Waffe mit KI zu verstärken oder sogar eine massive Rüstung aus KI zu erschaffen nichts weiter als eine Spielerei, eine Manipulation der Umgebung, der elektromagnetischen Felder. Nun, es steckt noch etwas mehr dahinter, aber auch das würde zu weit führen.“

„Ich verstehe trotzdem. Und ich verstehe auch, dass nicht automatisch jeder Mensch perfekte Kontrolle über sein KI hat. Die meisten wissen nicht einmal dass es existiert. Aber manche scheinen es instinktiv zu wissen, oder? Wenn ich mir den jungen Futabe so ansehe, oder deinen Sohn Akira…“

„Akira.“ Eikichi seufzte. „Weißt du, dass ich als KI-Meister lausig bin? Ich habe kaum genügend Kontrolle über mein eigenes KI, um mein eigenes Leben zu verlängern. Das ist die niedrigste Stufe der Fertigkeit, die ein KI-Meister erreichen kann. Akira hingegen überflügelt mich in dieser Hinsicht wie eine Rakete einen Papierflieger. Und wenn ich an seine Großeltern Michael und Eri denke, die beide die herausragensten KI-Meister sind, die diese Welt je gesehen hat, dann verstehe ich, warum ihm eine derartige KI-Beherrschung in die Wiege gelegt wurde. Das Wissen und die Fähigkeit, mittels Yin und Yang in perfektem Gleichgewicht KI zu schmieden muss für meinen Jungen so selbstverständlich sein wie atmen. Yin und Yang zu produzieren, auszubalancieren und daraus eine Kraft im Einklang mit sich selbst zu erschaffen, die er dann nach belieben manipulieren kann, das ist eine Eigenschaft, die ihm seine Großeltern mitgegeben haben. Meine Eltern waren da eher unbegabt, und wenn ich nicht selbst in jüngsten Jahren bei Meister Futabe studiert hätte, dann wüsste ich nicht einmal, wie man einfache Wunden heilt, oder sein Leben verlängert. Aber Akira ist einen Schritt weiter. Er absorbiert KI oder Yin und Yang direkt aus seiner Umgebung und schmiedet sie in seinem Zentrum zu eigenem KI, um es sodann zu verwenden. Als er gegen Torum Acati gekämpft hat, verursachte die Reibung der beiden KI-Schilde, dass sich der Boden unter ihnen auflöste. So sah es zumindest aus, und das ist nicht die ganze Wahrheit. Nein, es war schlimmer, viel schlimmer. Akira und Torum haben KI aus ihrer direkten Umgebung absorbiert. Diese Fähigkeit ist bei ihnen derart stark ausgeprägt, dass sie die winzigen elektromagnetischen Felder des Gesteins absorbiert haben. Dabei zerstörten sie auch die groben molekularen Strukturen. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie nicht sogar die atomare Bindung von Protronen, Elektronen und Neutronen zerstört haben.“

„Erschreckend.“ Tatewaki Hatake schüttelte sich, wie um einen unangenehmen Gedanken los zu werden. „Das alles wirft aber eine wichtige Frage auf.“

„Ich denke, ich kenne sie schon, weil ich sie mir selbst bereits gestellt habe.“

„Das glaube ich auch. Wenn Akira ein so mächtiger KI-Meister ist, warum ist Yohko das nicht auch? Abgesehen davon, dass sie ein Mädchen ist, ist die Genetik der beiden Geschwister nahezu identisch. Außerdem hast du sicher nicht nur Akira von Futabe-Sensei unterrichten lassen, sondern auch Yohko, als sie ebenfalls in einen Kampfroboter geklettert ist.“

„Ja, das habe ich natürlich. Und sie hatte auch eine gute Affinität zu ihrem eigenen KI. Aber es sah nicht wirklich danach aus, als würde sie sich zur ultimativen KI-Meisterin weiter entwickeln. Und nachdem sie vom Mars zurückkam, waren ihre Fähigkeiten mit dem KI wie fort geblasen. Es hat mich nie wirklich gestört, aber jetzt wünsche ich mir… Jetzt wünsche ich mir, sie hätte damals gelernt mit dieser Kraft umzugehen. Dann würde sie jetzt nicht von ihr ausgezehrt und aufgefressen werden.“ Wütend ballte der große Japaner die Hände zu Fäusten.

„Bleibt uns dann überhaupt noch eine Hoffnung?“, fragte Tatewaki resigniert. „Was ist mit Kitsune-sama? Okame-sama? Oder mit Dai-Kuzo-sama selbst?“

„Was mit Kitsune und dem Wolf ist weiß ich nicht. Sie sind seit Tagen verschwunden. Wahrscheinlich halten sie sich in der Dämonenwelt auf. Und Dai-Kuzo wird erst dann in Erscheinung treten, wenn ein Ereignis in dieser Welt sie interessiert. Nicht früher und nicht später.“

„Aber es geht um deine Tochter! Als alte Freundin wird sie doch…“

„Du musst das verstehen“, erwiderte Eikichi mit einem vollkommen missglückten Lächeln, „Die Dämonenherrin ist fünftausend Jahre alt. Selbst die langlebigen Naguad und wir KI-Meister sind für sie nicht mehr als neu geborene Kinder. Spielkameraden bestenfalls. Yohkos Leben ist für sie nur ein Wimpernschlag. Und genauso interessant ist es für sie, vor allem da Akiras Existenz all ihre Aufmerksamkeit vereinnahmt.

Wenn ich es hätte tun können, dann hätte ich sie längst gebeten, Yohko zu helfen. Und wenn der Preis mein eigenes Leben gewesen wäre.“ Wieder ballte Eikichi die Hände zu Fäusten, aber es brachte ihm keine Erleichterung.

„Dann haben wir also doch eine Hoffnung? Dass Dai-Kuzo genügend Interesse an Yohko entwickelt, um selbst einzugreifen?“

„Hätte sie dieses Interesse, dann wären Kitsune und Okame sicherlich bei Yohko oder wenigstens auf dieser Station“, schloss der Executive Commander der UEMF. Langsam schloss er die Augen und zerdrückte dabei eine einsame Träne. Ein Kind einmal sterben zu lassen war schlecht. Aber zweimal war eine Hölle, die er niemandem wünschte, der auch Vater war.
 

4.

Ich merkte gar nicht, dass ich pfiff. Das war nichts Ungewöhnliches. Menschen taten oft Dinge in Gedanken, die sie nicht wirklich bemerkten. Aber in diesem Moment hatte ich so gute Laune wie lange nicht. Es war ein atemberaubendes Gefühl von einem Moment zum anderen eine derartige Machtfülle sein eigen zu nennen und kontrollieren zu können.

„Wie nennt ihr Terraner diese Melodie?“, erklang eine ernste Stimme hinter mir.

Ich brach ab, wandte mich um. „Es ist ein Stück aus einer Oper. Die Königin der Nacht. Ich treffe die hohen Töne nicht, aber ab und an macht es mir eine diebische Freude es zu pfeifen.“

Mein Gegenüber, einer der hohen Offiziere, keine Drohne, sah mich verwundert an. „Was nützt es, die Melodie zu wiederholen, wenn du sie nicht beherrschst? Ihr Terraner seid ein merkwürdiges Volk.“

Ich seufzte. „Was führt dich zu mir, Orag Taresi, außer dass du meinen Sinn für Musik kritisierst?“

Der Offizier steckte natürlich in einem Offiziersrobotkörper. Im Gegensatz zu mir und Maltran Choaster riskierte er nicht seinen natürlichen Körper. Nun, in meinem Fall nicht MEIN natürlicher Körper. Aber ich konnte Taresi schlecht kritisieren. Die Offiziersdrohnen zu verwenden, um das eigene AO aufzunehmen war bei ihnen gang und gebe, ein kultureller Aspekt. Außerdem besaßen viele Puristen längst keinen eigenen Körper mehr, konnten nur noch auf ein Gehirn zurückgreifen. Ich hatte mir sagen lassen, dass die Bewohner des Paradieses noch immer diesen Brocken organischer Masse brauchten, um ihr AO in dieser Welt zu halten. Im Klartext, wenn diese Gehirne vernichtet wurden, dann erlosch ihr AO.

Ein Schauder ging durch meinen Körper, als ich daran dachte. Meine mir persönlich unbekannte Urgroßmutter hatte einst auf einer Core-Welt Iovar aus Tanks befreien lassen – und anschließend die Tanks mit den Gehirnen zerstören lassen. Sie wusste nicht, was sie damit angerichtet hatte. Für sie war es ein Akt der Gnade gewesen, aber in Wirklichkeit hatte sie friedliche, erfüllte Leben ausgelöscht. Nun, es hatte ihr niemand gesagt.

Ein Grund, warum ich diesem hier Kredit gewährte. Mehr Kredit als meinen eigentlichen Offizieren bei den Hekatoncheiren.

„Ich bin nicht hier um mit dir über akustische Lautfolgen zu streiten, Akira Otomo. Mein Weg führt mich dienstlich zu dir.“ Er sah auf. Dann hoch. „Aber ehrlich gesagt wundert es mich schon, was du hier machst. Wir haben Drohnen für diese Arbeit, wie du weißt.“

„Drohnen, pah. Ein guter Freund hat mir mal gesagt, dass jeder gute Pilot die wichtigsten Reparaturen und Wartungen an seinem Mecha wenigstens einmal selbst ausgeführt haben sollte.“ Ich sah nun ebenfalls hoch und bestaunte einen knallroten Banges. Meinen Banges, nicht das neueste oder beste Modell, aber dieser hier erinnerte mich sehr an den Daishi Beta, der mir als Primus so lange Zeit treu gedient hatte. Dieser hier vermittelte mir fast ein ähnliches Gefühl wie jene Sensation, wenn ich Primus berührt hatte. „Man kann ja nie wissen, wann man mal auf einem einsamen Planeten notlandet und einige wichtige und lebensrettende Reparaturen durchführen muss.“

„Wenn unser Oberbefehlshaber in einen Kampf eingreifen muss und zudem abgeschossen wird, dann sollte ich mein Offizierspatent wegen Unfähigkeit zurückgeben“, schloss Taresi ernst.

„Schon gut“, unterbrach ich ihn mit einem Seufzer. „Was gibt es denn so wichtiges?“

Der Mann im Leib eines Offiziersdroiden sah mich eindringlich an. „Ist er… Da drin?“

„Wenn du Laysan meinst, ja, der ist ungefähr hier. Er schläft einen friedlichen Schlaf mit einem schönen Traum.“

„Hat es einen tieferen Sinn, warum du ein halbwüchsiges Kind in dieses Abenteuer zerrst?“

„Hat es einen tieferen Sinn, warum ich in seinem Körper aus dem Nag-System geschmuggelt wurde und er nun vor einem ungewissen Schicksal steht?“, konterte ich trocken.

Wir maßen uns ein paar kurze Momente mit Blicken. Schließlich meinte Taresi: „Ich sehe, du hast Pläne mit ihm. Nun, das ist deine Sache. Es steht mir nicht zu, diesen Aspekt deiner Arbeit zu bewerten oder zu verurteilen, auch wenn ich es gerne wollte.“ Er räusperte sich. Angesichts des Androidenleibs eine vollkommen überflüssige Geste. „Du sollst auf die Brücke kommen. Wir fliegen gleich in kaiserliches Territorium ein.“

Bedauernd warf ich dem roten Banges einen Blick zu. „Ich bin unterwegs.“
 

„Akira!“ Maltran Choaster wandte sich freudestrahlend zu mir um. Ja, richtig, freudestrahlend. Der Bengel hatte mich tief und innig ins Herz geschlossen. Wobei, Bengel war das falsche Wort. Immerhin war dieser Mann schon gut dreitausend terranische Jahre alt. Aber vom Wesen und Gemüt her war er freundlich, unbeschwert und wirklich bestenfalls in einem geistigen Alter von fünfundzwanzig.

„Was gibt es, Maltran?“

„Wir erreichen nun die Grenze zum Kaiserreich. Das Coram-System ist ihre äußerste Verteidigungslinie zum von uns kontrollierten Gebiet. Sie wissen natürlich nicht, welche Welten wir bewohnen und verteidigen. Aber ab hier laufen sie Gefahr, auf unsere Patrouillen zu treffen. Die meisten Vorstöße erfolgen über die neunzehn Planeten dieses Systems.“

„Aha. Haben wir Späher vor Ort oder springen wir ins Blaue?“

„Wir kommen auf der Höhe von Coramundi heraus. Das ist der zwölfte Planet, ein Gasriese. Wir verstecken uns normalerweise in seinen gravitatorischen Schockfronten, wenn wir das System betreten wollen. Das klappt natürlich nur, wenn wir aus der richtigen Richtung kommen.“

„Schon klar. Kein Planet, keine heimliche Ankunft. Aber das beantwortet meine Frage nicht.“

„Nein, wir haben keine Späher im System. Kennst du das Prinzip, dass man schlafende Wächter nicht wecken sollte? Eine Infiltration wird uns nur unnötig erschwert, wenn das Kaiserreich hier zu sehr aufpasst.“

„Verstehe. Und warum hat diesmal niemand einen Späher ausgeschickt? Immerhin springen wir hier mitten ins Blaue.“

„Weil deine Aktion recht herzhaft und flink vom Zaun gebrochen wurde. Mein lieber Akira, wir hatten kaum Zeit, um alles vorzubereiten. Da hat niemand dran gedacht, ein wenig Fleißarbeit zu machen. Abgesehen davon bist du hier um die Iovar etwas zu fragen, oder? Nicht um mit ihnen einen Krieg anzufangen“, tadelte Maltran selbstsicher.“

„Schon gut. Springen wir also in Blaue. Unseren Krieg kriegen wir sowieso noch früh genug.“

Choaster zeigte auf einen Kontursessel neben sich. Ich nickte und schnallte mich auf ihm an. Auch wenn ich defacto eine KI-Rüstung trug, war es vortrefflicher Leichtsinn, die einfachsten Sicherheitsvorkehrungen nicht zu beachten.

„Rücksturz in fünf… Drei… Eins… Rücksturz.“
 

Unser Kommandoschiff verließ das Wurmloch und schwang als erstes von zweitausend Raiderschiffen in den Orbit um den fremden Riesenplaneten ein. Natürlich kamen wir aus einer Richtung, die es uns erlaubte, seinen Ortungsschatten zu benutzen, der Core hatte keine Idioten in seinen Rängen. Oder jedenfalls nicht allzu viele.

In kosmischen Belangen waren diese zweitausend Raider aber nur ein wenig Fliegenschiss auf dem Brüsseler Atomium, gerade im Deckschatten des Gasriesen Coramundi, der nach meiner ersten vorsichtigen Schätzung in etwa doppelt so groß wie unser Jupiter war.

„Explosion gemeldet“, kam es trocken, sehr trocken vom Offizier der Ortungsanlagen.

„Zustand der Flotte!“, blaffte Maltran.

„Flotte ist unversehrt.“

„Explosion deklarieren!“

„Großkalibrige Explosion auf Fusionsbasis.“

Ich wechselte mit Maltran Choaster einen ernsten Blick. „Haben wir doch Schiffe in der Gegend? Und werden diese gerade gejagt?“

„Wenn es unsere Schiffe sind, habe ich sie nicht herbefohlen. Wir verlassen die Umlaufbahn von Contramundi, um ein besseres Ortungsbild zu erhalten. Zwanzig Raider sollen uns begleiten.

Ist ja ein toller Anfang für eine diplomatische Mission.“

Ich spürte, wie meine Hände zu kribbeln begannen. Unsere ursprüngliche Idee hatte vorgesehen – okay, okay, MEINE ursprüngliche Idee – ganz hochoffiziell ins Staatsgebiet des Kaiserreichs einzufliegen und um Erlaubnis zur Weiterreise zum kaiserlichen Hof auf Iotan zu bitten. Das ganze natürlich unter dem Wimpel einer diplomatischen Mission. Hatten mir zweitausend Begleitschiffe, unter ihnen achtzehn Offiziersschiffe, bis dato Kopfschmerzen bereitet, so ahnte ich jetzt, dass es nicht das Dümmste war sie mitgenommen zu haben.

„Ortung! Schlachtkreuzer, Maven-Klasse, kommt auf Fluchtkurs schnell um den Planeten herum. Schlachtkreuzer wird verfolgt. Verfolger sind drei Zerstörer der Kolxar-Klasse, fünf Leichte Kreuzer der Liggarn-Klasse und zwei Schlachtkreuzer der Maven-Klasse. Fluchtkurs führt Schlachtkreuzer in zehn Stunden auf Fluchtpunkt, der es ihm erlaubt, aus dem System zu springen. Aber soviel Zeit wird er nicht haben.“

Mittlerweile gab ein Hologramm das Geschehen wieder. Die schlanken Schiffskeile wurden nicht ganz abstandsgetreu, aber recht detailliert wiedergegeben und zeigten unter anderem schweres Waffenfeuer, welches zwischen dem Verfolgten und den Verfolgern ausgetauscht wurde. Wieder erfolgte eine Explosion, welche als Schraffierung ins Hologramm eingebaut wurde.

„Breitbandfunk mit Bildsignal vom verfolgten Schiff, keine Chiffrierung.“

„Durchgeben auf Hauptschirm.“

Die Szenerie wechselte von der Ansicht der Raumschlacht zu einer, nun, hübschen, aber mit Blut verschmierten Offizierin, die in ihrem Kommandositz festgeschnallt war, während Rauch und versprühter Löschschaum ihr Bestes gaben, um die Sicht zu verschlechtern. Eine niedliche kleine Explosion entführte mich in Gedanken in einen wirklich schlechten B-Movie.

„An alle befreundeten Kräfte, hier spricht Leutnant Yuna Omaret Lencis! Admiral Gent Ohana Lencis ist gefallen, sein Flaggschiff LENCIS wurde zerstört! Ausgeführt haben dies die imperialen Streitkräfte, ohne eine Begründung zu liefern! Anschließend wurde auch die TOSSAN beschossen und schwer beschädigt. Kapitän Fogar Lylan Lencis und der Erste Offizier sind gefallen! Im Moment kommandiere ich die TOSSAN von der Zweitbrücke aus und versuche zu entkommen!“ Die junge Frau senkte den Blick, während hinter ihr Sanitäter Verletzte bargen und Informationen hin und her gebrüllt wurden. Als sie wieder aufsah, war der Blick ernst. „Ich hoffe, dass diese Information auf irgendeinem Weg ein verbündetes Schiff erreicht. Ich weiß nicht was passiert ist, aus welchem Grund unsere eigenen Streitkräfte uns angegriffen haben, aber es ist passiert und ich glaube nicht daran, dass die schwer beschädigte TOSSAN wirklich entkommen kann. Ich kann nur vermuten, dass der Kaiser sich letztendlich dazu entschlossen hat, eine Säuberung bei den Lencis durchzuführen, und wenn dem so ist, dann müssen all unsere Schiffe, unsere Offiziere, unsere Angehörigen dringend gewarnt werden, bevor die Säuberung auch sie erfasst! Ich… Ich befürchte, wir befinden uns ab jetzt in einem Bürgerkrieg. Zu schade, dass ich das Ende nicht mehr erleben werde. TOSSAN Ende.“

„Die Nachricht liegt jetzt auf Schleife und wird mit maximaler Sendekapazität ausgestrahlt. Die verfolgenden Schiffe versuchen den Sender zu stören. Nur weil wir relativ nahe am Geschehen sind, konnten wir eine so gute Übertragung empfangen.“

„Eine Säuberung?“ Nachdenklich strich sich Maltran über sein Kinn. „Das Kaiserreich ist ein absolutistisches Regime, mal mit einem guten, mal mit einem schlechten Anführer. Einer der Gründe, warum meine Vorfahren dieser Welt den Rücken gekehrt haben. Oder die Naguad. Säuberungen gegen Familien oder ganze Flotten gab es schon immer, aber in den letzten hunderten Jahren habe ich noch nicht davon gehört, dass der Kaiser es mit einer Familie von der Größe der Lencis aufgenommen hätte.“

Ich lachte leise. „Lencis, hm? Ich glaube, wir würden recht gut vor dem Kaiser dastehen, wenn wir ihm helfen, diese kleine Säuberung durchzuführen.“

„Akira, du wirst doch nicht ernsthaft…“

„Andererseits ist Blut dick, und Worte sind nur Schall und Rauch. Es scheint so, als wäre ich mit diesem Leutnant da verwandt. Wer weiß um wie viel Ecken. Aber wer sind wir schon, dass wir ein hübsches Mädchen in Raumnot in Stich lassen.“

„Oh nein, Akira, bitte sag mir nicht, dass du dich in einen internen Konflikt des Kaiserreichs einmischen willst! Akira, wir sind hier in diplomatischer Mission, nicht damit du den strahlenden Helden spielst!“

„Bring uns auf Abfangkurs. Ich war schon immer schlecht darin, Mädchen leiden zu sehen. Aber ich habe nicht vor, die anderen hübschen Mädchen an Bord der Verfolgerschiffe auszulöschen, wenn es sich vermeiden lässt.“

„Falls es hübsche Mädchen sind, und keine vertrockneten alten Männer“, wandte Maltran bissig ein.

„Zieh noch fünfzig weitere Raider nach, Maltran. Nur für den unmöglichen Fall, dass dieser unglaubliche Zufall eine Falle ist.“ Ich zwinkerte ihm zu. „Ich bin in meinem Banges. Bitte lege mir eine direkte Kommunikationsleitung rüber und lass die anderen Banges des Verbandes klar machen und gib den Befehl: Flotte klar zum Gefecht.“

„Na toll. Na toll. Die Herrin hat mich davor gewarnt, wenn in dir der strahlende Ritter durchbricht“, murmelte Maltran Choaster dumpf. Dann aber grinste er flüchtig. „Sie hat mir aber nicht gesagt, dass es so einen Riesenspaß machen würde. Geh ruhig spielen, ich habe hier alles im Griff.“

„Ich danke dir, mein Bester.“

„Wie bist du ohne mich nur jemals ausgekommen?“

Diese Antwort erheiterte mich. Aber sie bewies mir auch, dass ich den uralten Core-Admiral längst in mein Herz geschlossen hatte. Er, der mich ohne zu zögern akzeptiert hatte, obwohl ich nach seinen Maßstäben noch ein Kind war.
 

„Maltran“, sagte ich, als ich mich in meinem Banges anschnallte, „gib bitte folgende Botschaft an die TOSSAN durch: Aris Ohana Lencis kommt zur Unterstützung.“

„Korrigiere mich wenn ich mich irre, aber ist dein Zweitname nicht Arogad?“

„Ich habe viele Namen.“

„In meiner Gesellschaft gelten Leute mit vielen Namen als unentschlossen.“

„Und damit haben sie wahrscheinlich Recht. Nun sende es schon.“

„Du hast das Kommando“, brummte er. Und in diesen Worten hatte mehr gelegen als die Bestätigung eines Befehls.

***

Die Situation spitzte sich immer weiter zu. Die KI-Phänomene im Krankenhaus nahmen immer weiter zu, eine natürliche Elektrizität ließ allen Menschen in Reichweite die Haare zu Bergen stehen. Im wahrsten Sinne des Wortes war eine große Anspannung zu spüren. Dies ging soweit, dass Lichter brannten, obwohl sie von niemandem angeschaltet worden waren, diverse Elektrogeräte arbeiteten, Getränkeautomaten spuckten ihre Waren aus, in Wasserspendern schien die Flüssigkeit zu kochen und die Menschen gingen durch depressive und euphorische Phasen.

Im Zentrum dieser Aktivität lag ein junges Mädchen, das japste wie ein Kolibri auf dem Mount Everest und kurz davor stand, den Kampf gegen den übermäßigen Stress zu verlieren.

„Wir haben ihn!“, rief Sakura aufgeregt. „Futabe-sensei ist auf dem Weg hierher! Er wird mit einem Eagle per Orbitaltransit aus Tibet herüber gebracht! In einer Stunde kann er hier sein!“

„Er soll sich beeilen“, murmelte Makoto, Sekunden bevor er zusammenklappte wie ein Kartenhaus.

Sofort war Ami zur Stelle und nahm seinen Platz ein. Kei, der in dieser Gilde der Ki-Meister nicht wirklich etwas zu tun hatte, richtete den Freund wieder auf und half ihm in den Vorraum. „Willst du was trinken?“

„Was? Nein. Ich muss da wieder rein, ich muss…“

„Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten! Trink erstmal was!“

„Du verstehst das nicht! Yohko ist meine Schutzbefohlene! Und wenn ich mein Leben für ihres geben muss, ich…“

Joans Hand legte sich sanft auf Makotos Wange. „Ist das wirklich dein Ernst, Makoto?“

„Du weißt wie sehr ich dich liebe“, sagte der junge Mann ernst. „Aber dies ist eine Pflicht wie die für einen Soldaten. Ich wurde mein Leben lang darauf trainiert, und ich habe bereits einmal dabei versagt, ihr das Leben zu retten. Ich…“

„Es ist in Ordnung. Ich verstehe dich. Wenn ich KI-Kräfte hätte, dann würde ich ebenfalls da drin sein und mein Leben wagen.“

Erleichtert und auch unendlich erschöpft legte Makoto sein Gesicht in Joans Hand. Kurz darauf sackte er weg, rutschte gegen sie und lag mit dem Kopf auf ihrem Busen.

Mit einem Blick, der tiefste Liebe und Wärme ausdrückte, schloss sie ihn in die Arme. „Erhole dich gut, mein tapferer Makoto.“ Ein paar einsame Tränen flossen ihre Wangen hinab und landeten auf seinem Gesicht. „Oh, verdammt, was sollen wir nur Akira sagen?“

„Noch ist sie nicht tot“, stellte Kei trotzig fest. „Und die KI-Meister kämpfen jede Sekunde darum, damit sie gerettet werden kann! Nicht um den Tod hinauszuzögern, sondern um sie aus dieser Hölle zu holen.“

Joan drückte Makoto noch etwas mehr an sich. „Ich weiß. Ich weiß ja.“

„Was zur Hölle…?“, klang Acatis Stimme auf. Aufgeregt schwatzten die bis vor kurzem so konzentrierten KI-Meister durcheinander.

„Was ist passiert?“, rief Kei aufgeregt.

„Ihr KI sackt ab! Endlich!“

„Ist das ein gutes Zeichen?“

„Ein sehr gutes. Ich… Oh nein!“

Von einer Sekunde zur anderen bäumte sich Yohko in ihrem Bett auf. Sie schien halb im Bett zu stehen, ihre Augen weit aufgerissen. Und dann wurden die KI-Meister davon geweht wie welke Blätter in einem Herbststurm. Einige flogen durch die Scheiben, andere wurden von der Wand oder der Decke gestoppt.

Und dann… Dann verkündete der Herzmonitor mit dem schlimmsten aller Töne den Schrecklichsten: Herzstillstand.

Makoto schreckte auf, sah hoch. In einem einzigen Moment realisierte er die Lage, wollte aufspringen. Aber Joan hielt ihn fest. „Lass es, Mako. Lass es. Es ist besser so.“

„Ich… Ich habe schon wieder versagt.“

Die anderen KI-Meister rappelten sich nach und nach auf. Je nach Temperament fluchten sie herzhaft, begannen zu weinen oder starrten einfach stumm Löcher in die Luft. Es war vorbei. Sie konnten nichts mehr für Yohko tun.

Sakura, die Augen von Tränen verschwommen, erhob sich langsam von der Wand, die ihren unfreiwilligen Flug gestoppt hatte, nahm ein sauberes Tuch auf und legte es ihrer Cousine über das Gesicht. Dann brach sie über den leblosen Körper zusammen und schluchzte ihren ganzen Kummer hinaus.

***

Keine drei Kilometer entfernt horchte ein kleiner Fuchs auf, als die KI-Schockwelle durch das Krankenhaus und das Umland tobte. Der Fuchs spürte, wie das KI von einer Viertelmillion Menschen aus dem Takt gebracht wurde, wie Menschen nun vor Energie überflossen oder am aus dem Rhythmus gebrachten körpereigenen Energiefeld zu sterben drohten.

Der Fuchs spürte noch mehr, weit mehr. Zum Beispiel, wie rund um das Krankenhaus neue, starke KI-Felder entstanden. Eine interessante Entwicklung. Dai-Kitsune-sama gähnte ausgiebig und rollte sich zusammen. Eine sehr interessante Entwicklung.

***

Für einen Moment schreckte ich hoch, als hätte ich vor mich hin gedöst und wäre von einem ungewohnten Geräusch geweckt worden.

Ich lauschte in mich hinein, konnte aber nichts entdecken, was dieses Empfinden ausgelöst hätte.

„Akira, alles klar?“

„Mir geht es gut.“

„Dein KI-Feld geriet kurz mit einer unbekannten Energie in Resonanz. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Quelle?“

„Nicht festzustellen.“

„Dann belassen wir es dabei. Was machen unsere Gäste?“

„Wir treten jede Sekunde in ihren aktiven Ortungsbereich.“

„Hast du meinen Spruch gesendet?“

„Ja, und er war unerwartet effektiv. Die Verfolger bremsen mit Höchstwerten ab. Aber, Akira, ich weise dich noch mal darauf hin, dass wir quasi nichts über die Art dieses Konflikts wissen! Wir können uns schwer die Hände verbrennen, und unser Vorhaben, die alte Core-Welt aufzusuchen könnte vereitelt sein.“

„Du bist kein Spieler, oder, Maltran?“

„Ich verlasse mich lieber auf klare Fakten als auf den Zufall“, brummte der andere unwillig.

„Gut, dann öffne mir einen Kanal.“

„Kanal steht.“

„Hier spricht Aris Lencis. Ich rufe die TOSSAN!“

Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte die junge Frau von vorhin. Ihr Gesicht war immer noch mit Blut verschmiert. „Was denn? Für eine Sekunde dachte ich wirklich, wir wären gerettet. Aber ganz so fix geht es dann wohl doch nicht. Danke für die Hilfe, fremde Einheit. Ab hier kommen wir alleine klar.“

Ich schmunzelte. „Gern geschehen. Gibt es sonst etwas, was ich für Sie tun kann, Leutnant?“

„Ich weiß nicht. Die Zeit ein paar Stunden zurückdrehen, mir ein Dutzend Schiffe der Familie beschaffen, die Verfolgerflotte zerstören, etwas in der Art.“

„Punkt eins und zwei bieten leichte Schwierigkeiten. Brauchen Sie Hilfe bei Reparaturen? Haben Sie Feuer an Bord? Brauchen Sie medizinische Unterstützung?“

„Danke, aber Sie haben uns schon mehr als genug geholfen. Wie kann ich Sie nennen?“

Wieder musste ich schmunzeln. „Aris Lencis, wenn es Recht ist.“

„Sie bestehen darauf? Jeder Spaß hat seine Grenzen.“

„Ich kann nichts dafür. Dieser Name wurde mir in die Wiege gelegt. Ich weiß, ich heiße genauso wie meine Urgroßmutter.“

„Unsinn. Seit Aris Ohana Lencis hat niemand mehr den Namen Aris angenommen oder verliehen bekommen. Niemand würde es wagen wollen, in ausgerechnet ihre Fußstapfen treten zu wollen.“

„Dann waren meine Eltern aber sehr unbedacht.“

„Dann sind Sie entlarvt. Sie sind kein Iovar und garantiert auch kein Lencis.“

„Punkt eins ist richtig. Ich bin ein Naguad.“ Gut, das war halb gelogen und halb wahr. Denn in meiner Naguad-Hälfte war ein Viertel Iovar enthalten.

„Ein Naguad, also. Und was tun Sie hier, so weit weg von Ihrem Imperium? Vor allem weitab der normalen Einflugbereiche?“

„Ich wollte eigentlich in diplomatischer Mission zum Kaiser, aber dann habe ich gehört, dass eine Verwandte von mir in Not ist. Das konnte ich schlecht ignorieren.“

Die junge Frau zog die Stirn kraus. „Schicken Sie mir eine Bildübertragung.“

„Maltran, sieht sie mich nicht?“

„Du wolltest einen Kanal. Von einer Videoverbindung hast du nichts gesagt. Okay, okay, habe sie geschaltet.“

„Ich danke dir, Maltran.“

„Hm“, machte Yuno Omaret Lencis. „Eine gewisse Familienähnlichkeit ist auszumachen. Sie sind Naguad? Wie lautet Ihr Naguad-Name?“

„Vorsicht, Akira, die Verfolgerschiffe beschleunigen wieder.“

„Zieh die Flotte nach. Yuno, ich glaube, Ihre Verfolger wittern Morgenluft. Treten Sie in den Schutz meiner Flotte ein. Das wird die Angreifer hoffentlich abschrecken.“

„Lenken Sie nicht vom Thema ab. Sie beanspruchen den Namen Ohana Lencis, und ich will von Ihnen wissen… Beim Kaiser, sind das Raider-Schiffe?“

„Meine Raider-Schiffe. Seien Sie unbesorgt, Yuna.

„Bei den Pulsaren von Rognan, wer sind Sie?“, hauchte die junge Frau.

„Aris Lencis Arogad. Zu Diensten.“

„Arogad?“ Sie senkte den Blick. „Aris Arogad. Natürlich. Da wird mir einiges klar. Und ich hatte gehofft, ich würde verschont bleiben.“

„Verschont bleiben?“, argwöhnte ich.

„Die Nachrichten über Sie haben schnell die Runde gemacht, Aris Arogad. Und wie es aussieht, haben Sie wirklich das Recht, den Namen Lencis zu tragen. Ob Aris Ihnen aber auch den Namen Ohana zugesteht… Aber das führt zu weit. Wie kommen Sie an Raider, Aris?“

„Für den Moment wäre es mir ganz lieb, wenn Sie mich bei meinem Erdennamen nennen. Akira Otomo.“

Ich dachte einen Augenblick, die junge Frau würde der Schlag treffen. „Und der Tag hatte so gut angefangen. Dagegen ist der vernichtete Schlachtkreuzer ja eine Erholung gewesen. Lassen Sie mich raten, Ar… Akira Otomo: Die Raider gehorchen Ihnen aufs Wort?“

„Aufs Wort“, bestätigte ich. „Woher wissen Sie so viel über mich?“

„Wir unterhalten noch immer Handelskontakte mit dem Imperium. Und gute Nachrichten verbreiten sich schnell, schlechte noch viel schneller.“

„Wollen Sie etwa andeuten, ich wäre eine schlechte Nachricht?“, argwöhnte ich.

„Wir werden sehen.“

Na, der hatte gesessen…
 

5.

Es war eine wundervolle Welt, voller Leichtigkeit, Unbeschwertheit und einem warmen, alles umhüllenden Licht. Alles war so einmalig, so schön und so… so… so… Einfach.

Yohko Otomo tanzte durch das Licht, unbeschwert und leicht, sprang über Wolken, drehte sich über gewaltigen, spiegelglatten Meeren im Kreis und ließ sich lachend in eine herrlich duftende Blumenwiese fallen. Oh, dieses Land war so wundervoll.

Hier musste sie an nichts denken, sie musste mit niemandem konkurrieren, sie musste keine Entscheidungen treffen und sie musste für niemanden da sein. Sie war frei, frei, frei.

Von hier würde sie nie wieder fortgehen. Garantiert nicht. Niemals, für niemanden.

Sie würde… Verwundert hielt Yohko inne. Sie betrachtete ihre Hände. Ballte sie zu Fäusten und entfaltete sie wieder. War sie tot? Konnte das sein? Hatte sie ihre weltliche Hülle aufgegeben und ging sie nun in die Ewigkeit ein? Komisch, sie hatte immer geglaubt, der Tod wäre das ultimative Ende. Dass danach nichts mehr kam, dass ihr Verstand erlöschen würde wie eine Kerze im Schneesturm. Gnädiges, alles umfassendes Vergessen, totale Annihilation. Wenn nichts mehr existierte, dann musste sie auch nichts fürchten.

Nun, vielleicht hatte Yoshi Recht, und es gab wirklich diesen Ort namens Nirvana, in das die Seelen eingingen, wenn sie all ihre Inkarnationen hinter sich gebracht hatten und genug gereift waren, um den himmlischen Frieden anzunehmen. War dies hier die Vorstufe zum Nirvana? Oder stand sie kurz vor ihrer Wiedergeburt? Komisch, es fiel ihr so leicht zu denken, dass sie tot war…

Yoshi, ging es durch ihre Gedanken. Wenn sie wirklich tot war, was machte er dann nur? Hoffentlich beging er keine Dummheit! Die ganzen Wochen, in denen er ihr mit dieser Schachtel nachgelaufen war, in der wer weiß was drin war, seine innige Liebe zu ihr, seine Sanftheit im Bett… Wieder verkrampfte sie ihre Hände, und diesmal tat es weh, als ihre Nägel in ihr Fleisch schnitten. Yoshi. Das hatte sie nicht gewollt, das hatte sie niemals gewollt. Aber wenn er starb, wenn er zu ihr kam, hierher, zu diesem herrlichen Moment, in diese wundervolle Welt, dann… Nein, das war egoistisch von ihr. Nur weil sie tot war, musste ihr Yoshi nicht auch noch folgen.

Dennoch. Tiefe Sorge um ihn erfüllte sie. Sie hatte Yoshi geliebt. Nein, das war falsch. Sie liebte Yoshi noch immer.

Verwundert hob sie ihre rechte Hand und betrachtete das Blut, das den Handballen herab lief. Wieso konnte sie bluten?

„Na, das nenne ich mal eine Überraschung“, erklang eine amüsierte Stimme hinter ihr. „Ich glaube, das ist das letzte Mal vorgekommen, als… Hm, es sind wohl gut zweitausend Jahre, denke ich.“

Yohko wandte sich um. Erstaunt musterte sie die große, schwarzhaarige Frau, die sie freundlich anlächelte. „Willkommen, Jarah Arogad. Oder soll ich dich Lilian Jones nennen?“

„Eh?“, machte sie erstaunt. „N-nein. Ich bin… Ich war Yohko Otomo.“

„So, so. Hast du dich endlich entschieden. Mein Name ist…“

„Dai-Kuzo-sama!“ Ehrfürchtig verbeugte sie sich vor der großen Spinne.

„Aber, aber, mein Kind, was hast du denn? Einen Anfall von Ehrfurcht? Dabei ist alles was ich bin, nur schrecklich alt.“ Behutsam berührte die große Spinne Yohko an der Schulter und richtete sie wieder auf. „Es freut mich, dass wir uns endlich kennen lernen. Leider kann ich diese Welt nicht sehr oft verlassen, sonst hätte ich dich längst früher begrüßt, Yohko Otomo.“

„Diese Welt? Ist sie… Das Paradies?“

Kuzo schmunzelte und hob das Kinn der jungen Frau an. „Ja, dies ist das Paradies. Und du bist hier eingegangen, weil dein Herz rein, dein Mut groß und deine Kraft unendlich ist. Und du bist unendlich interessant für mich und mein Volk.“

Die große Spinne drückte der verdutzten jungen Halb-Naguad einen Kuss auf die Wange. „Du und dein Bruder, ihr seid sehr große Hoffnungen für uns. Sehr große in sehr tiefer Verzweiflung.“

„Verzweiflung?“

„Später. Ich erzähle dir später davon. Aber jetzt wollen wir uns erstmal um dich kümmern, Yohko Otomo.“ Dai-Kuzo betrachtete die junge Frau nachdenklich und ausgiebig. „Dai-Okame-sama.“

Ein riesiger Wolf sprang an ihre Seite und brummte ernst.

Freudig ging Yohko in die Knie und ließ ihre Hände über die Ohren des Wolfs gleiten. „OKAME! Ich habe dich so lange nicht gesehen! Wo hast du nur gesteckt?“ Dann durchfuhr sie Entsetzen. „Bist du… Sind wir… Sind wir alle…?“

„Alle Teil des Paradieses, ja, junge Arogad“, erwiderte Kuzo schmunzelnd. „Dai-Okame-sama, können wir?“

„Natürlich, Herrin.“ Aus dem Wolf wurde ein großer, grauhaariger Mann. „Beginn bitte.“

Die große Spinne lächelte, dann legte sie Yohko beide Hände auf die Wangen. Ein KI-Feld spannte sich zwischen ihren Händen, das sich schnell über ihren ganzen Körper legte. Okame spendete seinerseits Unmengen an KI an die große Spinne selbst.

Und urplötzlich begann das phantastische. Ein Glitterregen schien aus Yohkos Haar hinauszustieben, immer intensiver, Millionen kleinster, in der Sonne glitzernder Fragmente. Und nicht nur da, gleißende Tränen traten ihr aus den Augen und ihr Körper erstrahlte ebenfalls in dem Glitter. Als sie in einer Wolke des Glitters verschwand, hatte Yohko für einen winzigen Moment Angst. Aber da waren immer noch Dai-Kuzos starke, warme Hände, die sie hielten, so weich, so sanft.

Dann lichtete sich der Flitterregen und Dai-Kuzo lächelte sie an. „Braune Haare stehen dir wirklich besser, Yohko Otomo.“

Verwundert zog sie ihr Haar in ihr Sichtfeld. Tatsächlich. Das weißblond war verschwunden. Und nicht nur das, ihr ganzer Körper war… Ihr Körper war…

„Was hast du getan?“, fragte sie ungläubig.

„Ich habe nur das Elwenfelt-Erbgut aus deiner DNS extrahiert. Den Rest hast du ganz alleine gemacht, Yohko-chan.“ Dai-Kuzo beugte sich vor, bis ihre Lippen fast die der jungen Frau berührten. „Oh ja, du bist so verteufelt interessant. Ich frage mich, wie ich bis jetzt widerstehen konnte.“

„Dai… Kuzo… Sama…“, stammelte Yohko, aber sie hatte nichts, was sie entgegen setzen konnte. Sanft berührte Kuzo mit ihren Lippen die von Yohko Arogad, und ein Schauer aus Licht schien von Mund zu Mund zu gehen. Schließlich leuchtete Yohko wie von innen heraus in einer Aura, die die Schönheit eines Feuerwerks bei weitem noch übertraf.

Und dann… War sie sie.

***

Nachdem die erste, unglaublich schwere Trauer abgeklungen war, erhob sich Yoshi aus seiner Ecke, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging wieder in den Raum.

Die anderen trösteten sich so gut es ging gegenseitig. Nur Torum Acati stand alleine und haderte mit sich selbst, dass er Jarah Arogad hatte sterben lassen.

Sakura war am Boden zerstört, aber zumindest registrierte sie die Bewegung ihres ehemaligen Schülers. Sie sah Doitsu und Acati an, die beide verstehend nickten und Yoshi hinter her gingen.

Im Krankenzimmer stand Yoshi lange neben Yohkos Bett. Dann endlich öffnete er seine Jacke und zog eine kleine Schachtel hervor. Vorsichtig platzierte er sie auf ihrer Brust.

„Da ist ein Ring drin, Yohko“, flüsterte er sanft. „Du hast mir in den letzten neun Monaten nie die Gelegenheit gegeben, ihn dir zu schenken. Ich wollte dir damit ein Versprechen geben. Ich wollte für immer mit dir zusammen sein.“ Er schluckte hart. „Ich wollte dich heiraten, wenn die mächtige und einflussreiche Jarah Arogad überhaupt mit einem kleinen Major wie mir zufrieden gewesen wäre.“ Er legte beide Hände vor sein Gesicht und seufzte tief. „Ich liebe dich so sehr.“

Es dauerte einige Zeit, bis sich der junge KI-Meister gefasst hatte. Er fragte sich einen Moment, wo seine Eltern in diesem Moment wohl steckten und warum sie in Europa sein mussten anstatt hier zu sein, um sich um ihn zu kümmern. Wie immer eigentlich. Dies hier war seine eigentliche, seine richtige Familie, und nun wo Akira verschollen war, da war Yohko alles gewesen, was davon noch übrig gewesen war. Und jetzt… Zögernd streckte er seine Hand aus, wollte nach dem Tuch greifen, welches ihr Gesicht bedeckte.

„Lass es lieber. Behalte sie so in Erinnerung, nicht so eingefallen, tot und leer“, mahnte Torum Acati.

Doch Yoshi hörte nicht auf ihn, riss das Tuch fort. „Torum, eine Frage. Du hast schon mehr Menschen sterben gesehen. Geht das immer so schnell mit dem einfallen und leer sein?“

Irritiert spreizte der Naguad die Hände. „Äh, nein. Normalerweise verlieren Tote nicht so schnell ihr Gesicht. Und normalerweise sind sie innen auch nicht hohl. Was ist hier los, beim Core?“

„Yoshi. Dein Ring macht sich gerade selbstständig“, mahnte Doitsu.

Tatsächlich, die Box mit dem Ring versank in Yohkos Körper. „Was ist hier los, verdammt? Träume ich das alles nur? Bitte, lasst es einen schlechten Traum sein!“

„Jungs… Wieso ist meine KI-Rüstung für euch so interessant?“, klang eine mahnende Stimme hinter ihnen auf.

Yoshi wirbelte herum, gefangen in wilder, unmöglicher Hoffnung. Aber die junge Frau, die plötzlich am Fußende des Bettes stand, trug eine Slayer-Uniform und ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Außerdem hatte sie braunes Haar.

„Y-yohko?“

„Pink Slayer, wenn ich bitten darf“, mahnte sie. Übergangslos verschwand die KI-Rüstung. Das braune Haar blieb, aber die Frau, die in der Arogad-Hausuniform vor ihm stand, war… „YOHKO!“

„Yoshi, du erdrückst mich“, mahnte sie lachend. Nun wurde es auch draußen lebendig. Die anderen erwachten aus ihrer Lethargie und Trauer. „Yohko?“ „Yohko!“ „Yohko!“

Yoshi drückte die Frau an sich, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und schluchzte. „Yohko. Ich dachte ich hätte dich sterben gesehen. Wie ist das möglich? Wie ist das nur möglich?“

Die junge Frau schloss ihre Arme um Yoshi und begann leise zu weinen. „Yoshi, für einen Moment, für einen winzigen Moment dachte ich, ich könnte alles hinter mir lassen. Wirklich alles. Nur nicht dich.“

Sie hielten einander ein wenig von sich ab und sahen sich in die Augen.

„Wie ist es passiert?“

„Opa hat mir das Mittel gegeben. Er hat gesagt, dass ich meine eigentliche Stärke nie erreicht habe. Die Elwenfelt-Gene würden alles in mir blocken, und ich müsste mein Leben riskieren, um diese Sperre zu durchbrechen. Er hat gesagt, wenn ich meinem Bruder, wenn ich meiner Welt nützlich sein wollte, dann müsste ich das KI-Erbe meiner Familie beherrschen.“

Der Raum füllte sich nach und nach, aber gebannt hörten die anderen zu, wie die junge Frau in Yoshis Armen erzählte.

„Ich wusste nicht, dass es so dramatisch werden würde. Oder dass es so lange dauern würde. Und auch nicht, dass ihr alle euch solche Sorgen um mich machen würdet. Und ich hatte keine Ahnung, dass es so wehtun würde. Aber ich musste doch etwas tun, meinen Teil zum Schutz dieser Welt beitragen. Deshalb habe ich es genommen.“

„Was ist dann passiert? Du hast so viel KI produziert, wurdest künstlich ernährt und…“

„Ich kenne die Details nicht. Aber als ich die Sperre durchbrach, da hatte ich längst instinktiv eine KI-Rüstung um mich herum aufgebaut. Und dann war ich plötzlich in der Welt von Dai-Kuzo-sama. Ich bin in ihre Welt eingebrochen und habe meine alte KI-Rüstung zurückgelassen. Ich…“

„Das erklärt, warum plötzlich kein Herzschlag mehr angezeigt wurde. Und Dai-Kuzo hat dir geholfen?“

„Sie hat mir den Weg gezeigt. Gegangen bin ich ihn alleine. Aber ich glaube, ich habe jetzt mein volles Potential entdeckt. Endlich können wir Seite an Seite kämpfen. Endlich brauchst du auf mich keine Rücksicht mehr nehmen.“

„Yohko, du hättest ein solches Risiko nie eingehen brauchen! Ich hätte dich immer beschützt!“

„Das weiß ich doch. Und genau deswegen habe ich es gemacht. Wie kann ich meinen Helden so lange allein lassen?“

„Nun küss sie endlich, damit ihr voneinander ablasst und wir sie auch mal in den Arm nehmen können“, mahnte Sakura säuerlich. Aber ihre Miene war gelöst, verheult zwar, aber unendlich erleichtert.

Yohko und Yoshi lächelten sich verstehend an und küssten sich sanft.

Dabei entstand eine KI-Reaktion, die sich als weißliche Blase aus purem Licht von diesem Punkt ausbreitete.
 

Auf der Straße, im Krankenhaus und im weiteren Umkreis litten Mensch und Tier immer noch unter der KI-Schockwelle, der sie ausgesetzt gewesen waren. Manchen war nur schwindlig, andere hatten sich übergeben oder waren desorientiert.

Manch einer war katatonisch, aber die meisten klagten lediglich über Kopfschmerzen.

Doch die Blase aus weißem Licht breitete sich aus, erfüllte schnell den Bereich der KI-Schockwelle und ging weit darüber hinaus. Diese Kraft, diese außergewöhnliche Energie half den Menschen und Tieren unbewusst, ihr durcheinander gewirbeltes KI zu ordnen und ihr körperliches Wohlbefinden zurück zu gewinnen. Bei vielen setzte eine Euphorie ein, die all die Schmerzen und Schrecken wert zu sein schien.

***

An verschiedenen Orten auf dieser Welt wandten sich Menschen der Eruption zu.

Eikichi Otomo nickte wissend und erleichtert.

Michael Berger haderte trotz des guten Endes noch immer mit sich selbst, mit seiner Entscheidung und wischte sich die endlos fließenden Tränen von den Wangen.

Meister Futabe entschloss sich spontan, nicht ins Hospital zu gehen, sondern auf seinen Tempelberg. Dort betete er für die Zukunft von Yohko Otomo und seinem Enkel.

Dai-Kitsune öffnete ein Auge, zwinkerte und gähnte. Dann beschloss sie, dass ihre Verbannung beendet war und sie endlich wieder zu den anderen durfte.

Und Dai-Kuzo-sama strich sich sinnend über ihre Lippen. Sanft sagte sie: „Sehr interessant, Yohko Otomo. Sehr interessant.“
 

6.

„Sachen gibt es. Raider sind dazu da, um uns zu überfallen. Ich hätte nie geglaubt, mal von ihnen gerettet zu werden.“

Der geballten Macht von siebzig Raidern waren die Angreifer ausgewichen. Kein Wunder. Dabei hatte ich nicht einmal die restlichen, fast zweitausend Schiffe nachgezogen.

Und nun stand ich auf der Zweitbrücke der TOSSAN, während im ganzen Schiff Reparaturmaßnahmen stattfanden.

Nachdenklich strich sich Yuna Lencis über ihre Wangen. Das erste was sie getan hatte als ihr Schiff außer Gefahr war, das war sich verarzten zu lassen und sich zu waschen gewesen.

Ich lachte und legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter. „Die Zeiten ändern sich. Das Universum ändert sich. Gestern dein Feind, heute dein Freund und morgen vielleicht wieder dein Feind, wer kann das schon sagen?“

„Hm“, machte sie. „Hm.“

„Was uns direkt zum Thema bringt. Warum?“

„Was, warum?“

„Warum haben kaiserliche Streitkräfte euch angegriffen?“

„Warum nicht? So was passiert immer mal wieder. Ein Senator ist beim Kaiser in Ungnade gefallen, eine Familie agiert nicht so wie der Generalstab es will, der Kaiser hat schlecht gegessen, es gibt tausend Möglichkeiten. Dann wird eben ein Exempel statuiert. Oder gleich der ganze Familienverband ausgelöscht. An die Lencis hat sich der Kaiser allerdings noch nicht gewagt. Ich frage mich, was auf der Hauptwelt passiert ist, damit wir sogar hier draußen den Ärger noch spüren.“

„War es dann gut oder schlecht, dass ich geholfen habe?“

Abwehrend hob die Offizierin die Arme. „Gut, gut, gut natürlich! Vor allem von meinem Standpunkt und dem meiner Crew aus gesehen!“

„Ist schon gut, ich habe nicht vor das wieder rückgängig zu machen“, beruhigte ich die Lencis. „Die Frage ist nur, wie soll es weitergehen? Ich muss nach Iotan, um eine Bitte zu äußern und eine Frage zu stellen. Wie finden wir heraus, wie ernst der Konflikt ist?“

„Wir springen ins Nachbarsystem. Dort werden wir hoffentlich mehr herausfinden, Aris Lencis.“

„Akira Otomo reicht.“

„In meiner Kultur gelten Menschen mit vielen Namen als…“

„Als unentschlossen, ich weiß“, schmunzelte ich. „Also dann, auf ins Nachbarsystem. Ich bin schon sehr gespannt, was uns erwartet.“

Argwöhnisch betrachtete mich die hübsche Offizierin. „Du hast wohl was gegen Langeweile, oder?“

„Langeweile? Dieses Wort kenne ich nicht. Rund um mich herum existiert immer nur Hochspannung.“

Yuna Lencis seufzte ergeben. „Das habe ich befürchtet. Deshalb hatte ich gehofft, von dir verschont zu bleiben, Akira Otomo. Na, was passiert ist, ist passiert. Deine Befehle, bitte.“

„Befehle?“ Argwöhnisch hob ich eine Augenbraue.

„Du bist ein Ohana Lencis. Ich bin von einer Seitenfamilie. Also habe ich gerade deine Oberhoheit anerkannt. Falls du was damit anfangen kannst.“

„Irgendwie scheine ich Verantwortung anzuziehen“, brummte ich, und im ersten Moment meinte ich es wirklich verärgert. Dann aber setzte sich mein sonniges Gemüt durch. „Bereitmachen zum Sprung mit der Flotte ins Nachbarsystem.“

„Jawohl. Bereitmachen zum Sprung ins Nachbarsystem.“

„Akira, mit der ganzen Flotte? Allen zweitausend Schiffen?“, meldete sich Maltran vom Kommandoschiff.

„Zw… Zw… Zw… Zweitausend? Willst du einen Krieg anfangen?“, stammelte Yuna.

„Nein, aber eventuell einen beenden. Mit allen Schiffen, Maltran.“

„Du bist der Kommandeur.“

Ja, das war wohl richtig. Ich war der Kommandeur. Wieder einmal. Was mich wohl im Kaiserreich erwartete?

Und wie ironisch konnte das Leben sein, wo ich doch eigentlich nur gekommen war, um eine Bitte zu äußern?

Ich bezweifelte stark, das sich mein Leben diesmal noch weiter beschleunigen lassen konnte.

Scherben

1.

Die Titanen-Station war wie immer hoch frequentiert. Wie immer kamen die Frachter vom Mond und entluden ihre Erze, Hightech, die nur in Schwerelosigkeit oder der Niedriggravitation auf dem Mond hergestellt werden konnte sowie das mittlerweile legendäre Helium-Isotop, welches der Weltwirtschaft zu einem neuen Boom verholfen hatte.

Gut frequentiert war auch der Presseraum, in dem die Anführer der UEMF dem internationalen Pressecorps Rede und Antwort standen. Im Moment diente er Admiral Richards dazu, die Weltlage zu stabilisieren – soweit das einem einzelnen Mann möglich war.
 

„Ich kann Ihnen versichern“, begann Admiral Richards, „dass die Gerüchte über eine ernste Erkrankung von Jarah Arogad vollkommen übertrieben waren. Ja, Jarah Arogad wurde ins UEMF-Militärkrankenhaus eingeliefert. Ja, sie blieb dort eine Nacht. Und ja, wir haben einige der besten KI-Meister dieses Sonnensystems eingeflogen. Aber nein, es bestand keine Gefahr für ihr Leben und ihr Zustand ist stabil. Mit einem Satz: Sie ist gesund wie ein Fisch im Wasser.“

Blitzlichtgewitter. Dutzende Hände von Reportern streckten sich in die Höhe. Aufgeregte Stimmen riefen durcheinander. Zu vielen in diesem Raum war bewusst, dass Jarah Arogad, oder vielmehr Yohko Otomo, ein vitaler Bestandteil des Plans war, der die Naguad als Verbündete band.

Nicht wenigen war die Einrichtung einer regionalen Admiralität auf dem Mars suspekt, einige Zeitungen sprachen von offener Annexion, der die Erde bald folgen würde. Für viele waren die Soldaten, die als Kinder im Krieg gekämpft hatten und sich nun als Außerirdische entpuppt hatten, die wichtigste Hoffnung, um die Naguad zu bändigen. Akira Otomo oder Aris Arogad war verschollen, was nur wenigen bekannt war. Für die meisten Menschen ruhte er lediglich in einem Biotank.

Solia Kalis, oder vielmehr Megumi Uno gehörte die Erde laut offizieller Rechtssprechung des Imperiums. Als offiziell mit Aris verlobt hatte sie sie Erde als Brautpreis erhalten. Solange sie lebte, das wussten die Menschen, würde diese Welt niemals eine Kolonie der Naguad werden.

Und schließlich Jarah Arogad, besser gesagt Yohko Otomo. Legendäre Pilotin, hochrangige Offizierin der Hekatoncheiren und Vertreterin von Aris Arogad, solange er ausgefallen war.

Wenn nicht sie, wer sonst sollte das Erbe und die Legende von Blue Lightning fortsetzen?

In einer Welt, die sich immer mehr darin auszeichnete, in tausend Scherben zu zerfallen, ja, in einen offenen Bürgerkrieg zu stürzen, wie die Ereignisse in Amerika mutmaßen ließen, war sie das Licht der Hoffnung. Ebenso wie die anderen beiden hatte sie die Menschen immer beschützt, und es sah nicht danach aus, dass sie jemals damit aufhören wollte.

„Sie, bitte.“

„London Times, Roger Kleiderman. Sir, ist es richtig, dass Jarah Arogad zeitweise tot war?“

„Das ist definitiv falsch. Ich weiß, es wurde ein entsprechendes Protokoll aus dem UEMF-Krankenhaus geschmuggelt und an den CIA verkauft. Aber ich kann Sie in diesem Punkt beruhigen. Der Umstand, dass das Protokoll mit Jarah Arogads Lebenszeichen keine Aktivitäten mehr anzeigt, liegt daran, dass die Geräte noch liefen, Lady Arogad aber nicht mehr angeschlossen war. Ma´am, Sie, bitte.“

„Wie lange wird die Erholungsphase für Colonel Otomo sein? Wird die AURORA-Mission deshalb aufgeschoben werden?“

„Ich muss Sie enttäuschen. Lady Arogad braucht keine Erholungspause. Der Abflug der AURORA verzögert sich um zwei Wochen, aber das hat technische Gründe. Der Abflug wird nicht weiter hinaus geschoben. Harris, Sie bitte.“

„Danke, Admiral.“ Der Reporter, ein alter Hase im Geschäft und seit dreißig Jahren dabei, grinste burschikos. „Fürs Protokoll. Harris Garcia, L.A. Tribune. Hängt Lady Arogads, nun, nennen wir es Zustand kurzfristiger Erschöpfung, mit dem Ausbruch der Vereinigten Staaten aus der UEMF und den Scharmützeln über den evakuierten UEMF-Stützpunkten zusammen?“

Admiral Richards verkniff sich ein grinsen. Die Tribune galt als liberal. Mit dieser Formulierung hatte Garcia ihm geschickt in die Hände gespielt. Und bei einem Profi wie ihm war nicht zu erwarten, dass er es aus Unkenntnis getan hatte.

„Nein, beide Fälle hängen nicht zusammen. Lady Arogad vertraut darauf, dass es dem UEMF-Rat gelingt, die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika erneut in unser Bündnis für die Weltsicherheit zu holen. Und als Colonel Otomo weiß sie viel zu gut, dass die eingesetzten Elite-Soldaten der UEMF in keiner Sekunde ernsthaft bedroht waren. Wir haben nicht umsonst unter anderem Major Ataka ausgeschickt, einen unserer besten Piloten.“

Wieder reckten sich die Hände Dutzendfach in die Höhe. „Commander Sikorsky wird nun Ihre weiteren Fragen beantworten. Entschuldigen Sie mich, aber ich muss meinen Flug zum Mars kriegen.“

Aufgeregte Stimmen riefen ihm nach, und Richards war froh, als sich die Tür des Konferenzraums hinter ihm geschlossen hatte. Solche Pressetermine waren absolut nichts für ihn. Er hasste sie, auch wenn er gut darin war, sie abzuhalten. Er war eben eher der Pragmatiker. Er wollte was zu tun haben, arbeiten, etwas leisten. Darum hatte er auch das Angebot angenommen, als Torum Acatis Stellvertreter in der Regionaladmiralität zu fungieren.

„Hat es sehr wehgetan?“, fragte Acati den alten Offizier.

„Es geht so. Hören Sie, Torum, ich bin doch in meinem neuen Job nicht für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, oder?“

„Was meinen Sie, warum ich Sie als zweithöchsten Offizier in diesem Sonnensystem haben wollte? Sie nehmen mir selbstverständlich alle unangenehmen Arbeiten ab.“

„Ich habe es befürchtet“, seufzte Richards.

***

Die abgeschossenen Resonanztorpedos wurden ersetzt. Alleine das reichte schon aus, um Sakura Ino einen eiskalten Schauer über den Rücken zu treiben. Einige mochten sagen, der Resonanztorpedo sein die humanste Massenvernichtungswaffe dieser Zeit, aber an dieser Formulierung störte der Begriff Massenvernichtung. Andere hingegen sahen diese Waffe als große Chance. Ein über eine bewohnte Welt wanderndes Resonanzfeld würde die Erwachsenen unter schrecklichen Qualen sterben lassen, sobald ihr KI eingefroren war und das Feld sie wieder verließ. Übrig bleiben würden die Kinder, die Halbwüchsigen, ein paar junge Erwachsene und jene, die sich mit KI und seiner Manipulation auskannten. Sakura schloss frustriert die Augen als sie an die Argumente dieser Gruppierung dachte.

Natürlich würde ein Konflikt, bei dem die AURORA diese Waffe einsetzte, aufgezwungen sein. Und wer würde den Konflikt aufzwingen? Die Kinder und Halbwüchsigen? Nein, die Erwachsenen. Also wäre es eine Gnade, die Kinder am Leben zu lassen.

Das bei dieser Methode allerdings noch ein paar Millionen unschuldiger Menschen, die keinerlei Einfluss auf die Entscheidung ihrer Anführer hatten, starben, interessierte diese Leute nicht wirklich. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen war ihr Motto.

Und dann war da ja immer noch Volladmiral Sakura Ino, die schon dafür sorgen würde, dass das Resonatorfeld nicht für jeden Scheiß benutzt werden würde.

Na Klasse. Alle schwarzen Peter lagen also auf ihrer Hand. Sie fragte sich, wie sic die Angehörigen des Manhattan-Projekts gefühlt hatten, als sie die erste kontrollierte, von Menschen erzwungene Atomexplosion herbeigeführt hatten. Waren sie da noch euphorisch gewesen? Was war später, als die Enola Gay Little Man über Hiroshima abgeworfen hatte? Als die Verlustzahlen bekannt wurden? Sicher, es war Krieg gewesen, aber konnte ein einzelner Mensch mit einer solchen Verantwortung leben?

Sakura schauderte erneut als ihr bewusst wurde, dass diese Atombombe gegen die Macht, die sie in Händen hielt, Kinderkram war. Nicht nur, dass man die Resonatortorpedos ergänzt hatte. Nein, man hatte ihre Zahl auf sechzehn erhöht. Und soweit sie wusste, waren auch die Plattformen mit je vier Torpedos bestückt worden. Dazu hatte man die Reichweite erhöht. Die kreisförmigen Felder konnten nun ein Maximum von fünfundneunzigtausend Kilometern abdecken, bei einer Feldstärke von dreihundert Kilometern. Wo würde diese Entwicklung enden? Bei einer Waffe, die ein ganzes Sonnensystem abdecken konnte?

Und das waren nur die Resonatortorpedos. Ihr Waffenarsenal war noch weit größer.

Da waren alleine der Zulu Zulu SUNDER sowie drei Schiffe der Bismarck-Klasse, die man ihr zur Seite gestellt hatte. Die achtzehn Zerstörer der Midway-Klasse, die dreißig Fregatten der Yamato-Klasse und mittlerweile dreißig Foxtrott-Korvetten. Was die Wartung, Reparatur und Versorgung dieser Flotte anging, so näherte sich die AURORA langsam ihrem Kapazitätsmaximum. Deshalb war in letzter Minute entschieden worden, nicht nur die Waffentechnik, sondern auch die Werftkapazität höher zu fahren. Weitere Fabriken waren in den Innenraum installiert worden, eine kleine Flotte halbautomatischer Frachter, durchgängig AURORA I bis X benannt, würde in der Lage sein, Prospektorfunktion zu erfüllen und mitten im All geeignete Rohstoffe zu suchen und zu verarbeiten. Und die Zahl der Menschen, die in der AURORA lebten, war noch einmal erhöht worden. Nachdem viele der jungen Anelph auf den Mars und die Erde gewechselt waren, standen in Fushida City und den umliegenden Ortschaften sowie den Appartements in der Innenwand wieder sechzig Prozent der Kapazitäten frei. Diese wurden nun um fünfzig Prozent gedrückt. Weitere Arbeiter, Soldaten und Dienstleister kamen an Bord. Man war sogar überein gekommen, die Grey Zone zu schließen und ihr stattdessen ein eigenes Viertel in Fushida einzurichten. Der frei gewordene Raum wurde nun für eine Fabrik genutzt, die Lebensmittel verarbeitete.

Damit einher gekommen war leider die Tatsache, dass sich die AURORA nicht selbst versorgen konnte. Das hatte sie vorher schon nicht gekonnt, aber wenigstens war sie zu neunzig Prozent autark gewesen. Das Ergebnis dieser nüchternen Erkenntnis war gewesen, dass selbst nach der Kapazitätserhöhung in der Landwirtschaft, der Tierzucht und dem Fischfang im Serenity-Meer eine Lücke von dreißig Prozent blieb, welche die AURORA auf ihrem Weg in das unbekannte All immer wieder aufstocken musste. Aus dem Kampfschiff würde ein fliegender Händler werden. Vielleicht ein Grund dafür, dass viele terranische Firmen Anträge auf Büros gestellt hatten. Sie hofften eventuell, von den heute geschlossenen Kontrakten morgen selbst profitieren zu können.

Das war an sich nichts Schlechtes. Aber wenn es ihrem Ziel im Wege stand, Akira wieder zu finden, dann… Dann…

„Sie bringen ihn gerade an Bord“, sagte Tetsu Genda ernst.

Sakura sah aus ihrer Grübelei auf. „Ich habe nicht aufgepasst. Wen?“

„Konteradmiral Kei Takahara. Wenn du ihn persönlich empfangen willst, dann musst du jetzt los. Immerhin ist es auch eine offizielle Kommandoübergabe.“

Sakura wischte sich kurz über die Augen und nickte. „Du begleitest mich, wenn wir den Kommandeur der SUNDER zum Kommandeur der Begleitflotte befördern.“

„Natürlich.“ Er stellte sich im Türrahmen auf und wartete, bis Sakura die Zentrale verlassen hatte. „Admiral verlässt das Deck!“

Die Besatzungsmitglieder der Zentrale sprangen auf und salutierten.

Tetsu grunzte zufrieden und folgte Sakura.

„Kapitän verlässt das Deck!“, rief der Leutnant der Wache, erntete dafür einen bösen Blick vom Skipper der AURORA und ein vielstimmiges Grinsen von seinen Kollegen. Selbst Sakura schmunzelte. „Vielleicht sollten wir zur Leichtigkeit der alten Mission zurückkehren und ein paar der Regeln entschärfen, Tetsu.“

„Denkst du wirklich, das ist eine gute Idee, Sakura?“, brummte Tetsu missmutig. „Es sind eine Menge frischer Leute dabei, die gleich wissen sollten, wo ihr Platz ist.“

„Wer dich so reden hört, der könnte niemals glauben, dass du vor vier Jahren noch ein verfetteter Anführer einer Gruppe von Straßenrockern warst“, spottete sie.

Für einen Augenblick runzelte Tetsu die Stirn. „Von dieser Zeit habe ich nicht nur das Fett verloren, Sakura. Sie erscheint mir immer mehr wie ein unwirklicher Traum. Und meine Freunde von damals sind…“

„Nicht mehr deine Freunde?“, schloss Sakura. Sie fühlte sich für einen Moment ehrlich frustriert, denn nur weil man plötzlich einer der wichtigsten Flottenoffiziere der Menschheit war, konnte man doch nicht einfach seine Freunde beiseite schieben, auch wenn sie aus der ungeliebten Vergangenheit waren, als er noch ein kleiner Gauner ohne Hoffnung gewesen war.

„…haben kaum noch Zeit für mich. Der eine kommandiert einen Zerstörer, der zweite wartet eine Kompanie Hekatoncheiren, eine hat sich vom kleinen Rotzgör zur Managerin der Zweigstelle eines Großkonzerns in der AURORA gemausert, noch einer triezt mich in meiner eigenen Zentrale als Wachoffizier, dann haben wir noch drei, die fest auf OLYMP beordert sind und, und, und… Weißt du wie schwer es mir gefallen ist, ein Treffen von allen zustande zu kriegen? Und dann beschweren sie sich noch, man würde mich kaum wieder erkennen, weil von mir nichts mehr übrig ist.“

Sakura lachte befreit auf, während sie in den Lift trat. Tetsu folgte ihr mit düsterer Miene. „Aber Spaß hat es dennoch gemacht.“

„Und ich dachte, du hast deine alten Freunde fallen gelassen.“

Der große Mann schmunzelte. „Ein kluger Mann hat mal gesagt, du kannst dir deine Familie nicht aussuchen, wohl aber deine Freunde. Und meine Freunde werde ich nie fallen lassen. Aber die Familie ist mir gerade sehr viel näher.“

Sakura schwieg beeindruckt. Ihr war klar, wen Tetsu mit Familie gemeint hatte.

Genauso schweigend verließen sie den Lift und gingen zum Haltepunkt der Bahn. Acht Stationen weiter stiegen sie wieder aus und suchten einen großen Backbordhangar auf. Gerade rechtzeitig um dabei zu zu sehen, wie ein Personentransporter im Hangar landete. Danach dauerte es noch fünf Minuten, bis der Hangar mit Luft gefüllt und aufgeheizt genug war, sodass ein Mensch ihn ohne Gefahr für Leib und Leben betreten konnte.

Der Rest war wenig spektakulär. Eine Kompanie Soldaten sowie eine Abordnung des Admiralsstabs von Poseidon erwarteten den neuen zweithöchsten Offizier der Expedition.

Dann war es soweit und der kleine weißhaarige Mann verließ das Shuttle über eine Rampe. Er wirkte ernst, müde und verschlossen und damit mehr wie Ende zwanzig. Sakura wusste, dass sie eine Menge Arbeit und Verantwortung auf diese schmalen und doch so starken Schultern abgelegt hatte, aber nachdem Admiral Richards im Sonnensystem bleiben musste, war er ihre erste Wahl gewesen.

Kei salutierte vor ihr. „Admiral, ich bitte um Erlaubnis an Bord kommen zu dürfen.“

„Erlaubnis erteilt, Konteradmiral.“

Die beiden salutierten einander zu und gaben sich anschließend ungezwungen die Hand. Es hätte nicht viel gefehlt, und Sakura wäre in ihre alte Unart verfallen und hätte versucht, den kleinen Mann an ihrem Busen zu ersticken. Aber Tetsu kam ihr zuvor und schüttelte dem alten Freund ebenfalls die Hand. „Schön, dich zu sehen, Kei-chan. Hast du dich schon entschieden, auf welchem Schiff du deine Admiralsflagge hissen wirst?“

„Was für eine blöde Frage. Wenn ich mit den Schiffen rausgehe, werde ich selbstverständlich immer zuerst an die SUNDER denken.“

„Das wird eine gewisse Anelph sicher sehr freuen“, schmunzelte Tetsu.

„Das hoffe ich doch. Oder glaubt ihr wirklich, ich kann dieses große Kind mit der Führung eines Schlachtkreuzers alleine lassen?“

Sakura war sich sicher, dass Kei nicht viel zu lachen hatte, wen Kapitän Ban Shee Ryon davon erfuhr, wie ihr kommandierender Offizier – zugegeben in salopper Runde – über sie sprach. Aber zugleich wusste sie auch, dass die große, erfahrene und routinierte Anelph einen wahren Narren an Kei gefressen hatte und ihn tief verehrte. Für sie würde es eine Freude sein, ihn an Bord seines alten Schiffs zu begrüßen.

„Ich habe noch wen mitgebracht“, sagte Kei mit der Andeutung eines Lächelns. Er winkte in Richtung Shuttle und Sakura blieb beinahe das Herz stehen.

„Wow. Um nicht zu sagen, Wow. Sagt mal, vermehrt ihr euch, wenn man nicht hinguckt? Ich hatte eigentlich nur sieben in Erinnerung, nicht acht.“

Die kleine Truppe Mädchen, die da gerade die Rampe herab stieg, trug UEMF-Uniformen, der höchste Rang war der eines Division Commanders. Eingeweihten, von denen es aber nur wenige gab, war hingegen bekannt WER da gerade die AURORA betrat. Die Magical Youma Slayer, die ersten aktiven KI-Meister, die gegen die Kronosier gekämpft hatten.

Angeführt wurden sie von Hina Yamada, obwohl sie derzeit nur den Rang eines Majors bekleidete und Megumi Uno als Division Commander eine ganze Ecke über ihr war. Aber in Slayer-Belangen griffen halt die alten Strukturen, und da war Hina die unangefochtene Nummer eins. Abgesehen davon sah es nicht so aus, als würden Megumi und der allerneueste Slayer, Yohko Otomo, sehr oft zusammen mit den anderen sechs Slayern kämpfen können.

„Sei nicht albern. Wir wissen halt immer noch nicht, in wem ein Slayer steckt. Vielleicht sogar in dir, Sensei. Wir haben noch eine Menge Farben frei“, scherzte Hina, aber Sakura war sich nicht wirklich sicher, ob es tatsächlich ein Scherz war. „Wenn, dann will ich Purpur“, erwiderte sie trocken.

Hina kniff lächelnd die Augen zusammen. „Kriegst du. Erbitte Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen.“

„Erlaubnis erteilt. Gehen wir. Im Poseidon-Gebäude erwartet uns ein Willkommensgruß.“

„Moment, Sakura. Da fehlt noch wer“, sagte Kei, und in dem Tonfall, den er verwendete lag genau die kleine Menge Schmerz, die Sakura hellhörig machte. Sie sah zurück und sah tatsächlich was sie im ersten Moment befürchtet hatte. Flankiert von ihrem kleinen Bruder und Michi Torah wurde der Biotank entladen, in dem der leblose Leib von Akira Otomo steckte. Als die beiden mit dem Tank an ihr vorbei fuhren reagierte sie instinktiv und riss die Hand zu einem militärischen Salut hoch. Sie konnte nicht anders. Selbst wenn sein Bewusstsein, sein KI nicht in diesem Leib steckte, so verdankte die Menschheit diesem jungen Soldaten viel, wenn nicht alles. Außerdem hielt sie es für sehr sinnlos, weinend und zu Tode betrübt über dem Biotank zusammen zu brechen. Ihr war auch nicht danach. Sie hatte ein halbes Jahr Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Dennoch war sie dankbar für Tetsus starke Hand auf ihrer Schulter.

„Gehen wir“, hauchte sie erneut und folgte dem Tank. Warum sah das Ding nur einem Sarkophag so verteufelt ähnlich?
 

2.

„Auf auf, meine Herren. Wir haben viel Arbeit vor uns!“

Die Stimme, die sprach, duldete keinen Widerspruch. Schlimmer, sie duldete nicht einmal den Gedanken daran. Und sie war so befehlsgewohnt, dass die beiden Offiziere – immerhin beide Admiräle und gewohnt, das militärische Schicksal von drei Marken und mehr zu lenken – nicht einmal versuchten, daran zu denken. Sie wandten sich um und erkannten in dem großen Saal, in dem sie ihre verzögerte Zeit verbringen sollten, ein Frau.

„Admiral Achander, Admiral Ikosu, ich unterstelle Sie hiermit meinem Kommando.“

Die beiden Männer nahmen automatisch Haltung an. „Meister Arogad!“

Eridia Lencis Arogad musterte die beiden Männer für einen Moment, dann brummte sie zufrieden. „Folgen Sie mir. Der Stützpunkt ist wieder voll leistungsfähig. Und Sie können ihn jederzeit verlassen. Ich habe den AO-Effekt des terranischen Resonanztorpedos aufgehoben.

Wie gut sind Sie auf dem Laufenden? Sie hatten vor meinem Eingreifen bereits eine Verlangsamung auf ein Drittel der Normalzeit erreicht, also waren Sie in der Lage, Daten aufzunehmen.“

„Meister Arogad, wie ist das möglich? Uns wurde mitgeteilt, dass wir sterben würden, wenn der Resonanztorpedo nicht mindestens noch einen Monat aktiv ist.“

„Nun, Admiral Ikosu, das wäre normalerweise auch der Fall. Aber der Torpedo manipuliert Ihr AO. Und ich bin wahrscheinlich die stärkste AO-Meisterin im Naguad-Reich gleich nach Meister Tevell und Meister Logodoboro.“ Sie sah die beiden spöttisch an. „Es war zwar keine Fingerübung, aber ich habe es geschafft. Zweifeln Sie an mir?“

„Natürlich nicht, Meister Arogad.“

„Gut, Admiral Achander, dann sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen, damit ich den Rest in Ihre Daima-Gehirne stopfen kann.“

Eri Arogad trat auf den Gang hinaus und wandte sich in Richtung Gefechtszentrale der Axixo-Basis.

„Nun, wir wissen vom Handstreich der Logodoboro. Wir wissen von der offenen Präsenz der Core-Raider in mehreren Marken. Und wir wurden darüber informiert, dass Akira Otomo, unser Hauptgegner, ein Arogad ist. Was übrigens einiges erklärt. Trotzdem würde ich dieses Jüngelchen gerne mal in meine Finger kriegen und…“

„Er ist mein Enkel!“

„…und ihn für seine herausragende Tapferkeit belobigen.“

„Vorsicht, Achander, ich bin weder ein Freund von Schmeicheleien noch von übertriebener Rücksichtnahme. Sie unterstehen jetzt mir und ich will, dass Sie immer ehrlich zu mir sind. Das gilt für alle beide.“

Sie betraten die Zentrale der Axixo-Basis. Hier zeigte sich, dass tatsächlich alles wieder seinen gewohnten Gang ging. Nun, zumindest war sie voll besetzt, wenngleich die Naguad und Anelph, die hier arbeiteten, noch am sortieren waren.

„ACHTUNG!“

Als die drei Admiräle eintraten, salutierten die Soldaten und Offiziere für sie. „Weitermachen“, brummte Eridia Arogad und lotste die beiden Männer direkt in den nächsten Besprechungsraum.

Dort angekommen erwartete sie eine Kanne mit Zuma, der hierzulande als teure Importware galt. Eridia schenkte jedem eine Tasse ein, bevor sie sich setzte. Dann sah sie mit einem wirklich gemeinen Grinsen in die Runde. „Gut, ich bin jetzt im Bilde, was Sie wissen, meine Herren. Nun verrate ich Ihnen, was ich weiß. Und bitte, halten Sie sich fest.“

So begann ein Monolog, in der zwei Männer begannen an ihrem Verstand zu zweifeln, in ihre Teetassen prusteten oder einfach nur ehrlich und nachhaltig erschrocken waren.

Nach einer halben Stunde, in der Eri die beiden Männer nicht geschont hatte, hob Achander eine Hand. „Moment, Meister Arogad, Moment. Ich kann alles verstehen. Und wenn Akira Otomo im Spiel ist, bin ich bereit, fast alles zu glauben. Aber erwarten Sie doch von mir nicht, dass ich diese Sachen über die Erde glaube! Ich bitte Sie! Wie soll das möglich sein?

Es ist schon so schwer genug zu glauben, dass der Oberste Gerichtshof nicht nur zugestimmt hat, dass Akira Otomo, oder meinetwegen Aris Arogad, sie erobern und behalten durfte. Und dass er sie als Brautpreis an Solia Kalis verschenkt hat.“ Bei dem Gedanken an Colonel Megumi Uno begann Ikuso sich lauthals zu räuspern. Ihm war das Zwischenspiel mit seiner tapferen AO-Meisterin Jora Kalis noch viel zu frisch im Gedächtnis.

„Aber“, nahm Zut Achander den Faden wieder auf, „erwarten Sie bitte nicht von mir, dass ich DAS glaube.“

„Ob Sie es glauben oder nicht ist irrelevant. Es ist die Wahrheit, und ich habe mehrere Jahrhunderte damit verbracht, dieses Wissen zu schützen, meine Herren.

Die Frage, die sich uns nun stellt ist: Wann müssen wir eingreifen? Was wird passieren? Wie tief stecken wir bereits in der Scheiße?“

„Ihre Aussprache ist für die direkte Erbin des Hausvorsitz der Arogad etwas vulgär, Meister Arogad“, tadelte Ikuso.

„Lieber eine vulgäre Aussprache als ein vulgärer Plan wie Ihrer mit Jora Kalis, Admiral.“

Wieder räusperte sich der Offizier, diesmal verlegen.

„Ich bringe es auf den Punkt. Ich habe vor dem Rat um dieses Kommando gebeten. Und ich habe es bekommen. Ich muss dem Rat, nein, dem ganzen Imperium gegenüber Rechenschaft ablegen, aber ich habe weitestgehend freie Hand. Zudem stehen wir mit den Anelph nun enger zusammen als je zuvor. Wir stehen quasi Schulter an Schulter. Es kann also gelingen.“

„Was kann gelingen?“

„Haben Sie mir nicht zugehört, Admiral Achander? Ich gehe in die Dämonenwelt, und Sie beide halten dieses System. Falls der Core angreift will ich nicht in eine Wüste zurückkehren.“

„Sie wollen in die Dämonenwelt? Aber wir haben sie zerstört, als wir Lorania angegriffen haben“, wandte Ikuso ein.

„Nun, das ist nicht ganz richtig“, meldete sich Achander zu Wort. „Wir sprechen nicht gerne mit Naguad darüber, aber… Die Dämonenwelt wurde nicht vollständig zerstört, bei weitem nicht. Die Daima, die in ihr leben… Ich weiß nicht, ob ich frei darüber reden sollte.“

„Sie haben bereits mehr als genug gesagt, Admiral Achander. Und glauben Sie mir, ich werde das was ich erfahren habe, nicht gegen die Anelph und das Kanto-System wenden. Missverständnisse gab es wahrlich genug. Und sie haben zu fürchterlichen Auswüchsen geführt. Lassen Sie uns diesmal vorbehaltlos und von vorne herein zusammen arbeiten, meine Herren.“

„Sie können sich auf uns verlassen“, sagte Achander fest und Ikuso nickte ernst dazu.

„Dann war es keine Zeitverschwendung, Sie beide und diesen Stützpunkt zu reakivieren“, stellte Eridia fest. Ein knappes Lächeln umspielte ihre Züge.

***

Sein Name war Wilson, sein Titel Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er hatte sich nie um diesen Posten gerissen, nie um die große Verantwortung, und er hatte auch nie gedacht, als einer der besonderen Präsidenten wie Washington, Roosevelt, Lincoln, Kennedy oder Truman in die Geschichte einzugehen. Aber er hatte auch nicht daran gedacht, dass er wie sein Namensvetter Woodrow Wilson ein umstrittener Kriegspräsident werden würde.

Der achtundzwanzigste Präsident der USA hatte zwar den Krieg in Europa beendet, aber seine große Vision vom freiheitlich-demokratischen Völkerbund zu Grabe tragen müssen.

War es nun bei ihm, UNO und UEMF zu Grabe zu tragen? Oder würde diese Zeit ihn zu Grabe tragen?

„Also, was haben Sie für mich, General Bowman?“

„Mr. President, so wie es ausschaut, bricht die Hölle auf uns herein.“

„Erklären Sie sich. Ich dachte bisher, die UEMF belässt es mit einer Evakuierung ihrer Stützpunkte. Gibt es jetzt doch Anzeichen für einen Vergeltungsschlag?“

„Nein, Sir, ich rede von einer anderen Sache.“ Der Air Force-General nickte seinem Adjutanten zu, einem Major.

Der Raum wurde abgedunkelt, über dem gut besetzten Konferenztisch entstand ein Hologramm kronosianischer Technik. „Was Sie jetzt sehen werden ist bereits eine kleine Unmöglichkeit und eine unendliche Bedrohung. Aber es wird noch weit schlimmer kommen. Dieser Flecken All befindet sich knapp hinter dem Planetoidengürtel, und wenn ich das hinzufügen darf, an einem Punkt, den die Erde in wenigen Tagen passieren wird, wenn man eine Linie direkt zur Sonne zieht. Das wird später noch wichtig, Mr. President.

Die Aufnahmen stammen übrigens von der CINCINATTI, einem neu in Dienst gestellten UEMF-Zerstörer der Midway-Klasse. Sie wurden uns ungefragt von der UEMF zur Verfügung gestellt. Nebenbei, die CINCINATTI wurde kurz nach Beginn dieser Aufnahme vernichtet. Von den zweihundertvierzig Mann der Besatzung, unter ihnen viele Amerikaner, konnte keine Spur gefunden werden.“

„Sie machen mich neugierig und Sie machen mir Angst, Bowman“, tadelte der Präsident.

„So? Dann erfüllt es seinen Zweck. Sehen Sie, jetzt.“

Im Hologramm erschien ein Raumschiff. Es wurde begleitet von den charakteristischen Ereignissen eines Wurmlochs, welches für interstellare Reisen künstlich erzeugt wurde.

„Die CINCINATTI wurde auf diese Sternenregion aufmerksam, weil sie ein Wurmloch angemessen hatte. Sie kennen ja die Formel, nach der die Größe des Wurmlochs charakteristisch für die Masse des Flugobjekts ist, dass durch das Wurmloch fliegt. Nun, dieses hier war bestenfalls groß genug, um eine Foxtrott-Korvette zu transportieren. Und wir wissen alle, dass die Korvetten der Foxtrott-Klasse gerade groß genug für die Tarnschilde sind, aber viel zu klein für einen Sprungantrieb. Dieses Schiff aber hat die Größe eines Zulu Zulu.“

„Was wollen Sie mir da verkaufen? Das Ding hat sich durch ein besonders enges Wurmloch gezwängt?“

„Nein, ich will damit sagen, dass die CINCINATTI zur falschen Zeit am richtigen Ort war. Sehen Sie, Mr. President, ein Schiff kann nur am Systemrand in ein Sonnensystem eindringen. Das hat etwas mit Massesenken zu tun. Am leichtesten geht das zum Beispiel in unserem Sonnensystem ab der Neptun-Bahn. Aber an Orten, wo die Massesenke der Sonne auf Riesenplaneten trifft, also Saturn und Jupiter, kann man mit einer erstklassigen Navigation ebenfalls in unser Sonnensystem gelangen. Aber Tatsache ist, dass dieses Schiff erstens eine halbe Milliarde Kilometer von der Jupiterbahn entfernt war und zweitens die doppelte Strecke von Jupiter selbst.“

„So, so. Das Riesending ist nicht nur mit einem Miniwurmloch in unser System gesprungen, sondern auch noch viel tiefer als jedes andere uns bekannte sprungfähige Schiff? Ist es das, was Sie sagen wollen, General Bowman?“

„Richtig, Mr. President. Dieses Schiff ist uns sprungtechnisch überlegen. Entweder kommt es wirklich mit diesem unauffälligen Miniwurmloch aus, oder es hat die technologische Möglichkeit, die Emissionen des Wurmlochs zu tarnen und kleiner erscheinen zu lassen als es ist. Und das über mehrere Lichtjahre hinweg. Beide Szenarien sind mehr als bedrohlich, aber das ist noch lange nicht alles. Sehen Sie, das fremde Schiff, ab sofort deklariert als Bandit One, feuert.“

„Das sieht für mich aus wie Gewitter im Weltraum. Was sehe ich da, General?“

„Sie sehen eine mehrfach überschallschnelle hochenergetische Schockwellenfront von nahezu runder Form. Sie hat einen Durchmesser von Siebzehn Kilometern und eine Tiefe von gut drei. Sie bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von achthunderteinundsechzig Kilometern pro Sekunde. Das ist weniger als ein Dreihundertstel der Lichtgeschwindigkeit aber über siebenhundertfache Schallgeschwindigkeit.

Mr. President, Sie erleben gleich die letzten Sekunden der CINCINATTI. Sie konnte der Schockwellenfront nicht ausweichen und wurde restlos zerstört. Dies ist auch das Ende der Aufzeichnungen. Uns fehlt eine Tausendstelsekunde, bedingt durch die Zeit, die verloren geht, wenn die Kameraaufnahmen parallel gesendet werden, also die Funkantennen zerstört wurden bevor sie das letzte Bruchteil senden konnten. Aber wir können dankbar dafür sein, dass Kapitän Cho sich dazu entschieden hat, Live zu übertragen. Es ist damit auch das Vermächtnis der CINCINATTI.“

Die Schockwelle raste heran, wurde unüberschaubar groß, erfüllte das gesamte Hologramm und als sie mit der Kamera zu kollidieren schien, verschwand das Bild.

„Das Ende der CINCINATTI“, fügte Bowman noch einmal tonlos hinzu.

„Eine Schweigeminute für die tapfere Besatzung der CINCINATTI und ihren Entschluss, im Angesicht des eigenen nahen Todes nicht die Nerven zu verlieren und so viele Daten wie möglich zu retten“, sagte der Präsident ergriffen und senkte den Kopf. Die anderen Mitglieder des Krisenstabs folgten seinem Beispiel.
 

„Kommen wir wieder zur Sache. Ich gebe zu, dieses fremde Riesenschiff mit der uns überlegenen Wurmlochtechnologie ist eine Bedrohung, und eine tödliche dazu. Aber Sie haben uns die Aufnahmen sicher nicht gezeigt, weil ein UEMF-Schiff mit dem Namen einer amerikanischen Stadt und einem südkoreanischen Kapitän vernichtet wurde.“

„Nein, Mr. President. Das war nur die Einleitung. Der schreckliche Part kommt erst noch. Nachdem die UEMF uns diese Daten freiwillig überlassen hat, ließ ich unsere eigenen Experten von Air Force und NASA auf das Material und die Schlussfolgerungen der UEMF los. Sie kamen einhellig zu drei Ergebnissen.

Erstens: Die Vernichtung der CINCINATTI fand statt.

Zweitens: Die Schockwelle existiert immer noch und ist weiterhin in Bewegung.

Drittens: In nicht ganz drei Tagen wird sie die Erdbahn kreuzen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Erde selbst diesen Punkt erreicht haben.

Was ich damit sagen will ist, dass diese Schockwelle nicht auf die CINCINATTI abgeschossen wurde, Mr. President. Sondern auf die Erde, wo sie mit der gleichen vernichtenden Wucht einschlagen wird wie in dem Midway-Zerstörer.“

Wilson wurde bleich. „Wie groß werden die Verwüstungen sein, General?“

„Uns liegen sowohl die Hochrechnungen der UEMF als auch Vergleichsdaten unserer eigenen Experten vor. Rechnen Sie mit der Explosionskraft von eintausend Megatonnen Vergleichs-TNT. Damit Sie eine Dimension von der Größe kriegen: Wenn diese Welle auf die Erde trifft, ist ein Gebiet von der Größe Europas direkt, und ein Gebiet von vierfacher Größe indirekt betroffen. Von Sekundärfolgen wie dem nuklearen Winter durch abertausende Tonnen in die Luft gewirbelten Staub, schweren Erdbeben, weltweiten Vulkanausbrüchen und dem Kollaps der Magmablase unter dem Yellowstone Nationalpark einmal ganz abgesehen.

Wir haben natürlich im Pentagon die Daten der UEMF und der NASA gegen gerechnet und kommen eindeutig zu einem Schluss: Die Erde wird von dieser Schockwelle getroffen werden. Somit hat diese fremde Macht, die über dieses Raumschiff befiehlt die Erde direkt angegriffen.“

„Schön und gut, General Bowman. Und nun sagen Sie mir, wo diese Welle einschlagen wird. Das können wir doch mit einiger Bestimmtheit sagen, oder?“

„Mr. President, die Schockwelle rast direkt auf die ARTEMIS-Plattform zu, wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehält. Und nachdem sie ARTEMIS und APOLLO ausradiert hat, wird sie teilweise vor der Ostküste den Atlantik und teilweise auf die Ostküste der U.S.A. treffen. North Carolina, South Carolina, Pennsylvania und Florida werden direkt betroffen sein, Mr. President.“

„Womit rechnen wir im schlimmsten Fall, General Bowman?“

„Totale Vernichtung der vier Staaten, klimatische Spätfolgen weltweit und Unschiffbarkeit der Atlantikregion auf Jahre. Von der Unterbrechung der Weltwirtschaft wollen wir gar nicht erst reden.“

„Dann müssen wir die Landstriche sofort evakuieren, Sammellager im Inland eröffnen und unsere Flotte in geschützte Regionen zurückziehen. Warnen Sie unsere Alliierten und bitten Sie um internationale Hilfe. Die Nationalgarde soll ausrücken und…“

„Mr. President, das ist noch nicht alles. Uns liegt eine Stellungnahme der UEMF vor. Executive Commander Eikichi Otomo bittet uns darum, Evakuierungsmaßnahmen zu unterlassen. Die UEMF würde sich um die Welle kümmern, sobald sie in Reichweite ist.“

„WAS? Wir reden hier von einem Ding, dass einen Midway-Zerstörer so beiläufig ausgelöscht hat, als wäre diese Schockwelle ein Flammenwerfer und die CINCINATTI nur aus Papier! Und Otomo sagt uns, wir sollen unsere Leute nicht in Sicherheit bringen? Himmel, ist er so arrogant, will er uns dazu verführen, unsere Zivilisten zu opfern oder kann er dieses Monster wirklich aufhalten?“

„Was, wenn er es nicht kann, Mr. President?“

„Wenn die Existenz der Schockwelle bekannt wird, wird es in jedem Fall eine Panik geben. Wir müssen die Nationalgarde ohnehin einsetzen. Die Armee soll ihre Kasernen verlassen. Wir erklären sicherheitshalber alle vier Staaten zu Notstandsgebieten und versuchen jedem Bürger, der wünscht, die Länder zu verlassen, die Flucht zu ermöglichen. Die Nationalgarde soll die Städte und Ortschaften patrouillieren, um Plünderungen zu verhindern.

Mein Gott, mit wem hat sich dieser verdammte Japaner angelegt und warum haben wir die Suppe auszulöffeln?“

„Das kann Ihnen niemand beantworten, Mr. President. Aber vielleicht können unsere Verbündeten…“

„Wir werden mehr wissen – in drei Tagen.“
 

3.

„Hier ist die Aufstellung.“ Freudig winkte Kei Takahara mit dem Papierausdruck in seiner Hand, als er den Besprechungsraum neben der Zentrale der AURORA betrat. „Wir kriegen fünf Bismarck, natürlich die SUNDER, elf Midway, dreiundzwanzig Yamatos und diesmal vierzig Foxtrott. Außerdem werden uns drei Frachter der Moloch-Klasse zugeteilt. Sie werden von Bergbaufirmen betrieben und sollen uns experimentell begleiten, um unseren Rohstoffbedarf an Erzen und Wasser zu decken.“

„Interessanter Gedanke. Ich hätte nie gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch Prospektor werden würde und auf atmosphärelosen Brocken im eisigen Weltall meinen Claim abstecken müsste.“

„Nur nicht so spöttisch, Tetsu, nur nicht so spöttisch. Es ist ein Experiment, ja, aber da wir nicht sagen können, wie lang unser Flug dauern wird, werden wir für die drei Kähne wohl noch dankbar sein.“

„Zeig den Wisch mal her. Stehen denn schon Namen fest?“

„Nein, noch nicht. Aber es werden eine Menge grüner Schiffe dabei sein, da man das Gefüge von Erster und Zweiter Flotte nach Möglichkeit nicht aufbrechen will.

Die gute Nachricht ist, alle Schiffe der alten Begleitflotte sind wieder mit von der Partie. Die schlechte Nachricht ist, es wurden eine Menge erfahrener Offiziere versetzt, um die Kampferfahrung, die wir gesammelt haben, auf die gesamte UEMF zu verteilen.“

„Damit ist unsere Begleitflotte viel größer als das letzte Mal. Wobei fünf Bismarck natürlich eine nicht zu unterschätzende Macht darstellen. Aber drei Bakesch wären mir ehrlich gesagt lieber.“

„Damit kann ich eventuell dienen“, sagte Sakura Ino, als sie den Raum betrat. Sie sah einmal ins Rund. Die beiden anderen Anwesenden winkten ihr nachlässig zur Begrüßung zu.

„Willst du nen Kaffee? Und bringst du gute Neuigkeiten?“

„Ja und ja, Tetsu. Weitermachen, Herrschaften. Drei Stücke Zucker, bitte.“

„Und du kannst mit drei Bakesch dienen? Wo hast du die geklaut, in der Arogad-Hausflotte?“

„Werde hier mal nicht frech, Kei. Du bist auch nur Konteradmiral.“

„Der jüngste Konteradmiral in der gesamten Menschheitsgeschichte, bitte. Da kann ich mir ja wohl, als anerkanntes Genie und so, ein paar Frechheiten gegen meinen ehemaligen Kapitän rausnehmen.“

Sakura lachte prustend und wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Kei war damals, bei der zweiten Schlacht um den Mars auf der GRAF SPEE ihr Erster Offizier gewesen. Und er hatte das Schiff bravourös übernommen und geführt, als sie ausgeknockt in den Händen der Sanis lag. „Genehmigt, Konteradmiral. Aber nur eine pro Stunde.“

„Na immerhin“, brummte Kei amüsiert. „Und, wie viele Bakesch hast du nun geklaut?“

„Nur zwei. Aber sie werden von drei Kreuzern und zehn Zerstörern begleitet.“

„Hast du gleich ne ganze Hausflotte geklaut?“, argwöhnte Tetsu.

„Fängst du jetzt auch damit an? Nein, ich habe keine Hausflotte geklaut. Haus Fioran und Haus Arogad haben lediglich mit Haus Daness zusammengelegt und uns geschickt, was sie auf die Schnelle herbeischaffen konnten. Ursprünglich waren diese Schiffe dazu gedacht, den terranischen Begleitschutz zu ersetzen, der beinahe weg gebrochen wäre.“

Die drei seufzten simultan, als sie an den ganzen Ärger der letzten Monate dachten, der die Vorbereitung der Operation beinahe auf Jahreslänge ausgedehnt hatte.

„Aber nun wird sie die Operation lediglich verstärken. Na, sind das nicht gute Nachrichten?“

„Ich glaube, wir brauchen die verdammten Prospektorenschiffe doch, Kei“, brummte Tetsu ernst.

„Und wir sollten anfangen, eigenes Bier zu brauen. Auf die Art reichen unsere Vorräte nicht besonders lange.“

„Hey! Sind das eure einzigen Sorgen?“

„Wie, unsere eigenen Sorgen? Hast du das Doitsu schon erzählt? Der schlägt ja jetzt schon die Hände über dem Kopf zusammen, weil er so schon mit seinen zwanzig Yakuza kaum die neu gegründete Grey Zone in Fushida City in den Griff kriegt. Wenn das so weitergeht, muss er noch den UEMF-Dienst quittieren und die Mädchen selbst managen. Von den Spielhöllen ganz zu schweigen“, erwiderte Kei.

„Das macht euch Spaß, was? Doitsu driftet für uns alle und für die Sicherheit der AURORA in der Halbwelt zwischen Legalität und Illegalität herum und Ihr reißt Witze darüber?“

„Ja.“ Tetsus Antwort, begleitet von einem burschikosen Grinsen, war entwaffnend ehrlich.

Sakura biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzulachen.

„Wie hat Hina eigentlich die Nachricht aufgenommen, dass Doitsu der Pate der AURORA ist? Ich meine, jetzt ist sie ja sowas wie eine Yakuza-Prinzessin. Außer sie versucht wieder, sich von ihm zu trennen oder so.“ Kei sah sich nach etwas Holz um, und klopfte schließlich dreimal auf seinen hölzernen Schlüsselanhänger. „Wovor die Große Spinne uns behüten würde. Einen launischen und verschmähten Doitsu können wir ebenso wenig gebrauchen wie eine Hina mit gebrochenem Herzen.“

„Ach, Quatsch. Soweit ich weiß, hat sie sich mit dem Gedanken angefreundet. Sie ist schon sowas wie eine Anego geworden, eine der höheren Frauen der Yakuza, läuft nur noch im Kimono rum und hat sich tätowieren lassen und…“

Sakura starrte den Kommandeur der AURORA böse an, während sie seine Mundwinkel auf Dehnfähigkeit testete. Auf ihrer Stirn pochte eine Zornesader. „Hat dir schon mal jemand erklärt, wie schnell Gerüchte entstehen? Und hat dir schon mal jemand erklärt, was Hina Yamada mit dir machen wird, wenn sie erfährt, wer diese Gerüchte gestreut hat?“

„Gargl.“

„Gut, gut, das lasse ich als Entschuldigung gelten. Außerdem trägt sie gar nicht immer Kimono. Meistens trägt sie Uniform. Mit auf Hochglanz polierten Majorsabzeichen. Außerdem liegt sie Megumi schon dauernd in den Ohren, ein ganzes Bataillon trainieren zu dürfen, in dem sie herausragende KI-Talente sammelt und trainiert.“

„Wow. Die Frau will ja hoch hinaus.“

„Megumi hat es genehmigt und außerdem zur Chefsache erklärt“, stellte Sakura trocken fest.

„WAS?“

„Na, überlegt doch mal, Jungs. Wir haben es bald mit Iovar zu tun, richtig? Und im Gegensatz zu uns Naguad haben die stets an ihrem KI gefeilt. Wir müssen also damit rechnen, wenn es hart auf hart kommt, mit Soldaten konfrontiert zu werden, die eine herausragende KI-Kontrolle besitzen. Noch schlimmer, die unseren KI-Meistern überlegen sind.

Deshalb ist eine solche Einheit wahrscheinlich nicht verkehrt. Und wenn wir sie als Red Team einsetzen, wie damals das Sechser-Squad in Banges, an dem die Hekatoncheiren den Kampf gegen Naguad trainieren konnte.“

„Ja, das macht Sinn. Wenn wir schon nicht in jedem seine KI-Fähigkeiten wecken und trainieren können, dann sollten sie wenigstens wissen, wie man gegen sie kämpft. Apropos. Hast du etwas neues von Kitsune und Okame gehört? Sie würden uns speziell in diesem Fall wieder eine große Hilfe sein. Und darüber hinaus.“

„Tut mir Leid, Kei, aber niemand weiß etwas über ihren Verbleib. Und die Große Spinne meldet sich nicht. Es ist, als gäbe es die Dämonenwelt gar nicht. Es ist als… Als…“

„Egal wie es ist, es pisst mich an“, murmelte Kei und versenkte sein Gesicht in der Kaffeetasse. „Ich dachte wir wären Freunde. Aber es ist wohl wahr. Wenn man zweitausend Jahre alt ist, dann hat man wohl kein rechtes Verständnis für uns kurzlebige Menschen.“

„Hey, hey. Gehst du da nicht etwas zu hart mit Kitsune und Okame ins Gericht?“, fragte Tetsu betreten. „Ich glaube wirklich, dass sie unsere Kameraden und Freunde sind. Alleine wegen Akira…“

„Äh, wie beschreibt man es, wenn etwas hartes, spitzes in die Wade eindringt und die Schmerzrezeptoren anregt?“

„Du kannst doch nicht auf meine rhetorische Frage mit einer Gegenfrage antworten, Kei“, tadelte Tetsu. „Aber die Antwort ist wahrscheinlich Biss. Warum redest du so einen Mist?“

„Weil ich gerade gebissen werde!“

„Daff geffieht dir auff ganff frefft! An mir fffu ffweifeln! Böffer Funge, Kei, böffer Funge!“

„Hm, Kitsune ist wieder da. Willst du einen Kaffee, Kitsune-chan?“

Die Füchsin ließ Keis rechte Wade los und verwandelte sich in einen Menschen. „Was? Mehr Reaktion kriege ich nicht? Hey, Sakura, Tetsu, ich bin wieder da!“

„Kitsune-chan!“ Kei fiel der Dämonin um den Hals. „Meinetwegen beiß mich ruhig noch mal, aber bleib diesmal bei uns.“

„Na, das geht als Begrüßung gerade so noch durch“, murmelte sie.

„Wenn du mit ihr fertig bist, Kei, gib sie bitte an uns weiter“, sagte Sakura trocken. „Wir wollen sie auch noch drücken.“ Tetsu nickte bestätigend.

„Na, der Empfang wird ja besser und besser.“

***

„Es regnet.“ Doitsu Ataka sah zum Himmel. Kleine Tropfen fielen herab und zerstieben auf seiner Sonnenbrille. Regen in Fushida City, was für ein seltenes Ereignis.

Meistens entlud sich der Regen über den Feldern der kleinen Ortschaften oder an der Küste des Serenity-Meeres – selten war er in jedem Fall.

Aber dass er trotz des Staubes und der Hitze über der Stadt – vierundzwanzig Grad waren seines Erachtens nach heiß – bis hierher reichte, war eine kleine Sensation.

Manche würden es vielleicht in der ewig trockenen, aber nicht staubtrockenen Stadt als nervig empfinden, von Regen getroffen zu werden, Doitsu sah es als willkommene Abwechslung. Der Unterschied zwischen einem Leben auf einem Planeten und der AURORA war eben das Wetter, und richtiges, wirkliches Wetter gab es hier nie. Keine Stürme, keine Wolkenbrüche, kein Eis und Schnee, aber auch keine Hitzewellen und keine Trockenheit, denn wo sollte die Feuchtigkeit schon anders hin als auf den Boden und dann wieder ins Serenity-Meer? Ein Teil verschwand natürlich, ebenso wie die Atemluft, nach und nach, und deshalb wurden Luft und Wasser in regelmäßigen Abständen ergänzt, und ein Volumen, dass einem Achtel des Serenity-Meeres entsprach, permanent in Reserve gehalten. Frischen Sauerstoff bekam man entweder von Sauerstoff-Planeten oder aus der Spaltung von Wassereis, dass auf Monden und Asteroiden gewonnen worden war.

Eigentlich lebte man ganz gut, so ohne Taifune, ohne Gewitter, ohne Trockenperioden, ohne abrutschende Berghänge, und natürlich ohne Erdbeben und Vulkanausbrüche. Das war der positivste Effekt an der AURORA. Es gab keine tektonischen Bewegungen, deshalb bebte die Erde eher selten. Und selbst wenn sie es mal tat, aufgrund einer Fehlfunktion der Gravitationskontrolle oder bei einem Angriff, dann war das eben Akira-Wetter, benannt nach seinem alten Freund und Kampfgefährten, der es mit Torum Acati geschafft hatte, nur mit seinem KI einen Teil des Innenraums des Gigantschiffs beben zu lassen.

Diesen Kampf hätte er nur zu gerne live gesehen. Und hätte er gewusst, dass dies die letzte Möglichkeit für ihn gewesen war, den Freund lebend zu sehen, dann…

Doitsu seufzte und umklammerte den Griff des Schwertes fester. Das Katana an seiner Seite war nicht sein eigenes, nicht das Erbstück der Familie, die er verlassen zu haben glaubte. Er, ein Mitglied des Ataca-Clans, war nie für eine Rolle in der Hierarchie vorgesehen gewesen. Im Gegenteil. Er und seine Eltern hatten ein relativ normales Leben geführt, abseits des Clans und abseits der Regeln. Aber nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern hatte er erfahren müssen, dass der gütige Opa, zu dem er am Wochenende immer fuhr, und die vielen Onkel mit den manchmal etwas grimmigen Gesichtern mehr waren als nur Spielkameraden.

Opa hatte wenigstens eines seiner Kinder abseits der Yakuza-Welt leben sehen wollen. Er hatte vorgehabt zu beobachten, wie weit es ihr Kind, Doitsu, ohne den Schutz des Clans und nur durch die eigenen Fähigkeiten bringen würde. Aber er hatte den Fehler gemacht, die Brücken zu seiner Tochter und ihrem Mann nicht abzubrechen. Und irgendwann war einer seiner Gegner skrupellos genug gewesen, um eine vollkommen wehrlose Familie auszulöschen, von der er nicht mehr wusste, als dass der Sohn einmal die Woche ins Haupthaus kam. Himmel, war er damals wirklich erst acht gewesen?

Was für eine verfluchte Zeit. Er war nicht da gewesen als die Killer gekommen waren. Er war nicht da gewesen, als sie seine Eltern getötet hatten. Und wenn, hätte es keinen Unterschied gemacht, es hätte nur ein weiteres Opfer gegeben.

Danach hatte er zu seinem Opa ziehen müssen, und sein ältester leiblicher Onkel war sein Ziehvater geworden. Auch damals hatten sie noch versucht, ihn aus der Welt der Yakuza heraus zu halten, aber es war eben nicht möglich, wenn man zusammen lebte. Irgendwann wusste irgendjemand irgendwo, dass er der Enkel eines Yakuza-Boss war, und irgendwann schlugen Vorurteile, Angst und manchmal Hass über ihm zusammen.

Und irgendwann hatte er begonnen, Verantwortung zu übernehmen. Für sich, für die Gruppe, für einzelne Kobun, also Mitglieder der Ataka-Gruppe.

Er hatte sich nie tätowieren lassen, Großvater hätte es nie erlaubt, aber das hatte nicht verhindert, vom Ehrenkodex der Yakuza eingenommen zu werden…

Er war ein hübscher, aber schweigsamer, regelrecht zurückhaltender junger Bursche geworden, der ab und an mit einigen Kobun einen Auftrag erledigte und danach hoffte, dass dies auf das bisschen normales Leben, das er hatte, keinen Einfluss gehabt hatte.

Aber natürlich war die Hoffnung trügerisch. Egal in welche Schule er ging, egal wer seine Freunde sein wollten, egal was er tat oder wohin er ging, der Makel, ein Yakuza zu sein, folgte ihm und verbitterte ihn. Dies machte ihm alles unmöglich. Freundschaften, Liebe, selbst den Spaß in einer Gruppe aus Mitschülern zu lernen gelang nicht. Er war isoliert, abgeschlossen und begann sich mit dem Gedanken anzufreunden, irgendwann einmal ein richtiger Yakuza zu werden.

War es zu dieser Zeit gewesen, dass sein Ziehvater die Gruppe übernahm und er auf die Mittelschule kam? Jedenfalls wurde sein Leben dadurch schwerer. Nicht gefährlicher, aber der neue Oyabun forderte wesentlich mehr von ihm als der leibliche Großvater.

Doitsu wurde zum Kendo-Training geschickt und aufgefordert, niemals zu verlieren. Und er gehorchte, bis auf jenen Tag im Wettkampf gegen die Fushida Mittelstufe.

Sein Gegner war ein Halbblut, mehr ein Dreiviertelblut mit braunen Haaren und heller Haut. Akira Otomo. Dieser Bursche besiegte ihn in einem harten Kampf. Den nächsten Kampf gewann Doitsu, den übernächsten wieder Akira, und so ging es hin und her in der Mittelschule, von Turnier zu Turnier, von Duell zu Duell.

An diesem Punkt wurde ihm ein anderer Mensch, der nicht aus der Gruppe stammte, wichtig. Doitsu wollte ihm überlegen sein, ihn besiegen, aber nicht um eine besondere Leistung zu vollbringen. Nein, er wollte ihm nahe sein. Er wollte Akiras Freund sein. Und aus diesem Grund besuchte er die gleichen Lehrer, die auch der junge Otomo hatte, vom Kendo-Meister bis zum KI-Lehrer.

Es folgte der Krieg, die Wirrungen und Zerstörungen, die solche Ereignisse mit sich brachten, Akira verschwand und kam erst Monate später zurück, mehr tot als lebendig, aber ungebrochen und aufrecht. Doitsus Verlangen, von ihm Freund genannt zu werden wuchs, und so ging er ebenfalls auf die Fushida Oberstufe, auf die nun auch Akira ging.

Sie wurden schnell Freunde, fochten gemeinsam im Kendo-Club, und Doitsu hatte das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl, dass etwas in seinem Leben richtig lief. Bis zu dem Tag, an dem einer der Kobun von ihm forderte, Gerechtigkeit walten zu lassen. Dies war der Tag, an dem er sich Akira als Yakuza offenbaren musste. Alles schien verloren, alles schien vorbei.

Doch Akira interessierte sich überhaupt nicht dafür, was Doitsu war. Er interessierte sich nur dafür wer Doitsu war.

An jenem Tag verließ Doitsu Ataka die Gruppe und seinen Onkel, zog bei seinem besten Freund ein, wurde in den Krieg mit den Kronosiern gezogen, beendete ihn als hoch geachteter, mehrfach ausgezeichneter Offizier der Hekatoncheiren und Veteran des Zweiten Marsfeldzugs, fand die Frau seines Lebens und…

Und stand nun doch wieder hier, in den Straßen von Fushida City, weil Eikichi Otomo und sein Onkel und Ziehvater eine geheimnisvolle, fruchtbare Beziehung hatten, durch die sie bestimmt hatten, dass er, Doitsu, der Richtige war, um die AURORA von innen heraus zu beschützen.

Gut, gut, beim ersten Mal hatte er es nicht richtig gemacht. Er war eben doch kein Yakuza. Aber er war ein guter Anführer, Menschenkenner und Krieger. Und diese Fähigkeiten konnte er bündeln und die Kobun, die Krieger die ihm zur Verfügung standen, effizient führen.

Aus zwanzig waren sechzig geworden, viele hatte er erst in der Grey Zone der AURORA rekrutiert, und er hatte nie wieder vor, sich derart überrumpeln zu lassen.

Diese Expedition wurde ausgesandt, um Akiras KI zu suchen, seinen Geist, seinen Verstand, sein Bewusstsein. Und er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass jemand, irgendjemand verhinderte, dass sie Erfolg hatten!

Er hatte eine Aufgabe übernommen, und die würde er durchführen, bis zur bittersten Konsequenz. Für Akira. Für Hina. Für all seine Freunde, die er seit über drei Jahren hatte.

Und natürlich für die Menschheit.
 

„Tono.“

„Was gibt es, Chiba?“, fragte Doitsu, ohne sich nach dem Yakuza umzudrehen, der direkt aus der nächsten Wand entstanden zu sein schien.

„Die Schockwelle, die auf die Erde zurast…“

„Das ist jetzt nicht relevant, Chiba. Wir haben es hier mit den Triaden zu tun, das ist es was gerade zählt.“

„Aber die Zerstörungen, die von der Welle…“

„Was denn? Zeigst du etwa Nerven?“, spottete Doitsu und sah zu dem glatzköpfigen Mann herüber.

Der senkte den Blick. „Entschuldigen Sie vielmals, Tono.“

„Keine Sorge, Chiba. Wir kümmern uns um die Welle, wenn es soweit ist.“

„Können wir das denn, Tono?“ Wieder sah der Mann verlegen zu Boden. „Entschuldigen Sie meine Unverschämtheit.“

„Wir beide können das sicherlich nicht.“ Doitsu deutete nach vorne. „Aber sie können es.“

Ein riesiger, himmelblau glänzender Hawk landete mitten in der Stadt. Eine KI-Aura umschloss ihn und ließ ihn schimmern, als wäre er mit Perlmutt beschichtet, welches von starken Scheinwerfern angestrahlt wurde. „Dies ist eine UEMF-Aktion! Sie sind alle verhaftet!“, klang die Stimme von Major Yamada auf.

Vereinzelt wurde gefeuert, aber die Kugeln konnten den Hawk nicht einmal ankratzen.

„Habe ich schon erwähnt, dass Widerstand zwecklos ist?“

Doitsu grinste schief. „Was für ein Prachtmädchen. Jetzt sollten unsere Gegner ein wenig abgelenkt sein. Sacken wir sie ein.“ Er drückte auf seinen Ohrstecker. „Team eins, Team drei, Team vier, go, go, go. Lasst sie nach Möglichkeit am Leben. Der UEMF-Geheimdienst hat später noch ein paar Fragen an sie.“

Doitsu sah zurück. „Wir gehen rein, Chiba.“

„Jawohl, Tono. Hina-sama kann es wirklich schaffen, oder, Tono?“

Doitsu lächelte stolz. „Sie kann nicht, sie wird.“
 

4.

Nervös legte Eikichi Otomo seine Hände vor seinem Kinn zusammen und stützte die Ellenbögen auf seinem Schreibtisch ab. Er wusste, er sah unheimlich dämlich aus, wenn er diese Geste benutzte, aber manchmal war Komfort wichtiger als Präsentation. Und dies war einer der Momente, in denen er etwas Komfort gebrauchen konnte, denn seine beiden Gäste, eigentlich sogar drei, waren nicht gerade das, was man alltäglich nennen konnte, nicht einmal auf der mächtigen OLYMP-Station.

Der dritte Gast, der eigentlich gar kein Gast war, das war Aris Taral. Als Hausoffizier der Arogads trug er die hellblaue Uniform mit den goldenen Highlights. Nur ein schwarzer Kragensticker informierte den Eingeweihten darüber, dass dieser Mann ein so genannter Bluthund war. Ein Leibwächter, ein Attentäter, ja ein Mörder, wenn seine Herren es ihm befahlen. Aber auf jeden Fall ein Verbündeter und zudem Mitglied der Familie. Aris stand direkt hinter ihm, hatte die Arme ineinander verschränkt und lehnte an der kahlen Wand. Sein Blick schien die beiden Gäste zerfetzen zu wollen, aber die waren davon unbeeindruckt.

Der zweite Gast, und damit der erste richtige war jemand, den Eikichi niemals in diesem Büro erwartet hätte: Henry William Taylor, ehemaliger Legat, Erzverräter an der Menschheit, Träger der kronosischen Gift und zweitjüngstes Mitglied im persönlichen Stabs seines Sohnes, was das Dienstalter betraf. Eigentlich war Henry englischer Geheimagent mit dem Auftrag, die Kronosier zu infiltrieren, aber dieser Mann hatte sich zu sehr auf das neue Leben eingelassen, um wieder zurückkehren zu können. Aber das wollte er auch nicht mehr. Es gab nur noch Henry, der englische Commander war schon vor langer Zeit gestorben.

Mittlerweile hatte sich der ehemalige Legat einen eigenen Auftrag gegeben. Anfangs hatte er versucht, das Naguad-Imperium zu erreichen und seine Schwachpunkte zu erkunden, aber im Zuge seines Studiums war er einer großen Sache auf die Spur gekommen. Vielleicht der Größten, die diese Galaxis zu bieten hatte.

Der erste, wichtigste und mit Abstand gefährlichste Gast saß in einem schwarzen Geschäftsanzug mit lässig übergeschlagenen Beinen direkt gegenüber von Eikichi. Die legere braune Sonnenbrille mit dem silbernen Gestell verbarg die Augen, aber die gekräuselten Lippen verrieten, wie sehr sich Dai Kuzo-sama im Moment amüsierte.

Eikichi hätte sich die Haare raufen können. Die drei zusammen in diesem Raum zu haben war eine üble Kombination. Eine sehr üble Kombination.

„Zuerst die gute Nachricht“, begann die große Spinne. „Ich habe mit… Einer alten Freundin auf Naguad Prime gesprochen. Sie wird demnächst zusehen, inwieweit sie deiner Frau helfen kann. Ich weiß, selbst Meister Tevell konnte Helen nicht helfen, geschweige denn ich. Aber Agrial Logodoboro ist… Auf diesem Gebiet erfahrener als ich. Es wäre also nett, wenn du auf den alten Oren einwirkst, damit er Agrial Zugang zu Helen gewährt.“

„Das war die gute Nachricht? Sie war hervorragendend. Aber bedeutet das, dass die schlechte Nachricht übel ausfällt?“

„Es geht um die Schockwelle“, sagte Kuzo vorsichtig.

„Du kannst sie nicht aufhalten“, schloss Eikichi.

„Darum mach dir mal keine Sorgen, Junge“, sagte Aris und lachte auf. „Das kriegen wir auch ohne diese Daina ganz alleine hin.“

„Ich glaube nicht, dass das unser Problem mit der Schockwelle ist“, warf Henry ein. „Im Gegenteil. Unser Problem ist die Frage, ob wir die Zerstörungen nicht besser zulassen sollten.“ Er hob beschwichtigend die Hände, als er das Entsetzen der beiden Männer sah. „Es ist eher ein theoretischer Gedanke. Dieses Schiff, dass die Schockwelle abgefeuert hat und die CINCINATTI wie beiläufig vernichtet hat, verfolgte mit dem Abschuss sicherlich ein bestimmtes Ziel. Und was ist dieses Ziel?“

„Sie wollten die Erde vernichten?“

„Nicht ganz, Aris Taral. Wir alle hier im Raum wissen, dass die Auswirkungen des Einschlags verheerend sein werden. Im ersten Moment werden drei bis vier Millionen Menschen ihre Leben verlieren, in den darauf folgenden Wochen sicherlich weitere fünfzig, vielleicht sogar hundert Millionen. Das ist ein schwerer Schlag für uns, aber sicher nicht der Untergang der Erde.“

„Den wir aber trotzdem nicht hinnehmen, und wenn ich die Schockwelle alleine aufhalten muss!“, schloss Aris Taral wütend.

„Natürlich nicht. Wir halten die Schockwelle ja auf, definitiv. Aber ich glaube, wir spielen jenen, die den Waffenstrahl abgefeuert haben, in die Hände.“

Nachdenklich rieb sich Eikichi das Kinn. „Du meinst also, dass dieses Schiff nicht versucht die Erde zu vernichten, sondern herausfinden will ob wir die Welle aufhalten können.“ Er sah Dai Kuzo-sama an. „Was sagst du dazu?“

Die große Spinne seufzte. „Das ist die schlechte Nachricht. Ich glaube, ich muss jetzt etwas weiter ausholen und einiges erklären. Wusstest du, dass von dieser Welt aus die Daima- und Daina-Zivilisationen aufgebrochen sind? Wusstest du, dass der Kontinent Lemur wirklich existierte und deren Keimzelle war? Und wusstest du, dass die Daima und Daina da draußen in einen fürchterlichen Bürgerkrieg fielen, der von einer unbekannten Macht beendet wurde? Das Ganze geschah vor zwanzigtausend Jahren, lange bevor die aktuelle Geschichtsschreibung von euch Daina überhaupt einsetzte.“

„Moment, Moment, bitte immer nur ein Superlativ pro Sekunde. Die Erde ist Keimzelle von was?“

„Von allen humanoiden Zivilisationen in einem Umkreis von dreihundert Lichtjahren, mittlerweile vielleicht schon tausend.“

Ächzend ließ sich Eikichi in seinen Sessel sinken. „DAS muss ich erst mal verdauen.“

„Harter Tobak. Aber nicht so hart wie der Gedanke an eine unbekannte Macht, die den Bürgerkrieg beendet hat.“ Aris Taral fixierte die Daimon. „Unbekannte Macht bedeutet wer?“

„Unbekannte Macht ist unbekannte Macht. Wir wissen nicht viel über sie. Aber wir wissen, dass es sie gibt und dass sie damals gnadenlos unter uns gewütet hat, bis nicht mehr genügend übrig blieben, um weiterhin Krieg zu führen.

Von dieser Erkenntnis getrieben und um zu retten was zu retten war, haben wir Dämonen uns verborgen, unsere eigenen Welten erschaffen, auf denen wir uns fortan versteckt haben. Versteckt vor Dingen wie diesem Schiff und dieser Schockwelle. Versteckt davor, erneut vernichtet zu werden.“

„Wie viele Dämonenwelten gibt es also?“

„Ich weiß es nicht, Eikichi. Ich kenne persönlich fünf, und eine habe ich kennen gelernt, weil die Naguad auf sie gestoßen sind, nämlich auf Lorania. Außerdem weiß ich mit Bestimmtheit, dass sich im Nag-System keine Dämonenwelt befindet.“

„Du willst damit sagen, dass das Hauptsystem der Naguad sicher ist?“, argwöhnte Aris Taral.

Die Dämonin schnaubte amüsiert. „Sicher. Was ist schon sicher bei einer Macht, die die Daimon zwingen kann, sich feige vor ihr zu verkriechen? Naguad Prime ist nur nicht oben auf der Prioritätenliste, sondern erheblich weiter unten.“

„Aber irgendwann kommen wir doch an die Reihe.“ Aris schnaubte wütend. „Haben wir dafür diese Welt gerettet? Haben wir sie deshalb vor dem Core beschützt? Ich habe zwei wichtige Menschen auf dieser Welt verloren, dazu Dutzende Kameraden, mit denen ich Jahrzehnte zusammen war. Und meine Enkel kämpfen gerade in diesem Moment für diesen Planeten, und damit auch für die Dämonenwelt. Und jetzt sagst du mir, nicht einmal meine Heimat ist vor dem unbekannten Feind sicher?“

„Soll ich dich vielleicht anlügen, Bluthund?“, blaffte die große Spinne. „Ist es dir lieber wenn der Angriff als große Überraschung kommt?“

„Ruhig, Ihr zwei, ruhig. Wenn man im Gespräch laut wird bedeutet das immer, dass man seine mangelnden Argumente kaschieren will.“

„Wir diskutieren nicht“, sagte die Große Spinne. „Wir legen unser Wissen zusammen.“

„Was prinzipiell positiv ist“, sagte Henry ernst. „Und damit komme ich schon dazu, meine ersten Brocken Wissen ins Gespräch zu werfen. Abgesehen von der alles vernichtenden Schockwelle, die uns direkt bedroht sollten wir unser Augenmerk auch auf die Vergangenheit richten. Vor allem auf die Vergangenheit und vor allem auf die Zeit der Dai-Kriege.“

Erschrocken fuhr Kuzo zu ihm herum. „Was weißt du über die Dai-Kriege?“

Henry William Taylor grinste zynisch. „Bei weitem nicht genug, aber mir wurde gestattet, die Archive von fünf der neun Naguad-Türme zu durchforschen. Teilweise stieß ich auf uralte Papierdokumente, die aus einer Zeit stammen, die noch vor dem Exodus vom Kontinent Naguad auf Iotan lag. Ich hatte nicht besonders viel Zeit, aber ein gutes Team. Die meisten Materialien und Daten sichtete ich auf dem Rückflug der AURORA, und auch hier hatte ich ein gutes Team, dass für mich vorsortiert hat. Es ist mir gelungen, viel zu erfahren. Und das wichtigste kann ich in einem einzigen Wort zusammenfassen.“

„Dieses Wort lautet nicht zufällig Dai?“ Eikichi rieb sich die Nasenwurzel. „Dein erschrockenes Schweigen fasse ich als ja auf. Also, was sind diese Dai?“

„Diese Dai sind unser aller Vorfahren. Nein, das ist so nicht wirklich richtig. Wir und die Dai haben gemeinsame Vorfahren. Und auch das ist falsch und richtig zugleich, denn die wenigsten Dai wurden geboren. Viele stiegen aus den Rängen der Daina, unserer eigentlichen direkten Vorfahren zu Dai auf. Entschuldige wenn ich zu viele Geheimnisse verrate, Dai-Kuzo-sama.“

„Würde es was nützen, wenn ich dich jetzt töten würde?“, brummte sie. „Wahrscheinlich nicht, also rede weiter. Vielleicht lerne ich ja noch was.“

„Falls du das mit dem töten scherzhaft gemeint hast, möchte ich sagen, dass es mir nicht sehr gefallen hat. Und falls du es ernst gemeint hast, erst recht nicht.“

„Henry. Dein Bericht.“

„Also gut. Ursprünglich habe ich in den Archiven der Türme herum gewühlt, um so viel wie möglich über die Naguad zu erfahren. Ein bekannter Feind ist halb besiegt, sagt ein altes Sprichwort. Ich konnte nicht wissen, dass sich mir durch meine Arbeit vier neue Feinde offenbaren würden.“

„Warte, warte. Der eine Feind ist der Core, der zweite sicherlich das Kaiserreich. Der dritte Feind ist dann die große Gefahr im Hintergrund. Aber der vierte?“

„Der vierte, Aris Taral, das ist das Volk der Dai. Jene geheimnisvolle Macht, die… siebenundachtzig bewohnte Welten in die Steinzeit zurückbombte.“

„Nun hör aber auf…“, rief die Große Spinne und sprang empört auf.

„Das ist natürlich nur eine Zusammenfassung der tatsächlichen Geschehnisse“, sagte Henry beschwichtigend. „Tatsächlich hatten sie Recht so zu handeln. Die Dai, meine lieben Freunde, sind, was ihre Nachfahren der Daina und Daima angeht, nun, etwas abgehoben. Oder um es anders auszudrücken, sie existieren nicht mehr in dem Sinne. Dais sind nahezu unsterblich, haben die absolute Kontrolle über ihren Körper und sind dementsprechend wenig an Kontakten zu anderen Wesen, die nicht von ihrer Art sind, interessiert. Vergleicht es am Besten mit einem Grundschüler, der einem Physikprofessor mit seinem einfältigen, unfertigen Verstand die Relativitätstheorie erklären will. Nein, noch besser, er zwingt den Professor, seine Sicht der Dinge zu übernehmen.“

„Was für ein fieser kleiner Grundschüler“, bemerkte Eikichi amüsiert.

„Es geht noch weiter. Wenn ich die Daten richtig verstanden habe, dann existieren die Dai nicht im körperlichen Sinne. Es gibt sie nur als pseudomaterielle Wesen. Sie bestehen aus ihrem Verstand und ihrem KI, und erschaffen sich einen Körper wann und wie sie brauchen. Sie sind auf einem Level der Existenz, der der unseren Jahrzehntausende voraus ist.

Und für alle im Raum, die es noch nicht kapiert haben, ich rede hier von den Dämonen.“

„Dämonen? Du meinst sowas wie Dai-Kuzo-sama?“

„Hey, man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute, Aris!“

„Tschuldigung.“

„Ja, das meine ich. Die Dämonen, die Daimon, diese unerforschten Wesen mit ihrer geheimnisvollen Dämonenwelt sind die Dai. Oder zumindest ihre Nachfahren. Sie haben ihre eigene Welt, ihre eigene Sicht der Dinge, und meistens interessieren sie sich für die Welt der Daina einen Dreck.“

„Ich würde es nicht so hart formulieren, aber ja, wir greifen nicht gerne in die Geschehnisse der Menschenwelt ein. Ihr seid so… So kurzlebig. Kaum hat man sich an euch gewöhnt, trägt euch eure Familie schon wieder zu Grabe. Mach das ein paar tausend Mal mit, und du hast auch keine Lust mehr, Menschen kennen zu lernen. Erst die Naguad machten die Welt wieder interessant für uns.“

„Die Naguad mit ihrer Langlebigkeit und natürlich die Bedrohung der Dämonenwelt durch den Core.“

„Ach ja, da war noch was anderes.“

„Das ist übrigens etwas, was ich mich immer gefragt habe, seit ich mit diesem Thema konfrontiert wurde“, sagte Eikichi ernst und faltete wieder die Hände vor dem Gesicht zusammen. „Warum fürchten die Daimon den Core?“

„Es geht weniger darum, dass wir den Core fürchten als dass wir die Entdeckung der Zugangswege zur Dämonenwelt durch den Core fürchten.“

„Aha. Und was passiert, wenn der Core die Zugangswege entdeckt?“

„Er dringt ein und versucht an eine Probe des Liberty-Virus zu kommen. Was gleichbedeutend mit unserer totalen Unterwerfung wäre.“

„Na, wenigstens nicht die totale Vernichtung“, brummte Aris.

„Das ist ja wohl fast das gleiche“, schnappte Kuzo wütend.

„Ein toter Dai, ein lebender Dai, da fällt es einem wohl nicht schwer zu entscheiden was die bessere Wahl ist, oder?“

„Leute, Leute, keinen Streit in diesem Büro. Was ist der Liberty-Virus? Warum will der Core in die Dämonenwelt? Und warum sind die Dämonenwelten für die geheimnisvolle Bedrohung im Hintergrund so interessant?“

„Ich kann dir nicht sagen, was der Liberty-Virus ist“, sagte die Große Spinne kurz angebunden.

„Ach komm. Wir sind Verbündete. Warum willst du es mir nicht sagen?“

„Es ist nicht so dass ich nicht will. Es leider so, dass ich es nicht weiß. Ich kann dir nur sagen, dass der Liberty-Virus in jeder Dämonenwelt existiert. Warum es ihn dort gibt und was er bewirkt ist unbekannt. Aber wir wissen von seiner Existenz. Es ist kein Krankheitskeim und auch kein Mystizismus, keine Legende und gewiss keine Propaganda. Er existiert, und der Core will ihn haben. So sehr haben, dass sie seit über zweitausend Jahren Naguad Prime angreifen, weil sie glauben, auf dieser Welt gibt es eine Dämonenwelt.“

„Wenn ich an dieser Stelle noch schnell was einwerfen dürfte“, meldete sich Henry wieder zu Wort, „und zwar die unbekannte Macht im Hintergrund betreffend. Ich würde sie fortan gerne Population A nennen, weil mir „unbekannte Macht im Hintergrund“ zu lang ist.

Also, soweit ich meinen recherchierten Fakten trauen kann, hat nicht die Population A den Krieg zwischen Daima und Daina beendet, sondern es waren die Dai. Dabei gingen sie recht rabiat vor und versetzten mancher Hochtechnologie den Todesstoß. Dabei schonten sie jedoch Menschenleben, so weit sie dies konnten und richteten auf vielen Welten Kolonien ein, um die Daima oder Daina durch ihre Leitung auf einen besseren Weg zu führen, abseits von Krieg und Zerstörung. Erst am Ende dieser Kämpfe der Dai, die großen Befriedungskämpfe, taucht Population A auf. Dies war der Beginn eines zweiten Krieges der Dai, aber diesmal ein Verteidigungskrieg. Erneut wurde diese Region der Galaxis mit Verderben überzogen, und die meisten Dai-Enklaven wurden vernichtet. Andere versteckten ihr Heimatland durch Phasenverschiebung und entwickelten auf diese Weise die Dämonenwelten.

Auch die Erde wurde angegriffen, und hier war es ein ganzer Kontinent, der verschwand. Mu, Lemur oder meinetwegen auch Atlantis.

Wir finden die Spuren dieses Kontinents noch nach Jahrtausenden in den Legenden und Mythen der Menschen. Besonders die Aborigines, die Ureinwohner von Australien sprechen in ihrer Mystik immer wieder von der Traumwelt, die abseits von dieser Welt existieren würde. Man kann annehmen, dass die Aborigines den damaligen Daina genetisch am nächsten sind. Aber das ist meine persönliche Schlussfolgerung, nicht unbedingt eine These oder gar eine Theorie.

Tatsache ist jedenfalls, dass Population A unendlich viel Zeit zu haben scheint. Sie legt sich in der Nähe der zerstörten Welten auf die Lauer und wartet, bis sich erneut eine Spur zu den Dämonenwelten auftut, um dann zu zu schlagen.“

„Und dann schnappen sie sich den Liberty-Virus?“, argwöhnte Aris.

„Nicht, ohne vorher die ganze Welt zu vernichten“, betonte Henry. „Ich befürchte, dass wir bereits einiges an Aufmerksamkeit der Population A eingefordert haben. Der Kontakt mit den Naguad, der Kontakt zum Core, all das wurde von ihnen registriert. Und ich nehme an, dass dieser Abschuss der Schockwelle eine Art Test ist. Entweder um zu sehen, wie sehr wir bereits eine Bedrohung für die Ambitionen der Population A sind, oder um die Dai aus ihrem Versteck zu locken. Oder beides.“

„Aha.“ Eikichi rieb sich wieder die Nasenwurzel. „Deshalb also diese Idee, die Welle nicht abzuwehren.“

„Nun, abwehren müssen wir sie in jedem Fall. Aber vielleicht sollten wir so tun, als wäre sie wirklich eingeschlagen und hätte verheerende Verwüstungen angerichtet. Nur für den Fall, dass…“

„Wir werden darüber nachdenken, versprochen. Okay, wir haben also noch einen Feind an der Backe. Nach den Naguad, dem Kaiserreich und dem Core, und glaubt mir, das Kaiserreich wird nicht sehr freundlich zu uns sein, haben wir nun auch noch Population A im Club. Und die scheint mit Abstand die Gefährlichste zu sein. Dai-Kuzo-sama, gibt es nicht einen klitzekleinen Hinweis darauf, was dieser Liberty-Virus ist? Irgendetwas, was uns helfen könnte?“

„Es ist keine Krankheit und keine Waffe. Mehr kann ich dir nicht sagen. Mehr weiß ich einfach nicht.“

„Das ist immerhin etwas. Aber ich wüsste schon gerne mehr darüber als dass eine Zivilisation, die die Hochzivilisation der Dai vernichten konnte, hinter ihm her ist.“

„Ich kann den Daten noch etwas hinzu fügen. Der Core begann seine Zivilisation aufzubauen, nachdem er anscheinend auf ein Fragment der Population A getroffen ist. Ich kann nicht sagen, warum die Core-Zivilisation nun ebenfalls Dai-Welten jagt, aber einen netten Grund wird es nicht haben.“

„Danke, Henry, du machst mir Mut.“

„Es war nicht meine Absicht, Ihnen Mut zu machen, Executive Commander Eikichi Otomo.“ Hery William Taylor erhob sich. „Schon gut, ich habe meine Worte ironisch gemeint. Nicht zu ernst nehmen, okay? Ich für meinen Teil bin hier fertig. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte und habe gehört, was ich hören musste. Ich gehe wieder auf die AURORA.“

„Du begleitest die Expedition, die Akira finden soll?“

„Natürlich. Eine bessere Gelegenheit, um in noch älteren Archiven zu wühlen wird sich nicht für mich ergeben. Dort finde ich vielleicht die Antworten, die uns noch fehlen. Wenn die Herrschaften mich dann entschuldigen würden… Executive Commander, Aris Taral, Dai-Kuzo-sama.“ Er nickte ihnen einzeln zu und verließ dann das Büro.

„Ich weiß nicht wie es euch geht, aber er irritiert mich. Er irritiert mich wirklich.“

„Das ist uns auch schon aufgefallen, Aris“, brummte Eikichi. „Und ich hoffe, das wird noch eine ganze Weile so bleiben. Denn solange er ein Interesse daran hat, mit uns zu kooperieren, ist das nur gut für uns.“

„Sag nicht, du traust diesem Mann.“

Eikichi winkte ab. „Nur so weit wie ich einen Phoenix werfen kann. Aber er war bisher sehr nützlich. Und um der Menschheit willen muss er das auch weiterhin sein.“

„Apropos Menschheit. Wenn Henry Recht hat, machen wir Population A nachhaltig auf uns aufmerksam, wenn wir die Schockwelle aufhalten. Und das auch ohne einen direkten Eingriff durch die Dai.“

„Uns bleibt ja wohl nichts anderes übrig, als sie aufzuhalten. Und wenn wir uns damit für Population A interessant machen, dann werden wir uns mit dem Problem befassen, sobald es akut für uns wird. Ich habe absolut keine Lust in die Geschichtsbücher einzugehen, weil ich einen Fünfhundertmillionenfachen Mord nicht verhindert habe.“

„Und wer soll es tun? Soll ich ein paar meiner Daimon stellen?“

Eikichi sah zu dem Bluthund herüber. „Was meinst du, alter Junge?“

„Ich habe doch schon gesagt, notfalls halte ich sie alleine auf. Vertraust du mir nicht, junger Mann?“

„Würde dieses notfalls alleine bedeuten, dass du dabei stirbst, alter Freund?“

„Hey, ich habe nicht wirklich vor, sie alleine aufzuhalten. Ich könnte schon Hilfe gebrauchen. Sind die Slayer frei?“

„Gut, gut, das gefällt mir schon besser.“

„Mir auch, immerhin habe ich ihnen erst ihre Fähigkeiten bewusst gemacht.“ Dai Kuzo-sama faltete die Hände unter dem Kinn zusammen. „Ich bin sehr daran interessiert, wie es hier weitergehen wird.“

„Wenn du das Endergebnis mitkriegst, bedeutet das, dass wir noch leben“, sagte Eikichi trocken.

„Nicht gerade ein verachtenswertes Ziel“, fügte Aris amüsiert hinzu.

***

„Da kommen sie“, sagte Kei Takahara und konnte es nicht verhindern, dass seine Stimme vor Ehrfurcht zitterte. Die guten alten Zulu Zulu, bei den Naguad Bakesch genannt, waren Riesenpötte. Zwei von ihnen im Team zu haben war eine Riesenerleichterung für jeden der sich der Leistungen der SUNDER bewusst war. Zwar war das von den Anelph gestohlene und auf der Deimos-Werft umgerüstete Kriegsschiff kampfstärker, da es auf einen Sprungantrieb verzichtete, aber das spielte nicht wirklich eine Rolle. Bei einer Schlacht dieser drei Schiffe würde das Schiff in Unterzahl zweifellos vernichtet werden, zumindest höchstwahrscheinlich, und wenn Ban Shee Ryon nicht ganz tief in die Trickkiste griff.

„Die beiden Schiffe sind älteren Baujahrs, aber gut gewartet und mit erfahrenen Besatzungen ausgestattet. Ich habe mir erlaubt, die Kapitäne selbst zu benennen. Sie unterstehen selbstverständlich dem höchstrangigeren Hausoffizier der Arogads, und das sind Sie, Konteradmiral Takahara.“

„Gut zu wissen. Ich dachte schon, ich muss auf meine alten Tage neue Tricks lernen. Kenne ich die Kapitäne, Admiral Acati?“

„Es sind Offiziere aus den Hausflotten der Arogad und der Fioran. Ich denke nicht, dass Sie sie kennen. Auf der GARRET ist dies Meras Yukow für Haus Arogad, und auf der NERIABAN ist dies Kelso Varinest für Haus Fioran. Sie werden von drei Kreuzern begleitet, der IRIDIA, der REPULS und der STERN VON AROGAD. Weiterhin sind zehn Zerstörer die Eskorte. Namentlich sind das die KORAM, die MINEVAN, die GOLTEN, die HERRAT, die MONISUN, die TARAL, die IRVEN, die KEPAN, die ARTIRIATAL, die FOKKEST und die BERRISCHTA.“

„Eine beeindruckende Aufstellung. Und eine bemerkenswerte Kampfkraft, die Haus Arogad und Haus Fioran uns hier zur Verfügung stellen, Admiral.“

„Es geht hier immerhin um eine wichtige Persönlichkeit, und nicht zuletzt um einen direkten Erben des Hausvorsitzes der Arogads. Außerdem ist er immer noch Eigner von Lorania, vielleicht des ganzen Kanto-Systems. Da sind sich die Experten noch nicht wirklich sicher. Solange wir keine Gewissheit über sein Schicksal haben, bedeutet das Unsicherheit für eine ganze Region. Seine Rückkehr könnte all das stabilisieren.“

Kei pfiff anerkennend. „Akira, Akira. Wenn du wüsstest, was wir hier gerade alles für dich los reißen…“ Er zog eine Akte unter seinem linken Arm hervor und gab sie Konteradmiral Acati. „Und Sie wollen nicht auch lieber mitkommen? Es wird lustig, das verspreche ich.“

Stirnrunzelnd las Acati die Aufstellung, während der erste Bakesch zum Landemanöver ansetzte. „Die BISMARCK, wieder unter Kapitän Roger Smith, die PRINZ EUGEN unter Kommodore Elora Gonzales, dazu die GRAF SPEE unter einer Neuen, Kapitän Ella Wagner, die HAMBURG unter Kapitän Dimitri Kuratov und die BERLIN unter Kapitän Perrine Duchambault. Elf Schiffe der Midway-Klasse, namentlich sind das die MIDWAY selbst, die LOS ANGELES, die WESTPOINT, die ENTERPRISE, die HOUSTON, die NEW ORLEANS, die HAWAII, die HIROSHIMA, die NAGASAKI und die NEW YORK.

Dazu kommen dreiundzwanzig Yamato und November. Die YAMATO natürlich, dazu die KAZE, die KOBE, die AKAGI, die HARUNA, die SAKURA, die OSAKA, die TOKIO, die OKINAWA, die SEOUL, die BEIJING, die YAMAMOTO, die SHANGHAI, die HONG KONG und die HOKKAIDO. Darüber hinaus teilt die UEMF die sechs November-Fregatten KOWLOON, KIEW, ST. PETERSBURG, IRKUTSK, BREMEN, ROM, MADRID und ISTANBUL zu.“

Acati schloss die Akte und reichte sie zurück. „Bringen Sie möglichst viele dieser Schiffe wieder nach Hause, Konteradmiral.“

„Wie immer gilt, ich gebe mein Bestes.“

„Das weiß ich. Sie waren schon als Kapitän der SUNDER ein Schmerz im Arsch. Als Koordinator dieser schlagkräftigen Flotte wird es noch schlimmer sein. Gnade unseren Gegnern. Sie tun es sicherlich nicht.“

Kei runzelte die Stirn, während die Signale in der Schleusenkammer meldeten, dass sie mit Sauerstoff geflutet wurde und die Offiziere der GARRET bereit waren, um die AURORA zu betreten. „Gibt es bei euch Naguad einen speziellen Flottenkurs für aufbauende Reden?“

Torum Acati lachte. „Wenn, dann habe ich ihn verpasst.“ Acati klopfte dem Kleineren auf die Schulter. „Achtung jetzt, Kei Takahara. Die Arogads, die hier gleich das Schiff verlassen und die AURORA betreten, dürfen nicht eine Sekunde daran zweifeln, wer und was Sie sind, haben Sie das verstanden?“

Kei griff unsicher zu dem Rangband, das von seiner linken Schulter auf die linke Brust reichte und seinen Rang als Hausoffizier im Admiralsrang bezeichnete, stoppte die Bewegung aber. „Verstanden, Torum Acati.“

Das Schott ging auf, und ein Naguad mittleren Alters trat, begleitet von fünf Offizieren beiderlei Geschlechts direkt aus der Schleuse bis vor die beiden wartenden Männer. Die Ehrenformation nahm Haltung an. Der Vordermann blieb direkt vor ihnen stehen und salutierte auf Naguad-Art.

Kei erwiderte den Gruß auf die nordamerikanische Art, wie sie in der UEMF-Flotte Tradition war, und hastig imitierte der Arogad-Offizier diesen Salut. „Entschuldigen Sie, Konteradmiral Takahara. Macht der Gewohnheit. Ich bitte um Erlaubnis, mit meinen Offizieren an Bord kommen zu dürfen.“

Acati raunte fast unhörbar: „Die Lektion hat der aber schnell gefressen.“

Kei verkniff sich mit aller Gewalt ein Grinsen. „Rühren Sie, Kapitän Meras Yukow. Erlaubnis, an Bord der AURORA kommen zu dürfen ist erteilt.“

Kei trat einen Schritt vor und schüttelte dem verdutzten Offizier die Hand. „Sie sind uns mehr als willkommen bei der wichtigsten Flottenoperation in diesem Jahrtausend.“

Verblüfft schüttelte der Hausoffizier die Hand des Jüngeren. „Bei jedem anderen würde ich jetzt von Übertreibung sprechen. Aber nicht bei dem Mann, der die AROGAD gerettet hat. Dies wird wohl wirklich die größte Operation der letzten tausend Jahre.“

„Und vielleicht sogar die wichtigste“, fügte Torum Acati hinzu.

„Auch das klingt nicht übertrieben“, brummte Yukow ernst.
 

Epilog:

Ein Moloch schob sich durch das All. Er gleißte wie ein Regenbogen und strahlte mit einer überirdischen Schönheit. Sein Licht eilte ihm voraus, und die Menschen konnten ihn bereits am Himmel erkennen, als er noch zwei Tage entfernt war.

Daten und Fakten wurden über Nacht in die Welt geworfen, Talkshows hatten Dutzende Themen zur energetischen Schockwelle, und die Welt sah sich tausenden Gerüchten und Verschwörungstheorien ausgesetzt.

Das Schicksal der CINCINATTI wurde diskutiert und mit anderen tragischen Schiffen der Geschichte verglichen, der HOOD, der SANTISSIMA TRINIDAT, der GRAF SPEE und der SANTA MARIA.

Die U.S.A. rief den Katastrophenfall für vier Ostküstenstaaten aus und gestattete den Menschen, sich in Sicherheit zu bringen.

Natürlich gab es Panik in den Großstädten in den betroffenen Küstenstaaten; die Nationalgarde griff bei Übergriffen und Plünderungen hart durch. Aber es blieb verhältnismäßig ruhig, wenn man bedachte, dass die Welt in wenigen Tagen ein vollkommen anderes Antlitz kriegen sollte.

Endzeitpropheten zitierten berühmte Hollywood-Schinken, Notfallsitzungen der Regierungen aller großen Nationen jagten sich, und tausende Astronomen berechneten den Einschlagpunkt der Schockwelle jeden Tag neu, bis er für die meisten feststand. Die UEMF hatte Recht, sie würde zuerst durch ARTEMIS jagen und dann teils auf dem Festland und teils im Atlantik einschlagen. Die unglaubliche, dabei frei werdende Energie musste die Erde in eine neue Eiszeit schleudern und das Leben, wie es bisher gewesen war, vollkommen unmöglich machen.

Vereinzelt wurden Stimmen laut, das Pentagon kurzfristig zu schließen und die Kontrolle der nationalen Atomwaffen komplett an NORAD zu übertragen, um einen versehentlichen Abschuss von Kernwaffen zu verhindern. Die Atlantikflotte der Vereinigten Staaten suchte sichere Häfen in der Karibik und auf der anderen Seite des Atlantiks auf, der zivile Verkehr auf dem gigantischen Gewässer kam fast vollständig zum erliegen.

Dafür fanden sich nahe der Sperrzone des APOLLO/ARTEMIS-Aufzugssystems hunderte Charterboote voller Reporter ein; ein paar Dutzend ferngesteuerter und mit Kameras gespickter Drohnenboote wurden an den voraussichtlichen Einschlagpunkt geschickt, um bis zum bitteren Ende einmalige Aufnahmen zu schießen.

Für die betreffende Zeit des Aufschlags erging von den Aufsichtsbehörden für Luftfahrt ein Flugverbot für die nördliche Erdhalbkugel, das eine Stunde vor und eine Stunde nach dem Aufschlag in Kraft war; für die Südhalbkugel wurden die gleichen Maßnahmen empfohlen.

Die Welt wartete gebannt darauf, dass sich ihr Antlitz für immer veränderte.

Und über all den Gerüchten, den Endzeitpropheten, den hitzigen Debatten in den Talkshows und der Angst der Menschen stand ein Mann und versuchte sie alle zu beschwichtigen.

Eikichi Otomo wurde nicht müde, immer und immer wieder in ungezählte Interviews für hunderte Fernsehsender, Radiosender und Zeitungen zu erzählen, dass bei den getroffenen Vorsichtsmaßnahmen keine Gefahr für die Erde bestand.

Dann konnte man die Schockwelle in Asien und später in Europa in der Nacht des letzten Tages am Himmel mit bloßem Auge sehen. In Amerika war gerade später Nachmittag. Die Wellenfront würde kurz nach der Abenddämmerung einschlagen.
 

In einhundert Kilometern Höhe jedoch hatte man noch einen recht guten Blick auf die Sonne, die sich gerade anschickte, noch weiter hinter der Erde zu verschwinden. Und auch die monströse Bedrohung war bereits in all ihrer Schönheit und entsetzlichen Zerstörungskraft zu sehen. Ein Anblick, der einen Menschen erhöhen, aber auch entsetzlich demütigen konnte.

Wie es den Mecha-Piloten erging, die auf der Oberfläche der ARTEMIS-Plattform standen und das Eintreffen der Welle erwarteten wurde nicht festgehalten. Bis zum Einsatzbefehl waren sie alle mit ihren Gedanken alleine.

„Okay. Das ist es dann. Alles hört auf mein Kommando. Wir halten die Formation ein, die wir trainiert haben. Sowohl die Abgabe des AO als auch der projizierte Winkel müssen stimmen. Haben mich alle verstanden? Division Commander Uno? Colonel Otomo? Major Yamada?“

Zustimmendes Gemurmel erklang von den drei stärksten KI-Meistern in diesem Verbund.

„Wie geht es dir, Futabe-kun? Bist du im Eagle deines Enkels schon seekrank?“

„Mach dir um mich keine Sorgen, Aris. Man wird nicht so alt wie ich, wenn man sich wegen jeder Kleinigkeit gleich in die Hose macht.“

„Nun, eine Kleinigkeit würde ich die Schockwelle nicht gerade nennen“, klang die amüsierte Stimme von Doitsu Ataca auf.

„Funkdisziplin“, mahnte der Bluthund. „Wie sieht es bei euch aus, Sakura, Makoto?“

„Ich erwäge, sie auf dem Bordschützensitz zu fesseln, Opa. Sie ist total zappelig.“

„WER IST HIER ZAPPELIG?“

„Autsch, das tut weh, Sakura! Ich steuere hier einen LRAO, das erfordert Präzisionsarbeit. Dabei kannst du mir nicht einfach auf den Helm klopfen!“

„Das war kein Klopfen, das war ein handfester Schlag!“

„Wie konntet Ihr eigentlich all die Schlachten gewinnen, Ihr undisziplinierten Kinder?“, seufzte Aris laut.

„Wahrscheinlich genau deswegen“, kam es von Michi Torah. „Ich habe da ein paar Sachen erlebt… Wow.“

„Der Bengel braucht dringend eine militärische Ausbildung“, stellte der Taral gelassen fest. „In einen Phoenix habt Ihr ihn ja schon gelassen, nun macht auch was aus ihm.“

„Ist das eine Drohung?“

„Hast du was gegen mich, Dai-chan?“

„Nun, nun, Jungs, streitet euch nicht. Sonst gebe ich meinen Mädchen soviel zu tun auf, dass Ihr sie eine Woche nicht seht, ist das klar?“, mahnte Hina amüsiert.

Seltsamerweise wirkte das. Die beiden widersprachen nicht einmal.

„Es scheint als sollte man die Slayer nicht unterschätzen. Torum, bist du bereit?“

„Bereit wenn du es bist, alter Mann.“

„Das sagt der Richtige. Also, Freunde, hört jetzt gut zu. Wir AO-Meister sind alles, was zwischen der Erde und der Schockwelle steht. Von unserer gemeinsamen Leistung hängt es ab, ob da unten ein paar hundert Millionen Menschen sterben oder nicht. Eigentlich hängt sogar nich viel mehr davon ab, aber dazu später vielleicht mehr. Noch Fragen?“

„Major Ataca hier, Sir. Eine Frage. Warum haben Sie betont, dass es sich bei dem Kurs der Schockwelle beinahe um einen Streifschuss handelt?“

„Das wirst du schon noch sehen. ARTEMIS, geben Sie uns eine voraussichtliche Ankunftszeit.“

„AZ der Schockwelle liegt bei elf Minuten. Wir korrigieren ständig nach, denn die Anziehungskraft der Erde beschleunigt die Schockwelle minimal.“

„Also verfügt sie über Eigenmasse. War ja auch nicht anders zu erwarten. Also, wir bilden wie in der Übung einen losen Kreis mit mir, Major Yamada und Colonel Otomo im Mittelpunkt. Die stärkeren und die schwächeren AO-Meister wechseln sich so ab, wie ich es ausgearbeitet habe. Der LRAO und der Eagle müssen unbedingt das Ende der Westflanke bilden. Makoto, Sakura, Yoshi, Futabe-kun, nach uns hier in der Mitte habt Ihr die wichtigste und gefährlichste Aufgabe.“

„Verstanden.“

„AZ liegt bei acht Minuten.“

„Wir starten.“

Die UEMF-Maschinen erhoben sich von der Oberfläche der ARTEMIS und gewannen schnell einen halben Kilometer Höhe. Dann verteilten sie sich wie in einer der zahllosen Übungen unter Aris Taral, und zwar auf einer Front, die in etwa die Größe der Schockwelle erreichte.

„AZ liegt bei vier Minuten.“

„Entspannt euch und überlasst die Navigation den Künstlichen Intelligenzen. Öffnet nun eure Bewusstseine meinem Geist. Ich steuere das zur Verfügung stehende AO, um das absorbierende Feld aufzubauen.“

„AZ liegt bei zwei Minuten. Sir, wir messen wieder das starke elektromagnetische Feld an. Wir müssen einen Teil der elektronischen Geräte an der Oberfläche herunterfahren, bevor sie Schaden nehmen.“

„Verstanden. Viel Glück da unten.“

„Viel Glück da oben. ARTEMIS Ende.“

„AZ liegt bei zwanzig Sekunden. Wünschen Sie einen Countdown, Aris Taral?“

„Danke, K.I, aber nein. Wir bauen das AO-Feld in voller Stärke auf – JETZT!“

Zwischen den Mechas wurde ein großes, rot schimmernde Feld sichtbar. Es lag den besagten halben Kilometer über ARTEMIS, war aber in Richtung Westen stark geneigt.

Acht Sekunden nachdem das Feld etabliert worden war, traf die Schockwelle ein und schlug auf dem KI-Feld auf.
 

Auf ARTEMIS begannen die Wände zu vibrieren, als die starken Schutzschirme der Station über Gebühr beansprucht wurden. Kurzfristig lieferten die Generatoren einhundertdreißig Prozent Leistung, um die Schilde stabil halten zu können. Nicht wenige schlossen mit ihrem Leben ab.

Dann sahen erstaunte Offiziere und Mannschaften, wie die Schockwelle an ihnen vorbei raste.

„Sie haben es nicht geschafft?“, rief jemand aufgeregt.

Jerry Thomas, der Commander der Plattform aber riss enthusiastisch die Faust hoch. „Im Gegenteil! Es hat funktioniert! Sie haben die Schockwelle aus dem Kurs gebracht! Jetzt wird aus dem falschen Streifschuss ein Richtiger!“

Die Schiffe, die auf dem Atlantik lagen und das Geschehen aus erster Hand hatten beobachten wollen, sahen ein spektakuläres Schauspiel, als Schockwelle und KI-Schild miteinander interferierten. Und es wurde noch besser, als die Welle weiterraste, ohne ARTEMIS auch nur anzukratzen. Die Schockwelle tauchte tiefer in die Atmosphäre ein und ionisierte in den dichteren Schichten die Luft. Über der Plattform fielen vereinzelte Lichtpunkte Kilometerweit in die Tiefe, bevor sie sich fangen konnten.

An der Atlantikküste warteten tausende Menschen. Es waren einige Lebensmüde darunter, ein paar Fatalisten, aber das Gros bildeten Menschen, die tatsächlich darauf vertrauten, dass die UEMF sie retten würde.

Als die Schockwelle deutlich sichtbar in ihre Richtung raste, war das Entsetzen groß. Aber dann zog das energiereiche, in allen Regenbogenfarben strahlende Band über ihre Köpfe hinweg und hinterließ einen Leuchteffekt in der Luft, der gleißender, heller und schöner als die Aurora Borealis war.

Dieses Phänomen setzte sich im Inland weiter fort. Abertausende Menschen sahen in den dämmrigen Himmel und beobachteten die Energiewelle dabei, wie sie die Erde und damit ihr Land harmlos passierte. Auch hier kam es zu den Leuchteffekten.

Bevor die Welle die Westküste erreichte, verließ sie die tieferen Atmosphäreschichten wieder. Das Leuchtphänomen setzte sich nicht weiter fort, und die unglaubliche Gefahr raste auf einen Kurs davon, der sie in die Sonne stürzen lassen würde.

Aber das Leuchten blieb den Amerikanern und jedem, der einen Fernsehsender sah, der die phantastischen Bilder übertrug, die ganze Nacht über erhalten.

Krieg und andere Dummheiten

1.

Eilige Schatten huschten durch die Straßen von Fushida City, der großen Metropole im Innenraum der AURORA, dem bereits jetzt legendären Raumschiff der Menschheit.

Sie kamen aus dem Nichts, sie verschwanden aus dem Nichts, vorsichtig darauf bedacht, nicht verfolgt zu werden.

Wobei eine Verfolgung der Schatten, die von Hausdach zu Hausdach sprangen, Straßenschluchten überwanden und im Schlagschatten einer Markise zu verschwinden schienen, sehr fraglich war.

Aber all diese Schatten hatten eines gemeinsam. Sie steuerten auf ein gemeinsames Ziel zu, das sie noch vorsichtiger, noch geheimnisvoller erreichten und betraten. Durch das Dach, die Fenster, durch Bodenschächte und ein oder zwei nahmen sogar die Tür.

Dann war Stille.
 

Im Innenraum saßen die Schatten zusammen und schwiegen sich an. Verstohlene Blicke gingen von einem zum anderen, während sie einzeln aufgerufen wurden und vor den Großmeister der Versammlung treten mussten. Nicht wenigen traten bei dem Tadel, der sie erwartete, die Tränen in die Augen, andere keuchten erschrocken auf, als sie hörten, welche Aufgabe sie erwartete. Alles lief im Zwielicht ab, in dumpfer Brüterei und in geflüstertem Ton.

Es war die geheimste Geheimversammlung, die es auf der AURORA geben konnte, nicht ein Teilnehmer hätte es sich sein Leben lang verziehen, wenn Zweck und Ort dieser Zusammenkunft publik geworden wären.
 

Als der wichtigste Schatten vor den Großmeister trat, geschah der Eklat. „Achtundvierzig Kilo für Yohko Otomo“, stellte der Großmeister wirsch fest. „Yohko, du hast fünf Kilo verloren. Laut dem Body-Mass-Index bedeutet das, du bist unterernährt.“

Erschrocken fuhr die junge Otomo zusammen. „Aber es sind doch nur fünf Kilo!“

„Selbst mit fünf Kilo mehr bist du hart an der Grenze“, schimpfte der Großmeister wütend. Eine flache Hand schlug klatschend auf den Tisch. „DIÄT!“

Yohko wollte aufbegehren, aber gegen diesen Blick, diese Augen kam sie nicht an. Verzweifelt nickte sie.

„Megumi Uno, auf die Waage.“

Die letzte Person in der Runde zuckte erschrocken zusammen. „I-ich habe gut gegessen, ehrlich!“

„Das werden wir sehen! Auf die Waage, Division Commander!“

„Ja, Ma´am.“

„Einundfünfzig Kilo. Du hast sogar sieben Kilo verloren! Wenn du so weitermachst, bist du ein Klappergestell. Soll sich Akira an deinen vorspringenden Knochen verletzen?“

„Der war jetzt aber nicht nötig, Sakura“, murrte sie.

Der Großmeister, natürlich niemand anderer als Volladmiral Sakura Ino, erhob sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter achtundsiebzig und bewegte dabei ihre siebenundsechzig Kilo im perfekten Einklang. „Der war nötig, damit ihr dummen Mädchen nicht vergesst, dass es hier um eure Gesundheit geht!“

Sakura sah in die Runde. „Hina! Sarah! Emi! Akari! Ami! Yohko! Akane! Megumi! Ihr seid KI-Meister! Und ihr wendet diese Fähigkeiten sehr oft an! Aber KI zu benutzen heißt Körperressourcen zu verbrauchen, und die müssen ergänzt werden! Wenn ihr das nicht tut, dann seid ihr bald Schatten eurer selbst und für einen Kampf nicht mehr zu gebrauchen, habt ihr das verstanden? Noch schlimmer, ihr spielt mit euren Leben! Und genau aus diesem Grund werdet ihr alle strenge Diät halten!

Gina?“

Die junge Frau aus Buenos Aires trat vor. „Es ist alles vorbereitet, Sakura.“

„Gut. Du teilst die Portionen zu. Und hier geht niemand raus, bevor er nicht gegessen hat, was ihm aufgetragen wurde! Anschließend kriegt jeder eine genaue Liste an Nahrungsmitteln und Snacks, die man heimlich essen kann, ohne dass der Partner es merkt und die helfen, die verlorene Substanz wieder aufzubauen.

Nächste Woche werdet ihr erneut gewogen, und dann sehen wir die Fortschritte – oder verschärfen das Programm.

Und dass mir niemand wieder meckert, dass die Jungs verfressene Frauen nicht mögen! Dieser Diätwahnsinn hängt mir schon seit meiner Zeit als Lehrer an der Fushida Oberstufe zum Hals raus! Unter meinen Untergebenen werde ich das nicht dulden, vor allem nicht wenn es ihre Kampfkraft, und noch schlimmer, ihre Leben gefährdet! Haben das alle gefressen?“

Murrendes Gemurmel bejahte ihre Worte.

„Gut“, brummte sie, halb zufrieden. „Und jetzt fresst das!“ Sie nickte Gina zu, die wissend lächelte.

Die Argentinierin mit italienischen Wurzeln verließ dem Raum und kam mit einem Servierwagen zurück. Danach teilte sie abgedeckte Teller aus.

„Spaghetti Carbonara. Pizza Speciale. Tortellina alla Panna. Pasta Frutti de Mare. Haut rein, Mädels. Niemand sieht euch!“

Ein wenig pikiert sahen sich die jungen Frauen an. Aber Befehl war nun mal Befehl, und der lautete nun mal, das verlorene Gewicht wieder zu bekommen.

Als das Essen richtig in Gang war und die Mädchen ausgelassen miteinander schwatzten, lehnte sich Sakura Ino zufrieden zurück. Essen machte doch Spaß, wie man sah.

Jemand musste es diesen Mädels nur beibringen.

Und irgendwann würden sie auch lernen, mit ihrem Gewicht nicht zu kokettieren. Ein halbes Kilo mochte für sie das Universum sein, aber die Männer, um deretwillen sie all das zelebrierten, verstanden von diesem Thema sowieso nichts.

***

Es ging langsam voran. Die AURORA machte sich bereit zum Aufbruch. Die Desertion der Staaten, wie der Abgang der U.S.A. und weiterer Republiken aus der UEMF hinter vorgehaltener Hand genannt wurde – andere, nicht ganz so wohlmeinende und wesentlich direktere Menschen nannten es offen Verrat an der Menschheit – hatte den Aufbruch der AURORA um Wochen verzögert. Lediglich der Umstand, dass noch immer zehntausende Soldaten und Millionen von Bürgern die Rettung des legendären Blue Lightnings wünschten, hatte dazu geführt, dass der UEMF-Rat nicht erneut über das Projekt beriet.

Nun, notfalls wäre die Expedition auch gegen die Entscheidung des Rates aufgebrochen, mit der Autorität von Solia Kalis war das nicht wirklich ein Problem. Aber die Ausrüstung hätte enorme Lücken gehabt, die nicht so ohne weiteres geschlossen werden konnten.

Man konnte Eisen, Uran, Wasser und Kupfer ohne Probleme aus Asteroiden abbauen, wenn ein guter Prospektor viel versprechende Kandidaten unter den Himmelskörpern fand, aber Papier abzubauen war, nun, sehr problematisch. Das gleiche galt für andere Rohstoffe, die man nicht - noch nicht – auf der AURORA herstellen konnte.

Ein kniffliger Punkt waren Erdölprodukte. Zwar fuhren im Innenraum und auf den verschiedenen Decks nur Elektrowagen, und es wurde nicht ein einziges Gramm Kohlendioxid produziert. Geheizt werden brauchte bei einer Durchschnittstemperatur von zwanzig Grad auch nicht. Aber man brauchte die fertigen Endprodukte in der Düngung, bei der Herstellung von Plastikprodukten, als Schmiermittel und letztendlich in der Pharma-Industrie.

Deshalb wäre es eine Dummheit gewesen darauf zu hoffen, auf einem Asteroiden tief im All Erdöl abbauen zu können,.

Also hatten die vorgefertigten Grundstoffe an Bord genommen werden müssen. Man hätte auch alle fertigen Endprodukte aufnehmen können, aber letztendlich waren Rohstoffe teuer. Und niemand konnte es sich leisten, fünfzig Quadratmeter Plastikschüsseln zu verstauen, wenn nur zwanzig Stück gebraucht wurden. Außerdem schuf diese Methode Arbeitsplätze.

Okay, der ganze Kahn produzierte nur für den eigenen Bedarf und nahm überdies enorme Vorräte mit. Die Bevölkerung war zu einem hohen Prozentsatz im nicht produzierendem Gewerbe, Soldaten der UEMF und Dienstleister verschiedenster Couleur. Deshalb musste die AURORA fremdfinanziert und mit regelmäßigen Währungsspritzen von außen aufrecht gehalten werden.

Tatsächlich aber war es hauptsächlich Buchgeld, das immer wieder in den internen Kreislauf geworfen wurde. Ein paar Millionen existierten tatsächlich in bar, dazu kamen ein halbes Dutzend Währungen, welche die Bewohner beim Einzug an Bord gebracht hatten. Aber das Gros der Transaktionen lief über Geld, das nur in Computern existierte. Bedrucktes und geprägtes Geld hatte das Riesenschiff nur an Bord, weil es sich realer anfühlte, wenn man es in der Tasche spürte.

Um eine Inflation oder einen Boom zu vermeiden, gab es eine eigene Währung an Bord, die AURORA-Mark. Ihr Wechselkurs auf Dollar, Euro und Yen war festgeschrieben, um Währungsspekulationen zu vermeiden, und noch schlimmer, auf die AURORA als Zahlungsmittel beschränkt, all dies nur, damit gewissenlose Geschäftsleute das Gigantschiff nicht auf eine völlig andere Weise attackierten und vernichteten.

Seltsamerweise trug diese Wechselkursfixierung aber zur Stärkung der mit ihr vernetzten Währungen bei, und andere Nationen hatten bereits angefragt, ebenfalls einen festen Wechselkurs mit den AURORA-Mark zu erhalten, auch wenn sie niemals auch nur einen einzigen Pfennig wechseln würden.

Im Mikrokosmos der AURORA jedoch war das die optimale Lösung, denn wenn das Geld für sich blieb, auf der AURORA blieb und zudem von realem Geld auf der Erde gestützt wurde, dann konnte es keine Inflation geben, und damit keine Destabilisierung der AURORA-Mark.

Und das waren nur zwei der Probleme, mit der die Führungskräfte von UEMF und AURORA zu kämpfen hatten.
 

Ein anderes war die Ausbildung der Hekatoncheiren. In der letzten Mission hatten sie etliche gute Piloten verloren, andere waren abgeworben worden und wieder andere hatten selbst um Versetzung gebeten. Mit dem Hintergedanken, ihre Erfahrung Piloten auf der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen, waren die meisten Vorgänge auch genehmigt worden, was dazu führte, dass die Offiziere der Hekatoncheiren dreißig Prozent Neuzugänge einarbeiten mussten. Und wer zu ihnen gehören wollte, der musste erst einmal beweisen, dass er für die Elite der Menschheit gut genug war.

Lieutenant Colonel Marus Jorr hörte sich die geduldig die Verwünschungen, Beschwerden und das Gejammer seiner Kids an, die gerade aus den Simulatoren stiegen. Seine Kids, das waren zehn Mecha-Piloten der Erde, die alle einen Platz bei den Hekatoncheiren, genauer gesagt in sein Briareos-Regiment haben wollten. Rechnerisch standen diese Plätze auch zur Verfügung, aber jeder wusste, dass die Hekatoncheiren selbst im letzten Moment noch Leute austauschten, wie sie beim Aufbruch nach Kanto bewiesen hatten.

Politische Klüngel, Empfehlungsschreiben der Vorgesetzten, Nationalitäten, Vergangenheit, Orden und was man auch immer anführen konnte zählten hier nicht. Es gab nur Leistung und Effizienz. Und dies bedeutete, dass er die zehn Piloten, die in sein Regiment wollten, so hart herannahm, dass ein Marine-Ausbilder ihn wegen Kameradenschinderei angezeigt hätte.

Aber Marus wusste ganz genau, was dieser Mannschaft, was diesem Schiff und diesen Mecha-Piloten bevorstand. Deshalb konnte und durfte er nicht nett sein. Deshalb musste er hart sein. Knallhart, erbarmungslos und unbestechlich. Immerhin ging es nicht nur um die Leben der Männer und Frauen, die er in Eagles, Hawks und Sparrows steckte, sondern auch um die gesamte AURORA mit einhunderttausend Bewohnern.

Er hatte es erlebt, was die Hekatoncheiren leisten konnten – allerdings auf der Gegenseite. Er war stellvertretener Anführer des Kommandos AO-Meister gewesen, das mit Torum Acati die AURORA angegriffen hatte. Die Hekatoncheiren und ihre AO-Meister, nein, KI-Meister, hatten es ihm und seinen Leuten nicht leicht gemacht und sie gestoppt und gefangen genommen. Nun, Marus zählte sich selbst zur Elite der naguadschen Streitkräfte und war im Nachhinein froh, dass es so und nicht anders gelaufen war. Aber das bedeutete auch, dass die Messlatte für die Aufnahme in die Truppe verdammt hoch war. Viele Offiziere dieser Einheiten konnten es mit ihm und den AO-Meistern des Kommandos aufnehmen, und sie würden in das Gebiet eines Volkes fliegen, das AO-Kraft nicht so geheimnisvoll behandelte wie die Naguad. Im Gegenteil, wahrscheinlich konnte das Kaiserreich mit seinen kämpfenden AO-Meistern Regimenter, vielleicht Divisionen aufstellen. Marus würde lieber in Unterzahl gegen sie kämpfen wollen als schlechte Piloten wie Schafe zur Schlachtbank zu führen, um mal ein terranisches Sprichwort zu bemühen.

„Wie sieht es aus, Marus?“, erklang eine freundliche Stimme neben dem Naguad.

Der Mann aus einer Nebenfamilie der Arogad fuhr leicht zusammen. Niemand konnte sich an ihn anschleichen, außer er war ein Fiorad-Attentäter. Wie er erschrocken feststellte, gab es aber doch jemand der dieses Wunder vollbrachte. Und dieses Wunder trug die Colonel-Abzeichen auf den Schultern und das Emblem der Briareos an seinem Kragen. Sein Namensschild wies ihn als einen der besten und fähigsten Hekatoncheiren aus, die er kannte: Futabe.

„Gut, Sir. Aber ich werde einen Teufel tun und ihnen das sagen.“

Yoshi Futabe nickte seinem Stellvertreter und Chef des First Head-Bataillons anerkennend zu. „Ein guter Gedanke. Könnte von Akira stammen.“ Er grinste den AO-Meister linkisch an. „Sie haben eine ganze Menge von Ihrem Cousin, Marus.“

Der Arogad winkte verlegen ab. „Stellen Sie mich nicht auf ein so hohes Podest. Mit Akira Otomo kann ich nicht mithalten. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich das überhaupt will.“

„Aber Akira hätte ganz genauso gehandelt. Nein, er HAT ganz genauso gehandelt. Er hat Stunden vor dem Sprung nach Alpha Centauri noch Hekatoncheiren aus der Aufstellung geschmissen und gegen Ersatzleute ausgetauscht. Teilweise gegen den Willen der Einheitsführer. Aber ich befürchte, unsere Verluste wären um etliches höher gewesen, wenn er es nicht getan hätte.“ Yoshi Futabe seufzte schwer. Er galt nicht nur unter den Terranern als lebende Legende. Seine Treffsicherheit mit seinem Eagle-Mecha, den er alleine beherrschte, obwohl es offiziell ein Zweisitzer war, hatte noch jeden in Staunen versetzt, egal ob Mensch, Anelph oder Naguad. „Ich bin leider nicht so hart wie Akira. Ich würde mich von Tränen weichkochen lassen, von Gebettel, vom Gerede für eine zweite Chance, und, und, und…“ Wütend auf sich selbst atmete er schnaubend aus. „Aber in unserer Situation ist das furchtbar falsch. Es tötet die Leute, die wir mitnehmen, obwohl es Bessere gibt, die da draußen auf ihre Chance warten. Doch bisher habe ich diese Lektion noch nicht verinnerlichen können. Akira konnte es, und ich frage mich, wie er das geschafft hat.“

„Nun, Sir, wenn Sie mich fragen, dann hat sich Division Commander Otomo stets gefragt, was mit den Menschen passiert, die er liebt und die Seite an Seite mit ihm kämpfen, wenn diese noch zusätzlich auf schlechtere Piloten aufpassen müssen. Oder wenn er Piloten zugelassen hätte, die um des eigenen Ruhmes willen Kameraden in Stich gelassen hätten.“

„Gute Antwort, Marus. Sehr gute Antwort. Aber ich bin dennoch froh, dass ich nur die Unterschrift unter eine Versetzung setzen muss. Sagen müssen Sie es ihnen, Marus, und dafür danke ich Ihnen. Ich bin wirklich immer noch nicht hart genug.“

Marus Jorr lachte leise. Er hatte die Aufzeichnungen der Konflikte unmittelbar vor dem Zweiten Marsfeldzug gesehen. Damals war der Mann vor ihm siebzehn gewesen, ein Alter, in dem ein Naguad nicht einmal als volljährig galt, geschweige denn ein Terraner. Dennoch hatte er besser gekämpft als die meisten erfahrenen Piloten. Und er hatte besser geführt.

Auf dem Mars und später bei der AURORA-Mission hatte er immer wieder bewiesen, warum er Hekatoncheire war, warum er Anführer war. Dieser Mann war dazu geboren worden um zu befehlen, um Taktiken in letzter Sekunde umzuwerfen und mit Argusaugen über alle seine Leute zu wachen. Über wirklich alle, vom letzten Piloten bis zum letzten Hilfstechniker.

Deshalb war es Marus relativ leichtgefallen, seine Versetzung zu den Hekatoncheiren, und seine Arbeit unter diesem berühmten jungen Mann zu akzeptieren. Ja, er hatte sich sogar hoch geehrt gefühlt, dass das Haus ihn in dieser wichtigen Einheit sehen wollte. Es war eine Ehre, und der Ruhm der Arogad würde durch sie noch weiter wachsen. Was noch viel besser war, die Erde würde sicher sein, solange es die Hekatoncheiren gab, davon war der AO-Meister fest überzeugt.

„Nun, weich ist nicht das Wort, mit dem ich Sie beschreiben würde, Sir“, sagte der Colonel nachhaltig.

„Das würde ich auch nicht. Der Mann ist eine äußerst gefährliche und präzise Waffe“, klang eine vertraute Stimme hinter ihnen auf.

Erschrocken fuhr Marus Jorr herum. Okay, zwei, nein, drei Leute außer einem Fioran-Assasinen konnten sich an ihn heranschleichen. Einer von ihnen war ein Bluthund, der andere ein, nun, Verbrecherfürst traf es wohl, aber reichte nicht ganz aus. „General Ino. Colonel Ataka.“

„Bleiben Sie bequem, Lieutenant Colonel“, sagte Makoto Ino freundlich. Der Chef des Poseidon-Generalsstab war zwar genetisch nicht so eng mit Akira Otomo verwandt wie er selbst, aber dafür hatte er die steilere Karriere hinter sich. Genauer gesagt, in diesem Haifischbecken aus blutjungen, hoch talentierten und kometenhaft aufsteigenden Terranern war er einer von denen, die ganz vorne an der Spitze schwammen. Manchmal wunderte es Marus, wie diese Welt solche Menschen hatte formen können, und wie sie zusammengefunden hatten, um derart Großartiges zu leisten.

Dann dachte er an die Erfolge der Hekatoncheiren und der AURORA und sagte sich, dass es anders gar nicht funktioniert hätte. Sie gehörten zu den besten was die Erde zu bieten hatte.

„Yoshi, ich wollte dir ein paar Fragen zu den Hekatoncheiren stellen. Es geht um die Zusammenarbeit mit dem Red Team und dem Otome-Bataillon. Wie sieht deine Aufstellung aus? Sind deine Bataillone bereit?“

Otome-Geschwader. Was für ein treffender Name. Defacto bezeichnete er das neue Kommando von Colonel Yohko Otomo. Nachdem sie als so genannte Youma Slayer erwacht war, hatte Major Hina Yamada ihr das Kommando über ihr Bataillon angeboten, eine Einheit, die hauptsächlich aus den Slayern bestand, also Frauen, die von einem Daimon namens Dai-Kuzo-sama zu KI-Meistern erweckt worden waren. Dieses Bataillon war mittlerweile nicht mehr länger nur auf dem Papier so groß; Rekrutierungen viel versprechender weiblicher UEMF-Soldaten hatten es längst auf diese Größe anwachsen lassen. Und ein viel versprechendes Training hatte Erfolge gezeitigt, die keiner so früh erwartet hatte. Es hieß, Dai-Kuzo hätte jede der Frauen, die nun im Otome-Bataillon dienten, „erweckt“, wie immer dieser Vorgang aussah.

Jedenfalls hatte Yohko angenommen und ihre Gyes aufgegeben. Für eine solche Chance, für so eine Einheit hätte Marus das vielleicht auch gemacht. Aber die Otome nahmen, wie der Name schon sagte, nur weibliche Mitglieder auf. Auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass die wenigsten von ihnen „unschuldige Maiden“ im klassischen Sinne der Bedeutung des Names Otome waren.

„Das First Head unter Lieutenant Colonel Jorr wird diese Woche bereit sein. Er hat mir gerade versichert, dass die Rekruten es packen.“

„Allerdings steht uns noch eine Menge Arbeit bevor. Dazu eine Menge Training“, warf der Naguad wohlweislich ein.

„Natürlich. Ich habe nichts anderes erwartet. Was ist mit Second und Third Head?“

„Major Olivier Laroche ist sich bei der Hälfte seiner Rekruten noch nicht sicher. Aber am Wochenende gibt er mir seine endgültige Aufstellung.

Und Captain Leary hat ihr Bataillon bereits als komplett gemeldet.“ Yoshi Futabe räusperte sich. „Du erinnerst dich hoffentlich daran, dass sie so bald wie möglich zum Major befördert werden soll.“

„Nun, sie bringt die Leistungen, die wir von ihr erwarten. Sobald sie ihr Jahr im Rang eines Captains um hat, kriegt sie ihren Kick die Karriereleiter rauf. Zeichnet sie sich zuvor im Kampf aus, kriegt sie ihn früher.“

„Verstehe.“ Die junge Frau war eine Klassenkameradin von Akira an der Oberstufe der Fushida-Schule hier auf der AURORA gewesen. Aber sie darauf zu reduzieren wäre ihren Fähigkeiten als Mecha-Pilotin und Kommandeurin nicht gerecht geworden. Sie war im Feld von Second Lieutenant zum First Lieutenant befördert worden, genauer gesagt während der Kämpfe um Lorania, wo sie sich bei der Eroberung der Axixo-Basis und danach bei der Verteidigung Loranias verdient gemacht hatte. Nach den Gefechten hatte sie eine Kompanie übernehmen müssen und war vom First Lieutenant zum Captain aufgestiegen. Mittlerweile kommandierte sie ein Bataillon, und es ärgerte Yoshi ein wenig, dass er seinen Willen nicht durchsetzen und sie zum Major befördern konnte, bedeutete doch dies, dass seine Einschätzung ein paar dämlichen Vorschriften weichen mussten, die besagten, dass kein Offizier der UEMF über zwei Ränge befördert werden konnte, wenn nicht erstens ein zwingender Grund vorlag und zweitens ein Jahr im letzten Rang verbracht worden war.

Yoshi fand, dass seine Meinung ein zwingender Grund war, aber da sie bereits zwei Beförderungen schnell hintereinander erhalten hatte, musste der Colonel eifrig zurückrudern, war er doch selbst über zwei Ränge befördert worden, um das Kommando über das Biareos-Regiment übernehmen zu können. Nun, für ihn hatte schließlich auch einen zwingenden Grund gegeben.

„Wie sieht es denn bei dir aus, Doitsu? Was machen deine Gyes denn so?“

Der große Mann schob seine Brille die Nase wieder herauf, was einen Schimmer auf den Gläsern entstehen ließ. „Fourth Head unter Lieutenant Colonel Kenji Hazegawa ist bereit. Fifth Head unter Major Takashi Mizuhara ist bis Ende der Woche bereit. Sixth Head unter Major Cassiopeia Sourakis hat drei Piloten heim geschickt. Wir kriegen drei von der Reserveliste, die ich persönlich ausgesucht habe.“

„Interessant. Und was ist mit Dai-chan?“

Marus Jorr musste an sich halten, um nicht zu schmunzeln. Der lockere Ton, in dem der Chef des Flottenhauptquartiers und die beiden Regimentskommandeure sich unterhielten täuschte leicht darüber hinweg, was hier besprochen wurde. Einige der besten Piloten und Anführer der Menschheit waren hier gerade versammelt. Was immer sie sagten hatte direkten Einfluss auf die Zukunft der Erde. Aber, das ließ sich nicht leugnen, sie waren nun einmal Freunde. Das hatte sie überhaupt erst in die Lage gebracht, die Erde verteidigen zu müssen. Andererseits war sich Marus sehr sicher, dass die Welt heute in kronosianischer Hand wäre, wenn sich diese Freunde nicht gefunden hätten.

„Colonel Daisuke Hondas Kottos sind ebenfalls fast bereit.“ Makoto griff nach seinem Notepad und scrollte ein paar Daten. „Seventh Head-Bataillon unter Lieutenant Colonel Ryu Kazama ist bereit. Eighth Head-Bataillon unter Major Goram Van hat zwei Piloten ausgetauscht, ist aber bis Ende der Woche bereit. Wie Sie wissen ist Van einer der KI-Meister, die auf Wunsch Ihres Hauses in die UEMF eingetreten sind, Colonel Jorr. Er ersetzt Azumi-chan. Sie wird das Titanen-Regiment kommandieren, dass das Aufzugsystem CASTOR und POLLUX beschützen wird. Eigentlich ein netter Karrieresprung.“

„Auf diese Weise haben wir viele Kompaniechefs und gute Piloten verloren“, brummte Yoshi missmutig. „Die Erfahrung der Hekatoncheiren wollen sie auf die anderen Einheiten verteilen, ha!“

„Und Ninth Head-Bataillon unter Major Elena Kowalewa meldet ebenfalls Bereitschaft“, setzte General Ino seine Aufstellung seelenruhig fort. „Wenn jetzt noch das Otome-Bataillon das Training abschließt, bin ich bereit, bis Ende der Woche aufzubrechen und das Kaiserreich unsicher zu machen.“

„Ich glaube, das unsicher machen können wir uns sparen. Akira ist in dieser Richtung“, scherzte Makoto.

Die anderen Offiziere lachten gehorsam, aber es war ein halbherziges Lachen. Denn irgendwie war es nicht ganz auszuschließen, dass sie in ein furchtbares Chaos stießen, verursacht von ihrem verschollenen Anführer.

„Und?“, fragte Makoto Ino ernst und deutete auf die zehn Mecha-Piloten, die um die Simulatoren standen und sich unterhielten. „Womit haben Sie diese Leute gequält, Colonel Jorr?“

Ein flüchtiges Lächeln ging über die Züge des Arogads. „Wir haben einen Avatar programmiert, basierend auf dem Kampfstil von Akira Otomo. Sie sind zu zehnt gegen ihn angetreten. Und obwohl es nur eine Simulation war, eine Hochrechnung basierend auf seinen bisherigen Kämpfen…“

„Haben sie verloren“, vervollständigte Makoto. „Das wundert mich nicht. Akira ist ein absoluter Ausnahmepilot. Neben Lady Death vielleicht der Beste in diesem Sektor der Galaxis.“

„Es war eine Hochrechnung. Ein Algorhythmus, basierend auf seinen Fähigkeiten“, schränkte Jorr ein.

„Das ist es ja, was es so erschreckend macht“, sagte Doitsu Ataka und schüttelte sich. „Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie Akira einmal in einem Manöver gegen alle Hekatoncheiren angetretet war.“

Marus riss die Augen auf. „Gegen alle? ALLE? Wie lange hat es gedauert, bis er zerstört wurde?“

Die Hekatoncheiren wechselten nervöse Blicke. „Prime Lightning hat sich wegen Überhitzung abgeschaltet. Er wurde nicht abgeschossen. Damals… War die Teamwork noch nicht so gut, und…“

„Nein, daran lag es sicher nicht. Daran liegt es nie. Es ist wohl eher so, dass dieser Mann in einer ganz anderen Liga spielt als wir anderen.“ Fahrig strich sich der Lieutenant Colonel über den Kopf. „Verdammt, ich wünschte, ich würde ihm nicht nur im Aussehen ähnlich sein.“

„Seien Sie vorsichtig mit dem was Sie sich wünschen, Marus. Denn mit seinen Fähigkeiten ist auch der Ärger verbunden, den er sich beinahe täglich eingehandelt hat. Und den wir gerade für ihn zu schlichten versuchen“, tadelte Makoto ernst, seine Augen lächelten leicht.

„Gut zu wissen, dass selbst er einmal Hilfe braucht“, erwiderte der Arogad. Seltsamerweise beruhigte es ihn.
 

2.

Die letzten Wochen waren wie ein Traum gewesen, mal ein Albtraum, mal ein Märchen. Gina Casoli war sich nicht ganz sicher, in welchem Extrem sie sich gerade befand, aber auch jetzt fühlte es sich an wie ein Traum.

Sie stand in einem Ring mit Mamoru Hatake, und polierte dem Offizier der Bodentruppen nach allen Regeln der Kunst die Fresse, wenn man es mal so banal ausdrückte.

Zum Glück trugen sie beide Kopfschützer und Mundschutz, sonst hätte der breitschultrige Mamoru sicherlich schon einen Zahn verloren.

Es tat gut, sich derart zu verausgaben. Es tat gut, jemanden zu haben, den man nach Herzenslust verprügeln konnte. Denn das hinderte sie am denken.

Seit sie wieder an Bord der AURORA war, hatte sie jede irgendwie verfügbare Arbeit an sich gerissen, um die schreckliche Leere zu füllen, die in ihr herrschte. Es sollte sie ablenken, betäuben, aber irgendwie funktionierte es nicht. Sobald sie zur Ruhe kam, ging es weiter, kamen die bohrenden und schmerzenden Fragen, die Ungewissheit und die Pein.

Vor zwei Wochen war ihr Angriff auf Brasilien und die dortige Kronosier-Station beinahe spektakulär gescheitert. Zwar hatten sie einen Biocomputer hochgenommen und die Insassen befreit, und zwar hatten sie Corinne Vaslot, die Agentin in ihrem Körper, wieder in den eigenen verfrachten können – mehr oder weniger – aber dieser Körper war mitsamt dem Biotank, in dem er geruht hatte, entführt worden.

Tage später, nachdem die Ungewissheit um die Frau, mit der sie fast ein Jahr den Körper geteilt hatte, ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatte, da war Futabe-sensei an sie heran getreten und hatte ihr verkündet, dass man nun bereit war, Ai Yamagata wieder in ihren Leib zu versetzen. Dies war geschehen, aber Ai war seitdem noch nicht aufgewacht. Man hatte sie aus dem Tank geholt, aber seitdem schlief sie. Es war kein Koma, es war keine Verwundung. Nein, sie schlief nur, und nichts und niemand konnte sie wecken.

Seither war es still in ihr geworden. Die Gedanken der beiden Frauen echoten ab und zu in ihrem Geist, aber es waren nur Schatten aus vergangener Zeit. Kurze Funken, die entstanden, wenn ihre Gedanken mit denen von Ai oder Corinne kollidierten.

Ja, sie hatte immer noch die Gedanken der beiden Frauen im Kopf. Genauer gesagt existierte in ihrem Geist eine komplette Kopie des Gedächtnis sowohl der Japanerin als auch der Französin. Schlimmer noch, selbst ihre Gefühle waren in dem kleinen italienischen Kopf gespeichert, und das gab ihr die tröstende Illusion, doch nicht allein in ihrem Schädel zu sein.
 

Ai regenerierte, so hatte es der alte Mönch gesagt, und so hatte Gina es hingenommen.

Aber all das belastete sie, all das brauchte ein Ventil und all das musste irgendwann raus. Die Ungewissheit, die Angst um die beiden, das war es, was sie fertig machte.

Und nun prügelte sie auf den Mann ein, den sie noch vor allen anderen einen Freund nannte, ausgerechnet auf den Mann, der damals in Buenos Aires die Tür zu einer Welt jenseits ihrer Vorstellungskraft aufgestoßen hatte. Eine Welt, die sie nur aus Megumis Romanen gekannt hatte, und von der sie nun ein fester Bestandteil war.

Er nahm ihre Schläge hin, ihre Tritte, konterte, aber ohne ihre Bewegungsabläufe zu unterbrechen. Sie konnte wie in einer Trainingsrunde die Bewegungen und Angriffe abspulen, aber wie in einem echten Kampf die Schäden spüren, die ihre Schläge und Tritte anrichteten. Mamoru nahm sie hin.

Im Hintergrund erklang ein Gong, und Gina, die den rechten Fuß bereits zum Tritt ausgestreckt hatte, zog das Bein wieder zurück.

Mamoru schnappte sich ein Handtuch, warf es ihr zu und löste seinen Kopfschutz. Dann goss er sich einen halben Liter Wasser über sein Haar und griff nach einem weiteren Handtuch. „Du hast einen Tritt wie ein Dampfhammer“, sagte er ernst und bedeutete der Italienerin, sich neben ihn zu setzen. Er reichte ihr die Wasserflasche. „Man kann kaum glauben, dass du Capuera erst seit ein paar Wochen praktizierst.“

„Capuera, Karate, Judo, Aikhido, Thai-boxen und noch ein paar exotische Kampfsportarten, deren Namen ich eigentlich nicht mal kennen darf“, erwiderte sie und nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Dann tickte sie sich auf die Stirn. „Es ist alles hier drin. Die Bewegungsabläufe, das Gefühl für Geschwindigkeit und Kraftaufwand und das Gefühl, jeden Schlag, jeden Tritt und jeden Heber schon eine Million Mal gemacht zu haben. Nur mein Körper kommt manchmal nicht mit.“

„Wow. Es muss sehr interessant sein, wenn man so viel Wissen von zwei anderen Menschen auf einen Schlag übernimmt. Das bezieht sich doch nicht nur auf den Kampfsport, den Corinne und Ai-chan beherrscht haben, oder?“

„Nein. Ich weiß jetzt auch, wie ich am besten bei einer Observation im Schatten bleibe, welches die Körperpunkte sind, an denen ich einen Menschen schnell und lautlos töten kann und wie sich eine Drahtschlinge anfühlt.“ Sie schüttelte sich. „Das Gros dieses Wissen habe ich von Ai, ist das zu glauben? Dieses kleine, unschuldig dreinblickende Mädchen…“

„Stille Wasser sind eben tief, oder?“ Mamoru grinste. „Was hast du noch so gelernt? Kannst du jetzt einen Hawk steuern?“

„Leider nein, das hatte keine der beiden im Repertoire. Aber ich könnte ein Flugzeug in der Luft halten, ein Scharfschützengewehr abfeuern und auf achthundert Meter eine Streichholzschachtel treffen, Ferrari fahren, Boote und Yachten lenken… Ich weiß noch gar nicht, was da alles in meinem Kopf lauert.“

Müde senkte sie den Kopf und rieb sich den Nacken mit dem Handtuch ab. „Es ist wie ein Traum, wie ein großer Traum, in dem ich noch nicht weiß, ob er gut oder böse ist. Wahrscheinlich beides. Ich kann jetzt so viel, ich weiß so unendlich viel, es macht mir erst bewusst, wie klein ich zuvor war. Wie… Wie WENIG ich war.“

„Wenig?“ Mamoru runzelte die Stirn. „Du und wenig?“

Der Japaner streckte die Beine von sich und seufzte. „Als wir uns kennenlernten war ich sehr von dir beeindruckt. Von deinem Mut, deinen Fähigkeiten, deiner Geschicklichkeit und vor allem deiner unverbrüchlichen Treue. Du warst für mich von der ersten Sekunde an ein Freund und mein bester Verbündeter, Gina. Damals hast du schon vor Tatkraft und Energie nur so gesprüht, und das hat sich bis heute nicht geändert. Du bist vielleicht besser geworden, aber du bist nicht bei schlecht gestartet.“

„Dann bei mittelmäßig?“

„Mach dich nicht kleiner als du bist. Es reicht doch vollkommen, dass Akira das immer bei sich selbst versucht“, tadelte Mamoru.

„Ich bin nicht Akira.“

„Aber du erinnerst mich an ihn. Es gibt da nur einen klitzekleinen Unterschied zwischen euch.“

„Ja, ich bin eine Frau und er ist ein Mann“, stellte sie säuerlich fest.

„Den Unterschied meinte ich nicht. Es ist etwas anderes. Und mindestens ebenso deutlich.“

„Und? Was ist das für ein Unterschied?“

„Du lässt dich nicht so hängen wie er. Es war immer verdammt leicht, Akira in sein Schneckenhaus zu treiben. Okay, wenn er wieder raus kam, dann war man besser ein paar Meilen entfernt. Aber man konnte ihn wirklich schnell dazu bringen, an sich selbst zu zweifeln. Das fehlt dir vollkommen. Du zweifelst nie an dir.“ Er stieß Gina einen Finger gegen die Schulter. „Also hör auf Trübsal zu blasen. Das passt überhaupt nicht zu dir.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Züge. „Vielleicht hast du Recht.“

„Natürlich habe ich Recht.“ Er musterte die junge Frau aus Buenos Aires mit einem Schmunzeln. „So, und jetzt lass uns überlegen, was wir für Ai-chan und Corinne tun können.“

„Ist gut“, murmelte sie und kam langsam auf die Beine.

„Mamoru?“ Sie sah ihn unsicher an. „Danke. Danke, dass du für mich da bist.“

Mit einem freundlichen Lächeln schloss der große Mann das Mädchen in die Arme. „Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken, kleine Schwester. Nicht für etwas selbstverständliches.“

Gina schniefte leise, als die ersten Tränen zu fließen begannen.
 

3.

Zwei Wochen war sie nun schon her, die Revolution. Zwei Wochen, in denen sich das friedliche Stadtbild vor ihm in eine Wüste aus Stein und Flammen hätte verwandeln können, was sie aber nicht getan hatte.

Michael Fioran war dankbar dafür. Sehr dankbar, denn sein Pakt mit den Legaten war ein Spiel mit einem unglaublich heißen Feuer, das mehr zerstören als erwärmen konnte. Aber wenn er seine Karten gut ausspielte, wenn er sein Ziel nicht aus den Augen verlor, dann konnte und würde diese Stadt nicht in Feuer und Asche versinken. Dann würde diese Stadt, New York, die sich mühte, links und liberal zu sein, diesen Anspruch beibehalten können.

Teufel, als die Kronosier damals angegriffen hatten, ein halbes Jahr nachdem Akira in Primus gestiegen war, hatte er zusammen mit Megumi und Lady Death sowie Dutzenden MiGs, Tornados und diversen Tomcats von der ENTERPRISE verhindert, dass diese riesige, friedliche Stadt bis auf den nackten Fels herabbrannte, auf dem sie stand.

Das war nicht geschehen. Die New Yorker hatten die Verwüstungen hingenommen, sich ans Aufräumen gemacht, eine Siegesfeier für Blue Lightning gefordert und in einer Petition mit zwei Millionen und ein paar Unterschriften eine Behandlung gefangener Kronosier nach der Genfer Konvention verlangt.

Nun, vor zwei Wochen waren Wilson und Bowman aus der UEMF ausgebrochen, hatten deren Streitkräfte provoziert und versucht den Abbau der Stützpunkte in den U.S.A. zu verhindern. Sie hatten alles dafür getan, damit dieses Land im Krieg versinkt. Aber sie hatten versagt.

Ein wenig zitterte Michael bei dem Gedanken, wie lächerlich diese Geplänkel doch waren, wenn man bedachte, wie groß die Bedrohung durch den Core war. Wenn die Kämpfe zwischen Naguad und Core hier, auf dieser Welt ausbrachen, dann würden die Großstädte dieser Welt als erstes attackiert werden. Der Core kannte keine Genfer Konvention, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann kannten die Terraner sie auch nicht wirklich. Und dann würde diese Region, würde diese Stadt in Asche versinken und dieser herrliche, von Menschen erschaffene Anblick würde vergehen. Er fragte sich, ob die New Yorker immer noch so liberal und links waren, wenn sie nicht mehr in Millionen gezählt wurden.
 

Der Core, ihr großer Feind, unterstützte das Legat. Und das über ihren Mittelsmann Tora.

Der Magier pflegte diese Kontakte seit vierhundert Jahren, befand sich seitdem in einem ewigen Kampf gegen die Naguad, die sich dem Schutz der Erde verschrieben hatten. Wenn er nun in den Reihen des neuen Legats war, der vom vorletzten überlebenden Legaten gegründet worden war, dann bedeutete dies, dass der Core wieder Kontakt zu ihnen hatte. Und das bedeutete, dass das Legat über einen Teil der Macht verfügen würde, den die Core-Zivilisation verhieß.

Von den Naguad und speziell den Elwenfelt hatten die Kronosier nicht viel zu erwarten. Die Besitzverhältnisse über die Erde waren klar definiert und von allen großen Häusern angenommen worden. Das hieß, dass Haus Elwenfelt automatisch auf die Eroberungen der Kronosier verzichtete, die diese Terraner mit dem Elwenfelt-Genom erreicht hatten. Von dieser Seite war also keine Unterstützung zu erwarten. Und so blieb nur noch der Core. Der Feind, den er und Eri seit Jahrhunderten bekämpften.

Wütend krampfte Michael die Hände zu Fäusten zusammen. Seine Aufgabe war schwer, aber sicher nicht unmöglich.
 

„Wenn ich Sie störe, werde ich wieder gehen“, erklang eine angenehme Stimme hinter ihm.

Überrascht wandte sich Michael Berger um, er hatte die Tür nicht gehört und auch nicht das KI des anderen gespürt. Die Überraschung verwandelte sich in mühsam unterdrückte Wut, als er seinen Gast erkannte: Juichiro Tora, der Magier, der Kontaktmann des Cores, der KI-Akrobat.

„Am besten in die nächste Sonne“, zischte Michael. Vieles konnte er vergeben, aber sicher nicht den Tod von Helens Cousin und Karens Mann von der Hand der Handlanger Toras.

„Friede, Fioran, Friede. Ich habe nicht vor, mich in Ihrem Büro häuslich einzurichten.“ Der große Mann grinste wölfisch. „Aber ich dachte mir, Sie wollen sich vielleicht gerne mit meinen Gästen unterhalten, bevor ich sie vor das Legat lade.“

Irritiert hob Michael eine Augenbraue. Gäste?

„Langer Rede, kurzer Sinn. Hallo, Engel.“

Die Frau, die sein Büro im geheimen Hauptquartier des Legats betrat war ihm beinahe so vertraut wie seine eigene Frau. Und sie war noch um einiges mächtiger als Eri. Man konnte wohl mit einiger Sicherheit sagen, dass sie die größte KI-Meisterin dieses Planeten war. Erschüttert sah Michael sie und ihre beiden Begleiter an. „Was? Dai-Kuzo-sama, Kitsune, Dai-Kuma-sama? Was macht ihr hier?“

„Begrüßt man so jemanden, den man ein paar Jahre nicht gesehen hat?“, tadelte die große Spinne und setzte sich in die bequeme Couchecke. Kitsune setzte sich in einer äußerst sittsamen Pose daneben, Kuma-sama, der Herr der Bären-Dämonen, trat hinter das Sofa und musterte mit kalten Augen den Raum.

„Bietest du nichts zu trinken an, Michael? Ich habe wirklich Durst, weißt du?“

Das war natürlich nur eine Floskel. Eine Dai hatte nie Durst, außer sie wollte es. Und sie würde auch nur dann in diesem Turm sein, wenn sie es wollte. Diese Erkenntnis ließ Michael innerlich zusammen zucken. „Natürlich. Was soll es denn sein, Dai-Kuzo?“

„Wasser ist in Ordnung.“

„Kitsune?“

Entgegen ihrer polternden Art und ihrem losen Mundwerk antwortete die Fuchsdämonin nicht. Sie schüttelte lediglich verneinend den Kopf und lächelte den Fioran freundlich an.

Kuma brauchte er gar nicht erst zu fragen. Der große, stiernackige Mann mit dem schulterlangen braunen Haar würde sich melden, wenn er etwas brauchte. Aber so wie er sich benahm war er als Leibwächter für Dai-Kuzo hier und ordnete alle Bedürfnisse, die er eventuell verspüren mochte, ihrer Sicherheit unter.

Michael orderte Wasser über seine Sprechanlage und lud mit einer Handbewegung Tora an, sich ebenfalls zu setzen. Danach nahm er auf dem einzigen Sessel Platz.
 

Nervös faltete der Naguad die Hände vor dem Gesicht und sagte: „Dai-Kuzo, wenn es um meine Anwesenheit im Hauptquartier des neuen Legats geht, dann…“

„Ich bin froh, dich hier zu treffen. Es war eine ziemliche Überraschung für mich als ich deine Präsenz gespürt habe. Dai-Tora war leider so dreist, mir nicht zu sagen was mich hier erwarten würde.“ Sie warf dem Magier einen tadelnden Blick zu, den dieser mit einem süffisanten Lächeln erwiderte.

„Dai-Tora?“, fragte Michael verblüfft.

„Dai-Tora-sama, bitte, wenn wir meinen Titel schon auf japanisch erörtern.“ Der Magier räusperte sich. „Der Herr der Tigerdämonen.“

„Du bist ein Dai“, stellte Michael tonlos fest und kämpfte gegen das Gefühl an, dass ihm jemand den Boden unter den Füßen gezogen hatte. Wie machte das Sinn? Wie passte das zusammen? Wenn sein ewiger Feind Tora ein Dai war, ein Dämon, nein, sogar ein König unter den Dämonen, was war passiert? Waren er und die große Spinne wirklich Feinde?

Was, wenn sie es nicht waren? Das passte irgendwie zusammen, schrecklich zusammen, und für eine Sekunde rechnete Michael nicht damit, dass er dieses Treffen überleben würde.

„Und all die Jahre…“

„Dai-Kuzo hat mich angesprochen“, berichtete der Tigerdämon im Plauderton. „Und ihre Argumente waren für mich stichhaltig genug, um unsere kleine Fehde einmal beiseite zu schieben. Ansonsten gebe ich ja nicht viel auf das, was sie sagt, aber diesmal war… Sie sehr überzeugend.“

„Kleine Fehde nennst du das? Du hast gegen mich rebelliert, Tora. Du hast versucht, die Macht zu erlangen, die ich seit zehntausend Jahren inne habe. Und du hast die Dämonenwelt verlassen.“

Die Bürotür öffnete sich, und eine unbeseelte Drohne servierte das Wasser für die große Spinne. Nun, Michael musste in einem Anflug innerer Ruhe zugeben, dass die Drohnen wirklich praktisch waren, solange die Kronosier darauf verzichteten, menschliches Klon-Fleisch in ihren Geschöpfen zu verbauen. Sie neigten dazu zu stinken, wenn das Fleisch abstarb und nicht bemerkt wurde. Abgesehen davon, dass Michael es als Greuel ansah, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, lebendes Gewebe für eine Drohne zu verwenden. Zwar bezog sich das nur auf die Muskeln, um die Kosten für eine Drohne zu senken, aber Verbrechen blieb Verbrechen. Der Gedanke amüsierte ihn. Immerhin war dies das Legat, und die Kronosier trugen einen riesigen Berg an Verbrechen und Greuel vor sich her.

„Danke. Ich war am verdursten“, sagte Dai-Kuzo und nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas.

„Eure Fehde war nicht gespielt?“, hakte Michael nach.

„Gespielt? Spinnst du? Wir haben uns gegenseitig bis aufs Messer bekämpft.“ Die große Spinne seufzte. „Obwohl wir es hätten besser wissen müssen. Obwohl du es hättest besser wissen müssen, mein Gefährte.“

Der Tigerdämon warf wütend die Arme hoch. „Fängst du schon wieder damit an? Dies ist eine neue Zeit und eine neue Welt. Die Daina auf dieser Welt sind auf einem guten Weg, und ich sehe keinen Grund, warum wir uns weiterhin isolieren sollten. Du erlaubst es einigen Dämonen, in die Menschenwelt zu kommen. Warum erlaubst du es nicht endlich allen und lässt sie mit den Menschen zusammen leben? Ich meine, jetzt, in einer Zeit in der KI-Meister offen auftreten, ist die Chance auf allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz am höchsten.“

„Das ist eine Grundsatzfrage, die ich dir einfach beantworten kann. Wenn wir die Dämonenwelt verlassen, wird der Liberty-Virus instabil, und alles fängt von vorne an.“

„Ich bin dafür, dass wir die Dämonenwelt verlassen. Vernichten. Auflösen. Ich glaube wirklich, dies wäre der richtige Weg für uns. Wir könnten unseren eigenen Staat auf der Erde gründen und mit den anderen Staaten eine fruchtbare Kommunikation aufbauen. Wir würden uns als Senpais in dieser Welt etablieren. Siehst du das nicht?“

„Es ist nicht so als hätten wir das nicht oft genug probiert“, erwiderte Dai-Kuzo mit einem wütenden Knurren. „Aber du weißt was passiert, wenn zu viele Dämonen die Schutzzone verlassen.“

„Gerüchte! Ausreden! Das ist nur was du glaubst. Das ist nur was du hoffst! Ja, hoffst! Damit du deine allmächtige Stellung über dein hehres Volk nicht verlierst!“

„Du würdest anders reden, wenn SIE hier wären.“

„SIE sind aber nicht hier. Und SIE werden auch nie hier sein. Es gibt SIE schon seit Jahrtausenden nicht mehr.“

„Falsch. Man hat sie schon seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen, das ist ein Unterschied. Ein Riesenunterschied. Es bedeutet nicht, dass es SIE nicht mehr gibt. Und wenn wir uns eine Blöße erlauben, wenn wir alles riskieren, verlieren wir alles. Siehst du das nicht ein?“

„Bist du wirklich hier, um mich mit den gleichen Plattitüden der letzten Jahrtausende zu langweilen? Genau aus diesem Grund, wegen deiner engstirnigen Haltung, habe ich dich bekämpft. Ich habe das Leben als Mensch in Kauf genommen, um dich irgendwann zu stürzen. Ich will nicht deinen Tod, aber ich will das Recht auf freie Entscheidung eines jeden Dais, wo er leben will – in der Dämonenwelt oder unter den Menschen.“

„Du weißt, dass wir diese Freiheit der Entscheidung nicht haben, dank IHNEN.“

„Falls sie noch existieren. Falls sie sich überhaupt noch für uns interessieren. Falls sie diese Region überhaupt noch beobachten.“

„Und wenn sie es tun? Was wirst du machen? Wenn alles zerstört werden wird? Denkst du, du hast eine zweite Chance eine Dämonenwelt aufzubauen? Denkst du, du kannst deinen Fehler wieder gut machen?“

„Wenn ich mich irre, irre ich mich. Ich werde dann sehen, was ich tun kann, um den Schaden zu begrenzen. Aber ich glaube nicht daran, dass es SIE noch gibt, und deshalb glaube ich auch nicht daran, dass SIE uns zerstören werden, wenn wir die Dämonenwelt auflösen.

Außerdem sind die Menschen stark, sehr stark. Einige von ihnen haben die Macht, um Dai zu werden, das weißt du.“

„Ist das das Ergebnis deiner Experimente? Deiner furchtbaren, menschenverachtenden Experimente? Wie vielen Menschen hast du das KI genommen, bevor du und deine Youmas auf dem Mars vernichtet wurdet?“

„Ich habe getan was ich musste. Hätte ich damals nur ein wenig länger das KI sammeln können, hätte ich die Dämonenwelt vernichten können.“ Tora grinste gehässig. „Deshalb hast du mir auch deinen Favoriten auf den Hals gehetzt. Er hat sehr mächtige Verbündete, das muss ich zugeben. Einige von ihnen können Dai werden, wenn ihnen das jemals bewusst werden würde.“

„Ich habe ihn nicht geschickt. Er ist von alleine gekommen. Und er wird auch diesmal seinen Weg gehen.“

„Trotzdem. Ich hätte nicht damit prahlen dürfen, wie kurz ich davor stand, die Dämonenwelt zu vernichten, oder? Dadurch hast du deine Planungen erheblich beschleunigt. Und deine Agenten unter den Kronosiern haben den Rest erledigt. Ich muss zugeben, ich hatte Blue Lightning nicht eher in meinem Fokus, bevor er nicht ein zweites Mal auf dem Mars landete. Es war ein Fehler. Ich hätte ihm viel Leid ersparen können. Ich hätte ihn benutzen können.“

„Vielleicht“, wandte Dai-Kuzo ein. „Andererseits ist er durch diese Leiden erst gewachsen. Und jetzt ist er vielleicht groß genug, um sogar IHNEN die Stirn zu bieten.“
 

„Entschuldigt, wenn ich mich einmische, aber ich hätte da ein paar Fragen“, sagte Michael ernst.

„Frage ruhig, Michael.“

„Erstens: Ihr beide habt miteinander kommuniziert, während ihr einander bekämpft habt?“

Dai-Kuzo wirkte ein wenig verblüfft. Doch dann nickte sie. „Wir… Wir haben einen sporadischen Kontakt gehabt, um… Um unsere Aktionen aufeinander abzusprechen. Keinem von uns wäre es gedient gewesen, den… Den Einfluss auf die eigene Seite zu verlieren.“

„Wie ist das zu verstehen? Waren wir etwa Schachfiguren in eurem Spiel? Haben wir Naguad all die Jahre umsonst gekämpft? Hast du gelogen und wolltest den Core gar nicht vernichten?“

„Es ging nie darum, den Core zu vernichten oder Tora zu töten, Thomas. Der Core weiß schon seit Jahrtausenden von der Erde und der Dämonenwelt. Es ging immer nur darum zu verhindern, dass die Verbündeten des Cores die Macht auf der Erde an sich reißen. Denn das hätte Tora erlaubt die Dämonenwelt zu vernichten und uns IHNEN preis gegeben.“

„Falls es sie überhaupt noch gibt“, knurrte der Magier unwillig.

„Unsere Kämpfe waren ernst und hart. Es ging immer um das Schicksal der ganzen Welt, niemals um weniger. Aber es wäre fatal gewesen, wenn eine der Seiten aufgespalten worden wäre, bevor die andere Seite vor einem Sieg gestanden hätte. Ich hätte alle oder keinen vernichten müssen.“

„Unsere Kämpfe waren also nicht sinnlos?“, fragte Michael.

„Nein, natürlich nicht. Die Naguad waren wertvolle Verbündete für mich. Und eine lange Zeit sah es so aus, als würden wir Tora endlich in die Ecke drängen können, um seine Organisation auszuschalten und damit die Frage zu klären, was mit der Dämonenwelt passiert. Aber dann machte seine Organisation Kontakt mit dem Core und seine Protégés schwangen sich selbst zu Herren und Kronosiern auf.“

„Wovon ich mir einen Vorteil versprach. Leider hatte ich keine Kontrolle über das Legat. Und leider habe ich nie geahnt, was unbegrenzte Macht aus labilen Gemütern machen kann.“ Der Tigerdämon schüttelte sich. „Ich musste selbst ins Legat eintreten, mich ihnen regelrecht anbieten, um wieder Einfluss auf sie zu erlangen.“

„Und jetzt, drei Jahre nachdem der Mars erobert wurde, ist das Legat immer noch ein Machtfaktor, den wir nicht ignorieren dürfen.“

„Ich verstehe. Nächste Frage. Wer sind SIE?“

„SIE?“ Dai-Kuzo wechselte einen unsicheren Blick mit Tora.

Der übernahm das Wort. „SIE sind die Götter, Michael. Die Götter, die aus den Himmeln herabgestiegen sind, um die Dai auszurotten. Ich glaube ja, dass sie mittlerweile tot sind, aber diese schreckhafte Frau glaubt noch immer an ihre Existenz und daran, dass wir uns besser verstecken sollten, um ihrem Zorn zu entkommen.“

„Götter?“

„Schreckliche Götter, die alle Dai gejagt und vernichtet haben, derer sie habhaft werden konnten. Nur in den Dämonenwelten unter dem Liberty-Virus waren wir Dai sicher“, fügte die große Spinne hinzu.

„Die letzte Frage, die ich habe lautet wie folgt: Was tust du hier, Dai-Kuzo-sama?“

Ein spöttischer Zug spielte um ihre Lippen. „Wahrscheinlich das gleiche wie du, Michael. Ich erhoffe mir einen temporären Waffenstillstand in einer Zeit, in der alles im Umbruch ist. Um genauer zu sein, ich befürchte, dass die Götter wieder auftreten werden, und ich sehe keinen Grund, jene sich gegenseitig schwächen zu lassen, die sie vielleicht gemeinsam aufhalten können.“

Michael nickte widerstrebend.

„Und deshalb bin ich gekommen. Ich habe auch ein Geschenk mitgebracht, quasi als Einstand. Es ist etwas, was der Core sicherlich gut gebrauchen kann.“

„Dann war es also doch die Mühe wert, deine Anwesenheit zu ertragen?“, spottete Tora.

„Entscheide selbst“, erwiderte die große Spinne amüsiert. „Ich hatte neulich eine sehr nette Konversation mit einer Dai von Iotan. Was sie mir gesagt hat, dürfte alle Operationen des Cores in diesem Sektor der Galaxis beeinflussen.“

„Mit einer Dai? Du hattest Kontakt zu einer anderen Dämonenwelt?“ Erstaunt zog der Magier die Augenbrauen hoch.

„Nein, nur zu einer Dai. Sie sagte mir zwei Dinge. Erstens: Nag Prime hat keine Dämonenwelt.“

Erstaunt sah Tora die Frau an. Nur langsam wich die Starre von ihm, die jene Worte begleitet hatte. „Das… Wenn das wahr ist, dann ist das für den Core eine extrem wichtige Information.“

Die große Spinne grinste wölfisch, als sie nachsetzte. „Und zweitens: Iotan hat eine Dämonenwelt!“

***

„Leben ist ein erstaunliches Phänomen“, dozierte Michi Torah vor seiner Klasse und hob dabei den rechten Zeigefinger. „Es geht mir dabei nicht unbedingt um die Tatsache, dass es Leben an sich gibt, so unmöglich und unwahrscheinlich es für einen ausgebildeten Wissenschaftler auch klingt, aber wir existieren, also ist Leben möglich.“ Beifallsheischend sah er sich um, aber er bekam keine Standing Ovations.

Ein wenig bedrückt fuhr er fort. „Ich komme zum Punkt. Lassen wir einmal Quarks, Gluonen und dergleichen beiseite und betrachten ein schlichtes Atom. Was haben wir dann?“

Eine Hand reckte sich eifrig nach oben. „Ja, Akari?“

„Von was für einem Atom sprechen wir?“

„Wir gehen vom einfachsten aus, dem Wasserstoff-Atom.“

„Dann ist es einfach. Wir haben ein Proton und ein Neutron im Kern, und ein Elektron, dass diesen Kern umkreist.“

„Danke, Akari, aber das ist nur halb richtig. Du beschreibst Deuterium, eine in der Natur vorkommende, aber nicht vorherrschende Form von Wasserstoff. Dennoch, Deuterium ist mir für meine Erläuterungen gerade recht.“

„Deuterium?“

„Schwerer Wasserstoff. Normalerweise wiegen ein Neutron und ein Proton jeweils ein den Atomkern umkreisendes Elektron auf, aber bei Wasserstoff gibt es lediglich einen Kern, der aus einem Proton besteht. Deuterium verfügt über eine höhere Masse, weil es zusätzlich ein Neutron hat. Das Gewicht des Atoms erhöht sich immens, weshalb diese Atome auch Schwerer Wasserstoff genannt werden. Die Vorkommen von Deuterium im Wasserstoff, dem häufigsten Element des Universums, liegen aber nur gut bei einem Achtel Prozent der Gesamtmasse.

Es gibt noch eine dritte Form, das Tritium, bei der sich zwei Neutronen an den Kern anlagern. Diese Form wird Superschwerer Wasserstoff genannt. Beide gelten als natürliche Isotopen des Wasserstoffs und…“

„Kommen wir doch zurück zum Kern deiner Aussage. Wir haben nicht Physik, sondern Biologie.“

„Ja, Sensei. Nun, was erhalten wir, wenn wir Deuterium betrachten?“

„Ein Isotop?“

„Das ist gut aufgepasst und auch richtig, aber darauf wollte ich nicht hinaus. Was wir erhalten ist ein riesiger Hohlraum. Das Elektron umkreist den Kern mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Illusion von fester Materie entsteht.

Gehen wir einen Schritt weiter, stellen wir uns ein Wassermolekül vor. Wie wird das aussehen?“

„Ein Sauerstoffatom und zwei Deuteriumatome haben sich verbunden.“

„Das ist richtig. Was bekommen wir also? Noch mehr Hohlräume. Wobei auch hier wieder die scheinbar feste äußere Hülle nichts weiter ist als das oder die Elektronen, das oder die superschnell um den Atomkern rast.

Und nun stellen wir uns etwas komplexeres vor, sagen wir einen Menschen. Woraus besteht dieser im Endeffekt?“

„Aus einem ganzen Haufen Atomen und Molekülen?“

„Das ist die richtige Antwort. Und genau das wirft meine Frage auf: Wie kann etwas, das im Endeffekt nur auf der Illusion sich bewegender Elektronen beruht, so stabil sein? Jedes Molekül, jedes Atom, eigentlich jeder Mensch besteht aus einer riesigen Menge Hohlraum, selbst wenn wir den Platz zwischen den Atomen nicht berücksichtigen, der auch noch reichlich vorhanden ist.“

„Das ist sehr interessant und ich verstehe dein Problem. Aber hast du auch eine Lösung anzubieten, Michi?“

„Natürlich, Sensei. Gravitation und Fliehkraft. Im Prinzip sind alle toten und lebenden Dinge gefesselt durch diese zwei Kräfte, die sie in Balance halten. Die Fliehkraft, die die Elektronen bewegt und Masse, sprich eingenommenen Raum simuliert und Gravitation, die all das beisammen hält. Im Prinzip sind wir alle, ist alles um uns herum wie ein Sonnensystem, nur unendlich komplexer. Noch so ein Punkt, den ich ansprechen möchte. Materie ist Illusion.“

„Halt, halt, das führt jetzt zu weit. Wie ich schon sagte, wir haben Biologie. Zu welchem interessanten Fazit kommst du also? Sind wir nur Illusionen, oder gibt es tatsächlich existent? Und gibt es für diese Existenz einen biologischen Beweis?“

„Ich bin überrascht, Sensei. Die gleichen Fragen habe ich mir auch gestellt.“

„Du bist nicht der erste Schüler, der mit dieser These aufwartet, junger Mann. Also, dein Ergebnis?“

„Wir existieren. Wir sind zwar gigantische Hohlräume, Illusionen von Materie, aber wir existieren. Wie so etwas leben kann weiß ich zwar nicht, aber ich vermute, dass das KI dabei eine wichtige Rolle spielt. Vermutlich ist KI das, was das Leben erst zusammenhält.“

„Hm. Du hast dir gerade Arbeit aufgehalst, junger Mann. Schreibe bitte bis zur nächsten Stunde eine Abhandlung über KI und stelle sie dann der Klasse vor. Ich bin schon sehr gespannt auf deine Interpretation. So, die Stunde ist beendet. Ihr könnt alle gehen. Nur Michi bleibt noch.“

Als sich der Lehrsaal in einen Leersaal verwandelt hatte, setzte sich der Lehrer auf seinen Schreibtisch. „Michi, ich habe hier einen interessanten Brief bekommen. Du sollst für militärische Aktivitäten freigestellt werden. Was bedeutet das? Bist du ebenso wie Akari Mitglied der Hekatoncheiren? Bei der Jugend heute wundert mich eigentlich nichts mehr.“

„Nein, Sensei. Aber ich arbeite daran. Es wird hart werden, aber ich kann meinen Meister nicht enttäuschen. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, egal ob Materie Illusion ist und wir eigentlich gar nicht existieren, will ich, das er stolz auf mich ist.“

„Dein Meister?“

„Mein Ausbilder in KI-Kontrolle und Schwertkampf. Akira Otomo. War es das dann, Sensei?“

„Ja, du kannst gehen.“

Als der junge Mann mit dem weißen Haarschopf das Klassenzimmer verlassen hatte, strich sich der Lehrer nachdenklich über sein Kinn. „Hm, Akiras Schüler? Jetzt wird mir einiges klar.“ Er lächelte still.
 

4.

„Du wolltest uns sprechen, Vater.“ Der groß gewachsene Mann mit den braunen Haaren verneigte sich bei diesen Worten aus seiner sitzenden Haltung auf der blauen Tatami fast bis zum Boden. Die aschblonde Frau, die neben ihm auf einer rosa Tatami hockte, verbeugte sich ebenfalls förmlich.

Der Mann vor dem sie sich verbeugten, musterte beide streng. Sein Sohn Mizuki und seine Schwiegertochter Lina waren weit gereist, um zu ihm zu kommen. Genauer gesagt waren sie auf die AURORA gekommen, um ihn in seinem Domizil im dortigen Shinto-Tempel aufzusuchen. Der alte Mönch wusste das Engagement der beiden zu schätzen.

„Ihr braucht euch nicht zu verbeugen, meine Kinder.“ Futabe-sensei sah mit Wohlwollen auf die beiden.

„Der Respekt für das Oberhaupt gebietet…“, begann Mizuki ernst, wurde aber von seinem Vater unterbrochen.

„Wie laufen die Unternehmungen in Europa, Sohn?“

Der braunhaarige Mann lächelte verlegen. „Wie du gesagt hast, hatten wir mehrere Infiltrationen von kronosianischen Supercomputern. Ich habe die Escaped einsetzen müssen, die uns laut Kooperationsvertrag mit der UEMF zustehen. Yodama-samas Firmen in Europa dürften damit vorerst sicher sein.“

„Wenn ich dazu etwas sagen dürfte“, mischte sich die blonde Frau ein – eigentlich ein respektloses Verhalten. Aber erstens war sie Familie und Yoshis Mutter, und zweitens die Sicherheitsexpertin für die japanische Holding, unter der mehr als siebzig weltweit verteilte Firmen unter der Leitung von Naguad standen. „Nach den Erfahrungen mit Gina Casoli und ihren beiden, nun, Gästen, ist es uns gelungen, ein KI-Verfahren zu entwickeln, welches aufgepflanztes KI entdeckt. Dabei ist es egal, ob es sich um einen Proto-Youma handelt, ob ein fremdes Bewusstsein implantiert wurde oder ob es sich um ein KI-Biest handelt. Wir bilden bereits die firmeneigenen Sicherheitskräfte in dieser Technik aus. Und es wird auch nicht mehr lange dauern, bis ein Scanner existiert.“

„Das sind gute Neuigkeiten.“ Der alte Mann nickte ernst. Dann senkte er den Blick.

„Es gibt einen wichtigen Grund dafür, dass ich euch gerufen habe. Ihr wisst, während ihr eure Aufgaben in Europa erfüllt habt, habe ich auf Yoshi aufgepasst. Aber ich muss leider eingestehen, das ich versagt habe. Er ist mit Jarah Arogad zusammen und ich sehe mich außerstande, diese Beziehung zu beenden.“

„Mit Yohko? Die beiden geben bestimmt ein niedliches Paar ab“, murmelte Lina.

„Nichts da!“, blaffte Mizuki wütend. „Vater, du kennst meine Einstellung! Ich lasse nicht zu, dass der Erbe des Futabe-Haushalts eine untergeordnete Stellung in einem Naguad-Haus einnimmt! Wir arbeiten schon zu lange mit den Arogads zusammen, um eine solche Entwürdigung hinzunehmen!“

„Sie lieben sich. Was kann man da ändern?“

„Er ist erst zwanzig! Er wird sich neu verlieben! Er steht gerade erst am Anfang eines Lebens, das tausend Jahre dauern kann!“ Wütend sah Mizuki auf. „Ich wäre stolz auf einen Sohn, der im Kampf für die UEMF fällt! Aber nicht auf meinen Jungen, wenn er Prinzgemahl einer zweitrangigen Erbin wird!“

„Mizuki, wollen wir uns nicht erst einmal alle beruhigen und…“

„Ich will mich aber nicht beruhigen! Ich will das Beste für unseren Jungen!“, blaffte der Japaner wütend.

Plötzlich fuhr er herum. In seiner Hand lag wie hingezaubert eine schussbereite Pistole. „WER IST DA?“

***

Gute achtzig Lichtjahre entfernt, auf Naguad Prime, ging das Leben in der Hauptstadt beinahe seinen regulären Gang. Die Schäden an den Türmen der Arogads und Logodoboros wurden ausgebessert, der Plan um die Vorstädte vom radioaktiven Staub zu befreien war bereits beendet worden. Millionen Menschen hatten ihre Vorstädte wieder beziehen können und waren zu ihren alten Leben zurückgekehrt.

Im Turm der Arogads ging es hingegen etwas hektisch zu. Er würde eine neue Spitze erhalten, und das war eine ganz eigene Mammutaufgabe für sich.

„Achtung. Achtung. An alle Bürger des Turms, an alle Besucher des Turms. Die Künstliche Intelligenz und der Strom werden für die nächste halbe Stunde abgeschaltet werden. Grund ist die Integration der neuen Spitze. Bitte verhalten sie sich ruhig und diszipliniert und warten sie in den Sammelräumen mit Notbeleuchtung. Wir danken für ihre Kooperation.“

Hätte Helen Arogad über ihren Körper verfügt, dann hätte sie geseufzt. Eine halbe Stunde abgeschaltet. Das bedeutete, dass sie dreißig endlos lange Minuten blind, taub und stumm war. Aber besser so als permanent fünfzigtausend fehlerhafte Prozesse korrigieren und Anschlussfehler riskieren zu müssen.

Dennoch. Als man sie vor Jahren in den Turm gebracht hatte, war sie im Koma gewesen. Sie erinnerte sich nur noch an wirre Träume, die sich vor allem um ihre beiden Kinder Akira und Yohko gedreht hatten. Wie würde es sein, wenn der Strom weg war? Würde sie schlafen können? Das erste Mal seit zehn Jahren? Oder würde sie eine volle halbe Stunde in absoluter Finsternis verbringen? Helen fragte sich, ob der Tod vielleicht so war und nicht anders. Absolutes Vegetieren in totaler Finsternis.

Die Abschaltung kam für sie überraschend, obwohl sie diese selbst initiiert hatte.

Dann kam die Finsternis und einen Augenblick später glaubte sie zu frieren. Aber das war Einbildung. Das musste Einbildung sein, denn sie hatte ihren Körper nicht mehr gespürt, seit sie in der virtuellen Welt des Turms erwacht war. Ja, sie hatte jetzt eine sehr wichtige Aufgabe, und alles was sie dafür hatte hergeben müssen war, ihre Kinder berühren zu können, ihren Mann, ihre Eltern, ihre Freunde. Hätte sie ihren Körper gespürt, hätte sie sicherlich nun trocken geschluckt. Solche Gedanken brachten nichts, sie machten nur einsam, verzweifelt. Sie war hier in diesem Tank gefangen und würde es noch eine sehr lange Zeit sein. Vielleicht eine kleine Ewigkeit. Vielleicht für immer. Wobei immer eine verdammt lange Zeit sein würde. Ob sie miterleben würde wie ihre eigenen Kinder selbst Kinder zeugen würden? Was würden Akira und Yohko ihnen sagen? Eure Großmutter lebt in einem Tank?

Auch diesen Gedanken schob sie beiseite. Sie konnte nicht bei ihrer Familie sein. Sie hatte eine wichtige Aufgabe, und das war weit wichtiger als bloß zu existieren und zu verzweifeln.
 

Doch dann war da etwas, was ihre schwarze Welt durchbrach. Sie erkannte es sofort als AO-Aura, als große, mächtige AO-Aura. Sie war ihr nahe, sehr nahe. Und sie war gefärbt vor Blutdurst und Vernichtungswut. Erst war es nur diese eine, dann waren es zwei, drei, vier, sechs, acht, zwölf! Und sie kamen ihr näher und näher. Genauer gesagt dem Standort ihres Tanks, in dem ihr hilfloser Leib ruhte, solange der Strom abgeschaltet war. Ein Attentat!

***

„Es ist mir egal!“, blaffte Megumi Uno wütend. „Ich werde keine weitere Verzögerung hinnehmen!“

„Aber General Uno, die Desertation der U.S.A. und anderer Verbündeter und die Evakuierung unserer Stützpunkte in jenen Ländern hat gezeigt, wie verwundbar die Erde ist! Und da ist immer noch der Angriff durch das unbekannte Riesenschiff! Wir können das nicht ignorieren! Bis wir ein neues Verteidigungskonzept ausgearbeitet haben, müssen die AURORA und ihre Flotte unbedingt im System bleiben!“, begehrte Julian Gardio auf. „Es stehen sechs Milliarden Leben auf dem Spiel!“

„Es stehen noch viel mehr Leben auf dem Spiel, wenn wir Akira nicht bald finden!“, rief Megumi wütend. „Erinnern Sie sich bitte daran, dass da ein riesiges Imperium mit achthundert Milliarden Leben existiert, das wirklich nachtragend sein kann, wenn Akira nicht wiedergefunden werden kann!“

„General, bitte, können wir nicht sachlich bleiben und die verständlichen Emotionen beiseite schieben? General, bitte, lassen Sie uns vernünftig darüber reden. Alles was wir wollen ist doch nur ein weiterer Aufschub.“

„Kein Aufschub! Besinnen Sie sich mal auf die Tugenden der UEMF, Ratsvorsitzender Gardio! WIR haben damals IMMER improvisiert, das beste aus dem gemacht was wir vorgefunden haben! WIR hatten NICHTS und haben ALLES gewonnen!“

„Sie reden so als wären Sie dabei gewesen“, murmelte Gardio wütend.

„ICH WAR DABEI!“ Wütend stierte Megumi Uno den Ratsvorsitzenden nieder. „Wenn Sie die Güte hätten sich zu erinnern, ich war, bin und bleibe Lady Death, die zweitbeste Mecha-Pilotin der Erde! Ich habe in jeder großen Schlacht gesteckt, seit ich das erste Mal mit meinem Hawk aufgestiegen bin! Ich habe die zweithöchste Abschusszahl in der ewigen Bestenliste und ich diene nun schon seit sechseinhalb Jahren! Das Sie hier sitzen können anstelle eines kronosischen Gouverneurs verdanken Sie mir, Akira, Yohko und Makoto! Vergessen Sie das bitte nicht! Wir haben zusammen diese Welt gerettet, und das mehr als einmal! Ich habe mein Blut schon so oft für die Verteidigung dieser Welt vergossen, dass ich es schon nicht mehr zählen mag, und Akira hat… Akira hat… Er hat noch so viel mehr getan, so viel länger gekämpft und so viel mehr gelitten! Für Sie! Für mich! Für uns alle! Und nun wollen Sie mir sagen, dass das alles nichts mehr wert ist? Dass wir die Möglichkeit haben, diesmal ihm zu helfen, aber dass er zurückstecken muss? Dass die Menschheit, die er gerettet hat, ihn nicht retten wird? Das akzeptiere ich nicht!“

„Sie haben meine Cousine gehört“, sagte nun auch Sostre Kalis ernst. „Wir fliegen in drei Tagen ab, ob mit oder ohne ihre Zustimmung. Und das ist mein letztes Wort als Vertreter der Daness auf dieser Welt.“

Gardio setzte zu einer Antwort ab, aber Fredricsson legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass es, Julian. Sie haben Recht und das weißt du. Außerdem, willst du wirklich als der Mann in die Geschichte eingehen, der Akira Otomo die Hilfe verweigert hat?“

„Ich will ihm seine Hilfe nicht verweigern! Ich will dabei nur vernünftig sein!“

„Die Zeit für Vernunft ist vorbei! Jetzt beginnt die Zeit des Handelns!“ Megumi Uno fuhr hoch, und mit ihr drei Hekatoncheiren, Sostre Daness und Aris Taral. „Guten Tag, meine Herren. Ich kehre zu meinem Kommando zurück!“
 

Draußen auf dem Gang holt Sostre seine Cousine schnell ein und hielt sie fest. „Solia, war das wirklich nötig? Musstest du so hart mit ihnen umspringen?“

„Was sollte ich machen? Es geht um Akira! Akira, Sostre!“

Spontan schloss der Daness das Mädchen in seine Arme. „Ich vermisse ihn ja auch. Und ich kann nicht einmal ansatzweise erfassen, wieviel Schmerz in dir ist, jetzt wo er irgendwo da draußen verschollen und in der Hand des Cores ist. Aber ich unterstütze dich so gut ich kann, das verspreche ich dir.“

„Danke“, hauchte sie ergriffen. Familie war schon was tolles.

Dann ging alles rasend schnell.

***

An einem anderen Ort, fast in einer anderen Welt, schwebte eine junge japanische Frau in einem Biotank. Ihr Name war Ai Yamagata, und sie war Agentin des Geheimdienstes der UEMF. Sie war während der Kanto-Mission von ihrem Gegner Torum Acati getötet worden. Genauer gesagt hatte er ihr KI einem eigenen KI-Blast von enormer Stärke ausgesetzt, und als sie danach wieder zu sich gekommen war, da war sie bereits im Verstand von Gina Casoli gewesen. Ihr Körper wurde seither in diesem Biotank am Leben erhalten.

Ein neuartiges Verfahren hatte das Wunder vollbracht, ihren Verstand, also ihr KI, wieder in ihrem Körper zu verpflanzen, aber irgendetwas war schief gelaufen. Gina Casoli hatte Dutzende Tests über sich ergehen lassen, KI-Meister hatten sie mehrfach überprüft, mit ihr gearbeitet und sie analysiert, aber auch sie konnten später nur zustimmen, was Gina selbst gesagt hatte: Der Transfer von Ai Yamagata aus ihrem Verstand heraus hatte stattgefunden.

Aber auf den Monitoren der Überwachungseinheit zeigten sich nur die Herzfrequenz, die Atmung, die Sättigung des Blutes mit Sauerstoff und zuletzt der Blutdruck.

Die Anzeigen für Gehirnaktivität blieben leer und blind.

Diese und ähnliche Gedanken gingen Gina durch den Kopf. Immer wenn sie vor diesem Tank stand, fragte sie sich, ob Megumi sich so gefühlt hatte, als Akira Otomo schwer verwundet in einem solchen Tank gelegen hatte. Und ob sie sich auch gefragt hatte, ob und wann er diesen… medizinischen Sarkophag verlassen konnte.

Ihr Fall war schlimmer. Ai brauchte nicht geheilt zu werden. Ai war nicht da. Kurz und bündig, sie existierte nicht in ihrem Körper. Auch diese erschütternde Feststellung hatten die KI-Meister bestägigen müssen, allen voran Futabe-sensei.

„Wo bist du, Ai-chan? Wo bist du nur?“ Frustriert legte sie die Stirn auf das Schutzglas und ihre Rechte flach daneben. Was war schief gegangen? Was hatte sie – ja, sie - falsch gemacht?

Als sich eine Hand auf die ihre legte, nur vom Schutzglas getrennt, dauerte es einen Moment, bis sie begriff. Ihr Kopf ruckte hoch, gerade rechtzeitig um zu sehen, dass Ai einen tiefen Atemzug tat. Dann öffnete sie die Augen und fixierte Gina.

„Do… Do… DOKTOR SCHNEIDER!“

***

Mizuki Futabe war gewiss kein Feigling. Und erst recht kein Idiot. Außerdem war er sehr stolz darauf, dass er in der Lage war, sich jederzeit zu verteidigen. Seine bescheidenen Fähigkeiten, das KI zu manipulieren, hatte er dafür so perfekt trainiert wie es ihm möglich war. Von den Fähigkeiten seines Vaters und sogar denen seines Sohns war das noch Meilen entfernt, zugegeben. Seine Generation schien das latente Talent für KI übersprungen zu haben. Aber er konnte seinen Mann stehen. Eigentlich.

Als die Waffe aus seiner Hand gerissen wurde, schrie er auf, mehr erschreckt und wütend, denn vor Schmerz. Das Wesen, das die Waffe nun im Maul trug, musterte ihn interessiert und wich dann zum Eingang zurück. Wich war dabei die richtige Formulierung, denn der große weiße Hund flog. Vor einem groß gewachsenen Mann, der in einem effektvollen Schatten stand, legte er die Waffe ab. Eine Hand glitt aus dem Schatten hervor und tätschelte den Schädel des Tieres. Er winselte freudig und löste sich auf.

Dann trat der Mann aus dem Schatten hervor.

„Das ist ein KI-Biest, richtig?“, stellte Mizuki fest, während er sich die schmerzende Rechte hielt.

„Ein KI-Biest. Entstanden aus einem Hundegeist, der keine Erlösung finden konnte und freiem KI, das ich gesammelt habe, um ihm einen Körper zu geben.“ Der große Mann seufzte schwer. „Er sucht eine Aufgabe, etwas worauf er stolz sein kann. Ich gebe sie ihm.“

„Du hast ihn als Killer abgerichtet?“

„Als Helfer. Er unterstützt mich, wo er es kann. Ich gebe zu, das ist recht oft. Und die Mädchen lieben ihn.“ Der große blonde Mann verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. „Vor allem Yohko ist ganz vernarrt in ihn.“

Die Frau stand auf und war mit zwei schnellen Schritten bei dem Neuankömmling. Sie schloss ihn in die Arme. Dann hielt sie ihn von sich, um ihn genau zu betrachten. „Schön, dich wiederzusehen, mein Sohn. Du hast ein wenig zugenommen. Sorgt Sakura-chan gut für euch? Und wann stellst du uns deine Freundin vor?“

„Moment! Ich habe dieser Beziehung nicht zugestimmt! Was machst du überhaupt hier, Yoshi? Solltest du nicht bei deiner Einheit sein? Sie trainieren? Und was sollte diese pathetische Szene mit dem KI-Biest?“

„Ich dachte mir, wenn wir hier seine Zukunft diskutieren hätte er ein Recht, ebenfalls mitzureden“, meldete sich der Priester zu Wort.

„Und die pathetische Szene mit dem KI-Biest ist entstanden, weil Spike es nicht mag, wenn jemand eine Waffe auf mich richtet. Er hat noch nicht kapiert, dass normale Kugeln mir nichts anhaben können.“

„Willst du mich mit billigen Effekten beeindrucken? Ich bin vielleicht nicht so ein großer KI-Meister wie du, aber meine Fähigkeiten reichen immer noch, um dir eine Lektion zu erteilen!“

Mizuki maß seinen Sohn mit einem wütenden Blick.

„Nun, nun“, sagte Lina und trat zwischen ihre beiden Männer. „Wollt ihr unsere Wiedervereinigung wirklich mit Plattitüden und männlichen Drohgebärden beginnen?“

„Keine Sorge, Mutter. Ich denke, ich weiß, was ich tue.“ Ein spöttisches Grinsen spielte um Yoshis Züge.

„So? Da bin ich aber gespannt.“ Mizuki ging in Abwehrhaltung. „Gib mir deinen besten Angriff, Sohn!“

Yoshi fiel vor seinem Vater auf die Knie und senkte die Stirn bis auf die Arbeit. „VATER, BITTE! Erlaube mir die Beziehung mit Yohko Otomo! Ich liebe sie aus ganzem Herzen und will den Rest meines Lebens mit ihr zusammen sein!“

Der ältere Futabe erstarrte. Er löste seine Abwehrstellung auf und seufzte. „Gut, der Angriff hat gesessen. Das gestehe ich dir zu, Yoshi. Aber deshalb bin ich immer noch nicht überzeugt. Du sollst kein Leben zweiter Klasse führen. Wir Futabes haben eine lange Tradition, und ich will nicht, das sie mit mir endet. Verstehst du mich nicht? Nag Prime ist unendlich weit entfernt, und deine Aufgaben liegen hier.“

„Nein, Vater. Meine Aufgaben liegen da, wo Akira ist.“ Yoshi sah auf. „So wie du es mir vor Jahren gesagt hast. Und daran halte ich mich noch immer.“

Mizuki räusperte sich vernehmlich, um seine Verlegenheit zu überspielen. „Vielleicht denke ich ja mal drüber nach. Wenn du versprichst, mit ihr nicht nach Nag Prime zu ziehen und euren Kindern japanisch statt Nag-Alev beibringst, würde ich vielleicht… Vielleicht zustimmen.“

Yoshi Futabe kam auf die Beine, ging einen schnellen Schritt vor und schloss seinen Vater in die Arme. „Danke, Vater. Danke. Du weißt nicht was mir deine Zustimmung bedeutet!“

Ein wenig peinlich war es dem steifen Japaner schon, von seinem erwachsenen Sohn umarmt zu werden, auch wenn es in einer eigenen Halle ohne Zeugen geschah. Aber er genoss auch dieses Gefühl der Nähe sehr. Außerdem kam ihm diese Szene sehr bekannt vor. Er sah zu seinem Vater herüber, der freundlich lächelte, dann zu seiner Frau, an deren Nasenspitze er absehen konnte, dass sie wieder einmal sehr genau wusste, was er dachte.

Erst langsam, dann nachdrücklich, klopfte er seinem Sohn auf den Rücken.

***

Zwanzig waren es. Zwanzig Auren, die vor Blutdurst und Hass nur so troffen. Und sie wusste es, wusste es sehr genau, sie war das Ziel.

Ihre Gedanken flossen für ihren Geschmack etwas träge seit sie nicht mehr mit dem Hauptcomputer vernetzt war, aber es war noch schnell genug, um ein paar Dinge zu begreifen. Erstens, es wollte sie jemand tot sehen. Zweitens, dieser jemand war schlau vorgegangen und hatte gewartet, bis die neue Turmspitze integriert und das Computersystem abgeschaltet wurde. Dadurch war sie blind, taub und wehrlos. Drittens, ihre potentiellen Mörder kamen näher, immer näher.

Unruhe wühlte in ihrem Geist. Blind, taub, wehrlos, und außerdem stumm. Warum war sie so nachlässig gewesen und hatte keine Posten vor ihren Tank gerufen, bevor sie das Netz abschaltete? Nun büßte sie für den Fehler mit ihrem Leben.

Nun würde sich alles erübrigen, was sie bisher im Tank vermisst hatte. Aber sie würde noch mehr verlieren. Abgesehen davon dass sie ihre Kinder nicht berühren konnte, würde sie Akira und Yohko auch nicht mehr SEHEN können, wenn sie hier starb.

Und ihr Traum, doch irgendwann wieder an Eikichis Seite leben zu können würde nie in Erfüllung gehen.

Der Widerwille regte sich nur langsam in ihr, aber er war plötzlich da. Dieses Gefühl, etwas zu verpassen, dass etwas nicht so erfolgte wie sie es sich von Herzen wünschte, das da etwas war… Wofür es sich zu kämpfen lohnte!

Vom Funken war es ein unendlich langer Schritt zum glühen. Darauf folgte ein strahlendes Glimmen, entfacht von ihrem Willen zu überleben und genährt vom Wunsch, jene die sie liebte mit ihren eigenen Augen sehen zu können.

Während die KI-Schatten immer näher kamen, erinnerte sich Helen Otomo daran, dass sie selbst einmal eine KI-Ausbildung erhalten hatte und das sie eine fähige KI-Meisterin gewesen war, die ihrem Vater hatte das Wasser reichen können. Also wurde das Glimmen ein flackerndes Feuer, welches mit jedem Herzschlag mehr aufloderte.

Sie wollte leben! Sie würde leben! Sie MUSSTE leben!

Dann war das flackernde Feuer eine Feuersbrunst, die sie von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz erfüllte! Einen Augenblick später fiel sie ins Bodenlose.
 

Luka Maric fing die junge Frau auf, die zusammen mit einem Schwall Nährflüssigkeit aus dem Tank geschossen kam, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Der Berater und wichtigste Vertraute von Oren Arogad sah kurz nach hinten. „Sie ist bei Bewusstsein, Oren.“

Der derzeitige Hausratsvorsitzende nickte und gab damit einem mehrköpfigen Sanitäterteam den Befehl, seine Enkelin medizinisch zu versorgen.

Die Männer und Frauen lösten die Anschlüsse von ihren Leib, entfernten die Atemmaske und den Kunststoffmantel, in den sie gehüllt gewesen war. Kurz darauf saß sie, nießend und hustend auf einer Liege, mit einer dicken Decke auf der Schulter.

Oren kniete sich vor ihr nieder und sah sie besorgt an. „Helen, mein Schatz, geht es dir gut? Erkennst du mich?“

„Natürlich erkenne ich dich. Ich habe dich hunderttausendmal gesehen, wenn ich mit meinem Avatar durch den Turm gereist bin.“ Erschrocken hielt Helen inne. War das ihre Stimme gewesen? Merkwürdig. Sie klang genauso wie die synthetische Stimme, die sie mit Hilfe des Computers konstruiert hatte.

„Bist du in deiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt? Verspürst du Taubheit, Beklemmung, etwas das nicht ist wie es sein sollte?“

Wieder nieste Helen Otomo. Verdammt, die Nährflüssigkeit musste ihr in die Nase gedrungen sein. „Ich fühle mich etwas schwach, aber gut.“

Nach einem weiteren Nieser musterte sie die beiden Männer böse, von denen man im Turm sagte, eigentlich hätten sie als Zwillinge geboren werden sollen.

„Ihr zwei! Soll man bei einem Alter von zweitausend Jahren noch solche Streiche aushecken? Mich mit fingierten KI-Bildern zu erschrecken, damit ich glaube mein Leben sei in Gefahr. Alles nur, damit ich den Tank verlasse.“ Sie sah Luka böse an. „Du hast die KI-Projektionen gemacht, Onkel Luka.“ Dann ging ihr Blick zu ihrem Großvater. „Und du hast alles organisiert, Opa!“

Die beiden Männer fanden die Decke plötzlich sehr interessant.

„Danke“, brummte Helen unwirsch und musste erneut niesen. „Ich glaube, ich habe so einen Kick gebraucht, damit ich endlich selbst aus meiner Lethargie rauskomme. Es war wohl zu bequem im Tank…“

„Es ist in Ordnung, Helen. Nun geh dich waschen, lass noch ein paar Checks von den Medizinern durchführen, iss etwas und schlaf erstmal. Danach wirst du dir erstmal alles ansehen, was du nur durch Kameras kanntest. Ist das in Ordnung, Helen?“

Für ein paar Sekunden schien sie wieder verärgert zu sein, aber dann strahlte sie mit ihrem Lächeln derart, dass den beiden alten Männern das Herz überging. „Natürlich, Großvater.“
 

Als der Zug aus Helen Otomo und den Medikern den Raum mit dem zerborstenen Biotank verlassen hatte, trat eine dritte Person dazu. Agrial Logodoboro runzelte die blasse Stirn und nickte dann anerkennend. „Ahnt sie auch nur, welch großes Potential sie in sich trägt? Helen ist etwas sehr besonderes. Es wundert mich nicht, dass sie Akiras und Yohkos Mutter ist.“

„Sie neigt dazu, etwas zurückzustecken. Aber wenn es sein muss handelt sie kompromisslos“, erwiderte Oren ernst. „Sie ist ein Mensch, der für sein Leben gerne gibt. Ein Mensch, dem man nichts anderes wünscht als alles Gute in dieser Welt. Deshalb bin ich dir dankbar, dass du uns dabei geholfen hast, sie aus ihrer Stasis zu wecken, Agrial.“

„Luka hatte den größeren Anteil. Ich habe die AO-Felder lediglich so weit modifiziert, um den Blutdurst zu simulieren. Das war keine große Aufgabe, Oren.“

„Keine große Aufgabe, sagt sie“, brummte Luka. „Demnächst hält sie Meister Tevell noch für ein kleines unreifes Mädchen.“

Agrial hüstelte verlegen. „Nun.“

„Ich will es gar nicht wissen. Überhaupt nicht wissen.“ Ergeben warf Luka Maric seine Arme in die Luft und verließ den Raum. „Ich bin in meinem Büro.“

Agrial schmunzelte. „Ein guter Mann. Und auch Helen ist ein guter Mensch. Es war mir eine Ehre, ihr helfen zu können, Oren. Warum können nicht alle Naguad, alle Iovar und alle Menschen so sein wie sie?“

Oren grinste. „Wer weiß, vielleicht werden sie das eines Tages ja.“

„Träumer“, tadelte sie mit einem Lächeln.

„Schuldig im Sinne der Anklage.“

***

Alles ging so furchtbar schnell, so präzise, so fix.

Bevor sich Aris Taral versah, hatte er bereits drei der hervorragend trainierten Angreifer getötet, einen weiteren von Megumis Seite abgedrängt den fünften zum Kampf gestellt. Bevor er richtig Atem schöpfen konnte, war die kurze, intensive Schlacht auch schon wieder vorbei.

Schwer atmend sah er in die Runde. „Wer noch lebt soll laut hier schreien.“

„Hier!“ „Hier.“ „Hier.“ „Hier.“

Aris sah auf. „Megumi?“

„Was bilden sich diese Idioten ein? Das ich ein Wachspüppchen bin? Ich bin Kampfpilotin, trainiert für Dutzende Arten des Kampfes mit und ohne Waffen! Wie kann man nur so dumm sein und mich attackieren?“

Aris wandte sich um. Megumi stand zornbebend vor drei Angreifern, die sich vor Schmerz auf dem Boden wälzten. Ihre Augen versprühten Funken und ihre Fäuste waren noch immer angriffslustig vorgestreckt. „Ich hätte diese langsamen Idioten mit Leichtigkeit töten können! Dazu brauchte ich nicht einmal meine KI-Fähigkeiten!“ Wütend knurrend schritt sie über die von ihnen besiegten Männer hinweg.

Einer von ihnen zog aus dem Ärmel eine Klinge hervor. Doch Megumi blieb nur stehen und sah ihn an. Dieser Blick war so eiskalt, dass Aris Taral meinte, der Boden rings um den Mann müsse sich in Eis verwandelt haben.

„Versuch es ruhig, wenn du sterben willst, Kleiner.“

Ergeben ließ der Attentäter das Messer fallen.
 

Während hinter ihnen aufgeräumt wurde, zählte Aris seine Leute durch und stellte zufrieden fest, das keiner ausgefallen war. Nun, bei Fioran-Attentätern hatte er das auch nicht anders erwartet. Aber er war doch sehr ärgerlich darüber, dass es tatsächlich drei Angreifer bis zu Megumi geschafft hatten. Die Frau, die er beschützen sollte.

„Das waren ein paar hervorragende Techniken, Cousinchen“, sagte Sostre und reichte ihr einen heißen Kaffee. „Hier, dem Sieger die Beute.“

„Danke.“ Sie griff ein wenig zu hastig nach dem Becker und konnte das Zittern ihrer Hände kaum unterdrücken.

Doch Aris begriff, das dieses Zittern nicht aus Angst entstand, sondern aus einem Überschuss an Adrenalin.

„Wurden Sie als Leibwächter trainiert, Lady Kalis?“, fragte Aris ernst.

Megumi sah auf. „Seit wann siezt du mich, Onkel Aris? Bleib ruhig beim du.“

„Ich bin mir nicht so sicher, ob das ungefährlich ist“, scherzte der Bluthund, hatte ihr Lachen auf seiner Seite und schon gewonnen.

Megumi pustete in ihren Kaffee und lächelte wehmütig. „Es ist schon sechs Jahre her, da hat Akira mir das Leben gerettet. Ich wurde von drei Daishis angegriffen. Meine Eltern waren wenige Sekunden zuvor gestorben und ich glaubte, ich müsse ihnen folgen. Dann war Akira in Primus da, und rettete mein Leben. Ich hatte nach ihm gerufen, gefleht das er kommt um mich zu retten. Und dann war er plötzlich da und machte Hackfleisch aus den Daishis, die mich angegriffen hatten. In diesem Moment hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich würde nun meinerseits Akira beschützen, auf ihn achten, für ihn da sein. Das hat nicht immer geklappt, vor allem nicht so wie ich es mir gewünscht habe, aber damals hat mir Onkel Jerry eine Leibwächterausbildung angedeihen lassen. Zusammen mit meinem Kampf- und Waffentraining war das ein enormes Paket, aber ich möchte diese Zeit nicht missen.

Ich weiß nicht, ob es an diesem Training liegt oder an der Nahkampfausbildung, aber ich bin nun mal nicht so leicht zu besiegen. Und vor allem kann mich niemand töten, bevor ich nicht Akira gefunden habe. Vorher darf ich einfach nicht sterben!“

„Hey, Hey, nun werde mal nicht depressiv“, warf Sostre ein. „Sobald wir losgeflogen sind, folgen wir einfach den Explosionen, und Schwupps haben wir ihn gefunden.“

„Nett, dass du mich aufheitern willst, Sostre“, sagte Megumi und lächelte, bevor sie noch einen Schluck Kaffee trank. „Und ich hoffe, wir kriegen von den Iovar die Koordinaten der Core-Welt, die wir suchen, um dort nach Hinweisen zu suchen, wo Akira gefangen gehalten wird. Aber ich bezweifle doch, dass Akira diesmal so leicht zu finden ist. Der Core ist gefährlich, geheimnisvoll und groß.“

„Unterschätzt du den Jungen da nicht ein wenig?“, warf Sostre mit einem Lächeln ein.

„Überschätzt du ihn nicht ein wenig? Er ist auch nur ein Mensch“, erwiderte Megumi mit einem schmalen Lächeln.

„Er ist nicht nur ein Mensch. Er ist der Mensch, den du liebst, Megumi. Und alleine das gibt ihm eine Unterstützung, die ihn zu etwas ganz besonderem macht.“

Misstrauisch beäugte Megumi ihren Verwandten. „Sag mal, du willst doch nichts von mir, oder? Nicht die Venus oder die Monde des Jupiters, oder sonst etwas ausgefallenes?“

„Wo denkst du hin? Glaubst du ich versuche dich aufzubauen, um ein paar lausige Planeten oder Monde abzustauben?“ Sostre winkte ab. „Deimos mitsamt der Großwerft reichen mir völlig.“

Megumi lachte auf. „Blöder Kerl.“

„Immerhin bin ich nicht so schlimm wie Akira. Zählt das nicht?“

Wieder lachte sie. „Doch. Das zählt.“

Aris Taral schmunzelte. Und er fühlte Zuversicht. Eine unglaubliche Zuversicht. Was sollte denn hier jemals schief gehen? Diese jungen Leute konnten alles erreichen, wenn sie sich nur den Herausforderungen stellten.

Und er hatte das Privileg, dabei zu sein. Das machte ihn stolz.
 

Epilog:

Als das Ärzteteam Ai Yamagata aus dem Tank befreit hatte, gaben sie die junge Frau nach einem ersten medizinischen Checkup zur Befragung frei.

Doch die erste war Gina. Sie schloss die Japanerin in die Arme und störte sich weder an der noch an Ai haftenden Flüssigkeit, noch an den Polymer-Resten. „Wo warst du nur? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Ai. Tu mir das bitte nie wieder an, hörst du?“

„Es ist schön, dich wieder mit meinen eigenen Augen zu sehen“, erwiderte die Asiatin. „Aber jetzt ist keine Zeit für eine Wiedersehensfeier. Ich war an einem unglaublichen Ort. Und ich bringe eine dringende Nachricht für Megumi.“

„Hä? Was für ein Ort?“

„Später. Ich erzähle später alles. Kann ich vorher eine Verbindung zu Megumi bekommen?“

Wortlos zückte Gina ihr Handy und reichte es der Japanerin. Die Nummer war schon vorgewählt.

Nach ein paar Sekunden hatte Ai Kontakt. „Ich bin es. Ja, ich bin gerade aufgewacht. Nein, ich werde wohl nicht in den Tank zurückmüssen. Megumi. Megumi. Megumi! Danke. Ich habe dir etwas wichtiges zu sagen. Wir müssen sofort aufbrechen, oder wir sind zu spät! Was? Ja, ich erkläre es später ausführlicher. Aber jetzt müssen wir los! Was? Ja, danke. Danke. Ja, ich bin da. Danke. Tschüss.“

Ai legte auf und reichte das Handy an Gina zurück.

„Und? Hattest du Erfolg? Fliegen wir ab?“

Alarm brandete auf und verkündete, dass der Antrieb der AURORA in Betrieb genommen wurde. Ai lächelte. „Ich denke schon.“

Von Völkern und Familien

Prolog:

„Wir müssen etwas tun! Wir müssen doch irgendetwas tun! Es waren die KI-Meister, die den Angriff auf mein Land abgelenkt haben! Und jetzt lassen Sie all diese KI-Meister mit der AURORA fliegen? Wir haben weder das Gigantschiff identifiziert noch gestellt! Das ist Wahnsinn, schlicht und einfach Wahnsinn!“

Eikichi Otomo runzelte die Stirn. „Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie nicht mehr Teil der UEMF sind, Mr. President? Im Gegenteil, auf Ihrem Staatsgebiet laufen mehrere hundert Klagen gegen meine Organisation, und sogar der internationale Gerichtshof in Den Haag hat einige äußerst schwere Klagen zu bearbeiten, die Ihre Regierung eingereicht hat.“

„Und es wird noch Verrat an der Menschheit hinzu kommen, wenn Sie diesen Wahnsinn nicht beenden! Die AURORA mag ja hinfliegen wo sie will, aber ich verlange, dass die KI-Meister unter Ihrem Kommando auf der Erde bleiben!“

„Wie ich schon sagte, Sie sind aus der UEMF ausgetreten. Sie haben nichts zu verlangen.“

„Es gebietet ja wohl schon der gesunde Menschenverstand, dass wir unsere stärkste Verteidigung nicht so einfach fortschicken dürfen! Immerhin sollen die Mannschaften der AURORA und der Begleitschiffe noch eine Erde haben, zu der sie zurückkehren können. Und vergessen Sie nicht, es dienen noch eine Menge tapferer Amerikaner an Bord dieser Schiffe!“

„Amerikaner, gegen die zivile und militärische Gerichte wegen Landesverrats Klagen angenommen haben.“

„Das tut doch jetzt nichts zur Sache! Wichtiger ist doch, dass Sie einsehen, dass es gegen dieses Riesenschiff nur eine Verteidigung gibt, und diese nehmen Sie der Erde gerade, Direktor Otomo!“

„Abgelehnt, Mr. President.“

„Was?“ „Ihr Ansinnen wurde soeben von mir abgelehnt. Die AURORA verlässt wie geplant das System.“

„Das ist Wahnsinn! Purer Wahnsinn! Otomo, seien Sie kein Narr! Auch Ihr OLYMP wäre ohne die KI-Meister zerstört worden!“

„Nun, es ist kein Wahnsinn, und ich bin auch kein Narr. Im Gegenteil. Denken Sie mal drüber nach. Guten Abend, Mr. President.“

Eikichi deaktivierte die Videoleitung und atmete schwer durch.

„Du bist ein bemerkenswert böser Mensch, Eikichi“, sagte Jerry Thomas amüsiert.

„Warum? Weil ich ihm lediglich ein paar kleine Hinweise gegeben habe?“

„Ja. Warum hast du ihm nicht gesagt, dass längst nicht alle KI-Meister mit der AURORA fliegen werden?“

„Warum, bitte schön, sollte ich ausgerechnet Wilson etwas gutes tun?“

Jerry lachte. „Siehst du? Genau das meine ich. Und du bist sicher, die KI-Meister, die du auf der Erde behältst werden reichen?“

„Sag du es mir.“

„Vielleicht werden sie, vielleicht werden sie nicht.“

„Siehst du. Aber ich kann mit Gewissheit sagen, dass die AURORA ihre Mission nicht schaffen wird, wenn die Zahl ihrer KI-Meister reduziert wird.“ Er seufzte. „Der Flug wird schwer genug.“

„Das glaube ich auch. Immerhin suchen sie Akira und den Core.“

Die beiden Männer taxierten sich einen Augenblick. Auf der einen Seite der Japaner mit dem Hauch Naguad- und Dämonenblut in den Adern, auf der anderen Seite der Amerikaner, der in Wirklichkeit ein über vierhundert Jahre alter Naguad war.

„Vielleicht sollten wir auch einfach warten, bis der Core ihn wieder freiwillig rausrückt“, murmelte Jerry amüsiert.

„Wie kannst du nur so über meinen Sohn sprechen?“, sagte Eikichi streng, während sich rund um seine Augen Lachfältchen zeigten.

„Erfahrung, Erfahrung.“

Wieder sahen sie sich an und begannen lauthals zu lachen. Auch wenn es Akira gegenüber unfair war so zu reden, es tat manchmal gut, die Hoffnungen in ihn völlig zu übertreiben.

Und so fand der Lieutenant Colonel, der Eikichi als Adjutant diente, die beiden Männer hämisch grinsend vor. „Witze über Commander Otomo, Sir?“

Der Executive Commander der UEMF räusperte sich vernehmlich. „Was gibt es, Willard?“

„Über die Standleitung nach Nag Prime kam eine kodierte Nachricht. Ich habe sie gerade dechiffrieren lassen und bin sofort gekommen, als ich den Originaltext in Händen hatte. Hier, bitte, Sir.“

Ein Papierdokument wechselte den Besitzer. Aufmerksam las Eikichi zuerst die fünfhundert Zeichen Datenmüll und dann den eigentlichen Text bevor erneut Datenmüll kam. Dann schloss er die Augen und ließ sich nach hinten in seinen Stuhl sacken.

„Was ist los, Eikichi?“

„Sie ist wach. Sie hat den Tank verlassen, Jeremy. Helen ist wieder draußen.“

Willard hatte erwartet, Freude bei den beiden Männern zu sehen, genauso wie er sich für sie freute. Stattdessen war da nur grimmige Entschlossenheit bei Commander Thomas und ein wenig Erleichterung bei Eikichi Otomo.

„Es geht also los“, stellte Thomas fest.

„Ja. Endlich.“
 

1.

Zwischen der AURORA und der Erde fand ein reger Verkehr statt. Schnelle Einheiten wie Korvetten pendelten zwischen der Mutterwelt der Menschheit und dem Gigantschiff hin und her, um letzte Vorräte und Personal zu bringen, bevor der Riese auf Höhe der Jupiterbahn ins Ungewisse sprang. Das Ziel war Groombridge, eine System bestehend aus zwei roten Zwergsonnen vom M-Typ. Nun, das war von Vorteil. Die niedrige Gravitation der Zwergsonnen bedeutete, dass die AURORA relativ nahe an das Zwillingspaar heranspringen konnte. Außerdem waren die Zwergsonnen leicht zu umfliegen, um den Absprungpunkt ins Kaiserreich zu erreichen. Die Zeitersparnis war enorm.

Aber wer hatte es schon eilig, in die Hölle zu fliegen?

„Der nächste Sprung führt uns zu einer unkartographierten gelben Normsonne.“ Tetsu Genda sah in die aufmerksamen Gesichter der versammelten Offiziere und Bürger der AURORA und nickte zufrieden. „Unser Ziel ist es, mit dem nächsten Sprung Arcturus zu erreichen. Damit befinden wir uns bereits tief im von unseren Naguad-Freunden kartographierten Gebiet des Kaiserreichs. Unsere Route führt uns weitestgehend über Systeme ohne Planeten, um der Aufmerksamkeit des Cores zu entgehen, außerdem wissen wir nicht genau, wie wir im Kaiserreich aufgenommen werden. Reich und Imperium unterhalten zwar einen regen Grenzhandel in der Zwischenzone ihrer Staaten, aber Naguad wird es selten gestattet ins Kaiserreich zu fliegen, und umgekehrt erhalten Iovar selten die Erlaubnis, das Imperium zu betreten. Die einzige Sache die wir definitiv sicher wissen ist, dass die Kommunikation innerhalb des Kaiserreichs mit Hilfe eines Systems aus schnellen Kurierschiffen erfolgt. Es scheint als würde die kaiserliche Familie ihrer eigenen Bevölkerung nicht genug trauen, um ein ähnliches System einzurichten, wie es die Naguad seit gut zweitausend Jahren betrieben haben, bei dem sie allen Schiffen, die aus einem System springen, sämtliche relevanten Nachrichten mitgeben. Etwa paranoid, die Bande.“

„Wem sagen Sie das?“, warf Meras Yukow ein, der Arogad-Kapitän der GARRET.

Vereinzelt erklang Gelächter.

Tetsu wartete einen Moment, bis das lachen abgeebbt war, dann nahm er den Faden wieder auf. „Wie sie alle wissen, dient diese Expedition dazu, im Kaiserreich nach Spuren des Cores zu forschen. Dazu werden wir jene Welt anfliegen, die vor zweitausend Jahren in einer gemeinsamen Operation von kaiserlichen und imperialen Streitkräften angegriffen wurde, um einen Core zu erobern. Die Naguad nennen diese Welt Yossha.

Sie wurde nach dem erfolgreichen Angriff und dem Abtransport des Cores wieder aufgegeben und wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass entweder der Core nach dem Abzug der Flotte alle verwertbaren Dinge abtransportiert und alle Spuren beseitigt hat, oder sich erneut auf dieser Welt festgesetzt hat. Dennoch ist diese Welt unser Ziel.“

Tetsu ballte die Hände zu Fäusten. „Wir werden im Kaiserreich höflich um die Erlaubnis bitten, diesen Planeten anfliegen zu dürfen, um dort nach Spuren zu suchen, die uns tiefer ins Gebiet des Cores bringen werden – aber ich habe keinerlei Problem damit, den Weg notfalls zu erzwingen. Zu diesem Zweck wurden zwei weitere Hammer des Hephaistos auf der AURORA installiert.“

Aufgeregtes Raunen der Offiziere antwortete ihm, zumindest von jenen, die diese Waffe bereits in Aktion erlebt hatten.

„Die strukturelle Integrität der AURORA und die Energieversorgung sind weiterhin gewährleistet, keine Sorge. Wir dürfen nur nicht alle drei Waffen zugleich abfeuern, sonst sitzt Fushida City ein paar Stunden im Dunkeln“, scherzte der Skipper der AURORA.

Wieder wurde gelacht, und Tetsu Genda räusperte sich verlegen. „Wir springen in exakt einer Woche, drei Stunden und fünfzehn Minuten. Für unsere drei Etappen bis Arcturus veranschlage ich vier Wochen. Groombridge will ich in vier Tagen durchquert haben, besser wären drei. Fragen hierzu?“

„Kommodore, wann erfolgt Ihre Beförderung zum Konteradmiral?“

„Bitte nur Fragen, die mit dem Sachverhalt zu tun haben, Admiral Takahara“, tadelte Tetsu.

Kei schnaubte enttäuscht. „Ist ja nicht so als wenn du es nicht verdient hättest.“

Wieder wurde gelacht.

„Andere Fragen, vielleicht?“

„Wird Joan Reilley ein Konzert zum Abflug geben?“

Ungläubige Augen schossen zum Skipper des Fioran-Schiffs NERIABAN herüber.

Kelso Varinest sah unschuldig in die Runde. „Was ist? Ich bin halt ihr Fan. Ist das falsch? Ihr legendäres Konzert, das sie nach der Elwenfelt-Friedensrede auf Lorania gegeben hat, ist auf Nag-Alpha immer noch auf Platz eins der Album-Charts. Und auf Platz eins der Video-Charts. Und auf…“

„Kapitän Varinest, Ihre Begeisterung in allen Ehren, aber das tut nun wirklich nichts zur Sache.“

„Natürlich, Sir. Verzeihung, Sir.“

„Aber ja, sie wird ein Konzert geben, Kelso.“

Der Fioran strahlte über das ganze Gesicht. „Danke, Sir.“

„Oh, danken Sie nicht mir, danken Sie Joan Reilley. Weitere Fragen? Ja, Kommodore Smith?“

„Hat schon mal jemand ernsthaft darüber nachgedacht, dass der Core uns Commander Otomo irgendwann freiwillig übergeben wird? Wenn wir einfach nur warten, dann…“ Roger Smith zog den Kopf ein, um den Protest der anderen abzumildern, aber niemand sprach. Erstaunt sah der Amerikaner in die Runde. Allenorts machten die Menschen, Naguad und Anelph nachdenkliche Gesichter. „Ach kommt! Ihr denkt da doch jetzt nicht ernsthaft drüber nach, oder?“

„Es ist nicht völlig unmöglich“, sagte Sakura Ino ein wenig zu schroff. „Und wer weiß schon, was Akira genau in diesem Moment anstellt? Ich meine, er hat zwei Angriffe auf den Mars geflogen, ist aus einem kronosischen Supercomputer ausgebrochen, hat Nag Alpha auf den Kopf gestellt, vom Kanto-System wollen wir gar nicht erst reden. Vielleicht bringen sie ihn uns wirklich zurück.“

Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann klang lautes Gelächter auf.

Nein, die im Besprechungsraum versammelten Offiziere hatten nicht wirklich mit dieser Möglichkeit kokettiert. Oder?

***

Ich nieste. Nun, das war normalerweise nichts besonderes. Aber im Moment hatte ich keinen Körper, sondern besaß nur ein Formbild aus freiem KI, befand mich zudem innerhalb des Computernetzwerk des Cores. Also hätte ich nicht niesen dürfen. Eigentlich. Aber ich hatte geniest. Ein Bug im System?

„Akira, ist alles in Ordnung mit dir? Was war das? Eine Fehlfunktion der holographischen Struktur?“

Ich grinste schief. „Keine Sorge, Aris, da hat wohl nur jemand an mich gedacht.“

Das Mädchen mit den langen braunen Haaren sah mich irritiert an. „Das verstehe ich nicht.“

Ich seufzte leise. Ich vergaß immer viel zu schnell, dass ich es bei der Herrin des Paradies für Daina und Daima mit einer lebensuntüchtigen, verwöhnten, unerfahrenen, aber hoch intelligenten Person zu tun hatte. „Es gibt ein Sprichwort auf der Erde. Wenn man ohne Grund niest, dann weil jemand intensiv an ihn gedacht hat.“

„Oh. Und gerade hat jemand intensiv an dich gedacht? Wie interessant. Wie weit reicht die Methode? Kann man sie benutzen, um die Annäherung von Freunden zu definieren?“

„Aris“, mahnte ich die Herrin des Paradies. „Es ist nur eine Redensart.“

„Ich verstehe das nicht. Was ist eine Redensart?“

„Du steckst wirklich schon viel zu lange in diesem System drin. Du solltest deinen Tank mal verlassen und dich unter einer vollkommen fremden Stadtbevölkerung bewegen. Du würdest dich wundern, wie schnell du neue Dinge lernst. Und die ganzen fremden Gerüche, Geräusche und Eindrücke würden dir auch gut tun.“

„Meinen Tank verlassen? Akira, was sagst du denn da? Das kann ich doch nicht.“

„Wie, das kannst du nicht? Der Core wird auch einmal ein paar Stunden ohne seine Herrin existieren können.“ Sanft strich ich ihr über die Wange. „Willst du es denn nicht wenigstens mal versuchen?“

Sie lächelte mich fröhlich an. „Ich glaube, das habe ich falsch formuliert. Es geht nicht nur darum, dass ich es nicht kann. Ich habe keinen Körper, Akira.“

Ich erstarrte. Mit vielem hatte ich gerechnet, nicht aber, dass die junge Frau, der ich einen Namen gegeben hatte, nur noch als Gehirn existierte. Ich fühlte tiefe Erschütterung bis auf den Grund meiner Seele. „Warum hast du dich entkernen lassen?“

„Entkernen? Wovon redest du?“

„Wann hat man dein Gehirn entfernt?“

„Mein Gehirn? Ich habe nie eins besessen.“

Normalerweise hätte ich bei einer solchen Vorlage ein paar mehr oder weniger gute Witze gemacht, aber die junge Frau hatte mir jeden Wind aus den Segeln genommen. Ich fühlte große Trauer und abgrundtiefes Grauen. Was passierte hier? Was war mit Aris los?

Ich fühlte mich plötzlich sehr müde und ließ mich in das Gras fallen.

„Akira? Stimmt schon wieder etwas nicht mit dir?“

„Nein, nein. Ich möchte nur einen Augenblick hier im Gras liegen. Wenn du willst, kannst du ja schon vorgehen. Ich hole dich dann ein und setze meinen Bericht fort.“

Die Herrin des Paradies der Daina und Daima zuckte mit den Achseln. „Wenn du meinst, Akira.“
 

Ich sah ihr nach, wie sie gelassen über die grüne Wiese schlenderte. Ihr schwarzes Kleid bildete dabei einen scharfen Kontrast zur Umgebung. Bei allen Dämonen von Kuzo-sama, was wurde hier nur gespielt?
 

Ein Schatten schob sich zwischen mich und die projizierte Sonne. Eine große schlanke Frau in einem schwarzen Kleid mit enger Kapuze sah auf mich herab. „Sorgen, Akira Otomo?“

„Ich mache mir nur Gedanken, Kiali.“ Ich richtete mich auf und sah Aris nach. „Was ist sie, Kiali?“

Das Gesicht der Matrone verzog sich zu einem dünnen Lächeln. „Du hast also herausgefunden, dass sie keine normale Daina oder Daima ist.“ Die große Frau seufzte. „Um ehrlich zu sein, ist sie beides nicht. In keinem Sinne.“

Interessiert setzte ich mich auf. Zugleich ließ sich die große Frau neben mir nieder. „Die Prinzessin ist… Aris ist kein Mensch in dem Sinne, den du oder ein Dai benutzen würde. Sie hat nie im Bauch einer Mutter geruht, und sie hat mehr als einen Vater und mehr als eine Mutter. Und sie ist… Noch nicht viel mehr als ein Neugeborenes.“

Ich blinzelte. Irgendetwas furchtbares erwartete mich, das war sicher. „Rede bitte weiter.“

„Sie ist die Summe all derer, die sich im Paradies befinden. Jedes lebende Wesen hat ein wenig AO gespendet, um sie zu erschaffen. Und ich habe dann ihren leeren Geist gefüllt, bis wir den Punkt erreicht hatten, an dem sie anfangen musste, selbstständig zu denken und selbst Entscheidungen zu treffen. Es war der Punkt, an dem aus dem Avatar, der die Summe all dessen war, was das Paradies bewohnt, die Herrin des Cores wurde. Sie hat sich seitdem sehr gut entwickelt. Sie hat viel aus den Fehlern, die ich gemacht habe, gelernt. Ich hoffe, sie wird diese nicht wiederholen.“

„Du wurdest ebenso erschaffen, richtig? Du bist die Summe all jener, die zu deiner Zeit das Paradies bewohnten.“ Ich schoss ins Blaue, aber ich wusste irgendwie, dass ich Recht hatte.

„Ja“, gestand sie schonungslos. „Ich war einst auch die Prinzessin des Cores, und ich habe die meinen in einen endlosen Krieg geführt, um die Wirkungsstätten der Dai zu erreichen. Ich habe es dreitausend deiner Jahre versucht, und dabei mehr verloren als gewonnen.“ Sie seufzte schwer. „Mit den Raegi-Core habe ich dreißigtausend Daima verloren. Ich war für ihren Schutz da, und ich habe versagt. All die Jahre wollte ich es wieder gut machen, aber schließlich musste ich einsehen, dass ich nicht mehr der Summe des Paradieses entsprach. Im Gegenteil, ich war schon viel zu sehr eine eigenständige Persönlichkeit geworden. Darum erschuf ich sie, das Mädchen, das du Aris genannt hast.“

„Wie lange ist das her? Wie lange ist sich Aris ihrer selbst bewusst?“, fragte ich geradeheraus.

„Nicht ganz ein Jahr deiner Zeit.“

Ich hatte eine solche Antwort erwartet, dennoch erschütterte sie mich maßlos. „Sie hat kaum zu leben begonnen, und muss schon einen Krieg führen.“

Kiali schmunzelte. „Den Krieg führst du, Akira. Das war ihre wichtigste und beste Entscheidung.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich will die Methode des Cores nicht in Frage stellen. Vielleicht ist es die demokratischste und beste Lösung, um einen Befehlshaber für alle zu erschaffen, indem man ihn von allen nimmt, aber dieses Mädchen, dieses Leben hat noch nichts erlebt und nichts gesehen. Sie ist nicht mehr als Laysan, der von seinen Eltern missbraucht wurde, um für mein KI den Container zu spielen.“

„Es ist unsere Art. Und auch sie wird eines Tages eine eigene Identität entwickeln, und wenn sie irgendwann einmal merkt, dass sie nicht mehr den Core repräsentiert, wird sie eine weitere Prinzessin erschaffen. Und wenn dies geschehen ist und die Prinzessin genug gelernt hat, wird sie einen Tag bestimmen, an dem sie sich wieder in all die abermillionen AO-Fragmente auflöst.“

„So wie du es wirst, oder?“

Kiali nickte schwer. „So wie ich es werde, Akira Otomo.“

Mitfühlend sah ich sie an. Meine Hand glitt über das Gras, während ein leichter Wind durch mein Haar ging. „Du hast es auch nie gespürt, oder? Wie sich echtes Gras anfühlt, wie der Wind kalt und schneidend deine Haut rötet, was es bedeutet, sich gegen schweren Regen zu stemmen. Hast nie Todesangst gehabt und dich nie so sehr gefreut, dass du dich vor Lachen kaum halten konntest. Du bist alt, aber du hast sehr wenig erlebt, Kiali.“

Die große Frau lächelte gütig. „Ich kann den Core nicht verlassen, Akira. Aber ich bin dir dankbar dafür, dass du in unser Paradies gekommen bist, denn dank dir konnte ich lachen. Herzhaft lachen. Ich weiß, es ist gemein Aris gegenüber, aber als sie mir empört erzählt hat, dass du ihr einen Kuss gegeben hast, da musste ich lachen. Lang und laut. Ich habe mir den Bauch gehalten und den Kopf abgestützt. Vielleicht kommt das dem Gefühl, einen Körper zu haben, noch am nächsten.“ Sie nickte mir zu. „Danke dafür, Akira Otomo.“

„Vielleicht finden wir ja doch mal einen Weg, mit dem du und Aris den Core verlassen können. Und sei es nur für eine kurze Zeit.“ Nachdenklich legte ich mich ins Gras und sah in den blauen Himmel über mir. „Maltran?“

Wie hingezaubert stand mein Adjutant neben mir. „Was kann ich für dich tun?“

„Wie ist die Lage?“

„Unverändert. Du kannst dir Zeit lassen. Unsere Verbündeten sind zudem immer noch dabei, sich zu sammeln.“

Ich lächelte schwach. „Immerhin. Was macht das Pamphleth?“

„Wir entsenden Raider in die umgrenzenden Systeme, um es zu verbreiten. Die Iovar sind vorsichtig, aber es gibt wieder einmal positive Reaktionen.“

„Das sind gute Nachrichten. Was macht mein Kleiner?“

Maltran musste schmunzeln. „Er fasst alles an, was in seiner Reichweite ist. Aber anstatt ihm das zu verbieten habe ich ihm zwei Offiziere zur Seite gestellt, die ihm alles was ihn interessiert erklären. Soweit es sein kindlicher Verstand aufnehmen kann.“

„Das klingt doch gut.“ Ich richtete mich auf und erhob mich. Dann bot ich Kiali eine Hand um ihr beim aufstehen zu helfen.

„Ich werde meinen Bericht bei der Herrin beenden, Maltran. Danach kehre ich zurück auf mein Flaggschiff. Habe ein Auge auf Laysan. Ich möchte später noch ein Flaggschiff haben, auf das ich zurückkehren kann.“

„Ha, ha. Sehr witzig, Akira“, erwiderte der Core-Offizier eingeschnappt.

Ich lachte und klopfte dem Mann, der mein Freund geworden war, auf die Schulter. Dann wandte ich mich ab und ging Aris hinterher. Kiali begleitete mich. Hatte ich mir das eingebildet, oder hatte die ehemalige Herrin des Paradies der Daina und Daima ebenfalls gelacht?
 

2.

„Ma´am?“ „Ich brauche die Berichte bis heute Abend Punkt zwanzig Uhr Bordzeit. Ich habe keine Lust wegen Ihnen Überstunden zu schieben, Commander.“

Kapitän Winslow, Kommandant des Kreuzers STADTHAGEN, dem neuesten Exemplar der Bismarck-Serie, lächelte dünn vom Bildschirm Sakura Ino zu. „Admiral, Sie haben den Bericht in einer Stunde.“

„Ma´am?“ „Später, Sanchez. In einer Stunde wollen Sie einen Bericht anfertigen, der eigentlich einen halben Tag dauert? Das ist sehr interessant, Captain. Ich weiß Offiziere zu schätzen, die von sich überzeugt sind. Aber kommt nachher vielleicht das große Erwachen?“

„Commander Shiratomi, können Sie sich das kurz mal ansehen?“ „Natürlich, Lieutenant.“

Shawn Winslow lächelte dünn. „Admiral, ich bin mir zweierlei Dinge sehr wohl bewusst. Erstens, dies ist ein Kreuzer der Bismarck-Klasse. Da ich nur wenige Offiziere und Crewmen von der guten alten KOWLOON mitgenommen habe, ist mir klar, dass die Besatzung bestenfalls als grün einzustufen ist. Aber wir tun was wir können, um schnell eine gute Routine zu etablieren. Und zweitens hat mir Admiral Takahara verraten, wie Sie ihn rangenommen haben, als er das Kommando über den Bakesch SUNDER übernommen hat. Ich dachte mir, ein wenig entsprechende Vorbereitungen dürften nicht verkehrt sein.“

„Admiral Ino, das sollten Sie sich ansehen.“ „Später, Hiroko. Gut, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Shawn, das muss ich zugeben. Also gut, Ihren Bericht in einer Stunde. Wenn Sie es schaffen, klebe ich ein goldenes Sternchen neben Ihren Namen in meiner Anwesenheitsliste.“

„Ein goldenes gleich? Bricht da wieder der Lehrer in Ihnen durch, Admiral?“

Sakura schmunzelte. „Vielleicht ist so ein Admiralsjob von einem Lehrauftrag nicht sehr verschieden. In beiden Fällen muss man einem riesigen Haufen unwissender Kinder Verstand einbleuen.“

„Wie radikal, Ma´am. Gut, dass ich nicht mehr zur Schule muss“, erwiderte Winslow mit einem Schmunzeln.

„SAKURA!“ „Du brauchst nicht gleich zu brüllen, Hiroko-chan! Was gibt es denn so wichtiges?“

„Sieh dir das endlich an!“

Missmutig sah Sakura Ino zur Herrin der Ortungsanlagen der AURORA und danach zu Captain Winslow. „Enttäuschen Sie mich nicht.“ „Natürlich nicht, Ma´am.“

Sie seufzte, nickte und ließ der Verbindung deaktivieren. „Was gibt es denn so dringendes?“

„Wir werden von einem Zerstörer verfolgt, Ma´am“, meldete Lieutenant Sanchez. „Er wird uns in zwei Stunden eingeholt haben, wenn er nicht abbremst. Sein Kurs wird ihn mitten durch die Flotte führen.“

„Mitten durch die Flotte? Warum haben Sie mir das nicht gleich gemeldet?“

Hiroko und der junge Argentinier sahen den Admiral vorwurfsvoll an.

„Ach ja. Ja, schon gut, ich merke es gerade. Verzeihung. Hitomi-chan, haben wir eine Transpondersendung vom dem Gefährt?“

„Negativ, Ma´am. Der Zerstörer fliegt mit Höchstfahrt, ohne Identifikationstransponder und ohne jeglichen rudimentären Funkverkehr.“

„Das ist bedenklich. Können wir die Klasse feststellen? Wenn es ein November ist, könnten wir es mit einem terroristischen Anschlag mit einer Riesenbombe zu tun haben und…“

„Ma´am, der Computer sagt, dass es sich um die ENTERPRISE handelt“, meldete Sanchez.

„Machen Sie mir mal Platz.“ Hiroko setzte sich auf die Arbeitsstation und ließ sich die Realaufnahmen vergrößert einspielen. „Admiral, das ist eindeutig die ENTERPRISE. Hier, dieser neue Aufbau wurde erst vor einem halben Jahr installiert, damit sie einen externen Sprungantrieb aufnehmen kann. Sie sollte als eines der ersten Schiffe der Midway-Klasse selbstständige Patrouillen in den äußeren Systemen durchführen. Außer ihr haben nur noch die MIDWAY, die LOS ANGELES und die NEW YORK den Aufbau erhalten.“

„Hm. Funkanruf. Ich will wissen, was da los ist. Man kann auch ein UEMF-Schiff kapern.“

„Schon“, wandte Hitomi ein, „aber hätte das nicht einen solchen Trubel verursacht, dass wir davon längst wüssten? Zumindest der interne Funk der UEMF würde sich dann doch überschlagen.“

„Das ist ein gutes Argument, aber ich bin nicht bereit, die Sicherheit der Flotte dafür aufs Spiel zu setzen. Wir…“

„Ma´am, können Sie das Morsealphabeth?“

„Warum fragen Sie, Sanchez?“

„Es sieht ganz so aus, als würde der Signalgast der ENTERPRISE uns mit den Frontsuchscheinwerfern eine Nachricht zumorsen.“

Sakura runzelte die Stirn. „Ich will den Text, sobald er erfasst ist.“

„Jawohl, Ma´am.“

In diesem Moment betrat Kommodore Genda die Zentrale der AURORA. „Habe ich was verpasst?“ Gut, gut, das war nicht der klügste Witz, den man reißen konnte, aber etwas erstaunten ihn die überraschten Blicke der anwesenden Offiziere doch.

***

Die Nachricht der ENTERPRISE, mehrfach wiederholt, hatte die Bitte um ein Passiermanöver enthalten.

Als der Zerstörer die Flotte passierte, entließ er aus seinen Startröhren vierzig Mechas der Typen Eagle, Hawk und Sparrow, also ein volles Bataillon. Dazu kamen ein halbes Dutzend Transportshuttles. Und alle reduzierten sie ihre Eigengeschwindigkeit massiv und versuchten die geöffnete Schleuse der AURORA zu erreichen.

Nachdem dieEinheiten das riskante Manöver bewältigt hatten, wurde der Hangar mit Atemluft geflutet und aufgeheizt.

Die Transporter öffneten sich und entließen ein Heer an Technikern und Soldaten. Die Männer und Frauen eilten zu den gelandeten Mechas und leisteten den Piloten Ausstiegshilfe.

„Was zum Henker ist denn hier los?“, brummte Tetsu Genda verwundert.

„Ich glaube, das habe ich noch nie gesehen.“ Kei Takahara starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Hangar hinein.

„Sieben. Nein, acht. Acht Nationalitätsflaggen bisher. Auf die Erklärung bin ich gespannt“, brummte Makoto ernst.

„Und ich erstmal.“ Sakura betrat den Hangar.

Einer der Soldaten entdeckte sie und brüllte: „ADMIRAL AN DECK!“

Sofort nahmen die Soldaten, Techniker und Piloten Haltung an.

„Rühren. Wer hat hier das sagen?“

„Admiral, Oberst Vitali Kuratov. Ich befehlige dieses Bataillon.“ Der große Russe salutierte vor der blonden Frau.

„Hm. Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?“ Sie ließ den Blick über die Gesichter schweifen und stellte fest, einige schon einmal gesehen zu haben.

„Nun, Sie haben sicherlich festgestellt, dass meine Untergebenen aus neun verschiedenen Nationen stammen.“

Kei boxte heimlich Makoto in die Seite. „Und ich sage noch, das war eine italienische Flagge.“

„Und?“

„Ma´am, ich befehlige Russen, Deutsche, Chinesen, Franzosen, Briten, U.S. Amerikaner, Italiener, Israeli und Ägypter.“

„Das ist eine sehr interessante Zusammenstellung. So etwas haben wir in der UEMF aber öfter. Wir…“

„Admiral, wir gehören nicht zur UEMF. Bis vor kurzem waren wir ausschließlich unseren Heimatländern verpflichtet.“ Der Mann richtete sich stolz ein wenig mehr auf. „Und mit Verlaub, wir waren die Besten in unseren Ländern und können es ohne Weiteres mit den Titanen aufnehmen. Und wir können sicherlich mit den Hekatoncheiren mithalten.“

Zustimmendes Gemurmel kam aus der Menge.

„So, so. Sehr interessant. Was hat das mit uns zu tun?“, fragte Sakura amüsiert, die schon längst wusste, worauf der Oberst hinaus wollte.

„Ma´am, wir sind die Besten der Besten all jener, die nicht im UEMF-Dienst stehen. Ich habe sie ausgewählt, angesprochen und in Sibirien so lange trainiert, bis sie wie eine Einheit arbeiten. Wir sind keine Individualisten, und wir sind auch nicht auf unsere Nationen reduziert. Wir sind ein vollwertiges kampfstarkes Bataillon.“ Er senkte kurz den Blick. „Einige von uns mussten alle Brücken hinter sich abbrechen, um hierher kommen zu können.“

Der große Mann sah wieder auf. „Ma´am, unsere Länder schicken uns, damit wir bei der Suche nach Commander Otomo helfen. Und Ma´am, wir haben uns alle freiwillig für diesen Job gemeldet. Wir sind die Besten der Besten von jenen, auf die Sie nicht die Hand legen können, deshalb kommen wir von selbst.“ Der russische Elite-Pilot sah sie ein wenig unsicher an. „Und viele von uns können auch nicht mehr zurückkehren. Wir bringen unser eigenes Personal mit, haben eigene Ersatzteile, die von Freunden und Sponsoren finanziert wurde und belegen nur wenig Platz.“

„So, so. Und das soll mich nun dazu veranlassen, Ihre zusammengewürfelte Bande aufzunehmen, Oberst Kuratov?“ Sakura Ino schmunzelte. „Sie müssen natürlich in die UEMF eintreten. Damit treten Sie automatisch in die Dienste des Hauses Arogad. Ich hoffe, das dämpft Ihren Optimismus nicht.“

Leises Gelächter ging durch die Reihen der angetretenen Soldaten. Vitali Kuratov schmunzelte. „Damit treten wir direkt in Akiras Dienste, oder?“

„Mehr oder weniger ist das korrekt.“

„Ich bin mit ihm geflogen, Ma´am, und das mehr als einmal. Wir haben zusammen New York davor bewahrt, zusammen geschossen zu werden. Ich war mehrfach mit ihm über Europa im Einsatz, und er hat mich angeführt, als wir den einzigen Angriff auf Moskau abgewehrt haben. Es ist mir eine Ehre, wieder unter ihm zu dienen. Und unter Ihnen, Ma´am.“

Ein Mann mit deutscher Flagge auf dem Oberarm trat vor. „Ich bin mit dem Commander über München, Frankfurt und Paris geflogen.“

Eine große Technikerin mit italienischer Flagge am Oberarm trat vor. „Der Commander hat mich und meine Einheit gerettet, als Rom angegriffen wurde. Sein Daishi hat alle Raketen gefressen, die für uns gedacht waren.“

Ein Israeli trat vor. „Commander Otomo hat meinen Vater gerettet, als der über Ägypten gegen die Kronosier geflogen ist.“

Ein Ägypter trat vor. „Meine Einheit hat eine Schleuse des Suez-Kanal gehalten. Wir sahen schon unser Ende gekommen, als der Zerstörer auf uns herab kam. Aber der Commander hat uns mit den israelischen Verstärkungen den Arsch gerettet. Entschuldigen Sie die Wortwahl, Admiral.“

Sakura winkte ab, bevor noch mehr Leute vortreten konnten. „Schon gut, schon gut. Ich stelle Sie hiermit in Dienst als Erste Mobile Eingreiftruppe der AURORA. Sie alle sind keiner spezifischen Aufgabe oder einem bestimmten Schiff zugewiesen, dementsprechend flexibel werde ich Sie einsetzen. Bitte entfernen Sie die Nationalitätsflaggen. Sie erhalten später eine Flagge der UEMF.“

Das typische ratschende Geräusch erklang, als fast zweihundert Leute die Nationalfahnen von der Klettverschlussoberfläche ihrer Ärmel rissen. Dutzendfach wurden die Nationalfarben zu Boden geworfen oder sorgsam eingesteckt. Nach wenigen Sekunden waren die Schultern blank.

Sakura lächelte. „Willkommen an Bord.“

Die neue flexible Eingreiftruppe jubelte.

***

Unter lautstarkem Protest einiger Staaten, deren Mehrheit die UEMF verlassen und ihr sogar den Krieg erklärt hatten – im Moment herrschte ein nicht erklärter Waffenstillstand, der auf wackligen Beinen stand – bereitete sich die AURORA auf den Sprung vor. Groombridge erwartete sie. Zwar war das System bereits einmal angeflogen worden, weil es in der Nachbarschaft der Erde lag, aber regelmäßige Patrouillen fanden nicht statt. Dafür war das System aus zwei Zwergsonnen zu weit weg und zu uninteressant.

Es bestand natürlich die Gefahr, dass eine Flotte Raider-Einheiten genau das gleiche dachte und das System und seine kleine Schwerkraftsenke als Aufmarschgebiet nutzte. Aber sollte es so sein, würde die Expedition sogleich einen konkreten Hinweis auf die Position des Core-Einflussgebietes haben. Denn Groombridge war auch ausgewählt worden, weil es eine ideale Plattform für einen Sprung ins Kaiserreich darstellte.

Die letzten Vorbereitungen verliefen bemerkenswert unspektakulär, wenn man daran dachte, welche Mühe es die Verantwortlichen gekostet hatte, um überhaupt bis hierher zu kommen. Es musste nicht mehr viel Zeit vergehen, um das Jahr, das Akira Otomo verschollen war, voll zu machen, und das war eine untragbare Situation für die Menschen, Anelph und Naguad an Bord.
 

Torum Acati lächelte von seinem Bildschirm in die Zentrale der AURORA herab. Neben ihm stand Admiral Richards, frisch gebackener Stellvertretender Kommandeur der regionalen Flottenzentrale Terra. „Wir alle wünschen euch viel Glück, AURORA. Bringt uns diesen Hitzkopf bloß heile nach Hause. Und auch wenn ihr das mächtigste Schiff fliegt, das jemals diesen Bereich des Universums durchquert hat, vergesst das alte terranische Sprichwort nicht: Viele Hunde sind des Bären Tod.“

„Das werden wir nicht, keine Sorge, Torum. Und Akira zu finden wird relativ leicht sein. Wir brauchen nur nach den größten Zentren des Chaos Ausschau zu halten.“

Acati zog die linke Augenbraue hoch. „Das ausgerechnet du mal so etwas sagen würdest, Solia Kalis, hätte ich nie erwartet.“

„Ich extrapoliere nur meine Erfahrungen mit Akira“, erwiderte sie todernst.

Sostre Daness, der als Beobachter für sein Haus an der Operation teilnahm, runzelte kurz die Stirn. „Das Argument halte ich für plausibel.“

Leises Gelächter erfüllte die Zentrale.

„Wie dem auch sei, Solia, dir und allen anderen viel Glück.

Admiral Ino, Sie haben Erlaubnis zum Sprung.“

„Aye, Aye, Admiral Acati. Kommodore Genda, klar Schiff zum Sprung.“

„Aye, klar Schiff zum Sprung.“

Die gigantischen Generatoren im Heck des Schiffs erwachten, der Pulsantrieb wurde deaktiviert und die Projektoren für das Wurmloch aktivierten sich. Wieder einmal wurde ein Loch in die Raumzeit gerissen und Groombridge auf die Distanz von wenigen Wochen heran geholt.

Die letzten Begleitschiffe landeten oder aktivierten ihre eigenen Sprungantriebe, um das Wurmloch der AURORA mitbenutzen zu können.

„Wurmloch steht, Ma´am.“

„Gut, Kommodore Genda. Wir fliegen ein.“

Die hyperschnelle Realzeitverbindung würde bestehen bleiben; die AURORA und die Erde und damit auch der Mars würden weiterhin in Echtzeit miteinander kommunizieren können. Aber dennoch war es ein erhebender Moment, als das Gigantschiff das heimatliche Sonnensystem wieder verließ.

Dann befanden sie sich auf der künstlichen Straße, die aus zwanzig Lichtjahren wenige Wochen Flugzeit machte. Die AURORA war wieder unterwegs. „Endlich“, murmelte Sakura, und nicht wenige Brückenoffiziere nickten dazu.

***

„Sektor vier, keine Spuren feindlicher Aktivitäten“, meldete Colonel Ataka. Er flog mit seiner Patrouille den Randbereich von Greenwich ab, der namenlosen gelben Sonne, die sie von Groombridge nach Arcturus bringen sollte. Von der Erde aus war sie nicht zu sehen, weshalb sie bisher unentdeckt geblieben war. Und da sie in Reichweite der Sprungantriebe war, hatten die irdischen Astronomen beschlossen, das Recht der Namensgebung dem ersten terranischen Schiff zu überlassen, das jene Sonne anflog. Greenwich also. Nicht unbedingt ein intelligenter Name, aber auch kein vollkommener Unfug, fand Doitsu Ataka.

Jedenfalls schien Greenwich um einiges attraktiver und interessanter zu sein als Groombridge, im düsteren Licht der beiden roten Zwergsonnen, wo es nichts gegeben hatte außer Steinen, Steinen, Steinen und einigen gigantischen Wasserstoffwolken, welche die Chance, Planeten der Jupiterklasse zu werden, schon lange verpasst hatten.

Das düstere System war frei gewesen von Feindaktivitäten, insoweit war ihr Pokerspiel aufgegangen. Aber Doitsu war jedesmal sehr froh gewesen, wenn er mit seinem Phoenix hatte wieder einschleusen dürfen, um in den strahlend hell erleuchteten Innenraum der AURORA zu kommen, wo ihn das Licht der gelben Muttersonne und das geschäftige Treiben einer Großstadt erwartete.

Greenwich war da schon interessanter. Eine gelbe Normsonne des G2-Spektraltyps machte sie interessant; und kurz vor dem Sprung hatten die Führungsoffiziere Wetten darauf abgeschlossen, ob sie hier auf Feinde, bewohnte Welten oder beides treffen würden.

Tatsächlich hatten die Astronomen sehr bald dreizehn Planeten ausgemacht, von denen zwei in der Ökosphäre ihrer Sonnen lagen. Expeditionsteams waren ausgeschickt worden, um diese Welten zu untersuchen, während Patrouillen aus LRAOs und Mechas aller Klassen per Booster die Eiswelten am Systemrand und die Gasriesen anflogen, um dort nach Hinweisen auf Leben, sprich: Feindaktivität zu suchen. Doitsu hatte es übel erwischt. Er musste mit zwei Hawks und einem LRAO den äußersten Planeten aufsuchen. Nun, er hatte vor sich dafür bitterlich zu rächen und als erster einen Fuß auf diese Welt von der Größe des Neptuns zu setzen. Er hatte auch schon einen passenden Namen parat: Hades, benannt nach der Unterwelt der griechischen Mythologie und dem Gott, der dort die Regie führte. Für die beiden Monde, die sie bisher entdeckt hatten, hatte er auch schon passende Namen, Tanathos und Hypnos.

Passende Namen, fand Doitsu nicht ohne Stolz. Dennoch wäre er lieber bei den Expeditionen dabei gewesen, die Grennwich III und IV anflogen, während die AURORA mit dem Gros ihrer Begleitflotte das System umflog, um den Absprungpunkt nach Arcturus zu erreichen. E klang einfach interessanter. Außerdem war der Weg kürzer als für ihn und die anderen Kommandos, welche die anderen Randwelten und die Gasriesen aufsuchten.

Schade, aber nicht zu ändern.
 

Als das kleine Corps Hades erreicht hatte, landete Doitsu mit seinem mächtigen Phoenix als erster auf der vereisten Welt. Sie bestand fast ausschließlich aus Methaneis mit Einschlüssen von Wasserstoff und Sauerstoff. In einem anderen Fall hätte diese Welt eine vortreffliche Bombe abgegeben, und die Einschlüss an Gestein hervorragendes Schrappnell.

„Hiermit“, rief Doitsu Ataka und rammte mit den voll modulierten Händen seines Mechas eine UEMF-Fahne in das Eis, „nehme ich diese Welt für die United Earth Mecha Force in Besitz und taufe sie auf den Namen Hades. Des Weiteren benenne ich die beiden Monde Tanathos und Hypnos. Beschwerden bitte schriftlich, Lobpreisungen können über Funk erfolgen.“

„Sehr witzig, Sir“, meldete sich Elena Brinkmann zur Wort, die sich der Expedition mit einem russischen Hawk angeschlossen hatte. Die junge Frau hatte in Groombridge bei Routinetest überraschenderweise Talent für die KI-Anreicherung der Booster gezeigt, was sie für eine solche Mission geradezu prädestinierte. „Wenn Sie nichts dagegen haben, umrunde ich jetzt Tanathos und nehme Oberflächenscans durch. Oder darf ich den Mond umbenennen, wenn ich auf ihm lande?“

„Unterstehen Sie sich und bringen Sie meine Pläne durcheinander“, mahnte Doitsu grinsend. „Der LRAO bleibt im Orbit um Hades. Halten Sie die Augen auf, Scott.“

„Jawohl, Sir.“ „Und der zweite Hawk fliegt dann Hypnos an. Und wehe Sie benennen den Mond um, Lieutenant Tsao.“

„Ich werde mich hüten, Sir.“

Doitsu grinste zufrieden. Seine Truppe war zusammengewürfelt, sicher, das lag einfach an den besonderen Anforderungen der Booster. Mittlerweile hatten sie genügend der Hightech-Maschinen, aber nun gab es zu wenige KI-Meister um sie zu nutzen.

Dennoch fand er, dass er mit Brinkmann, Tsao und Fähnrich Scott gut zusammenarbeitete.

„Dann wollen wir mal, Ryu. Beginne mit dem Bodenscans.“

„Ja, Sir. Darf ich noch einmal darauf hinweisen, dass mir das fehlen von Mittelstreckenbewaffnung nicht behagt?“

Doitsu runzelte die Stirn. Seit sie die AURORA verlassen hatten, ritt die künstliche Intelligenz des Phoenix auf diesem Umstand herum. Und Doitsu bekam langsam das Gefühl, dass er einen seiner seltenen Fehler gemacht hatte. Er hatte Rakten und ein Snipergewehr für den Fernkampf und eine Artemislanze für den Nahkampf mitgenommen. Durch die Belastung, die der Booster darstellte, hatte er auf weiteres Gewicht verzichtet. War das nun wirklich so klug? Doitsu Ataka, gestählt von über zwanzig Schalchten, war sich sicher, es jederzeit mit zehn oder mehr Gegnern zugleich aufzunehmen. Das war keine Hybris, sondern Beobachtung. Er hatte es schon mal mit zehn Core-Mechas aufgenommen und er hatte gewonnen. Auch auf dem Mars war es sein Hawk gewesen, der wie kaum ein andere, Megumi und Akira mal außen vor gelassen, durch die Reihen der Gegner gepflügt war. Er wusste einfach, dass er gut war. Aber er wusste auch, dass Arroganz immer vor dem Fall kam. Selbstvertrauen war gut und schön, aber es durfte nicht in Selbstüberschätzung gipfeln.

Und wenn sie hier auf einen Gegner trafen und dieser sich auf Mittelstrecke einschoss, ohne eine Chance, nahe an ihn heran zu kommen, würde ihm einer der Hawks aushelfen müssen, während der andere Scott und ihr Ortungsteam bewachte. Oder während der Flucht begleitete.

Langsam schlich sich die Erkenntnis in Doitsus Bewusstsein, dass weglaufen mit den Boostern eventuell eine militärische Option war, wenn es hart auf hart kam.

„SIR!“

Vor Schreck riss Doitsu den Phoenix herum. Ein einziger Sensordruck, und Ryu öffnete die Abdeckungen der Raketenabschussvorrichtungen. „WAS?“ Feinde? Wo? Welche Richtung? Wie viele?“

„Sir, der LRAO hat was auf Thanatos geortet und ich bin für einen Nahscan hier gelandet. Es ist vielleicht besser, wenn Sie sich das mal selbst ansehen“, meldete Elena Brinkmann.

„Bin unterwegs.“ Er trat die Düsen des Sprungtornisters durch und trieb den Phoenix vom Planeten fort, in Richtung des größeren seiner Monde. Der LRAO kreiste im Orbit um diese Welt, während der Hawk von Brinkmann gelandet war. Der Flug dauerte nicht lange, und schon bald stellte Colonel Ataka eigene Scans an. „Ich glaube, eine angreifende Übermacht wäre mir jetzt lieber“, stöhnte er.

„Sollten wir nicht die AURORA verständigen?“, fragte Scott irritiert, während seine Ortungsfachleute leise lamentierten.

„Ja, das sollten wir. Aber die Antwort wird ein paar Stunden brauchen.“

Wieder erhob sich der Phoenix mit Hilfe seiner Sprungdüsen in den Orbit. Dort suchte und fand Doitsu die aktuelle Position der AURORA, richtete den Funk darauf ab und gab seine Meldung durch. „Colonel Ataka hier. Ich melde hiermit die Existenz einer Bunkeranlage unbekannter Herkunft auf dem größeren Mond des äußersten Planeten Hades, dem Thanatos und erbitte weitere Anweisungen. Während ich auf Antwort warte, werde ich weitere Scans durchführen lassen. Ataka Ende.“

Doitsu wollte gerade wieder auf Thanatos landen, als Ryu sich zu Wort meldete. „Gestreute Sendung für die AURORA, Sir. Wir sind nicht das Ziel des Funkanrufs, aber wir kriegen ihn relativ klar rein.“

„Ich will ihn sehen.“

Ryu bearbeitete die einkommende Nachricht, dann gab er sie Doitsu auf einen Hilfsschirm.

Hina Yamada erschien auf dem Bildschirm. Sie hatte den Auftrag, Greenwich III zu erforschen, jedenfalls so gut wie es in den paar Tagen möglich war, die ihnen beim Durchflug der AURORA blieben.

Sie sah übermüdet aus, regelrecht verstört. „Colonel Yamada hier. Admiral, hiermit melde ich, dass Greenwich III, Eigenname East End, für eine menschliche Kolonisierung in Frage kommt. Wir sind nicht auf eingeborene Intelligenzen getroffen, jedenfalls nicht auf dem Land. Allerdings haben wir das entdeckt.“

Das Bild wechselte, und Doitsu spürte, wie ihm der Atem stockte. „Das ist doch…“

„Erste Analysen“, klang wieder Hinas Stimme auf, „sprechen davon, dass es sich bei diesen Bildern um Ruinen von Großstädten handelt. Wir haben aber keinerlei Leben im Bereich der Städte ausmachen können. Dafür aber die Überreste von dem, was einmal ein Orbitalfahrstuhl gewesen sein könnte.“

Das Bild zeigte nun einen riesigen Krater, in dem ein deformierter metallischer Riesenklotz ruhte, der einmal dem OLYMP ähnlich gewesen sein mochte. In einiger Entfernung vom Krater erhob sich eine Pyramide, die vielleicht mal das stationäre Gegenstück gewesen war.

Auf der Erde übernahm diese Position eine frei schwebende Plattform, hier hatte man sich anscheinend für ein stationäres Gegenstück auf der Oberfläche entschieden.

„Außerdem fanden wir hunderte weitere Krater, die entweder den Absturz eines Schiffs markieren, oder ein schweres Bombardement. Wir fanden keinerlei Spuren von radioaktiver Strahlung, bakterieller oder chemischer Kriegsführung, obwohl hier die letzten Analysen in den Städten noch ausstehen. Ich habe Befehl gegen, dass sich niemand der Atmosphäre aussetzt; Heimkehrer zur GRAF SPEE werden vor betreten des Schiffs aus Sicherheitsgründen dekontaminiert. Doch das ist noch nicht alles.“

Wieder wechselte das Bild und zeigte einen großen Ozean auf East End.

Eine Computergraphik wurde dazwischen geschaltet, und nun konnte man ein Unterwassergebirge erkennen, weiter, gigantischer und tiefer als der Grand Canyon auf der Erde. Doch dieses Gebirge glitt wie abgeschnitten zweitausend Meter in die Tiefe. Eine simulierte Kamerafahrt folgte dieser Bruchstelle einmal und offenbarte die ungefähre Form eines Kreises mit dem Radius von siebenundsechzig Kilometern.

„Kitsune vermutet, dass hier eine Dämonenwelt vernichtet wurde. Ich bitte um weitere Anweisungen. Colonel Yamada Ende.“

Doitsu fühlte, wie seine Hände im Raumanzug zu schwitzen begannen. „Was ist hier passiert? Was ist hier nur passiert?“ Es gab also etwas oder jemand da draußen, der eine Dämonenwelt vernichten konnte. Wie interessant. Wie tödlich.
 

3.

Commander Kevin Lawrence sah in die Runde der anwesenden Offiziere. Abgesehen von jenen, die mit Schiffen, Mechas und Shuttles dort draußen unterwegs waren, um die Datenbank des Wissenschaftsoffiziers zu füllen, waren es eine ganze Menge.

„Meine Damen und Herren, ich bin nun in der Lage, ihnen allen einen Zwischenbericht über die Situation zu geben, die wir im Greenwich-System angetroffen haben.“

Sein Blick ging von Admiral Ino zu Kommodore Genda und von dort zu Megumi Uno. „Eines kann ich mit absoluter Sicherheit bestätigen. Was immer hier passiert ist – dazu habe ich bereits mit meinem Stab einige Thesen entwickelt – passierte vor mindestens achttausend Jahren. Deshalb können wir die Ruinen der Städte lediglich an ihren Grundrissen identifizieren. Die einzig erhaltenen Städteruinen sind im Hochland auf dem Äquator-Kontinent, neben einem ausgedehnten Raumhafengelände. Die Hochlandluft, trocken und lebensfeindlich, hat den Vormarsch der Natur weitestgehend gestoppt. Expertenteams suchen in den Mülleimern dieser Stadt nach weiteren Hinweisen, was genau passiert sein könnte.

Sicher ist aber eines: Auf East End wurde tatsächlich eine Dämonenwelt vernichtet.“

Aufgeregtes Raunen antwortete dem Kronosier, der seit dem ersten Tag der Indienststellung auf der AURORA Dienst tat. Ursprünglich für die Resonatortorpedos verantwortlich hatte Kevin sich hochgearbeitet und unterhielt nun eine Position, die ihm mehr zusagte. Manchmal gingen Träume halt doch in Erfüllung. Das sie sich aber so schnell in Albträume wandeln konnten hätte er sich sicherlich nicht träumen lassen.

„Die Waffe, die diese Dämonenwelt ausgelöscht hat, ist wahrscheinlich identisch mit der Waffe, die neulich auf die Erde abgefeuert und die von terranischen KI-Meistern abgelenkt wurde.“

Sostre Daness sah erschrocken auf. „Moment mal. Abgesehen davon, dass wir das angreifende Riesenschiff weder mit Naguad-Datenbanken noch mit Anelph-Erkenntnissen, geschweige denn jenen der jungen Raumfahrt Terras definieren konnten, wollen Sie mir erzählen, dass ein ähnliches Schiff East End zerstört hat?“

Kevin nickte leicht. „So in etwa. Bis auf eine Einschränkung. Der vierte Planet von Greenwich, Eigenname West End, ist ebenfalls bewohnt gewesen. Admiral Takaharas Teams haben dort eine ähnliche Situation vorgefunden, bisher aber noch keine Spuren einer vernichteten Dämonenwelt.

Ich kann also nicht mit absoluter Gewissheit sagen, wer die Städte ausradiert hat. Waren es Raider, waren es die Streitkräfte von West End und East End, die sich in einem gigantischen Bürgerkrieg gegenseitig ausgerottet haben oder war es das unbekannte Gigantschiff? Wir wissen nur eines sicher: Die Dämonenwelt auf East End wurde mit einer Waffe vernichtet, die jener gleicht, die unsere KI-Meister abgewehrt haben. Aber eines kann ich sicher sagen: Wir können die Raider ausschließen. Die ersten Datierungen lassen darauf schließen, dass die beiden Welten vor etwa achttausend Jahren vernichtet wurden. Damit befinden sie sich an der äußersten Grenze des Daina-Daima-Konflikts, der einst in diesem Teil der Galaxis getobt hat. Doktor Taylor, bitte halten Sie Ihr Referat.“

Henry William Taylor, ehemaliger Erzfeind Akiras und jetziger treuer Gefolgsmann, erhob sich und tauschte den Platz mit Kevin Lawrence.

„Herrschaften, was ich jetzt sagen werde, ist einigen von ihnen bereits größtenteils bekannt. Ich will das ganze chronologisch korrekt darstellen und mit Erklärungen versehen.

Fakt ist, dass es im Moment so aussieht, als wäre die Erde, unsere Heimat, der Ursprung einer Rasse, die wir Dai nennen, die Hohen. Etwaige Ähnlichkeiten mit Begriffen der japanischen Sprache sind kein Zufall, sicherlich phonetische Vererbung über die Jahrtausende hinweg.

Diese Dai waren etwas sehr besonderes, eine Hochkultur, die weder wir noch die Naguad besitzen. Jedenfalls waren die Dai eine expansive Rasse. Von der Erde aus besiedelten ihre Nachfahren die nähere kosmische Umgebung und darüber hinaus. Diese Auswanderer, die sich Daima nannten, wurden teilweise von Dai begleitet. Das ist ein interessanter Aspekt, bedeutet er doch, dass eine bestimmte Voraussetzung notwendig war, um Dai zu werden. Wir können davon ausgehen, dass die Dai ein relativ kleiner Kreis von Auserwählten waren, während das Gros der Bevölkerung von den Daima gestellt wurde. Das war auf Terra, auf dem Mars und auf Lorania sicherlich ähnlich. Und die alten Texte, die ich auf Nag Prime recherchieren konnte belegen, dass auch Iotan ein ähnliches System hatte.

Was geschah dann? Jahrtausende lang nichts. Die Daima, teilweise unterstützt und begleitet von den Dai, breiteten sich über diesen Teil der Galaxis aus. Ihnen folgten die Daina, Menschen von der Erde, die sich Terra weit mehr verpflichtet sahen als die Daima. Auch sie wurden von Dai begleitet.

Was damals genau geschah ist nicht bekannt. Aber wir wissen, dass es zum Krieg zwischen Daima und Daina kam. Auch die Dai waren darin involviert und fanden sich plötzlich auf zwei verschiedenen Seiten wieder.

Dieser Konflikt begann vor gut fünfzehntausend Jahren und zog sich bis vor achttausend Jahren dahin. Die Phasen dieses Krieges waren unterschiedlich. Es gibt kaum gesicherte Daten, aber in diesen Kriegsjahren gab es immer lange Perioden des Waffenstilstands, der oft Jahrhunderte andauern konnte, bevor irgendeine Daima- oder Daina-Welt den bestehenden Status Quo wieder über den Haufen warf.

Wir wissen wenig über die Motive, die Gründe und über die Waffen in diesem Krieg. Es gibt Hinweise darauf, dass es hauptsächlich in den Konflikten darum ging, wie die Nachfahren der Dai mit fremdartigen Intelligenzen umgingen, die sie während der Besiedlung dieses Sektors entdeckten. Grund genug für bewaffnete Konflikte, auch innerhalb der Fraktionen Daima und Daina. Aber das war sicher nur einer der Gründe.

Interessant für uns ist nur eines. Lange bevor auf Iotan die Grundlagen für die Core-Zivilisation geschaffen wurde, griff eine unbekannte Macht ein und beendete den Krieg. Sie zerstörte die Zivilisationen ungezählter Daima- und Daina-Welten, und nicht einmal die mächtigen Dai konnten dies verhindern. Im Gegenteil. Die Dai wurden schnell zum Hauptziel dieser Angriffe, weshalb sie sich in die Daimon genannten Schutzzonen zurückzogen, um einerseits der Vernichtung zu entgehen und andererseits ihre Schutzbefohlenen nicht vorsätzlich zu Zielen zu machen.

Wir wissen, dass der Feind übermächtig, kompromisslos und überaus brutal war. Wir wissen auch, dass viele Welten komplett entvölkert wurden. Es muss ein schreckliches Massaker gewesen sein, das sich über Jahrhunderte hinweg zog und schließlich die Erde und den Mars erreichte. Der Mars wurde komplett entvölkert und die Daina-Bevölkerung der Erde Jahrtausende weit in der Entwicklung zurückgeschleudert.

In der terranischen Legendenwelt gibt es Hinweise auf globale katastrophale Ereignisse wie die Sintflut und das jüngste Gericht in der Bibel, Ragnarök als Ende der Welt bei den Wikingern und Germanen, die Vision von gigantischen Schiffen und Atombombenexplosionen in der Hindu-Kultur und das Ende ganzer Zeitalter und das erlöschen der Sterne anhand der Azteken-Sagen, nach denen wir uns bereits in der fünften neureformierten Welt befinden. Ich bin mir nun sehr sicher, dass das Gros dieser Texte auf vergangene Ereignisse weist, die Vernichtung der Daina-Kultur auf der Erde durch die fremden Schiffe.

Das ist der Stand meines Wissens.“

„Und der Mars wurde zu einer Wüste, während auf der Erde das Leben auf primitivem Niveau neu begann“, murmelte Sostre ernst. „Die Dai, oder wie ihr sie nennt, die Daimon, konnten aber nicht aktiv beim Wiederaufbau helfen, ohne die Daimon zu verlassen, die Schutzzone. Eine Schutzzone, die nicht die Daimon schützen sollte, sondern die Daina.“

„Nein, das ist so nicht richtig, Sostre Daness“, sagte Okame-sama mit dunkler, tragender Stimme. „Die Daimon, die von unseren Vorfahren eingerichtet wurden, existierten lange vor den Angriffen. Sie waren unser Rückzugsgebiet, gedacht für den Fall, an dem wir die Daina ihren eigenen Taten überlassen mussten. Dieser Tag kam nie, dafür kamen die Götter. Ich denke, nun, wo die meisten Fakten auf dem Tisch liegen, müssen Kitsune-tono und ich uns nicht großartig zurückhalten.“

„Und wann haben Sie daran gedacht, uns diese Informationen ebenfalls mitzuteilen, Okame-tono?“, fragte Genda ernst.

„Sobald es nötig oder obligatorisch wurde.“

„Das tut doch jetzt nichts zur Sache. Wir sind hier auf eine Welt gestoßen, auf der es die Überreste einer Kultur entweder der Daina oder der Daima gibt. Eine Daimon wurde zerstört. Und nach achttausend Jahren Überlebende zu finden, sollte etwas schwierig sein.“

„Nein, es sollte dennoch möglich sein. Kitsune-tono hat berichtet, dass sie Emissionen des Liberty-Virus empfangen hat. Zumindest auf East End kann es Überlebende gegeben haben.“

„Was, bitte, ist der Liberty-Virus?“

Okame räusperte sich. „Der Liberty-Virus ist eine Art Nano-Maschine. Das absolute Highlight der Dai-Technologie in Verbindung mit unserer herausragenden Fähigkeit, KI zu manipulieren. Der Virus ist unser Schutzschild. Die Daimon, oder wie ihr sie nennt, die Dämonenwelt, ist mit KI gesättigt, in einem weit stärkeren Maße als jeder beliebige andere Ort auf der Erde. Die Viren, die in einen Zahlenbereich gehen, der die Moleküle eines mittleren Mondes übersteigt, haben die Daimon ebenfalls gesättigt. Ihr Auftrag ist einfach und simpel: Sie verschieben die Raumzeitrealität auf ein anderes Niveau. In diesem Bereich können die Götter uns nicht aufspüren, zumindest nicht im Idealfall. Solange genügend KI vorhanden ist, also in diesem Fall Dai, haben die Götter keine Möglichkeit, die Phasenverschiebung zu entdecken oder aufzuheben. In kleineren Daimon aber ist und war das möglich, vor allem wenn sich nicht genügend Dai in ihnen aufgehalten haben.

Wenn Kitsune-tono also auf Spuren des Liberty-Virus trifft, kann es durchaus sein, dass es Überlebende gab, die eine kleinere, unauffälligere Daimon eingerichtet haben, und bis zum heutigen Tag entkommen sind.“ Der Wolf sah in die Runde. „Der Angriff auf die Erde, der beinahe ARTEMIS durchschlagen und die Ostküste der U.S.A. vernichtet hätte war auch nicht dazu gedacht, ARTEMIS zu vernichten und einen halben Kontinent zu entvölkern. Er diente nur zwei Zielen. Das erste Ziel war die vermutete Position der Daimon anzugreifen, das zweite Ziel war, wenn dies nicht gelingen sollte, wenigstens die Dai genug zu provozieren, um den Schuss abzuwehren.

Es waren KI-Meister der Erde, die geblockt haben. Das ist einerseits gut, denn dies ließ keinerlei Rückschlüsse auf uns Dai zu. Andererseits hat sich die Erde damit selbst einen Bärendienst erwiesen, denn wie wir alleine an dem Angriff sehen können, ist das Interesse der Götter an Terra nachhaltig geweckt.“

Sakura Ino nickte zu diesen Worten. „Ein Grund mehr, warum wir Akira endlich finden sollten.“

„Ihn finden und soviel Verbündete wie irgend möglich zusammen scharren“, brummte der alte Wolf. „Denn diesmal bleibt es vielleicht nicht bei einem Schuss, bei einem Schiff.“

Betretenes Schweigen senkte sich auf die Anwesenden.
 

„Und?“, durchbrach Makoto Ino die Stille. „Wie gehen wir weiter vor?“

Sakura wechselte einen Blick mit Megumi, Sostre und Tetsu. Dann sah sie ihren Bruder an. „Der Marsch der AURORA geht wie geplant weiter. Wir werden nicht beschleunigen, wir werden die Geschwindigkeit aber auch nicht reduzieren. Wir werden weitere LRAOs mit massivem Begleitschutz in unsere Zielrichtung schicken und die Route ortungstechnisch sichern lassen. Desweiteren detachiere ich zwanzig unserer Korvetten als mobile Basen. Ich denke, eine Dusche ab und an tut auch den spartanischen LRAO-Besatzungen mal gut.“

Leises Gelächter ging durch die anwesenden Offiziere. Es war ein offenes Geheimnis, dass die LRAO-Besatzungen während ihrer Langzeiteinsätze auf die Recyclingfähigkeiten ihrer Druckanzüge angewiesen waren, sprich, sie hatten wenig Platz im Mecha und konnten auch nicht mal zwischendurch eine Toilette, hätte es sie gegeben, aufsuchen. Eine solche mobile Basis bedeutete jedoch einen Komfort, der für die LRAO-Besatzung schon an verschwenderischen Luxus grenzte.

„Die Operationen auf East End und West End werden verstärkt. Wir müssen so schnell es geht so viel wie möglich herausfinden. Sucht nach Bunkern. Zeitkapseln. Archiven. Meinetwegen nach Pyramiden. Aber beeilt euch. Und findet die Dämonenwelt. General Ino, Poseidon übernimmt die Koordination der erweiterten Suche.“

„Jawohl, Ma´am.“

„Das wäre dann alles. Um der Erde willen, beeilt euch.“

Die Anwesenden brachen in hektische Geschäftigkeit aus.

***

Vieles hatte Hina Yamada von der Dämonenwelt – der Daimon – erwartet, nachdem ein Team unter ihrer Führung und Kitsunes Hilfestellung hier eingebrochen war. Aber gewiss nicht, hinter dem von Kitsune entdeckten Tor blühende Landschaften vorzufinden. Die Daimon erstreckte sich schätzungsweise in einem Radius von achtzig Kilometern, was eine Grundfläche von etwas mehr als zwanzigtausend Quadratkilometern ergab. Vergleichsweise klein, aber für die Bevölkerung, die hier lebte, schien es mehr als ausreichend zu sein.

Sie kamen am Rande der Dämonenwelt heraus, inmitten eines großen Feldes, auf dem reife Getreidefrüchte standen. Hina fühlte sich leicht deplatziert, wusste sich doch nicht nur eine Kompanie gepanzerter Infanterie hinter sich, sondern auch eine Abteilung Hawks.

Die idyllische Szenerie ließ sich davon nicht stören. Menschenähnliche Wesen, augenscheinlich Nachfahren der Daima oder Daina, waren damit beschäftigt, das Feld abzuernten. Dies taten sie hauptsächlich mit Muskelkraft. Oh, ihnen stand hochwertigere Technologie zur Verfügung, das war Hina in dem Moment klar, in dem sie den ersten Kommunikator sah. Aber anscheinend hatte sich die Bevölkerung der Dämonenwelt dazu entschlossen, möglichst emissionsarm zu leben.

Eine der Frauen, die auf dem Feld damit beschäftigt war, eine automatische Strohpresse, die anscheinend mit Diesel betrieben wurde, zu steuern, hielt ihr Gefährt an und sagte ein einziges Wort: Daina.

Dieses pflanzte sich durch die Menge der Arbeiter, und von dort das Feld herab bis zu einer nahen Siedlung.

Dann kamen die ersten zu ihnen herüber, vorneweg die junge Frau von der Heupresse.

„Es wird nicht geschossen“, warnte Hina ihre Leute, die bei der Flut an Menschen wohl ein wenig nervös wurden.

Als dann die ersten heran waren, verneigte sich die junge Frau zuerst respektvoll vor Kitsune-chan mit einigen Worten, die Hina nicht verstand, aber mindestens einmal die Silbe Dai beinhalteten. Danach fixierte sie Hina, erkannte sie als Anführerin und sah Kitsune erstaunt an. „Dai?“, fragte sie, und die Daimon antwortete in der gleichen Sprache, die auch die Frau sprach. Ihr Blick ging wieder zu Hina, und in diesem Blick lag Respekt, beinahe Ehrfurcht.

„Sie sprechen eine Abart des Iovar-Dialekts. Reichlich verzerrt und mit Mundart durchsetzt, deshalb hast du sie wohl nicht verstanden, Hina-chan“, sagte Kitsune ernst, lächelte aber äußerst freundlich. „Die junge Dame heißt Tooma und hat mich als Hohe willkommen geheißen. Ich glaube, wir können sicher sein, dass wir hier gut aufgenommen werden.“

Diese Worte trugen maßgeblich zur Entspannung der Situation bei. Die Männer und Frauen atmeten sichtlich auf.

Wieder sprach Tooma mit Kitsune, die Füchsin widersprach, es entspann sich eine kurze Diskussion. Dann wandte sich die Dai der Anführerin der Slayer zu. „Tooma bittet uns darum, entweder die Banges zu deaktivieren oder wieder aus der Daimon herauszubringen. Bei ihnen gilt ein Gesetz, das sich Null Emission nennt. Es scheint als wenn die Liberty-Konzentration in dieser Daimon nicht sehr stark ist. Deshalb versuchen sie hier, verräterische Emissionen auf ein Minimum zu beschränken.“

Hina dachte einen Moment nach. Im Notfall waren sie und Kitsune mehr als genug, um die hiesigen Menschenabkömmlinge zur Räson zu bringen, wenn sie eine Dummheit versuchten.

Sie aktivierte den Kommunikator an ihrem Mund. „Hekatoncheiren aus Daimon zurückziehen. Uns droht hier voraussichtlich keine Gefahr.“

Die Piloten der Mechas bestätigten und stampften nach hinten durch das Tor davon.

Tooma beobachtete das Geschehen sichtlich zufrieden, aber nicht lauernd. Als die Mechas die Daimon verlassen hatte, verneigte sie sich vor Hina leicht und sprach ein paar Worte.

Kitsune kicherte. „Sie stuft dich als ranghöher ein als mich. Deshalb bist du ab sofort ihre Ansprechpartnerin.“

„Was hast du ihr gesagt?“

„Das war ich nicht. Sie habt mitgekriegt, dass du den Befehl für den Rückzug der Mechas gegeben hast, das hat ihr genügt. Außerdem hat sie gesagt, dass du auf der Schwelle stehst, um zur Dai aufzusteigen, was alleine schon ausreicht, ihre Hochachtung zu erringen.“

„Schwelle zur Dai?“ Irritiert sah Hina Kitsune an.

„Keine Sorge, keine Sorge. Das ist freiwillig. Niemand kann dich zwingen, nahezu unsterblich und unverwundbar zu werden, niemals wieder Krankheiten zu erleben und eine noch viel größere Kontrolle über dein eigenes KI zu erlangen.“

„Wenn du es so formulierst, bin ich irgendwie deprimiert“, murmelte Hina niedergeschlagen.

„Du bist in der Tat dem Status einer Dai sehr nahe“, sagte eine freundliche, tiefe Männerstimme.

Hina sah auf und erkannte einen kleinen, weißhaarigen Mann, der direkt vor ihr aus dem Nichts entstanden zu sein schien. Tooma und die anderen wisperten ehrfürchtig.

„Ich denke, das ist eine gute Grundlage für unsere Verhandlungen. Willkommen, Daina, willkommen im Hangar der ADAMAS.“

„Hangar?“

Der weißhaarige Mann lächelte und trat einen Schritt zur Seite. Dabei bog er die Halme nicht zur Seite, was eindeutig zeigte, dass er nur als Projektion anwesend war. Seine Rechte deutete nach oben in den freien Himmel, wo sich langsam ein Gebilde aus den Wolken schob.

Die Nachfahren der Dai reckten neugierig die Köpfe gen Himmel, um das Ereignis mitverfolgen zu können.

„Die ADAMAS“, sagte der weißhaarige Mann schließlich, als das Objekt vollständig zu sehen war.

„Na, da kraul mir doch einer den Pelz“, sagte Kitsune erstaunt. „Ich hätte nie gedacht, hier ein Kommandoschiff der Dai vorzufinden.“

Sie sah das Hologramm ernst an. „Wer bist du? Tylos? Andarath?“

Lächelnd schüttelte das Hologramm den Kopf. „Weder noch, Mit-Dai. Tylos war mein Vater. Er starb nach dem Angriff, aber zu einer Zeit, als ich noch ein Kind war. Er übergab mir die ADAMAS und die Daina dieser Welt, um auf sie zu achten, bis die Zeiten sich ändern.“

„Aha, wir haben es hier also mit Daina zu tun“, murmelte Hina und machte sich eine Notiz.

„Wollt ihr das Schiff besichtigen?“, fragte der Sohn von Tylos ernst.

„Später. Dazu ist später noch Zeit. Jetzt verrate uns erst einmal deinen Namen, Mit-Dai.“

„Mein Name ist Tyges, kleine Schwester, das geheimnisvolle Dunkel.“

„Mein Name ist Kitsune, die Füchsin.“ Sie kratzte sich verlegen den Haaransatz. „Ein Tier, das in der Mythologie der Erde als sehr schlau und Magiebegabt gilt.“

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge.

„Verzeihung, Kitsune, aber hast du Erde gesagt?“

„Ja, klar. Oder hast du was an den Ohren?“

„Ihr kommt von der Urheimat? Wir werden viel zu bereden haben.“

***

„Also nochmal von vorne“, sagte Sakura Ino sichtlich genervt und leicht überfordert über die Echtzeitleitung nach East End. „In der Dämonenwelt habt ihr was gefunden?“

„Eine Art Schlachtschiff der Dai. Es heißt ADAMAS. Der Name bedeutet soviel wie Unzerstörbar. Die Daina, die hier leben, haben…“

„Nicht so schnell. Und wieviele Menschen habt ihr in der Daimon gefunden, die von den Einheimischen Hangar der ADAMAS genannt wird?“

„Es gibt achtzigtausend Daina und noch einmal hundert Dai. Sie unterhalten seit dem Angriff und der Zerstörung ihrer Welt ein strenges Regime, Geburten- und Nahrungsfragen betreffend, deshalb war ihre Zahl bis auf zwei Ausnahmen in den letzten achttausend Jahren konstant.“

„Was sind das für Ausnahmen?“

„Nach fünfhundert Jahren im Exil und danach noch einmal nach tausend Jahren haben die Daina versucht, East End wieder zu besiedeln. Aber jedesmal kehrte das Schiff der Götter zurück und vernichtete die Zivilisation erneut. Dies dauerte zwar jedes Mal ein paar Jahrzehnte, aber es war dennoch eine endgültige Vernichtung. Tylos, der damalige Anführer, hat daraufhin angeordnet, dass niemand mehr den Hangar verlassen darf.“

„Um noch mal auf diesen Hangar zu sprechen zu kommen…“

„Ja, das ist ein interessanter Aspekt. Die ADAMAS ist ein, nun, Flaggschiff. Sie ist fast vier Kilometer lang, zwei breit und einen Kilometer am Heck und vierhundert Meter am Bug hoch. Sie hat diverse Waffensysteme, einen eigenen Sprungantrieb und Absprungvorrichtungen für Banges an Bord. Sie kann ein Personal von zehntausend Menschen fassen und bietet Platz für dreißigtausend weitere. Und das ist das Dilemma dieses Volkes. Die ADAMAS kann die Hälfte von ihnen evakuieren, aber eben nicht alle. Und der Hangar wurde einzig und allein eingerichtet, um die ADAMAS zu versiegeln. Als die eigentliche Daimon zerstört wurde, war der Hangar der einzige Rückzugspunkt, den aber nur achtzigtausend von dreißig Millionen erreichen konnten.

Sie haben zusammen zwei schwere Rückschläge erlitten und jedesmal war der Hangar ihr Zufluchtsgebiet. Es gab eine Zeitlang Pläne, diese Welt zu evakuieren, die ADAMAS zurückkehren zu lassen und die andere Hälfte der Bevölkerung zu holen, aber die Verantwortlichen um Tyges sind sich sicher, dass der Hangar enttarnt ist, sobald die ADAMAS startet. Es sind ihre Konverter, die diese Daimon stabil halten, und ohne das Schiff fällt sie in sich zusammen. Und in einem anderen Punkt sind sie sich auch sehr sicher. Wenn der Hangar enttarnt ist, braucht das Götterschiff keine Jahre, um zurückzukommen. Bestenfalls Monate oder sogar nur Wochen.“

„Verstehe. Und wir brechen nun in ihre Welt ein und haben damit vielleicht unwissentlich den Göttern einen Hinweis darauf gegeben, wo sich das Flaggschiff befindet.“ Sakura atmete tief durch. „Dann müssen wir die Evakuierung übernehmen.“

„Äh, Sakura, wir…“

„Kitsune muss mit Tyges reden. Er muss einsehen, dass die Gefahr, erneut angegriffen zu werden, die Gefahr, diesmal entdeckt worden zu sein, viel zu hoch ist. Ich übernehme gerne die Verantwortung für seine Leute, aber er muss sich schnell dazu entschließen. Ich habe auch keine Probleme damit, ihn und die seinen hier zurückzulassen, wenn er es unbedingt wünscht. Er darf gerne pokern.“

„Sakura, hörst du mir jetzt endlich mal zu?“ Verzweifelt rollte Hina die Augen.

Für einen Moment musste die Admirälin schmunzeln. „Rede.“

„Tyges bietet uns die ADAMAS zum Kauf an. Als Bezahlung erwartet er die Evakuierung seines Volkes von East End. Außerdem stellt er das komplette Personal, inklusive Banges-Piloten und Infanterie. Er ist sich selbst bewusst, dass die Position des Hangars voraussichtlich aufgeklärt wurde.“

Sakura starrte die KI-Meisterin für einen Moment erstaunt an. Dann nickte sie. „Ich lenke Kei und seine Flotte sofort von West End nach East End um. Er beginnt eine erste Evakuierungsmaßnahme. Außerdem schicke ich euch an Schiffen, was immer ihr braucht. Wir springen in acht Tagen, bis dahin muss alles erledigt sein.“

„Das ist mehr Zeit als wir brauchen werden. Die Dai und Daina des Hangars sind sehr begierig darauf, ihr Gefängnis verlassen zu dürfen.“

„Dann ist ja alles geklärt. Wir beginnen sofort. Ach, und Hina. Gute Arbeit, da unten.“

„Ich weiß“, erwiderte die Slayerin eine Spur zu großspurig, als das es ernst gemeint hätte sein können.

Lächelnd schaltete Sakura die Verbindung um. Ihr Bruder erschien nun. „Mako-chan, auf uns wartet eine Menge Arbeit.“

„Ich lasse bereits zwei der Frachtschiffe komplett leer räumen. Es ergehen bereits Aufrufe an die Stadtbevölkerung von Fushida und die kleinen Ortschaften, leer stehenden Wohnraum zu melden. Wir entsiegeln die Appartements in der Felswand, und notfalls können wir binnen weniger Stunden eine Zeltstadt für zwanzigtausend Menschen errichten.“ Ihr kleiner Bruder runzelte die Stirn. „Du planst doch die Evakuierung der Daina aus der Daimon, oder?“

„Wann hast du nur gelernt, so präzise meine Gedanken zu lesen?“, tadelte sie. „Häng dich rein, okay?“

„Kein Problem. Ban Shee Ryon wird sich freuen, wenn sie wieder mal für Kei fliegen darf.“

Die Verbindung erlosch, und Sakura war sich sicher, dass Mako erst seine Freundin Joan von seinem Schoss runter scheuchte und sich dann in den Wust an Arbeit stürzte, der auf ihn wartete.
 

4.

Die Operation dauerte sieben Tage an. Mit einem gewissen Bedauern sah Sakura auf die Hologramme der beiden Welten East End und West End herab. Unter anderen Umständen hätten sie gute Siedlungswelten abgegeben, aber nicht solange sie unter der Beobachtung der geheimnisvollen Götter standen.

„Ma´am, wir sind in zwei Stunden bereit zum Sprung.“

„Danke, Hitomi-chan. Nachricht an die Flotte. Für Sprung bereit halten. Die letzte rückwärtige LRAO-Patrouille soll ihren Condor und seine Begleitmannschaft rein bringen.“

„Verstanden, Admiral.“ Die Kommunikationsspezialistin wandte sich wieder ihrer Sektion zu.

„Das ist es also. Wir spielen wieder mal Fährschiff, hm? Und wohin bringen wir sie? Terra? Mars? Lorania?“, fragte Kommodore Genda neben ihr nachdenklich.

„Wohin immer sie wollen. Immerhin haben sie für den Flug bezahlt.“ Lächelnd deutete Sakura auf das Hologramm, welches die sie umgebenden Schiffe darstellte. Nicht einmal die SUNDER konnte es mit dem Giganten ADAMAS aufnehmen. Alle Schiffe wirkten neben ihm wie Spielzeuge.

„Admiral. Nachricht von LRAO fünf, Kommando unter Colonel Ataka.“

„Durchstellen. Zeitdilatation?“

„Drei Minuten, Ma´am, verringert sich schnell. Ich stelle durch.“

Zuerst war nur Statik zu hören, dann aber klang die Stimme des Oyabuns der AURORA klar und verständlich aus den Lautsprechern. „Hier spricht Colonel Ataka. Ich überspiele jetzt exklusive Fernaufnahmen, die uns von der Beobachtungssonde aus dem Orbit von East End übertragen wurden. Zugleich empfehle ich Alarmstufe eins.“

„Einspielung der Kameradaten kann jetzt erfolgen, Admiral.“

„Auf den Hauptschirm.“

Der unverkennbare Orbit von East End erschien. Deutlich war jene Region zu erkennen, unter der sich der Hangar der ADAMAS befunden hatte. Ein riesiger weißer Blitz raste auf diese Position zu, löste eine Detonation aus, welche die Kamera kurzzeitig blendete und hinterließ eine Explosionswolke, die bis hinauf ins Weltall schoss und sogar die Sonde umspülte.

„Junge, Junge, bei dem Rumms hätte es den Planeten auch längs spalten können“, brummte jemand ehrfürchtig.

Sakura gab ihm in Gedanken Recht. Die Kamera, behindert von Dreck und kleineren Steinen, schwenkte suchend im Orbit umher und fand schließlich, was diese Katastrophe ausgelöst hatte. Ein gespenstisch großes, schneeweißes Schiff flog neben der Sonde im Orbit. Die Abstrahlfelder der Hauptwaffe glühten noch immer nach. Für den Schuss hatte das Schiff den Bug gen Erdboden gedreht, nun wendete es erneut und richtete den Bug von East End fort. Dann zündete es den Hauptantrieb und verließ den Orbit mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit. Die Sonde hielt das Schiff in optischer Erfassung, während am Rand des Bildes Daten über Größe, Beschleunigung pro Sekundenquadrat und voraussichtliche Waffenstärke herabliefen. „Acht Kilometer? Und dann kann das Ding beschleunigen wie ein Hawk mit Booster?“, hauchte jemand ehrfürchtig.

Sakura hieb auf den großen Alarmknopf. Großalarm für das Schiff und die Flotte wurde ausgegeben.

„Wie Sie anhand der Kursberechnungen feststellen werden“, erklang wieder Doitsus Stimme, „folgt das Schiff nun der AURORA. Bei gleichbleibender Beschleunigung, und wenn es nicht abbremst, wird es in etwas weniger als vier Stunden eintreffen. Ich hoffe, bis dahin haben mein Team und ich eingeschleust. Wenn nicht, nehmt keine Rücksicht auf uns, AURORA.“

„Wünschen Sie Colonel Ataka und seinen Leuten alles Gute“, sagte Sakura tonlos. „Und beginnt sofort damit die Hämmer des Hephaistos aufzuladen. Die Begleitschiffe sollen ebenfalls zum feuern einkehren. Wir verpassen ihnen eine volle Breitseite.“

Sakura runzelte nachdenklich die Stirn. „Wie stark ist wohl die Hauptwaffe der ADAMAS?“

***

„Weiß. Warum muss es weiß sein? Wollen die so genannten Götter etwa jedes idiotische Klischee bedienen?“ Megumis Stimme klang nicht wirklich erfreut, während sie dies sagte. Sie hatte schon ein Problem damit, die unbekannte Besatzung des Schiffs, welches den Hangar der ADAMAS vernichtet hatte, mit dem Namen Götter zu beschreiben. Aber mit der Tatsache, dass der Angreifer nun die AURORA verfolgte, hatte sie ein echtes Problem.

„Wenn es dich beruhigt, Schatz, das Schiff ist nicht wirklich weiß. Es ist eine Art Tarnschild, der dem menschlichen Auge weiße Farbe vorspielt. Der Tarnschild verhindert, dass wir die Konturen des Giganten einsehen können, sei es Mensch, sei es Maschine. Ich selbst sehe das Ding nicht weiß, sondern im ultravioletten Bereich hell strahlen.“

„Danke für den hilfreichen Kommentar, Lady Death.“

„Da nicht für, mein Mädchen. Du weißt doch, ich helfe immer gerne mit neuesten Erkenntnissen aus, wenn sie gefragt sind.“

Megumi ging über den spöttischen Kommentar hinweg. Ihr Hawk unterhielt sich nach ihrem Empfinden viel zu häufig mit Prime Lightning, dem Akira irgendwann ein Sarkasmus-Update verpasst haben musste. In diesem Moment stand Prime hinter ihrer Lady Death, zusammen mit dreihundert weiteren Mechas der Hekatoncheiren, dem Red Team, Kuratovs Freiwilligen und Yohkos Ki-Meistern. Wenn der Angriff mit den Hämmern des Hephaistos schief gehen sollte, würden diese Maschinen ihr Bestes geben, um das Götterschiff dennoch aufzuhalten. Irgendwie.

Im Moment war Sostre am Steuer von Prime. Es wunderte Megumi, dass der Daishi mit dem Hawk-Gehirn den Naguad als Piloten akzeptiert hatte. Sie hätte eher erwartet, dass Micchan in seinem Pilotensitz landen würde, aber der junge Kronosier hatte sich bereits für einen Phoenix entschieden.

„Nachricht von Sakura-chan“, flötete die Stimme der künstlichen Intelligenz. „Die Begleitschiffe, die SUNDER und die ADAMAS haben ihr Drehmanöver beendet. Nun können sie zwar nicht mehr beschleunigen, aber die Hauptwaffen aller Großkampfschiffe zeigen auf das Götterschiff. Wenn jetzt noch was schief geht, dann liegt es nicht mehr an uns.“

„Das ist ja genau das, was ich befürchte“, murmelte Megumi betreten. Wie nichts anderes in der Welt wünschte sie sich nun Akira an ihre Seite. Alleine seine Anwesenheit hätte ihre Zuversicht ins Unermessliche gesteigert. Mit Akira konnte nichts mehr schief gehen und… Aaaaah, was tat sie da? Akira war nicht da, sie trug die Verantwortung, und sie sollte sich einzig und allein darauf konzentrieren, ihre Probleme selbst zu lösen!

Langsam entkrampfte sie ihre Hände wieder.

„Na, Schatz, denkst du wieder an deinen Liebsten?“, neckte der Hawk. „Dein Puls ist nämlich gerade in bemerkenswerte Höhen geschnellt.

„Als wenn dich das was angehen würde“, konterte sie.

„Na, es beruhigt mich zu wissen, dass du immer noch an ihn glaubst. Akira würde dir sonst den Hosenboden stramm ziehen, sobald wir ihn gefunden haben.“

Megumi stockte. Selbst die K.I. ihres Hawks, eine rein nüchtern, logisch denkende Existenzform, glaubte daran, dass sie Akira wiederfanden. Nein, in diesem Fall musste man sagen, die Berechnungen von Lady Death sagten eindeutig aus, dass die Chancen, den Commander zu bergen höchstwahrscheinlich waren.

„Danke“, hauchte sie.

„Da nicht für, Schatz“, erwiderte Lady Death mit einer Wärme in der Stimme, die unmöglich programmiert worden sein konnte.
 

„Poseidon, hier spricht Poseidon. Zuallererst willkommen zurück, Colonel Ataka. Sie haben es gerade rechtzeitig zum großen Feuerwerk geschafft.“

Gelächter antwortete auf der allgemeinen Frequenz. Tatsächlich hatte Doitsus Team erst vor wenigen Minuten die Booster abgelegt und in die Hekatoncheiren eingegliedert.

„Und nun Anweisung an alle Schiffe, an alle Mechas. Die Begleitschiffe und die konventionellen Waffen der AURORA eröffnen das Feuer. Die drei Hämmer des Hephaistos werden feuern, sollte das Ziel davon nicht zerstört worden sein.

Feuer frei bei Countdown null von sechzig.

Sechzig… Fünfundfünfzig…Fünfzig…Fünfundvierzig…“

Rund um Lady Death erwachte das eisige All zum Leben. Auf der kantigen Oberfläche der AURORA schoben sich Raketenwerfer gen Himmel, konventionelle Partikel- und Laserkanonen suchten ihr riesiges Ziel.

Vor den Schiffen der Bismarck-Klasse glühten die Abstrahlpole der Hauptwaffen grell auf. Laut Plan würden zuerst die Projektile gestartet werden, danach würde gut getimed der Angriff mit den lichtschnellen Waffen erfolgen, um ein Höchstmaß an Schaden zu ermöglichen.

„Zehn…Fünf, vier, drei, zwei, eins… Feuer!“

Megumi Uno hatte schon oft in Gefechten gesteckt, viele davon persönlich beendet. Sie hatte im Erdorbit, in drei fremden Systemen und über dem Mars gekämpft. Sie hatte in Schlachten gesteckt, die so gewaltig und unwirklich gewesen waren, dass sie heute noch nicht begriff, warum sie noch am Leben war. Aber all das war nichts gegen die volle Salve der Flotte.

Raketen zischten von der Oberfläche der AURORA ins All. Einige von ihnen waren mehrere Meter lang. Überall rund um die AURORA sah man die glühenden Herzen der Raketenmotoren von den Schiffen fortstreben. Was immer das Götterschiff auf die jetzige Distanz bekämpfen konnte, hatte abgeschossen was es hatte.

Es vergingen ein paar Sekunden, die glimmenden Funken der Raketen waren schon fast erloschen, da begannen die anderen Waffen zu feuern. Megumi fühlte den Boden unter ihren Füßen vibrieren, und diese Vibration verursachte die Illusion, dass die Schiffe rund um die AURORA ebenfalls unter den Abschüssen ihrer Waffen vibrierten.

Dann erfolgten die ersten Explosionen.

Eingezeichnet von Lady Death sah Megumi, wie vom Götterschiff meterdicke Energiebalken aufstiegen und durch die Reihen der Raketen fuhren und die gefährlichen Waffen schon auf sicherer Distanz zerstörten. Aber einige gingen durch, trafen auf die Schilde des fremden Schiffs und ließen ihn lichterloh aufglühen. Die Ausdehnungen des Schilds waren gigantisch, wie Megumi erwartet hatte.

Dann trafen die lichtschnellen Waffen und ließen den Schirm erneut wetterleuchten. Aber er hielt.

„Feuer frei für Hammer des Hephaistos.“

Die gigantische Kanone des Hammer des Hephaistos aktivierte sich und feuerte. Von diesem Schuss vibrierte der Boden wirklich. Nachdem sich das Energieversorgungsnetz der AURORA erholt hatte, folgte der zweite Schuss, während der erste gerade mal in den Schirmen des Götterschiffs endete. Die Wirkung war nicht zu eruieren.

Der zweite Schuss schlug gerade in die Schirme ein, als der dritte genügend Energie hatte, um selbst zu feuern.

„Die Hammer wieder aufladen. Begleitschiffe bereit machen für erneutes Salvenfeuer.“

Megumi konnte ein atemloses Aufkeuchen nicht unterdrücken. Sie wusste was ein Hammer mit einer Flotte Raider angestellt hatte, sie hatte die Aufzeichnungen und Analysen gesehen. Und drei von diesen Hammern konnten das Feindschiff nicht einmal ankratzen, geschweige denn seine Schilde? Der dritte Impuls schlug ein und riss nun endlich den Schirm auf. Immerhin. Aber dadurch konnten die Ortungen der menschlichen Flotte nur zu gut anmessen, dass die Hauptwaffe des Götterschiffs kurz vor der Entladung stand.

„Es ist gar nicht weiß. Es ist schwarz, tief schwarz“, hauchte Megumi.

„Es hat gar keine Farbe, Schatz. Es strahlt nur auf allen Frequenzen wie ein Weihnachtsbaum beim Wohnungsbrand.“

Megumi wollte die Augen schließen. Dies war womöglich ihr Ende. Sie wollte das nicht, um Himmels Willen, sie wollte das nicht, aber der erste Schuss dieser gewaltigen Waffe würde die AURORA treffen, und damit sie. Und ohne die Unterstützung würde die terranische Flotte hier gestrandet sein. Wenn das Götterschiff überhaupt etwas übrig lassen würde.

„Ich messe etwas an“, sagte Lady Death und holte einen Ausschnittsvergrößerung noch näher heran. „Eine getarnte Korvette. Sie fliegt auf Kollisionskurs! Sie passiert die Bresche im Schild! Sie…!“

Eine Explosion, so gewaltig, dass trotz der automatisch vorgeschalteten Filter grelles Licht bis in Megumis Cockpit leuchtete, brandete heran und schien alles um sie herum in strahlendem Weiß ersticken zu wollen.

„Megumi, bist du noch da?“

„Nein, ich glaube, ich bin tot. Bist du das, Mamoru?“

„Tut gut, deine Stimme zu hören. Wir dachten schon, die Explosion hat euch alle von der Oberfläche gefegt.“

„Was ist passiert?“, krächzte sie mit rauer Stimme.

„Unser Trumpfaß. Sakura hat befohlen, eine Korvette mit Sprengstoff vollzustopfen. Dann hat das Ding sich getarnt und selbstständig – also ohne Besatzung – das Gigantschiff angeflogen. Als es die Chance hatte, hat sich die Korvette auf das Riesenschiff gestürzt. Aber die Sekundärexplosion war weit heftiger als wir es jemals erwartet haben.

Bevor du fragst, wir hielten es für sicherer die Sache geheim zu halten, und damit zu vermeiden, dass dreitausend Ortungsoffiziere versuchen, eine Spur des getarnten Schiffs zu entdecken.“

„Verstehe. Wie ist die Lage?“

„Die Schiffe der Flotte drehen wieder auf Kurs ein. Der Sprungantrieb wird aufgeladen.“

„Heißt das, das Götterschiff wurde vernichtet?“

„Ja, das wurde es. Deshalb sehen wir auch zu, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, denn ich will nicht da sein, wenn ein weiteres dieser Schiffe hier auftaucht. Noch einmal klappt der Trick mit der getarnten Korvette sicher nicht.“

Gerettet. Zumindest vorerst. Und eine Stunde bis zum nächsten Sprung. Das waren doch wirklich gute Neuigkeiten. Bis auf Mamoru Hatakes Vermutung, dass es mehr als ein Schiff der Götter gab.

Ein Problem gelöst, zwei neue taten sich auf. Megumi seufzte tief und schwer. „Ich glaube langsam kriege ich eine Ahnung davon, wie sich Akira gefühlt haben muss, als er den OLYMP übernommen hat.“
 

Epilog:

„Wie ist es denn so in deiner Welt?“ Die Herrin des Paradies saß neben mir. Sie hatte die Beine angezogen und umklammerte sie mit der Linken. Mit der Rechten fuhr sie sich durch ihr Haar, das in der stetigen Meeresbrise wie eine Fahne flackerte.

„In meiner Welt? Da riecht das Meer nach Salz.“

„Was ist so besonders am Geruch von Salz? Zwei primitive Atome, zu einem beinahe ebenso primitiven Molekül vereint, in der Lage kristalline Strukturen zu formen… Wie kann es besonders riechen?“

„Es ist nicht das Molekül, das besonders riecht. Natriumchlorid alleine ist nicht sehr besonders. Aber stell dir genügend Salz vor, um dieses riesige Meer salzig zu machen. So salzig, dass du es nicht trinken willst.“ Ich warf der jungen Frau einen Blick zu. „Entschuldige. Ein unpassender Vergleich.“

Aber sie schien nicht richtig zugehört haben. „Salz riecht also besonders. Aber es schmeckt nicht?“

„Doch, es schmeckt schon. Aber wenn zuviel Salz in einer Sache ist, schmeckt es nicht mehr. Leider.“

„Dann tut man eben etwas Salz wieder ab.“

„Das geht leider nicht immer so leicht. Salz kann sich nicht nur auf molekularer Ebene verbinden, es wirkt auch auf seine Umgebung, wenn lediglich die kristalline Grundstruktur aufgelöst wird. Wir sprechen dann von salzig.“

„Maltran, weißt du, wovon er spricht?“

Maltran Choaster, mein Stellvertreter und nach mir ranghöchster Offizier des Cores, nickte. „Ja, ich weiß was er meint.“ Er sah hinaus auf das eigentlich nicht existente Meer und genoss das Gefühl der letzten Sonnenstrahlen auf seiner Haut. „Es hat etwas damit zu tun, dass man nicht bestimmen kann, diesen Sonnenuntergang gleich noch mal zu erleben. Damit, dass man Regen nicht befehlen kann nicht zu fallen. Oder damit, dass ein Unwetter dich weit länger walkt, fordert und quält, als du es eigentlich ertragen willst. Man ergibt sich bis über einen gewissen Punkt hinaus seiner Umgebung.“

„Ich weiß nicht, ob das besonders erstrebenswert ist“, murrte Aris und zog die Beine noch ein wenig enger an.

„Im Moment habe ich einen Körper, und ich genieße diese Zeit“, murmelte Maltran etwas gedankenverloren vor sich hin. Er nahm ein paar kleine Steinchen auf und warf sie in die Brandung. „Gewiss, ich kann in dem Trubel, den Akira ausgelöst hat, sterben, solange ich meinen Körper, meinen realen Körper dieser Gefahr aussetze. Und ich weiß, dass ich bald wieder in den Tank zurück muss, damit mein Körper nicht zu sehr altert da draußen, und ich mir noch ein paar weitere dieser Ausflüge genehmigen kann. Aber es lohnt sich. Es lohnt sich wirklich. Wobei Salz eine der feinsinnigeren Erfahrungen ist. In Akiras Nähe spüre ich nämlich eher sonst die grobe Kelle in Form einer Überdosis Adrenalin.“

„Spötter“, tadelte ich und gab dem Freund einen kräftigen Schubs.

Maltran lachte auf, ließ sich umwerfen, setzte sich aber gleich wieder auf.

„Adrenalin. Ein Stresshormon, ausgeschüttet von den Nebennieren. Verursacht beschleunigten Herzschlag, erhöhten Stoffwechsel und eine Übersensibilisierung der Sinne. Klingt sinnlos.“

„Weil du es noch nie selbst erlebt hast, Herrin. Es ist genauso gefährlich wie sinnlich. Eine besondere Erfahrung.“

„Wie merkwürdig. Ein Körper bedeutet nicht ewig zu leben. Wie kann man nur einen Körper wollen?“, murrte sie.

„Herrin, es ist etwas passiert.“ Die große Matrone im Kapuzenkleid stand so plötzlich neben mir, dass ich erschrocken zusammenzuckte. Ihr Blick war weit ernster als sonst.

„Unsere Agenten berichten, dass die Götter den Kontakt zu einem ihrer Strafer verloren haben. Augenscheinlich wurde er vernichtet, als er Terraner in einem verbotenen System verjagt hat.“

Terraner! Dieses Wort ließ mich auffahren. Ich konnte nicht anders, ich ballte die Hände zu Fäusten und schrie meinen Triumph in die künstliche Welt hinaus.

„Du freust dich darüber? Ab jetzt wird alles schwerer für die Terraner“, tadelte Aris.

„Nein, Herrin. Ab jetzt wird alles anders. Vollkommen anders.“

Götterland

1.

Es war noch nicht allzu lange her, da hatten die Offiziere der Hekatoncheiren Witze darüber gerissen, auf welche Weise sie Akira Otomo wiederfinden konnten.

Die Spötter unter ihnen hatten Eikichi Otomo zitiert: „Folgt den Explosionen.“

Die Realisten hatten Admiral Richards zitiert: „Warten wir einfach, bis der Core ihn selbst wieder rausrückt.“

Nun, irgendwie hatte Megumi das Gefühl, dass das Chaos, welches hier im Doppelsternsystem Arcturus herrschte, mit Akira zu tun hatte. Es musste so sein, definitiv.

„Division Commander Uno auf Katapult eins, jagt mich raus!“

„Gute Jagd, Commander!“, hallte die Stimme des Katapultchefs in ihren Ohren, Augenblicke, bevor sie vom Katapult ins All geschossen wurde.

Eine Abteilung der Hekatoncheiren erwartete sie bereits, während die anderen Mechas der Elite-Truppe aus acht Katapulten ins All geschossen wurden.

„Bericht, Dai-chan.“

Daisuke Honda etablierte eine Verbindung zu ihr und erschien auf einem Hilfsmonitor. „In diesem System tobt eine gigantische Schlacht, Megumi. Sie spielt sich vor allem auf Höhe des Trümmergürtels sieben ab und… Äh, dieses Sonnensystem hat keine Planeten nur neun Trümmergürtel. Und auf Höhe des siebten, ungefähr eine Lichtminute von uns entfernt, bekämpfen sich etwa siebzehn Raumschiffe. Eine erste Klassifikation spricht von drei Kreuzern, acht Zerstörern und sechs Fregatten. Autsch, sieben Zerstörern. Wir können noch nicht sagen, wer hier gegen wen kämpft, oder gegen was, aber es sind zumindest keine Einheiten des Cores dabei. Wir warten auf die Dechiffrierung des Normalfunks.“

„Poseidon, hier Poseidon. Wir überspielen die Auswertung der Transponder. Demnach handelt es sich bei der kleineren Flotte, bestehend aus einem Kreuzer und vier Zerstörern um Einheiten des Kaiserhaus, während die größere Flotte der Koalition genannten Fraktion angehört. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass die kaiserlichen Einheiten gerade verlieren.“

„Admiral Ino hier. Für unsere Bitte nach der Position von Yossha ist es vielleicht nicht verkehrt, wenn wir jetzt schon ein wenig punkten. Wir bieten den kaiserlichen Schiffen unsere Unterstützung an.“

„Ob das so klug ist?“, klang die Stimme von Sostre Daness auf. „Immerhin wissen wir überhaupt nichts über den Konflikt, der da draußen stattfindet. Wir könnten es eher schlimmer als besser machen.“

„Erstens“, klang wieder Sakuras Stimme auf, „stehen Terraner immer den Schwächeren bei, zweitens haben wir was gegen unfaire Kräfteverteilungen und drittens stellt sich die Situation so da, dass hier reguläre Truppen auf Rebellenschiffe getroffen sind und nun vernichtet zu werden drohen. Und Rebellion gegen die bestehende Ordnung ist immer verachtenswert.“

„Es gibt eine Ausnahme, Sakura. Wenn die Rebellen gewinnen und selbst die neue Ordnung stellen, ist alles in Butter.“

Die Admiralin lachte auf. „Okay, ich sehe was du mir sagen willst. Da wir jetzt hier der dickste Fisch im Teich sind, eilen wir zur Schlacht und beenden sie – auf Terranerart. Wir okkupieren dieses System und fordern alle Einheiten auf, die Kämpfe einzustellen.“

„Systeme zu okkupieren scheint Sakuras neues Hobby zu sein“, murmelte Megumi. „Alleine bei den Flügen von und nach Kanto hat sie schon sechs Systeme okkupiert, und mit Groombridge und Greenwich sind wieder zwei dazu gekommen.“

„Mir macht nicht das okkupieren Sorgen, mein Mädchen“, meldete sich Lady Death zu Wort, „sondern das halten der Systeme. Arcturus ist definitiv ein wenig weit entfernt, und auf den ersten Blick ist hier nicht besonders viel zu holen, denke ich.“

„Wer weiß, vielleicht bestehen die Trümmergürtel ja aus hochwertigen Erzen“, scherzte Megumi.

„Divison Commander Uno, haben Sie meine Anweisungen verstanden?“, klang Sakuras Stimme in ihrem Helm auf. KzK-Leitung, erkannte sie sofort, Kommandeur zu Kommandeur.

„Jawohl, Ma´am. Wir wissen nicht, wer diesen Kampf angefangen hat und wer hier auf welche Art auch immer im Recht zu sein glaubt, aber wir werden ihn beenden. Ich lasse ein Regiment der Hekatoncheiren mit Boostern ausrüsten. Bekommen ich Yohkos Einheit?“

„Du bekommst Yohkos Einheit. Fliegt vor und versucht die Streithähne – aua, das muss weh getan haben, wieder ein Zerstörer weniger – solange noch was übrig ist, dazu zu überreden, das Feuer einzustellen. Ihr habt Erlaubnis, Gewalt anzuwenden. Megumi, du hast doch nicht vergessen, wie das geht, oder?“

„Ich bitte dich. Ich mache den Job seit sieben Jahren. Nur weil ich von Gesetz wegen ein verhätscheltes Püppchen im Daness-Turm sein sollte, habe ich nicht vergessen, was ich in dieser Zeit gelernt habe.“

„Umso besser. Mit einem verhätschelten Püppchen könnte Akira auch nichts anfangen.“ Eine kleine Pause entstand, in der Sakura ein nachdenkliches Geräusch machte. „Außer natürlich sie ist so hübsch wie du.“

„Spötterin“, tadelte Megumi und fühlte ihre Wangen heiß werden. „Lady Death, Verbindung zu Gyes. Alle Heads, alle Hands. Verbindung zum Otome-Bataillon. Einschleusen für die Umrüstung auf Booster. Kampfbewaffnung. In einer Viertelstunde will ich mit allen Einheiten unterwegs sein.“

„Bestätigung von alles Einheiten der Gyes und der Otome-Einheit. Otome hat noch nicht ausgeschleust und rüstet bereits auf die Booster um.“

„Hina ist ein gutes Mädchen“, stellte Megumi Uno zufrieden fest und warf Lady Death herum, um ebenfalls wieder auf der AURORA zu landen.

***

Den Funkcode zu knacken stellte für die erfahrenen Sprachwissenschaftler unter Henry Taylor nur eine Fingeraufgabe da. Seine Erfahrungen bei der Recherchearbeit im Kanto-System und später in den Türmen der Naguad waren dabei mehr als nützlich. Mehr und mehr machte sich der große, braungebrannte Mann unverzichtbar, wie Megumi mit einem gewissen Amusement feststellte. Sie hatte eigentlich erwartet, Sean zu hassen, wie der richtige Name des MI6-Agenten lautete. Aber das hatte nicht funktioniert. Dieser Mann war nicht nur mit Leib und Seele Henry geworden, er war auch schon einmal gestorben, getötet von Akiras Hand, und mit dieser Erkenntnis war ihr ganzer Hass, den sie für ihn empfand, hinfällig geworden. Er war wiedergeboren worden und hatte ein neues Leben begonnen. Und in diesem Leben war er unendlich wertvoll für sie und vor allem für Akira. Das war Grund genug, ihn mit einem gewissen Wohlwollen zu sehen. Nun, sie würde ihn nie lieben, sicher nicht, und Yohko würde nie mehr als die nötigen Worte mit ihm wechseln. Aber sie kamen miteinander aus, und das war das entscheidende.

Obwohl… Megumi hatte erhebliche Schwierigkeiten, zu akzeptieren, was Ai Yamagata, dieses zierliche, sanfte und schüchterne Mädchen nur an diesem Riesen von Kerl fand. Und wenn sie ehrlich sah, bescherte der Gedanke daran, dass sie ein festes Paar waren und Sex hatten, Albträume. Und sie wollte es sich auch gar nicht vorstellen, aber diese Bilder kamen manchmal von ganz alleine. Dabei ängstigte sie am meisten wie die sanfte, zarte Ai, die vor wenigen Wochen noch in einem Biotank gelegen hatte, in Henrys Armen die Persönlichkeit wechselte und rau, wild und fordernd wurde und… Himmel, gab es denn keine Möglichkeit, ausgerechnet diese Gedanken abzuschalten?

Arbeit, Arbeit, das lenkte doch immer ab. Zum fünften oder sechsten Mal spielte sie sich eine chiffrierte und übersetzte Sequenz der Funksprüche vor, die sie von Poseidon erhalten hatte.

„ARGONAT und Flotte! Hier spricht Admiral Kyona. Ergeben Sie sich, drehen Sie bei und lassen Sie Entermannschaften an Bord kommen!“

„RUUDOM, hier ARGONAT. Kapitän Slever yan Tybal hier. Ich informiere Sie hiermit, dass Sie, Ihre Besatzung und die Sie begleitenden Schiffe einen Akt der Piraterie begehen! Senken Sie die Schirme, drehen Sie bei und lassen Sie Ihrerseits Entermannschaften an Bord, und ich werde auf eine harte Bestrafung verzichten. Außerdem werde ich beim Kaiser vorsprechen und dafür sorgen, dass Ihre Mannschaften straffrei ausgehen!“

„Sie verkennen die Situation, yan Tybal. Wir beherrschen dieses Schlachtfeld. Wenn Sie also nicht zerstört werden wollen, dann ergeben Sie sich. Bis ich Ihre Einwilligung in die bedingungslose Kapitulation erhalte, werden meine Schiffe weiterfeuern.“

„Was macht es für einen Unterschied, ob wir uns ergeben oder nicht?“, kam die Antwort mit bitterer Stimme. „Wir gehören zur Flotte des kaiserlichen Clans. Uns bleibt nur Flucht oder Vernichtung. Aber andere kaiserliche Einheiten werden uns rächen!“

„Sie missverstehen uns. Das Generalinterdikt des Intendenten besagt eindeutig, dass sich ergebende Einheiten zu schonen sind. Diese Revolution, wie Sie sie nennen, Kapitän, ist nicht der Versuch, die eine Familie als kaiserliche Familie abzulösen und eine andere zu etablieren. Diese Revolution soll letztendlich allen zugute kommen, auch den Tybals. Also haben Sie etwas Vertrauen in den Intendenten und denken Sie an Ihre Leute. Das sind alles Iovar, die Ihrem Clan fehlen werden, wenn wieder Friede herrscht und die Clans gleichberechtigt regieren werden.“

„Gleichberechtigt regieren, ha! Irgendeine Familie wird sich schon wieder an die Macht drängen und die anderen Familien auf ihren Platz verweisen! So sieht Ihre Realität aus!“

„Wenn wir das zulassen, haben wir nichts besseres verdient. Ich für meinen Teil vertraue dem Intendenten. Und ich habe ihn sprechen gehört. Deshalb liegt es mir fern, hier weiter unschuldiges Tybal-Blut zu vergießen.“

„Und Sie feuern trotzdem weiterhin auf meine Schiffe“, erwiderte der andere voller Spott in der Stimme.

„Nun, ich halte auch nichts davon, Kyona-Blut, Desveegen-Blut oder Lencis-Blut zu vergießen. Aber wenn Sie ein wenig auf Ihre Orter gucken, dann sollten Sie erkennen, mein lieber Tybal, dass die Rettungseinheiten unserer Flotte ihre Leben riskieren, um die Iovar aus Ihren abgeschossenen Schiffen zu retten. Natürlich sind sie erst einmal Gefangene, aber nur bis der Konflikt entschieden, der Kaiser entmachtet und seine Familie einem gleichberechtigten Platz unter den anderen Clans zustimmt. Und aus dieser Gleichheit heraus werden wir die Zukunft des Kaiserreichs formen!“

„Gut reden kann Ihr Intendent ja!“

„Und er handelt auch gut. Immerhin hat er eine Niederlage in einen absoluten Vorteil verwandelt.“
 

Megumi brach die Aufzeichnung ab. Es schien nicht so, als hätte der Kyona den Tybal überzeugen können. Die kaiserlichen Schiffe flohen noch immer und die Koalitionsschiffe feuerten noch immer.

Etwa zehn Minuten nach diesem Dialog war die Flotte der Terraner beim Wiedereintritt bemerkt worden, hatte Sakura ihre Rede gehalten, in der sie das Arcturus-System für die UEMF annektierte und beide Parteien dazu aufgefordert, die Schlacht sofort einzustellen. Es hatte keine Antwort gegeben.

Sekunden darauf war Gyes mit den Boostern gestartet, das Otome-Bataillon im Schlepp.

Und nun waren sie fast in Realfunkreichweite. Einhundertsechzig Mechas unbekannter Bauweise waren eine Macht, die selbst die angeschlagenen zwei Flotten nicht ignorieren durften.

„Wir sind in Realfunkreichweite, Schatz“, meldete Lady Death.

„Danke dir. Gyes, auffächern. Colonel Ataka, die einzelnen Schiffe zuteilen. Otome-Bataillon, achtet auf gegnerische KI-Meister. Das sind eure Primärziele.“

„Verstanden. Ich weise die einzelnen Schiffe zu.“

„Alles klar. Wir achten auf KI-Meister, Commander.“

Na, das ging doch. Doitsu und Yohko konnten ja wirklich mal militärisch exakt sein, wenn sie es wollten.

„Öffne mir einen Kanal zu den Schiffen da draußen. Werden sie Nag-Alev verstehen?“

„Das ist nicht sicher. Sakuras Ansprache in Nag-Alev wurde jedenfalls nicht beantwortet.“

„Wie wäre es mit Untertiteln? Den Naguad ist doch sicherlich Schrift und Sprache des Kaiserreichs bekannt?“

„Eine gute Idee, Schatz. Verbindung steht in drei Sekunden.“

Megumi lächelte grimmig. Dann blinkte eine Anzeige vor ihr auf und signalisierte ihr, dass sie nun auf jedem der Schiffe theoretisch gesehen werden konnte.

„Hier spricht Division Commander Megumi Uno von der United Earth Mecha Force. Ich fordere Sie hiermit auf, die Kämpfe einzustellen. Dieses System wurde von der UEMF in Besitz genommen, und wir haben diesen Kampf nicht gestattet. Deaktivieren Sie Ihre Waffen und verlassen Sie friedlich das System. Wenn es geht an verschiedenen Absprungpunkten.“

Ein Hilfsmonitor flammte auf. Ein grauhaariger, aber jugendlich wirkender Mann rief sie von der RUUDOM. „Wenn Sie glauben, dass Sie uns unseren Erfolg nehmen können, müssen Sie aber früher aufstehen, Division Commander. Außerdem erkenne ich das Besitzrecht über dieses System nicht euch Terranern zu!“

Interessant. Kyona hatte zumindest schon mal von ihnen gehört.

Ein zweiter Bildschirm flammte auf und ein schwarzhaariger Mann erschien. Seine Haut war reichlich bleich, aber das lag wohl an dem heftig durchblutenden Verband auf seiner Schulter.

„Terranische Einheiten! Wenn Sie uns zu Hilfe kommen und die Rebellen stoppen, noch besser vernichten, verspreche ich im Namen der regierenden Familie Tybal eine großzügige Belohnung!“

„Na sieh einer an, was für ein gutes Nag-Alev die alle auf einmal beherrschen“, murmelte Megumi selbstzufrieden. „Ich wiederhole es nur noch dieses eine Mal: Stellen Sie alle Kampfhandlungen ein. Dann wird Ihnen erlaubt werden, Ihre Sache Admiral Ino vorzutragen. Sie wird über ihr Schicksal entscheiden.“

„Was ist aus dem Abflug von verschiedenen Sprungpunkten geworden?“, rief Kyona mit ätzendem Spott in der Stimme.

„Ich lasse in zwei Minuten das Feuer eröffnen. Ich bin sicher, sie alle sehen die gigantische Flotte, die hinter meinen Mechas heraneilt. Glauben sie ernsthaft, sie können jetzt noch entkommen? Abgesehen davon, dass bereits das Gyes-Regiment reicht, um die Schiffe beider Seiten zu vernichten.“

„Gyes?“ Kyona runzelte die Stirn. „Gyes von den Hekatoncheiren?“

„Woher wissen Sie davon, Admiral Kyona?“

„Ban ter Kyona, bitte. Meine Quelle ist im Moment unwichtig. Ich stimme hiermit den Bedingungen zu. Schicken Sie uns Shuttles, oder können wir unsere benutzen?“

„Nehmen Sie ruhig Ihre eigenen, Admiral. Ach, und Kapitän, Tybal, unterstehen Sie sich, die Situation mit einem Überraschungsschlag auszunutzen. Dies hätte die sofortige Vernichtung aller Ihrer Schiffe zur Folge.“ Megumi atmete schwer aus. „Ich garantiere ihnen allen in jedem Fall ihre Leben.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Ban ter Kyona. „Ich setze sofort über.“

Wutschnaubend schloss sich Tybal an. „Davon wird der Kaiser hören! Aber erst einmal beuge ich mich der Gewalt!“

„Na also, geht doch. Aber ich wüsste schon gerne, warum der Admiral so schnell eingebrochen ist“, murmelte Megumi mehr zu sich selbst. „Doitsu, Hina, ihr haltet hier die Stellung. Yohko, wir kehren sofort zurück. Ich will bei der Besprechung dabei sein. Ach, und noch etwas. Detachiert ein paar Leute, die helfen, die Wracks nach Überlebenden abzusuchen.“

„Verstanden.“

Megumi Uno wendete Lady Death und flog zur AURORA zurück. Kurz darauf war Thunderstrike neben ihr. Der neue Thunderstrike, der mit Yohko auf dem Mars gekämpft hatte. Es war ein gutes Gefühl, wieder mal mit ihr Seite an Seite zu fliegen, fand Megumi.

Aber nun stand ihnen erst einmal eine wundersame Wandlung bevor. Aus Megumi Uno würde erst einmal Solia Kalis werden, und aus Yohko Otomo Jarah Arogad, die Anführer dieser Expedition.

***

Es gab in diesem Universum einige Anblicke, die man sich tunlichst ersparen sollte. Es gab auch einige, die man nicht provozieren sollte. Wenn beides zusammenkam, erlangte man zudem zu Einblicken, die man weder erwartet noch gewünscht hatte.

In einem ganz speziellen Fall in einem ganz speziellen Hangar der AURORA bedeutete das Zusammentreffen der beiden Fälle ein Bild, welchem eine gewisse Skurrilität nicht abgesprochen werden konnte.

Dai-Okame, Dai-Kitsune und Tyges standen inmitten des Hangars und rieben sich demonstrativ die Hände ab, bevor sich Okame und Kitsune auf terranisch-westliche Art abklatschten, was der West End-Dai sofort imitierte. Nun, an sich war diese Szene merkwürdig, aber nicht skurril. Dieser Faktor kam hinzu, wenn man bedachte, dass rund um sie am Boden verstreut in etwa vierhundert Iovar lagen und teilweise unter erheblichen Schmerzen ächzten und stöhnten. Viele hielten in der unwirklichen Situation noch immer ihre Waffen umklammert, obwohl diese nur noch aus Trümmern bestanden. Einzig der Anführer der Einheit stand noch aufrecht, aber zu der wächsernen Blässe, die seine Verletzung verursacht hatte, kam nun das tiefsitzende Gefühl der Unterlegenheit.

Vierhundert Mann, gut ausgebildet, gut gerüstet und motiviert, waren wenige Sekunden nach ihrem Sturmlauf regelrecht ausgelöscht worden.

Nein, wären sie ausgelöscht worden, dann hätte das Slever ban Tybal noch akzeptieren können. Aber dieser Gegner hatte ihnen den ehrenvollen Tod im Gefecht versagt. Schlimmer noch, er hatte es überhaupt nicht nötig gehabt seine Leute zu töten. Diese Überheblichkeit, diese Kraft – vor allem diese Kraft – hatten den Tybal nachhaltig geschockt.

Makoto Ino stand im Schott des Hangars, hatte seine Hände auf die Hüften gestemmt und ein grimmiges Lächeln aufgesetzt. „Wenn Sie mit den Kindereien jetzt durch sind, Kapitän Tybal, dann kommen Sie doch bitte mit mir. Außer Sie haben sich dazu entschlossen, nicht mehr von Admiral Ino angehört zu werden.“

So unwirklich diese Szene auch war, so eindringlich waren die Worte des kleinen Mannes in der reich verzierten Uniform. Mechanisch setzte er sich in Bewegung.

Makoto musterte den Kapitän einen Moment ernst. „Soll sich einer der KI-Meister der AURORA um Ihre Wunde kümmern? Es scheint mir, als würden Sie davon stark beeinträchtigt werden.“

„KI-Meister?“ Makoto korrigierte sich selbst. „AO-Meister. Sie sollten zumindest in der Lage sein, die Blutung zu stoppen. Außerdem täte Ihnen sicherlich eine Infusion mit einer Kochsalzlösung gut. Besser noch mit Blutplasma, aber ich weiß nicht, ob Iovar-Blut und Naguad-Blut kompatibel sind.“

„Naguad?“

Makoto lächelte dünn. „Ein Großteil der Crew an Bord dieses Schiffs und der begleitenden Schiffe entstammt den Häusern Arogad und Fioran. Es sind auch ein paar Daness an Bord, und soweit ich weiß auch ein paar Elwenfelt, aber die meisten von ihnen privat, nicht im Auftrag ihres Hauses. Tatsächlich ist unsere Anführerin eine Daness. Sie heißt Solia Kalis und…“

„Solia Kalis. Den Namen habe ich vor kurzem gehört. Es war im Zusammenhang mit einer Diskussion der Clans, ob wir den Bürgerkrieg im Imperium für einen vorbeugenden Angriff verwenden sollten, bevor das Chaos auf unsere Seite der Grenze schwappt, aber… Die Lencis haben sich gesperrt. Deshalb entschied der Kaiser, Haus Lencis zu dezimieren und der ganze Ärger begann.“ Tybal griff sich an den Kopf. „Entschuldigen Sie, das wollten Sie sicher nicht wissen. Warum lebe ich überhaupt noch, nachdem ich versucht habe, die AURORA zu erobern?“

„Wir sehen Ihren Versuch als legitime letzte Pflicht an, die Sie als Soldat erbracht haben, bevor Sie letztendlich zu Gesprächen bereit sind. Auch wir sind Soldaten. Hätte es auf unserer Seite aber Tote gegeben, hätten wir Sie wahrscheinlich gnadenlos zusammengeschossen.“ Makoto zuckte die Achseln. „Wie auch immer. Futabe-sensei, walten Sie bitte Ihres Amtes.“

Slever zuckte heftig zusammen, als er den großen glatzköpfigen Mann sah. Er hatte nicht besonders große Erfahrung im Umgang mit AO, hatte nie eine besondere Affinität zu ihm besessen, aber er konnte sehen, riechen, hören, fühlen, schmecken, espern, dass dieser Mann vor AO fast explodierte. Erschrocken wich er ein paar schnelle Schritte zurück – und spürte, wie ihn die Ohnmacht umfing. Zu schnell bewegt, zuviel Blut verloren. Mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen sackte er in sich zusammen.

***

„Dazu muss ich einiges erklären“, klang eine fremde Stimme an Slever ban Tybals Ohren, und er klammerte sich an die Worte, um aus dem Dunkel seiner Ohnmacht wieder hinaufzusteigen ins Licht des Bewussten.

„Wie sie sicherlich als Verbündete der Naguad wissen, regieren die Clans unser Reich. Jeweils der stärkste Clan stellt den Kaiser, oft Jahrhunderte lang, bis ein anderer Clan stark genug ist um ihn zu verdrängen. Was der regierende Clan natürlich zu verhindern versucht.

Die Clans sind im Kaiserreich absolut, und wer keinem Clan angehört, hat keine Rechte. Dies war bei ihren Vorfahren, den alten Naguad, der Fall, und das war auch der Grund für ihre Flucht. Man hat ihnen erzählt, sie seien geflohen, weil sie den Krieg gegen die AO-beherrschenden Iovar verloren haben? Vergessen sie das. Die Naguad waren Leibeigene, viele Sklaven, und jene Naguad, die zurück geblieben sind, sind es noch heute. Ihnen wird nie gestattet werden, sich einem Clan anzuschließen, und das würde auch in aller Ewigkeit so bleiben. Denn diese Sklaven, diese Leibeigenen sind es, die die Macht der Tybal darstellen. Billige Arbeitskräfte, die für minimale Versorgung maximale Leistung bringen. Es sind unhaltbare Zustände.

Der Kaiser, der heute von den Tybal gestellt wird, beziehungsweise der sich durch Ränke, Morde, Versprechungen und Bestechungen diesen Titel erworben hat, regiert seit dreihundert Jahren. Seine Linie, die direkte Linie tut dies seit eintausendfünfhundert Jahren.“

Slever ban Tybal stöhnte leise, als er versuchte die Augen zu öffnen.

„Bleiben Sie noch ruhig liegen, Kapitän Tybal“, mahnte eine sanfte Frauenstimme. „Sie erhalten gerade eine Kochsalzlösung. Ein KI-Meister hat Ihre Wunde geschlossen und Ihr Knochenmark dazu angeregt, vermehrt rote Blutkörperchen zu erzeugen. Warten Sie einfach noch etwas ab und hören Sie zu.“

Tybal öffnete die Augen, versuchte etwas zu erkennen, aber da war nicht mehr als der Blick auf einen braunhaarigen Schemen, auf blitzende weiße Zähne und strahlende grüne Augen.

Ermattet schloss er die Augen wieder.

„Ich will nicht lamentieren und nicht zuviel erklären, und ich will sie alle nicht mit Schauergeschichten über die Behandlung von Naguad auf meiner Heimatwelt unter Druck setzen. Aber ich muss doch noch einiges sagen, um das Verständnis zu fördern.

Der Kaiser regiert vornehmlich mit der Militärmacht seines Hauses. Das ist verständlich, denn nur das stärkste Haus kann einen Kaiser stellen, deshalb hat der Kaiser auch die größte Macht im Staat. Ihm zur Seite stehen Korps der Leibeigenen, die von harter Arbeit befreit wurden, um ihm als Soldaten zu dienen, die etwa ein Viertel der Streitkräfte ausmachen, und die verbündeten Clans, die insgesamt ein weiteres Viertel der Gesamtstreitkräfte unter dem Kaiser bereitstellen und dafür besondere Vergünstigungen erhalten.

Die Regierungsform ist eine absolutistische Monarchie, der Titel des Kaisers ist erblich. Die Macht, die mit diesem Titel verbunden ist, liegt jenseits dessen, was man sich vorstellen kann. Verstehen sie, absolutistisch. Der Kaiser kann jederzeit wann er will den Tod eines beliebigen Iovar befehlen. Er wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen und er muss sich nicht einmal rechtfertigen. Er muss es nicht einmal verheimlichen. Natürlich gibt es Einschränkungen. Es gibt Iovar, die nicht einmal der Kaiser töten lassen kann, jedenfalls nicht offiziell, aber dazu später vielleicht mehr.

Und es gibt einen alten Brauch, den der Kaiser nutzt, um sich die Loyalität der übrigen Clans zu versichern. Dies ist die Dezimierung, ein Ritual, das noch aus grauer Vorzeit stammt.

Wenn in den Tagen, in denen unsere Vorfahren nur auf Iotans Boden gekämpft hatten, eine militärische Einheit Feigheit gezeigt oder einen Befehl verweigert hatte, hat der Kaiser die Dezimierung befohlen. Jeder zehnte Soldat wurde exekutiert. Wenn die Einheit dann noch immer nicht spurte, wurde sie wieder dezimiert. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Es gibt historisch nicht belegte Berichte über mehrere Einheiten, die komplett ausgelöscht wurden, weil sie dem Kaiser nicht gehorchen wollten.

Auch in unseren Tagen ist die Dezimierung ein machtvolles Instrument, um die Clans zur Räson zu bringen.

Der Kaiser sprach erst vor gut einem halben Jahr eine Dezimierung aus. Sie war gegen Haus Lencis gerichtet, dem größten und stärksten Haus des Kaiserreichs.

Als wir davon erfuhren, dass die großen Türme der Naguad, die Daness und die Arogad im Bürgerkrieg miteinander lagen, da hat der Kaiser den Angriff befohlen. Offiziell um zu verhindern, dass das Chaos in unser Raumgebiet schwappt. Inoffiziell, um soviel Beute wie irgend möglich zu machen.“

Slever lachte leise und mit sehr rauer Stimme. Ja, das war korrekt, aber noch vor wenigen Stunden hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, es offen zuzugeben. Er erinnerte sich noch sehr gut an die Anweisungen, Sklaven, Beute und dergleichen betreffend. Er hatte diese Befehle gehasst, das war nichts, was ein aufrechter Raumfahrer unterstützen sollte. Seine Aufgabe war es bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, aber doch nicht freie Daima in ein Leben in Ketten zu führen. Hatte das Reich nicht schon genug Sklaven? Müde schüttelte er den Kopf. Er war nur ein machtloser Kapitän, der auf seine kleine Flottille achten musste. In kaiserliche Politik konnte und durfte er sich nicht einmischen.

„Aber leider“, fuhr die raue Stimme fort, „hat die Dezimierung nicht so geklappt wie der Kaiser es geplant hatte. Eine Dezimierung im klassischen Sinne konnte es gegen die Lencis nicht geben, sie hätten niemals still gehalten und die Verluste auf Seiten der kaiserlichen Streitkräfte wären enorm gewesen. Darum befahl der Kaiser, die Flotten der Lencis zu zerstören, die über ihren Randwelten patrouillierten, um die Planeten gegen den Core und seine Raider zu schützen. Das wären zwanzig Prozent aller Schiffseinheiten der Lencis gewesen, und eine überaus fruchtbare Warnung. Doch es hatte nicht sein sollen, denn die Lencis über den Randwelten waren nicht nur sehr erfolgreich darin sich zu verteidigen, sie schlugen sogar zurück.

Und bevor sich das Kaiserreich versah, waren die Randwelten der Lencis von jedem staatlichen Einfluss befreit. Die Flotten der Lencis probten den Aufstand, griffen weitere Welten, griffen Flottenbasen des Kaisers und seiner verbündeten Häuser an. Sie befreiten Sklaven, brachten Leibeigenen-Regimenter dazu, auf ihre Seite zu wechseln, stürmten heran wie ein Feuersturm und bedrohten schließlich alle Häuser der Iovar. Doch alle Häuser? Nein, nur den Kaiser und all jene, die ihm die Treue hielten. Aus welchen Gründen sie es auch taten.

Ihr Dogma, erstellt vom Intendenten, ist folgendes: Das Kaiser-System ist überholt und dient lediglich dazu, dass eine kleine Gruppe Auserwählter auf Kosten der großen Masse in Macht und Luxus schwelgen kann. Das muss beendet werden. Jeder Mann und jede Frau im Kaiserreich muß mit der eigenen Stimme gehört werden können. Sklaverei muss abgeschafft werden. Kein Haus darf alleine den Kaiserthron okkupieren. Und anstelle der absolutistischen Monarchie muss eine Ratsregierung treten, in der alle Clans und alle Daima im Kaiserreich vertreten sind, damit der Wohlstand und die Ordnung gleichmäßig und solidarisch verteilt werden kann.

Dies waren revolutionäre, gewagte, ja ketzerische Ideen, die ein Iovar niemals ausgesprochen, ja gedacht hätte. Aber einer hat es doch getan, seine Worte verbreitet, sie von Welt zu Welt, von System zu System tragen lassen und Aufstände gegen die Ordnung ausgelöst, wie es sie in der langen Geschichte des Kaiserreichs noch nie gegeben hatte. Dies war der Intendent, ein Lencis von hohem Rang, der weit mehr gewagt hat, als sich dem kaiserlichen Dekret zur Dezimierung zu widersetzen.

Doch das war noch nicht alles. Der Intendent versprach allen Clans die gleiche Behandlung, selbst den Tybal, wenn sie sich dem neuen Weg anschlossen. Viele Clans haben das getan und auch viele Tybal, und selbstverständlich die Lencis, denn der Intendent hat auch gesagt: Jenseits unserer Welt lauert eine Bedrohung, die so groß ist, dass ein Clan sie alleine nicht erfassen, geschweige denn bewältigen kann. Ein zerstückeltes, zerschlagenes Kaiserreich mit einer Armee, die nur aus Angst oder dumpfem Pflichtgefühl heraus gehorcht, kann sie auch nicht aufhalten. Nur eine große Gemeinschaft, in der alle vertreten sind, in der alle an einem gemeinsamen Strang ziehen, in der alle jeden beschützen, kann uns noch retten. Denn Iotan hat eine Dämonenwelt.

Was das letzte Wort bedeutet kann ich nur vermuten, aber es hat viele Clans überzeugt, dem Intendenten Hilfe zu schicken. Dies ging soweit, dass wir die letzten loyalen Einheiten außerhalb des Io-Systems jagen und vernichten, oder, wenn es die Sturheit unserer Gegner zulässt, bekehren oder internieren, bis der Rat zusammentreten kann.

Der letzte Angriff auf Iotar steht kurz bevor, und der Intendent wird an vorderster Linie kämpfen, bevor er sich an den Neuaufbau macht.“

Slever richtete sich auf, öffnete erneut die Augen. Nun erkannte er den Sprecher. Es war der

Admiral der Kyona, der mit Feuer in der Stimme sprach, als wäre er einer der Priester im Talar in einer der vielen Religionsgemeinschaften des Kaiserreichs.

„Fragen sie mich nicht, ob ich an die Bedrohung glaube, von der der Intendent spricht. Fragen sie mich nicht, ob ich glaube, dass es mit der Ratsregierung besser oder schlechter wird. Fragen sie mich nur, wo ich stehe, und das ist bei der Jagd auf eine der letzten dem Kaiser ergebenen Einheiten. Ich werde sie vernichten, oder internieren, oder, wenn sie dies wünschen, als Gefährten auf dem Weg in eine neue Zeit begrüßen. Freunde werden wir wohl nie, aber ich will sie auch nicht sinnlos sterben sehen. Das war meine kleine Ansprache. Urteilen sie jetzt über mich, Admiral Ino, Solia Daness, Sostre Daness, Jarah Arogad.“

Eine der Frauen, sie hatte die grünen Augen, die Slever bereits gesehen hatte, sah zu ihm herüber und sagte: „Wollen Sie nun Ihren Bericht abgeben, Kapitän Tybar?“

Er musste es wohl der Verletzung zuschieben, der Müdigkeit oder einfach einer tief sitzenden Enttäuschung, die er schon in sich trug, seit er in dieses Sternensystem hatte fliehen können. Er griff nicht zu den rhetorischen Tricks, die man ihm beigebracht hatte, um die Leibeigenen-Einheiten zu motivieren. Nicht zu den Lügengespinsten, mit denen der Kaiser sich legitimieren ließ. Nein, er war ehrlich, und dies vielleicht das erste Mal seit Jahren. „Was soll ich denn da noch hinzufügen? Admiral Kyona hat doch recht mit allem was er gesagt hat.“

Er lachte, und es war ein trauriges, schreckliches und ernstes Lachen. Als es verebbt war, sah er in die Runde. „Wo soll ich unterschreiben?“

***

„Hier ist meine Entscheidung, Admiral Kyona. Wir lassen Sie und Ihre Flotte unbehelligt.“ Sakura sah den Älteren streng an. „Aber ich untersage Ihnen, Kapitän Tybals Flotte zu internieren.“

„Admiral Ino, bei allem Respekt, aber meine Aufgabe in diesem System ist es, genau diese Flottille entweder zu bekehren oder zu besiegen. Sie können nicht“-

„Was ich kann und was nicht wird immer noch von mir bestimmt und nicht von Ihnen, Kyona, merken Sie sich das.“

„Wenn Sie auf Streit aus sind, Admiral, ich bin mir sehr sicher, dass der Intendent sich Ihnen widmen wird.“

„Oh, das würde mich freuen zu hören. Es gibt da übrigens eine Sache, die ich gerne wissen würde. Ihr Intendent ist nicht zufällig ein junger Mann, der aus dem Nirgendwo kam, etwa um die zwanzig, überragend an den Kontrollen eines Banges, charismatisch, verursacht wo er geht und steht Chaos und erdrückt alles und jeden mit seiner Persönlichkeit?“

„Nein, und im Moment bin ich gerade sehr dankbar dafür, dass es nicht so ist. Der Intendent ist ein hohes Mitglied der Lencis-Familie. Eine sehr einflussreiche und mächtige Frau mit Jahrhunderten Erfahrung in der Flotte. Wir haben lange gehofft und gewartet, bis jemand wie sie den Mut hat, dem Kaiser offen die Stirn zu bieten.“

Sakura seufzte. Es wäre ja auch zu leicht gewesen. „Ich sage Ihnen was. Ich nehme Tybal und seine Flotte an Bord der AURORA und interniere sie hier. Wenn wir nach Iotan kommen, werde ich sie dem Sieger übergeben. Entweder dem Kaiser, wenn er noch regiert, oder Ihrem Intendenten.“ Sie sah Admiral Kyona fest in die Augen. „Ein besseres Angebot kriegen Sie nicht. Bedenken Sie, dass ich die Macht habe, Ihre gesamte Flotte zu vernichten.“

Kyona räusperte sich vernehmlich. „Ich beuge mich der Gewalt. Aber es wundert mich doch, dass ausgerechnet die Terraner so handeln würden. Das Urvolk von der Hauptwelt sollte doch eigentlich mehr Ehre im Blut haben als ein gemeiner Naguad. Es scheint als hätte ich mich da geirrt.“

„Sie erinnern sich an den jungen Mann, den ich Ihnen gerade beschrieben habe? Wir suchen ihn und wollen ihn zurück.“

„Sie wollen ihn zurück? Er klingt eher so wie jemand, den ich ins nächste Schwarze Loch werfen würde, nur um auf Nummer sicher zu gehen.“

„Ja, das trifft es in etwa. Er ist übrigens auch mit ein paar Spritzern Lencis-Blut gesegnet. Ein Achtel, wenn ich es richtig im Kopf habe.“

„Interessant. Aber was machen wir jetzt? Kapitän Tybal hat seinen Übertritt erklärt und…“

„Und das interessiert mich nicht die Bohne. Er ist an Bord der AURORA für mich am nützlichsten. Aber seien Sie unbesorgt. Wir greifen in die internen Konflikte des Imperiums nicht ein. Wir bleiben neutral, solange wir nicht angegriffen werden.“

„Gut. Dann werde ich jetzt auf mein Flaggschiff zurückkehren. Seien Sie sicher, der Intendent wird davon erfahren.“

„Oh, darum bitte ich doch. Ach, Kyona, eine Frage. Hatten Sie vielleicht Raider-Aktivität in letzter Zeit verzeichnet?“

„Raider? Warum fragen Sie nach den Streitkräften des Cores?“

„Er verhält sich untypisch. Und ich wollte wissen, ob man das sogar hier schon gemerkt hat.“

„Untypisches Verhalten der Core-Streitkräfte? Ja, das ist uns aufgefallen. Sie raiden uns nicht mehr, aber das tun sie schon seit ein paar hundert Jahren nicht mehr. Hilft Ihnen das weiter, Admiral?“

„Warum raiden sie die Iovar nicht mehr?“

„Was weiß ich. Vielleicht haben sie in den Naguad ein lohnenderes Ziel gefunden. Sie sind doch eine halbe Naguad, oder, Admiral?“

„Das tut in dieser Mission nichts zur Sache. So, so, die Raider raiden nicht mehr. Greifen keine Welten mehr an, werfen keine Bomben mehr, beobachten nicht mehr… Sind die Iovar so uninteressant?“

„Es wäre zu wünschen, Admiral Ino.“

Die beiden maßen einander mit ernsten Blicken.

„Entschuldigung“, meldete sich Kapitän Tybal zu Wort, „darf ich auch etwas sagen?“

„NEIN!“, riefen beide zugleich.

„Ich werde jetzt gehen, Admiral Ino. Aber ich bin mir sicher, dass Ihnen diese Entscheidung noch leid tun wird. Wir tun den gerechten Dienst, und Sie verweigern uns die Hilfe.“

„Seien Sie in Ihren Augen so gerecht wie Sie es wollen. Ich entscheide von Fall zu Fall was ich wie zu beurteilen habe.“

„Das nächste Mal werde ich eine Division AO-Meister dabei haben!“

„Das nächste Mal werden wir einer Division AO-Meister in den Arsch treten“, knurrte Sakura.

Merkwürdigerweise schien das dem alten Mann zu gefallen. Er lachte. „Viel Erfolg bei Ihrer Suche, Admiral. Ich kehre jetzt auf mein Schiff zurück.“

„Eine gute Reise, Kyona.“

Der Iovar-Kapitän sah dem Admiral nach. „Das bedeutet also, ich und meine Leute sind Geiseln.“

„Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen! Und jetzt funken Sie Ihre Flotte heran und weisen Sie sie an, sich zu ergeben.“

„Ich habe AO-Meister an Bord.“

„Na und? Ich habe Dai! Und sie hören auf mich!“

Slever schluckte seinen Ärger runter, dann nickte er ernst. Immerhin war die Situation interessant, aber nicht mehr tödlich. Immerhin.

***

„Können wir reden?“

Sakura sah von ihrem ganz persönlichen Papierkrieg auf. Verdammt, mussten im Zeitalter von Datapads, autarker Vernetzung und hundert Prozent Netzabdeckung wirklich von jedem Dokument noch eine Papierversion für das Archiv erstellt werden? Nun, viel mehr als sie zu unterschreiben musste Admiral Ino nicht tun, aber vorher wollten sie gelesen sein. Entsprechend erleichtert war die große blonde Frau, als sie sich einem Gast zuwenden konnte.

„Was gibt es denn, Megumi-chan?“

Die Oberkommandierende der Hekatoncheiren trat ein setzte sich auf einen Besuchersessel vor Sakuras Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Und spätestens als Megumi die Hände ineinander verschränkte, wusste Sakura, dass etwas im Busch war.

„Sakura-chan, mir gefällt das nicht.“

„Dir gefällt was nicht? Entschuldige bitte, du musst schon konkreter werden. Ich habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen, und keine Lust, dir die Würmer einzeln aus der Nase zu ziehen.“

„Mir gefällt die Internierung der Kaisertreuen nicht. Sie sind defacto Geiseln. Und das ist etwas, was die UEMF nicht mitmacht!“

„Denkste. Ich habe über die Standleitung bereits mit Eikichi konferiert, und der hat sein okay gegeben.“ Sakura seufzte ernst. „Megumi-chan, wir stoßen jetzt nicht nur in das potentiell feindlich gesinnte Kaiserreich vor, wir werden auch mitten in einem Bürgerkrieg auftauchen. Es wird alles drunter und drüber gehen, und wenn der Core, der direkte Nachbar des Kaiserreichs, herausfindet, das der alte Feind geschwächt ist, dann wird er angreifen, und dann ist das Chaos erst recht komplett. Wir brauchen jetzt jede Sicherheit, die wir kriegen können. Wirklich jede Sicherheit. Entweder geben wir Tybals Einheiten und Mannschaften an den Kaiser zurück, und haben damit einen Stein bei ihm im Brett, oder wir geben sie frei, damit sie sich den Aufständischen anschließen können. Oder wir liefern sie aus. Punkt.“

„Und genau das ist es, was mir nicht gefällt. Ich bin strikt gegen eine Internierung. Willst du die Iovar mit Gewalt davon überzeugen, dass all ihre Vorurteile, die Naguad betreffend, wahr sind?“

„Ich bin nur eine halbe Naguad!“

„Aber ich bin eine vollwertige Naguad! Und hast du Sostre vergessen? Meras Yukow, Marus Jorr und all den anderen?“

„Ich werde meine Entscheidung nicht zurücknehmen“, sagte Sakura trotzig. „Du magst dem Namen nach unsere Anführerin sein, aber ich habe hier das Kommando!“

Die beiden Frauen sahen sich in wütendem Brüten an. „So!“, sagte Megumi.

„So“, erwiderte Sakura. „Allerdings…“

„Allerdings?“ Erwartungsvoll hob die Hawk-Pilotin die Augenbrauen.

„Allerdings habe ich nicht vor, die Besatzungen der kaiserlichen Schiffe wirklich zu internieren. Als wir die TAUMARA erobert haben, hatte es sich hervorragend bewährt, den Besatzungsmitgliedern Wohnraum zu zu weisen und ihnen freien Zugang zu allen öffentlichen Einrichtungen zu gewähren. Natürlich diskret überwacht und bei verstärkter Bewachung der Nervenzentren der AURORA.“

„Das ist immerhin besser als nichts“, murrte Megumi, aber Sakura kannte das Mädchen schon viel zu lange, um nicht das aufblitzen der Freude in ihren Augen zu sehen. Mehr hatte sie also gar nicht erreichen wollen. Aber das was sie gefordert hatte, hätte Sakura sowieso getan. Nur musste sie das der jungen Uno nicht mehr auf die Nase binden. Sollte sie doch stolz auf ihren Erfolg gegen die Eisenfressende Admirälin sein. Für einen Moment war Sakura versucht, über sich selbst zu kichern.

Megumi stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Sie schloss die große blonde Frau sanft in die Arme und drückte sie. „Danke, Sakura. Danke, dass du immer noch der Mensch bist, den ich kenne und liebe.“

Unschlüssig, dann aber mit Ernst legte nun auch Sakura die Hände um Megumi. „Da doch nicht für, kleine Schwester. Du weißt doch, ich werde dir immer helfen und immer zu dir stehen. Aber ich werde nicht immer nach deiner Pfeife tanzen.“

Megumi ächzte beleidigt auf, konnte aber ihr Lächeln nicht unterdrücken.

Sakura gab ihr einen Kuss auf die Wange. „So, jetzt geh wieder schön spielen. Oneechan muss arbeiten und du hast immer noch Sorge um eine Division zu tragen, oder?“

„Ach ja, da war ja noch was.“ Megumi richtete sich auf.

„Sakura, sag mal, hast du eigentlich auch gedacht, als Kyona vom Intendenten erzählt hat, es könnte…“

„Es könnte Akira sein? Es klang zumindest nach ihm. Es fehlten halt noch die Explosionen.“

„Oneechan“, tadelte Megumi.

„Aber es war doch etwas unwahrscheinlich. Er ist in den Händen des Cores. Wie zum Henker sollte er einen Aufstand im Kaiserreich anführen? Und wie sollte er die Iovar dazu bringen, ihm zu folgen, ihm, einen Halb-Naguad?“

„Akira hätte einen Weg gefunden, Sakura-chan.“

„Sag mal, willst du nicht langsam damit aufhören, Akira auf so hohe Podeste zu stellen? Irgendwann hast du ihn so weit hoch gestapelt, dass du nicht mehr an ihn rankommst. Das gleiche ist mit Thomas und mir passiert“, mahnte Sakura.

„Im Gegensatz zu Thomas“, erwiderte Megumi fest, „werde ich fliegen lernen, wenn es soweit ist.“ Mit einem letzten Salut verließ Megumi das Büro von Admiral Ino.

„Teufel auch. Thomas, dieses kleine Mädchen hat mehr Schneid im kleinen Finger als du in deiner ganzen Uniform.“ Kopfschüttelnd widmete sie sich wieder ihrem Papierkrieg.
 

2.

Man sagte, und das zu Recht, dass man im Weltall lautlos starb. Das war richtig. Denn das All war ein Medium, dass sich vor allem durch eines auszeichnete, nämlich relatives Vakuum. Schall, der dringend dafür erforderlich war, damit man etwas hörte, brauchte ein Medium, um sich zu übertragen, um sich wellenförmig fortzupflanzen. Das fehlte aber im Vakuum, in der absoluten Nichtdichte.

Allerdings gab es in diesem Vakuum dennoch kleine Sphären an Atmosphäre, nämlich eingeschlossen in den Cockpits der gelenkigen, wild umher kurvenden Banges, die sich gerade durch ein Rudel ihrer Gegner kämpften. Explodierte solch ein Gegner, entstand eine Schockwelle. Traf diese Schockwelle auf einen Banges, begann die Außenhülle zu schwingen, begann die Atmosphäre zu schwingen und der Pilot hörte das tiefe Brummen der Explosion.

Das gleiche galt für den Fall, dass ein Banges explodierte, aber das kam bei weitem nicht so häufig vor.

„Zusammenbleiben!“, brüllte Aria Segeste über die Hauptleitung und rief ihr Bataillon der 5. Banges-Division zur Ordnung.

Die Antworten kamen hektisch, bestätigend – und erfüllt mit Lücken. Von ihren vierzig Maschinen schleppten sich gerade fünf schwer angeschlagen zur AROGAD, neun waren vernichtet und drei antworteten gerade nicht.

Aria ließ ihren Banges herumwirbeln, hob das Herkules-Schwert in der Hand des humanoid geformten Mechas und spaltete einen Core-Banges längs, nur um kurz darauf mit einer Energieaufladung einen Logodoboro-Banges schwer zu treffen und aus dem Gefecht zu nehmen. Dreiundzwanzig Maschinen, davon war eine ihre eigene. Üble Geschichte, wirklich üble Geschichte.

Und das war noch nicht mal die Hauptschlacht, es war nur eine simple Erkundungsmission, zugegeben, in einem System, dass der rebellierenden Fraktion von Logodoboro gehörte.

Ein schrilles Warnsignal forderte ihre Aufmerksamkeit ein; sie wich automatisch aus, feuerte die Manöverdüsen, was zur Folge hatte, dass ihr Banges plötzlich Kopf stand. Dort, wo sich vor wenigen Sekunden noch der Leib mit dem Reaktor befunden hatte, jagten mehrere Raketen hindurch. „Lock auf Abschussposition!“, blaffte sie.

Die K.I. bestätigte. Aria feuerte eine volle Salve ab und wich dann einem weiteren Angriff aus der Flanke aus, schleuderte eine Herkules-Schwertaufladung auf den Angreifer.

„Ich glaube, das reicht jetzt, Aria“, klang die Stimme der K.I. auf. „Noch weiter vorzustoßen wird nur weiteren Leuten das Leben kosten. Lösen und zur AROGAD zurück zu kehren erscheint mir jetzt die richtige Lösung zu sein.“

„HALT DIE KLAPPE! Du hast vielleicht die Stimme von Akira, aber nicht seine Befehlsgewalt!“

„Warum hast du mir dann überhaupt erst seine Stimme gegeben? Warum hast du meine Stimmausgabe anhand der Verhaltensmuster von Akira Otomo programmieren lassen, anhand von Daten, die uns Lady Death und Prime Lightning zur Verfügung gestellt haben? Doch nur, damit du dich nicht in ein Unternehmen hineinsteigerst, dass du nicht überleben kannst. Und das ist jetzt ein solcher Fall!“

„Sei still! Sei endlich still! Ich brauche dich nicht! Ich brauche Akira nicht! Ich brauche Megumi nicht! Ich brauche keine Slayer, keine Hawks, ich kann das alleine! Ich bin auch ein guter Mecha-Pilot und ich gehe meinen Weg!“

Neben ihr entstand ein Schemen. „Ja, so sollte es eigentlich sein. So müsste es eigentlich sein.“

Der Schemen materialisierte, und sie sah in die so vertrauten Züge von Akira Otomo. „Und trotzdem spielst du hier den Berserker. Wem willst du etwas beweisen? Dir selbst, dass du einen Ausnahmepiloten wie mich nicht brauchst? Oder mir, dass du mir nicht nachstehst?“

Eine sanfte Hand berührte ihre Wange durch den Helm hindurch.

„Akira…“ „Du musst mir nichts beweisen. Und du musst auch nicht versuchen besser als ich zu sein. Du bist du, Aria. Du bist ein vollwertiger Mensch, ein Anführer, ein guter Pilot. Du hast alles was du brauchst, um voran zu schreiten. Um deine Leute überall und jederzeit durchzubringen. Dazu musst du nur du selbst sein und mit deinen eigenen Möglichkeiten wachsen und besser werden. Dein Zenit ist noch lange nicht erreicht, Aria Segeste. Da steckt noch mehr drin, sehr viel mehr. Aber wenn du dich immer an mir misst, dann kannst du gar nicht sehen, wie gut du mittlerweile geworden bist. Ich bin ein Ausnahmepilot, nenn mich ruhig einen Kriegsgott. Jeder Fortschritt, den du jemals machen wirst, ist an mir gemessen unglaublich wenig. Und doch bist du den meisten Naguad schon weit voraus, was das steuern eines Banges angeht. Was das führen eines Bataillons angeht. Ich darf nicht dein Maß sein, sonst wirst du mich nie einholen.“

„Akira…“, hauchte sie und legte wehmütig ihr Gesicht in seine Berührung.

„Hast du das verstanden, Aria?“

„Warum tust du das? Warum öffnest du mir die Augen?“

„Du bist meine Freundin. Du bist mir wichtig wie Joan, wie Yoshi, wie Doitsu, wie Hina. Ich kann nicht dabei zusehen, wie es mein Beispiel ist, dass einen guten Offizier wie dich verzweifeln lässt. Du bist so viel, du kannst so viel. Du hast es nicht verdient, auf eine so dumme Art zu verzweifeln. Hast du das verstanden?“

„Ja, ich habe verstanden.“

„Gut“, sagte Akira und zog seine Hand zurück. „Dann arbeite weiter an dir. Ich bin sehr darauf gespannt, wie gut du geworden bist, wenn wir uns wieder treffen werden. Ich warte auf dich, Aria, meine gute Freundin.“

„Akira! Geh nicht! Ich muss dich doch soviel fragen, ich will mehr lernen! Ich… Ich…!“

Schweiß gebadet fuhr Aria Segeste in ihrem Bett hoch. Automatisch flammte die Beleuchtung auf und dimmte sich langsam hoch. Verzweifelt schlug sie eine Hand vor ihr Gesicht. „Ein Traum! Ein elender Traum! Aber…“ Langsam nahm sie die Hand wieder ab, verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf und starrte an die schwach beleuchtete Decke. „Aber der Traum hat Recht. Es ist gut, seine Ziele hoch zu stecken, aber es ist sehr dumm, sich absichtlich zu entmutigen. Wer kann schon mit Akira mithalten?“ Sie lachte laut und froh, und so frei wie schon seit dem Tag nicht mehr, an dem sie bei der 5. Banges-Division zurückgeblieben war. Dann drehte sie sich auf die Seite. Ihr Schlaf war ruhig, tief und erholsam. Auch das war das erste Mal seit Monaten. Und auch das erste Mal, ohne sich Vorwürfe zu machen, ihre besten Freunde im Stich gelassen zu haben.
 

Vor der Kabine an Bord der AROGAD stand Eridia Arogad. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt. Dann lächelte sie anerkennend und ging ihrer Wege. Dieses Mädchen war für ihr Alter bereits sehr stark. Und der Hinweis war genau zur richtigen Zeit erfolgt.
 

3.

So oft es mir die Pflicht erlaubt hatte, hatte ich diesen Ort aufgesucht, das Paradies der Daima und Daina. Damit hatte ich auch dessen Herrin besucht, die geheimnisvolle Existenz namens Aris. Normalerweise entging der Herrin des Paradieses nichts, und so dauerte es auch nur ein paar Sekunden, bis sich das Mädchen, wie immer in das tiefschwarze Kleid gehüllt, neben mir niederließ.

„Hallo, Akira.“ Sie lächelte mich freundlich an.

Ich erwiderte das Lächeln, aber ohne echte Wärme. „Hallo, Aris.“

„Ist etwas passiert? Du hast Maltran gar nicht mitgebracht.“

„Wenn etwas passiert wäre, wüsstest du doch davon. Alle meine Berichte über die Kampflage im Kaiserreich gehen direkt an dich. Nein, das ist es nicht. Und was meinen Stellvertreter Maltran Choaster angeht, ich habe ihn mit einem Kurier zurück zur Heimatwelt geschickt. Ohne Kommandoschiff hat er keinen Zugang zum Paradies.“

„Du schickst ihn zurück? Hat das bestimmte Gründe?“

„Alles hat bei mir bestimmte Gründe. Deshalb hast du mich doch zu deinem Feldherrn erzogen, oder?“

„Sag bitte nicht erzogen. Ich habe dir Aufgaben gestellt, du hast sie gemeistert und bist daran gewachsen. So sehe ich das.“

„Ich nenne es Indoktrination. Aber danke dafür, ich habe einiges gelernt. Über dich, über die Core-Zivilisation, über deine Motive. Vieles dreht sich um den Liberty-Virus, das habe ich schon erkannt. Er ist gefährlich für das Paradies, ist das richtig?“

„Er ist nicht gefährlich. Er ist nur… sehr, sehr störend.“

„Wie passen die Götter in dieses System? Wie in eine Welt, die seit dreitausend Jahren und mehr nur aus Kampf, Vernichtung und Tod besteht?“, hakte ich nach.

„Es ist notwendig“, erwiderte Aris schroff. „Wieso vertraust du mir in diesem Punkt nicht einfach, Akira?“

„Wieso vertraust du mir nicht und sagst mir was ich wissen will? Bin ich nun dein Feldherr oder nicht, Aris?“

Ich hatte eine harsche Erwiderung erwartet, stattdessen faltete sie die Hände ineinander und sah verlegen fort. „Natürlich bist du mein Feldherr. Du bist meine beste Wahl, Akira. Aber ich hatte gehofft, du… Ich hatte gehofft, dass du diesen Krieg anders führen kannst als Kiali es getan hat. Aber ich sehe, dass du viele Fragen hast, vielleicht zu viele Fragen.“

Nachdenklich sah ich auf den See hinaus. „Du hast mich durch die Scheinrealitäten gehetzt. Du hast mir die Gefährlichkeit des Liberty-Virus ins Herz zu pflanzen versucht. Du hast auf die verschiedensten Wege versucht, mich gegen die Dämonen einzunehmen. Und irgendwann hast du versucht, meinen Gehorsam zu erzwingen, wenn ich dich an die Welt erinnern darf, in der du die Kaiserin gespielt hast, der ich die Treue geschworen habe.“

Aris errötete und legte die ineinander gefalteten Hände in den Schoß. „Verzeih mir, bitte. Aber ich wollte nicht auf dich verzichten. Ich wollte doch nur dich haben, dich alleine.“

„Nanu? War das eine Liebeserklärung?“, fragte ich amüsiert.

„Liebeserklärung? Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint!“ Ihr Gesicht hatte nun eine Farbe angenommen, die man durchaus Scharlach nennen konnte. Und ihre Hände spielten immer noch verlegen miteinander.

„Weißt du warum ich dein Feldherr geworden bin, obwohl du mich so schrecklich behandelt hast? Obwohl du mich und Laysan durch diese verschiedenen Welten gehetzt hast? Obwohl ich dir eigentlich vom tiefsten Grund meines Herzens böse sein müsste?“

Betreten sah sie zu Boden. „Nein, ich weiß es nicht. Aber ich bin sehr dankbar dafür.“

„Ich wollte mir eine eigene Meinung bilden“, sagte ich ernst. „Und Kiali hat mir dabei sehr geholfen, indem sie mir mehr Freiheiten zugestanden hat, als du es getan hättest. Ich habe nicht nur sehr viel über die Iovar und ihr Kaiserreich gelernt, sie hat mir auch einige Daten über die Götter zur Verfügung gestellt.“

„Sie hat was? Aber das sind verbotene Dateien! Nicht einmal ich komme da so ohne weiteres heran und… Was steht denn in diesen Dateien, Akira?“

Ich zuckte die Achseln. „Alles was ich wissen musste. Aber leider nicht so viel wie ich wirklich wissen wollte.“

Ich seufzte leise. „Den Rest wirst du mir beantworten müssen, Aris.“

„Okay.“ Ihr Blick begegnete zögerlich meinem. In allem was sie tat, was sie sagte, wie sie sich verhielt, offenbarte sie ihr geringes Alter, das leider mit einer enorm großen Datenbank kombiniert worden war. Und zu ihrer Persönlichkeit gehörte auch eine gehörige Portion Naivität, obwohl sie theoretisch Zugriff auf die Lebenserfahrung von zwanzig Millionen Daima und Daina hatte.
 

Ich ließ mich nach hinten fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Die Cores wurden von den Villass erschaffen, richtig? Die Villass waren sehr berühmt für ihre fortgeschrittene Technik.“

„Die Villass waren in der Tat die Eltern der Cores. Sie waren ein großer Clan, vielleicht damals der größte, weshalb sich die anderen Sippen darum bemüht hatten, dass die Villass nicht auch noch das machtvolle Kaiseramt erhielten.“

„Und das hat ihnen nicht gefallen.“

„Nein, das hat ihnen überhaupt nicht gefallen. Also suchten sie nach einem Weg, um ihre Macht so weit zu vergrößern, um den Kaiserthron gefahrlos einfordern zu können.“ Aris legte sich neben mich und musterte den gefälschten blauen Himmel. „Zeit war nicht dasselbe für sie wie für dich und deine Terraner. Ein Villass konnte tausend deiner Jahre alt werden. Also entschieden sie sich für einen Langzeitplan. Die Wissenschaftler der Familie entwickelten die Core-Technologie, die Ranghöchsten spendeten ihr Erbgut und die Führer der Hausflotte schaffte es, jedem Core unauffällig eine Fregatte zur Verfügung zu stellen, mit der er selbstständig durch die bekannte Galaxis reisen konnte.

Der Plan war gewesen, den Cores ein- bis zweihundert Jahre Zeit einzuräumen, in der sie eine geeignete Rohstoffwelt fanden, ausbeuteten, Industrie errichteten und schließlich mit dem Bau von Schiffen in eigenen Werften begannen. Diese Schiffe sollten dann von Villass übernommen werden. Das war der Plan gewesen. Aber so ist es nie gekommen.“

„Die Götter kamen dazwischen“, riet ich.

„Die Götter kamen dazwischen. Die Villass wurden benachrichtig, dass die ersten Schiffe fertig waren, und so entsandten sie hunderte Schiffsbesatzungen, um sie zu übernehmen. Aber empfangen wurden sie von den Strafern der Götter, die über allen neun Core-Welten kreisten. Die Strafer waren übermächtig, Widerstand war absolut zwecklos. Und sie stellten nur eine Frage: Hat eure Heimatwelt eine Dämonenwelt?

Diese Frage konnten die Villass nicht beantworten. Darum standen die Cores und ihre Heimatwelten ebenso vor der Zerstörung wie Iotan selbst und die Schiffsbesatzungen der Villass. Es ist wahrscheinlich dem Mut und der Gewitztheit eines einzigen Villass zu verdanken, dass es nicht zu einem Blutbad kam. Denn er trat aus der Menge vor und versprach den Göttern, für sie herauszufinden, ob es auf Iotan eine Dämonenwelt gab.

Dies war der Beginn unserer Aufgabe.“

„Das war doch wohl noch nicht alles?“, argwöhnte ich. „Wie sind die Raider entstanden? Warum haben die Götter die Dämonenwelt gesucht? Wie und warum wurde das Paradies erschaffen? Du hast mehr Fragen offen gelassen als beantwortet.“

Sie seufzte tief. „Akira, das Wissen aus dieser Zeit ist nur unzureichend vorhanden. Die Villass haben damals Konferenzen abgehalten, in ihren Körpern, nicht in einem Netzwerk. Es gibt wohl noch Datenträger aus jener Zeit, aber ich habe keinen Zugriff auf sie.“

Ich nickte verstehend. Da steckte die Herrin ja wirklich im Dilemma.

„Alles, was ich weiß war, dass die Götter eine Sicherheit wollten, wenn sie die Villass am Leben ließen und mit der Suche nach der Dämonenwelt beauftragten. Diese Sicherheit wurde die Hauptwelt des Cores. Die Villass wurden gezwungen, auf ihr zu siedeln. Und jede weitere Schiffsbesatzung, die ausgesandt wurde, um die vermeintlich fertig gebauten Schiffe zu übernehmen, wurde in diese Gemeinschaft integriert, ob sie wollte oder nicht.

Es waren die Götter, welche den Villass und damit dem Core die Möglichkeit der überlegenen überlichtschnellen Kommunikation gewährte. Und es war diese Technik, die es den Göttern gestattete, ihre Geiseln nicht aus der Hand zu geben und sie dennoch für sich arbeiten zu lassen. Villass wurden in Regenerationstanks gesteckt, ihre Körper automatisch am Leben erhalten, während ihr Ich, ihr AO, den Körper verließ und eine jener Drohnen erfüllte, mit denen die Cores ihre Städte aufgebaut hatten. Womit die Götter aber nicht gerechnet hatten war, dass sie den Villass damit in die Hände gespielt hatten, denn im Netzwerk, welches die Regenerationstanks verband, konnten sie unbeobachtet von den Göttern ihre Pläne schmieden.

Der Grundtenor jener Zeit war, sich unverzichtbar für die Götter zu machen, während einige versuchten herauszufinden, was eine Dämonenwelt war, und warum die allmächtigen Götter nach ihr suchten.

Sie erfuhren nicht alles, beileibe nicht. Aber die Götter erzählten jedoch soviel: Dass die Bewohner der Dämonenwelten die Geisseln dieser Galaxis waren, schreckliche Bestien, die ganze Welten mit einem Gedanken vernichten konnten. Wenn die Dämonen nicht aufgehalten wurden, dann würden sie erneut Welt um Welt entvölkern und Milliarden von Intelligenzen töten. Sie erzählten vom großen Konflikt der Daima und Daina, von den schrecklichen Verwüstungen, welche die AO-Meister jener Zeit angerichtet hatten. Sie boten Beispiele hunderter ehemals blühender Welten dar, auf denen gekämpft worden war, und die nun nur noch Staubwüsten waren…

Diese Erzählungen waren so schrecklich, so furchtbar, dass sich die Villass nach und nach fast alle in die Tanks zurückzogen und ins Netzwerk integrierten. Ohne es zu wollen entstand damals die erste Version vom Paradies.“

Nachdenklich sah sie mich an. „Ich habe Zugriff auf eine Menge Daten aus jener Zeit. Die aufgezeichneten Angst-Empfindungen sind furchtbar. Wirklich furchtbar. Ich hoffe, dass ich eine solche Angst nie empfinden werde.“

„Angst ist nur ein Gefühl. Ein williges Werkzeug, von dem du dich nicht beherrschen lassen darfst“, tadelte ich die Herrin. „Aber die Villass, nein, die Iovar des Cores ließen sich davon beeindrucken und beherrschen, richtig?“

„Ja, das taten sie. Um die Antwort auf die Frage zu finden, ob auf Iotan eine Dämonenwelt existierte, bauten sie auf Gewalt. Die Raider entstanden, die Banges wurden gebaut. Riesige Flotten automatischer und von den neun Welten gesteuerte Rochenschiffe machten sich auf, Iotan anzugreifen und die Antwort mit Gewalt zu bekommen, bevor die Götter die Geduld verloren.

Doch die Abwehr war zu stark, und viele der Offiziere jener Zeit zogen sich in Agonie zurück und erwarteten das Ende des Lebens durch die Strafer.

Es war in jener Zeit, dass sie die erste Herrin des Paradies´ erschufen, ein recht depressives Ding, das in einer Zeit der Weltuntergangsstimmung geschaffen wurde, und das mit Angst und daraus resultierendem Hass regierte und den Krieg führte.

Naara, so hieß sie, kam schnell zu einer Entscheidung. Warum die Dämonenwelt nur auf Iotan suchen? Warum nicht auch andere Welten erkunden? Warum nicht den Göttern deutlich machen, wie wertvoll sie sein konnten?

Die Götter akzeptierten, und somit ließen die Raider von Iotan ab und begannen die anderen besiedelten Welten anzugreifen und an Antworten zu kommen.

Nicht nur jene Welten, auf denen die Iovar siedelten, wurden kontrolliert. Raider-Schiffe flogen viele verschiedene Welten an, und tatsächlich entdeckten sie nach und nach ein Dutzend Dämonenwelten und viele weitere Welten, auf denen Daima und Daina überlebt hatten. Damals kannten wir diese Begriffe nicht, aber es war eine einmalige Gelegenheit, unseren Wert für die Götter zu beweisen. Wir verschleppten die Daina und Daima aus den eroberten Systemen und integrierten sie in den Core, ob sie wollten oder nicht. Aber sie alle begriffen nach kurzer Zeit, dass wir sie nicht versklavt, sondern gerettet hatten. Und sie verstanden, dass ihnen das ewige Leben bevor stand.“ Sie setzte sich auf, griff nach ein wenig Sand und warf ihn im hohen Bogen ins Meerwasser. Das war die endgültige Geburtsstunde des Paradieses der Daima und Daina. Aber weder Naara, noch ihre Nachfolgerin Kiali, noch ich haben es jemals geschafft, die Trennung zwischen ihnen aufzuheben. Jene, die in der Flotte dienen, unsere Schiffe koordinieren oder in Offiziersdrohnen das Universum durchstreifen sind Anführer meines Volkes. Ihnen ist es egal, ob der Mann oder die Frau neben ihm Daima oder Daina ist. Aber die Offiziere sind nur ein paar zehntausend, und die Bevölkerung des Paradies geht in die Milliarden, verteilt auf neun Core-Welten.“

„Hm. Verstehe. Eure Angriffe auf die Naguad waren demnach auch Versuche, auf ihrer Hauptwelt eine Dämonenwelt ausfindig zu machen.“

Aris nickte. „Ja, aber auch hier war die Abwehr zu stark, sodass Naara bald dazu überging, die umliegenden Welten abzusuchen. Dabei entdeckten wir Dutzende Daima-Welten, aber nur die wenigsten konnten gerettet werden. Noch heute stehen sie unter der permanenten Bedrohung durch die Strafer der Götter. Sollte auf einer dieser Welten eine Dämonenwelt bestätigt werden, greifen die Strafer ohne jede Rücksicht an. Es sind nicht viele Schiffe, aber sie sind sehr mächtig. Mächtiger als alle Schiffe, die Daima, Daina oder Dai je gebaut haben, geschweige denn deine Terraner.“

Die Mosaiksteine setzten sich nach und nach zusammen. Vieles wurde mir klarer, und auch Orens Erzählung von der Eroberung der Core-Welt Yossha passte nun sehr gut ins Bild. Zuvor hatte mit Maltran, mein Stellvertreter, schon davon erzählt, welche furchtbare Katastrophe die Eroberung dieser Welt für das Paradies gewesen war. Er hatte von der Panik berichtet, von der Angst, und von den Anschuldigungen, die Daina und Daima einander an den Kopf geworfen hatten. Ihre Zivilisation hatte damals auf Messers Schneide gestanden, und nur die Erschaffung von Kiali hatte das Schlimmste verhindert.

„Wie viele Strafer haben die Götter?“, fragte ich.

„Wie viele? Wir schätzen, dass sie fünfzig haben. Tatsächlich zusammen gesehen haben wir aber nur acht. Warum interessiert dich das? Ein Strafer reicht vollkommen aus, um ein Sonnensystem zu vernichten.“

„Aha. Also können sie das, was sie den Dai vorwerfen, auch selbst.“ Ich richtete mich ebenfalls auf. „Aris, sag mir eins. Kiali hat auf der Erde operiert, meiner Heimatwelt. Warum wurde sie nie von einem Strafer angegriffen? Warum habt ihr nie versucht sie zu erobern?“

„Die Erde ist die Ursprungswelt, Akira. Auf ihr ist die Zivilisation der Dai entstanden. Zwar haben auch sie im Daima-Daina-Krieg gelitten, zwar wurde die Erde verwüstet und die Daina die auf ihr lebten um Jahrzehntausende zurückgeworfen, aber die Götter haben uns nur sanfte Einflussnahme gestattet. Wir hatten den Auftrag, auch auf dieser Welt die Dämonenwelt zu finden. Aber es war uns untersagt, die Erde anzugreifen.“ Aris sah mich nachdenklich an. „Wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen, es gibt da etwas auf der Erde, was die Götter nicht wecken wollen. Sie greifen im geheimen an, vernichten Dämonenwelt auf Dämonenwelt im Umfeld, aber den großen Angriff auf die Erde selbst wagen sie nicht.“

„Noch nicht“, flüsterte ich. Damit fielen die letzten Mosaiksteine an ihren Platz, und ich war endlich in der Lage zu handeln. „Aris. Ich muss dir etwas wichtiges sagen.“

Erwartungsvoll sah die Herrin mich an. „Betrifft es deine Terraner, auf die du so stolz bist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Bestenfalls indirekt. Es ist eine Nachricht, die mir der Intendent der Rebellion mitgegeben hat. Sie lautet: Iotan hat eine Dämonenwelt!“

Erschüttert sah sie mich an. „Was?“

Ich nickte schwer. „Das sind die Worte des Intendenten.“

„Aber das bedeutet, dass… Dass die Götter nun Strafer schicken werden, um Iotan zu zerstören! Akira, was hast du getan?“

Ehrlich gesagt wusste ich das selbst nicht so genau, ehrlich gesagt erschreckte mich die Reichweite der Gedanken des Intendenten, sein Witz, seine Courage und bis zu einem gewissen Punkt auch seine Skrupellosigkeit, auch wenn ich sie diesmal als notwendig anerkannte. Und ehrlich gesagt konnte ich noch nicht einmal annähernd absehen, was ich gerade ausgelöst hatte; auf jeden Fall aber einen Umbruch, der diesen Sektor der Galaxis für immer verändern würde. Ob zum guten oder schlechten würde die Zeit uns sagen müssen. Aber nun, in diesem Moment, murmelte ich leise: „Hoffentlich das richtige.“

***

Die Sonne schien… Ein leichter Wind ging… Der Strand war gut, aber nicht zu gut besucht… Die Leute trugen keine Uniformen… Dafür knappe Badesachen.

Im Klartext hieß das, dass eine Auswahl durchtrainierter Männer und Frauen des besten Alters einen halben Kilometer Strand des Serenity-Meeres unsicher machten, während laute Musik gespielt wurde, große Grills Unmengen an Fleisch und Gemüse brieten, Beachvolleyball fast zur Religion erhoben wurde und man sich nicht länger vorstellen musste wie er oder sie unter den Klamotten aussah. Kurz und gut: Der Innenraum der AURORA erlebte bei traumhaften vierundzwanzg Grad die größte Party, seit der erste Volleyball in den heißen Sandboden gefallen war.

Die Hekatoncheiren, einige Schiffskommandanten, einige Offiziere, das Otome-Bataillon, eine Schar Wackerer der Bodentruppen und wer sonst nicht hatte schnell genug entkommen können, amüsierte sich nach besten Kräften und Gewissen am Strand, was die Reserven hergaben. Es war Schonzeit. Vor wenigen Stunden war die AURORA gesprungen und hatte Arcturus mit ihrer Begleitflotte verlassen. Das bedeutete Freizeit für die Männer und Frauen, welche in den letzten Wochen unter permanenter Belastung gestanden hatten. Und diese Freizeit artete nun in eine handfeste Party aus. Seit mehreren Stunden, zugegeben.

Man amüsierte sich nach Leibeskräften. Man tanzte zur Musik von Joan Reilley, die wieder einmal mit ihrer Band auf der Bühne stand. Man trank, man aß, man lachte, man quatschte, man tat alles, was man nicht hatte tun können, als sie sich in Arcturus-System aufgehalten hatten.

Oder man saß still und bescheiden an einer ruhigen Ecke vom Strand, sah auf die Wellen hinaus und war tief in die eigenen Gedanken versunken.
 

Megumi Uno saß an einer ruhigen Stelle vom Strand und starrte blicklos auf die Wellen.

Und sie zeigte keine Reaktion, als eine eisgekühlte Getränkedose in ihren Nacken gedrückt wurde. Stattdessen griff sie danach, murmelte ein danke, riss sie auf und trank einen Schluck.

Mit einem freundlichen Grinsen ließ sich Sakura neben ihr nieder und stieß ihrerseits mit einer Dose an. Megumi schenkte ihr einen kurzen Blick und die Andeutung eines Lächelns, bevor sie wieder auf das Meer hinaus sah.

„Amüsieren sich die anderen?“

„Geht so“, brummte Sakura in ihr Bier. „Die Stimmung könnte besser sein.“

„Wie, besser?“, erwiderte Megumi mit einem spöttischen Lächeln. „Besser als die spontane Verbrüderung von Ban Shee Ryon und deinem kleinen Bruder? Besser als Keis Verlobungsversprechen, mit dem er das halbe Otome-Bataillon entsetzt und die andere Hälfte entzückt hat? Besser als Yoshis KI-Biest, das auf den Beachvolleyballfeldern immer die Bälle klaut? Besser als die unüberschaubaren Massen von jungen Männern, die beim Damenturnier zugucken und bei jedem Spielzug applaudieren, egal wer gepunktet hat? Besser als Joans spontanes Konzert, das noch frenetischer gefeiert wird als jenes auf Lorania, mit dem sie den Versöhnungsprozess zwischen Anelph und Naguad eingeleitet hat? Besser als…“

„Schon gut, schon gut“, warf Sakura hastig ein. „Es ist eine Riesenparty. Wundert mich, dass du das hier mitgekriegt hast.“

„Oh, ich sitze hier erst ein paar Minuten rum“, erwiderte sie. „Bis eben war ich damit beschäftigt, Slever und seine Leute ein wenig herumzuführen und ihnen ein paar Details zu erklären, was diese Party und was terranisches Verhalten betrifft.“

„Hat er dir eigentlich zugehört? Oder war er zu geblendet von dem, was du als Bikini bezeichnest?“

Megumi errötete. „Ich habe ja wohl mehr Stoff am Körper als du. Oder als Kitsune-chan.“

„Ach. Sie wieder. Sie hat sich Kleidung aus KI geformt, und das sieht zwar aus wie ein Einteiler, liegt aber so eng an wie eine zweite Haut. Außerdem spart er sehr viel aus. Wäre sie keine Dämonin, wäre es ein unverzeihbares Risiko, so ein Ding zu tragen.“ Sakura zwinkerte. „Sie könnte vom Fleck weg geheiratet werden.“

Megumi prustete leise und nahm einen Schluck von ihrem Eistee.

„Übrigens, Tyges ist mein einer Auswahl seiner Daina ebenfalls anwesend. Die ADAMANT ist angedockt, und was sollen sie auch anderes machen? Sie scheinen sich ebenfalls köstlich zu amüsieren.“

„Was ist mit Tag und Nacht? Sind sie noch da, oder treiben sie ihre jungen, wilden Hormone bereits in abgeschlossene Räume und stille Ecken?“

„Tag und Nacht?“ Sakura runzelte die Stirn. „Ach so, du meinst Micchan und Akarin. Nein, die sind noch ganz brav und artig auf der Party. Du musst bedenken, Micchan ist gerade erst siebzehn geworden. Und Akari ist – dreihundert Jahre als Oni oder nicht, nun mal auch gerade erst knapp an der siebzehn. Hast du vielleicht mit siebzehn schon…?“

Megumi schenkte ihrer schwesterlichen Freundin ein zweideutiges Lächeln.

„Ach ja, da war ja was auf Akiras achtzehntem Geburtstag“, murrte sie säuerlich. „Schade, dass ich das damals nicht gemerkt habe. Ich hätte Akira deswegen bereits eine Woche früher necken können.“

Megumi lachte und hielt sich dabei den Bauch. Sie lachte so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Schließlich fiel sie zur Seite, wurde von Sakura aufgefangen und lachte in ihren Armen weiter, bis sie nicht mehr konnte.

Als sie dann hoch sah und direkt in Sakuras Augen blickte, sagte sie: „Das ist deine einzige Sorge? Dass du ihn früher hättest necken können, weil er mit mir geschlafen hat?“

„Nicht meine einzige Sorge. Aber bedenke die Möglichkeiten, die ich gehabt hätte, wenn ich ihn hätte vor der Marsmission triezen können.“ Sie grinste sardonisch. „Das wäre ein Spaß geworden.“

„Ach, tu doch nicht so böse.“ Mit einem sanften Ruck löste sich Megumi aus ihren Armen und richtete sich wieder auf. Sie sah wieder auf die Wellen hinaus. „Warum hast du ihn mir überhaupt überlassen?“

„Was?“

„Du hast mich schon verstanden. Warum hast du mir Akira überlassen? Warst du nicht immer selbst in ihn verliebt?“

„Na hör mal“, erwiderte Sakura pikiert. „Ich habe dabei zugesehen wie ihm die Windeln gewechselt wurden! Das ist nun wirklich nicht…“

„Ich weiß, dass du ihn liebst. Ich weiß es, weil ich in deinen Augen das gleiche Glitzern sehe, dass ich an mir erkenne, wenn ich an ihn denke. Du hättest nicht viel tun müssen, um ihn kriegen zu können. Du hättest nur sagen müssen, dass du ihn liebst, und er wäre dir wie eine reife Frucht zugefallen. Egal, ob er zehn, dreizehn oder zwanzig war. Ein Wort von dir, und…“

Sanft legte Sakura einen Finger auf Megumis Mund und stoppte damit ihren Redefluss. Ebenso sanft lächelte sie das Mädchen an. „Ich könnte mich jetzt rausreden. Ich könnte sagen, ich bin ein Bluthund, und Bluthunde dürfen ihre Herren nicht lieben. Ich könnte sagen, dass du dich geirrt hast und ich ihn gar nicht liebe. Und ich könnte sagen, dass ich gegen dich einfach keine Chance hatte. Aber das wäre wohl alles mehr als gelogen. Nein, die Wahrheit liegt an einer anderen Stelle.“

Sanft nahm Sakura ihre Hand und drückte sie auf ihr Herz. „Weißt du, ich liebe ihn wirklich. Ich bin mit ihm aufgewachsen, ich habe ihn in schrecklichen Gefahren gesehen, ich bin an ihm verzweifelt und an ihm gewachsen. Ich schäme mich nicht, ihn so sehr zu lieben. Aber es gibt zwei Gründe, warum es so ist, wie es ist. Der erste ist, dass ich ihn auf ein viel zu hohes Podest gestellt habe, um einfach sein zu sein. Das geht nicht, das kann ich nicht und das werde ich nicht. Außerdem verliebe ich mich dauernd in andere Männer, in der Hoffnung, es ist mal einer dabei, der versteht, wie sehr ich auf Akira fixiert bin.“

„Tets…“, begann Megumi, aber Sakura unterbrach sie erneut.

„Der zweite Grund ist aber wichtiger. Du liebst ihn so viel mehr als ich, dass ich dagegen gar nicht ankommen würde, selbst wenn ich es wollte. Und er erwidert diese Liebe. Das hat er schon immer und das wird er auch immer. Weißt du noch, als die ersten Berichte über Blue Lightning aufgetaucht waren? Der geheimnisvolle Daishi-Pilot auf der Seite der Erde?

Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem deine Eltern starben? Weißt du noch, dass du ihn gerufen hast? Er war zehn Kilometer entfernt, hatte einen erbitterten Kampf mit fünf Daishis Beta, und plötzlich taucht er bei dir auf und rettet dein Leben, weil du ihn gerufen hast. Megumi, wer kommt denn gegen solch eine Verbindung an? Geschweige denn wer würde es wollen? Das was ihr zwei habt ist so kostbar, so wundervoll, dass ich es jedem nur wünschen kann, es selbst einmal zu erleben.“ Sie nahm den Finger ab und grinste burschikos. „Tatsächlich bin ich gerade auf einem guten Weg. Ich habe mir einen wilden Rocker aufgerissen. Stur, stark, unabhängig.“

„Und dein Untergebener“, warf Megumi ein.

„Natürlich mein Untergebener. Nur so funktionieren Beziehungen“, erwiderte Sakura mit erstaunt aufgerissenen Augen. „Hat dir das noch keiner beigebracht? Die Frau muss ganz klar das Kommando geben. Zerstör ihn nicht, wickel ihn nicht in Watte, sonst ist er nicht das, was du haben wolltest. Aber lass ihm ja nicht den Glauben, er würde in der Beziehung das sagen haben.“ Selbstgefällig grinsend breitete sie die Arme aus. „Letztendlich sind wir Frauen das stärkere Geschlecht und sollten die Welt regieren. Schlimmer zuschanden reiten als die Männer können wir sie auch nicht.“

„Aha. Und gibt es einen bestimmten Mann, den du dir gerade für dein Freizeitvergnügen unterwirfst?“, klang eine trockene Männerstimme hinter den beiden auf.

Sie sahen zurück. Tetsu Genda runzelte die Stirn. „Kenne ich ihn? Ich hoffe nicht, das arme Würstchen.“

„Ahahaha. Hahaha. Tetsu, also… Tetsu, ich meine ja, denkst du nicht auch, dass…“

„Doitsu und Daisuke wollen Melonen spalten. Ihr sollt kommen und die beiden mit auslachen“, brummte Tetsu und machte sich auf den Rückweg.

Sakura sprang auf und lief hinterher. „Tetsu, nun warte doch. Was ich gesagt habe war doch nur, um Megumi aufzumuntern. Ach komm schon, sei kein Brummbär. Tetsuuuu…“

„Ich glaube, in dieser Beziehung hast du einen schlechten Start hingelegt, was Dominanz betrifft“, murmelte Megumi schadenfroh und sah wieder aufs Meer hinaus.

Sekunden darauf traf sie eine Faust auf dem Kopf. „Wer hat hier einen schlechten Start, hä?“ Sakuras zornige Miene verwandelte sich in ein Lächeln, als sie Megumi eine Hand zum aufstehen anbot. „Komm jetzt. Unsere Freunde warten.“

Megumi ließ sich auf die Beine ziehen. Dabei rieb sie sich den Kopf. „Du darfst doch gar kein Daness-Eigentum beschädigen, Sakura.“

„Darf ich es dann wenigstens benutzen? Tetsu hat eine Schwäche für dich. Hilf mir, ihn zu bequatschen, ja? Dann gibt Onee-chan auch mal einen aus. Okay?“

„Okay“, murmelte Megumi.

„Tetsu! Du wirst doch zwei schöne Frauen hier nicht stehenlassen!“

„Tetsu, das erzähl ich Akira!“

Mit einer mürrischen Miene blieb der Kommandant der AURORA stehen und sah zu den beiden zurück. „Nun kommt schon, ihr zwei.“

Lachend liefen sie ihm hinterher.
 

4.

In ohnmächtiger Wut sah der Intendent auf das Hologramm herab, das vor ihn projiziert wurde. Es stellte das Sonnensystem von Io dar, das Hauptsystem des Kaiserreichs der Iovar. Io, die gelbe Sonne, war im Zentrum. Dreizehn weitere Planeten umkreisten sie. Iotan war der fünfte. Es gab ein paar Gluthöllen auf den Bahnen eins bis drei, eine Siedlungswelt, in Jahrtausenden Ioformt, eine weitere Ioformte Welt auf sechs, dann kamen fünf Gasriesen, die letzten beiden Welten waren eisige Zwerge aus Wasser, Gestein und gefrorenem Methan.

Der Intendent machte sich bewusst, dass er sich gerade in diesem System aufhielt, zusammen mit zweihundert Schiffen der Bewegung. Das würde normalerweise nicht reichen, um es mit der kaiserlichen Wachflotte aufzunehmen, aber es waren keine normalen Zeiten. Weitere fünfhundert Raider befanden sich bei ihm, ebenso wie seine Schiffe gut versteckt im Orbit eines Gasriesen mit dem Eigennamen Iogod.

Hier warteten sie, lauerten sie. Im Io-System lag die größte Macht des Kaisers, hier konzentrierte sich das despotische, Iovarverachtende System. Wenn sie etwas ändern wollten, dann genügte es nicht, die Randwelten zu erobern oder das eine oder andere industrielle Zentrum. Wenn es besser werden sollte, dann musste den Tybals die Macht genommen werden, mit der sie sich vor fast zweitausend Jahren an die Macht gebracht hatten, und die sie nun seit dieser Zeit mal besser und mal schlechter gebrauchten.

Hier mussten sie ansetzen. Hier mussten alle Familien, alle Stämme, alle Sippen gemeinsam agieren, um die Veränderung herbeizuführen. Oh, ihm lag nichts daran, die Tybal auszurotten. Aber wenn ihr Machtzentrum zerstört war, dann waren sie nur noch eine Sippe gleiche unter gleichen. Und dann konnten die einen etwas Macht aufgeben, die anderen etwas hinzugewinnen, und auf einem gemeinsamen Level neu beginnen.

Der Intendent wusste, dass Aris Arogad diesen Plan nicht guthieß, aber er hatte sich seiner Entscheidung gebeugt, denn der Intendent war der uneingeschränkte Experte für Iovar-Fragen und er wusste, dass die anderen Familien den Frevel der Dezimierung der Lencis erst dann getilgt sahen, wenn die Tybal zurechtgestutzt worden waren.

Der junge Arogad hatte sich dem Urteil des Älteren gebeugt und all seine Macht in die Hand des Intendenten gelegt. Und der Intendent stand nun vor dem schwersten Moment seines Lebens. Wenn diese Sache schief ging, wenn irgendetwas schiefging, dann würden sich die Tybal erholen, sammeln, die Verbündeten gegeneinander ausspielen und danach jeden einzelnen besiegen. Nein, sie brauchten ein Schauspiel, sie alle brauchten einen Moment, der sie erweckte. Der sie schauen ließ, was sie erwartete, wenn das Schlimmste eintraf. Und dieser Moment konnte jede Sekunde bevor stehen.

Ein weiteres Hologramm baute sich auf. Es zeigte das Oberhaupt der Lencis, Aris Ohana. Die alte Frau lächelte und wirkte keinen Tag älter aus einhundert.

„Hast du es dir überlegt, Aris Ohana?“

„Ja, Intendent. Ich werde hier bei unserer Familie auf Iotan bleiben. Das wird den Kaiser einlullen. Und dein Plan wird Erfolg zeigen.“

„Es kann euer Tod sein!“, blaffte er scharf! „Du gefährdest dein Leben, das jener aus deiner Familie, die mit dir ausharren, und das meiner Frau und meiner Kinder!“

„Ja, ich weiß. Und ich wünschte, ich könnte sie dir gefahrlos schicken. Aber du bist ein Naguad, Intendent, und du weißt das es nicht sehr viel anders ist, ein Iovar zu sein. Ich habe diese Pflicht angenommen. Wir haben diese Pflicht angenommen. Wir bleiben hier.

Wir sind nicht der Köder für deinen Plan, Intendent. Wir sind nur ein Beiwerk, aber ein wichtiges, denn wenn wir hier bleiben muss es der Kaiser auch, will er nicht sein Gesicht verlieren.“

„Das kann nicht dein Ernst sein. Bitte, Aris Ohana, komm von dieser Welt runter. Kommt da alle runter! Rettet euch!“

„Selbst wenn wir wollten, es ist zu spät.“ Sie lächelte sanft. „Wir müssen uns jetzt in den Bunker unter dem Familiensitz zurückziehen. Viel Glück, mein Junge. Ich werde gut auf deine Familie achten.“

Das Hologramm erlosch und ließ den Intendenten vor Angst zitternd zurück. Die Lencis waren seine Familie. Er hatte diese Revolution gewagt, weil er sie retten wollte. Weil Aris Arogad ihm das Werkzeug dafür in die Hände gespielt hatte. Weil er die Macht des Imperators hatte brechen wollen, um eine neue, bessere Zukunft zu erschaffen. Er hatte die Chance gesehen, ergriffen und viel riskiert. Nur war ihm nie bewusst geworden, dass er alles riskierte.

„Soeben sind zwei Strafer ins innere System gesprungen“, meldete die Ortung.

Der Intendent senkte den Blick. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Nachricht, dass es eine Dämonenwelt auf Iovar gab, war von seinem Großneffen an den Core überbracht worden. Nun konnten sie nur noch warten und hoffen, dass die Strafer zwar die Dämonenwelt vernichteten, aber nicht den ganzen Planeten mit seinen über zwei Milliarden Bewohnern.

Man sagte zwar, ein Iovar kannte seine Pflicht und wusste wofür es sich lohnte zu leben und zu sterben, Eigenschaften, die er immer sehr verwundert an seiner Frau, ihren Verwandten und anderen festgestellt hatte. Aber in wenigen Augenblicken würde das Blut von ein paar zehntausend an seinen Händen kleben, die sicher nicht vorgehabt hatten, heute zu sterben, und auf diese Art.

Jonn Arogad, seit zweitausend Jahren im Exil auf Iotan, Sohn von Oren Arogad und Halbbruder von Eridia Arogad, senkte seinen Blick. Hoffentlich ging es schnell.
 

Epilog:

Die beiden Strafer fielen in weniger als zwei Lichtstunden von Iotan aus dem System. Ihr Kurs zeigte überdeutlich auf die Hauptwelt. Die mächtigen Schiffe durchstreiften das Raumgebiet der Tybal, als wäre es ihr eigenes und als gäbe es hier für sie nichts und niemanden zu fürchten, und vielleicht stimmte das sogar.

Natürlich reagierte die Heimatflotte. Egal wie groß die Schiffe waren, egal wie stark sie beschleunigten – was einen eklatanten Hinweis auf Waffen und Schirmleistungen zuließ – es war ihr Pflicht als Mitglieder des Kaiserhauses, die Heimatwelt zu schützen.

Warnanrufe gingen hinaus. Schnelle Einheiten versuchten die weißen Giganten abzufangen. Warnschüsse wurden abgegeben und von den Angreifern ignoriert. Sie brachten deren Schirme nicht einmal zum flackern. Dann zogen sich die schweren Einheiten zusammen, warfen sich den Riesenschiffen, die noch immer nicht antworteten, entgegen.

Die Einheiten der Iovar feuerten alles was sie hatten, und diesmal erwiderten die Strafer das Feuer. Sie vernichteten Dutzende gegnerische Schiffe und durchbrachen den ersten Sperrriegel.

Dann stießen sie auf den Orbit Iotans vor. Der wurde von weiteren Schiffen gesäumt. Zudem von Orbitalplattformen, von denen große Jagdkorvetten und unzählige Banges starteten. Im gesammelten Feuer von achthundert Kriegsschiffen aller Klassen und viertausend Banges zeigten die Schirme der weißen Schiffe die ersten Risse; sie begannen zu flackern, offenbarten die dunkle Haut unter den Schirmen und steckten Treffer auf Treffer ein.

Jedoch blieben sie nichts schuldig. Bevor das erste weiße Schiff in einer gigantischen Explosion verging, nahm es über hundert gegnerische Einheiten mit.

Der zweite Strafer schaffte es fast bis in den Orbit, bevor auch er vernichtet wurde. Seine Explosion war so gewaltig, dass er noch im Todeskampf zwei Orbitalplattformen vernichtete, obwohl diese von erfahrenen AO-Meistern beschützt worden waren.

Am Ende des Kampfes hatte die Verteidigung der Iovar nur noch dreihundert einsatzbereite Schiffe und achtzig mehr oder minder reparaturbedürftige Einheiten, die sich zu den Plattformen schleppten. Von den ungezählten Banges war über die Hälfte vernichtet worden. Ein ungeheuer hoher Blutpreis war bezahlt worden, um die Hauptwelt des Kaiserreichs zu schützen, aber sie hatten gesiegt. Die weißen Schiffe waren abgeschlagen worden, wenngleich der eine oder andere Schuss die Hauptwelt getroffen und unglaubliche Verwüstungen angerichtet hatte.

Dennoch. Die Strafer hatten der Macht der Iovar weichen müssen.
 

Acht Stunden nach der Attacke fielen fünf Strafer ins Sonnensystem. Diesmal waren sie weiter von Iotan entfernt und sie beschleunigten nicht so stark wie ihre zerstörten Schwesterschiffe. Mittlerweile aber hatten die Verteidiger alle verfügbaren Einheiten in der näheren Umgebung zusammen gezogen, und somit erwarteten die Angreifer wieder fünfhundert kampfbereite Einheiten.

Diesmal ging der Feind anders vor. Zwei Strafer bildeten die Speerspitze des Angriffs, während die anderen drei in deren Schatten flogen.

Die erste Berührung hatten Angreifer und Verteidiger diesmal im Orbit des Planeten. Wieder vernichteten sie einen Strafer, wenngleich für den Preis von über einhundert eigenen Schiffen, die ihre Mobilität und alle anderen Vorteile aufgegeben hatten, um Bollwerk für Iotan zu sein.

Die zweite Einheit zerstörte gerade einmal vierzig Einheiten, bevor sie zerplatzte. Es schien als würden sich die Verteidiger langsam auf den Gegner einstellen.

Dann kamen die anderen drei Strafer heran, eröffneten das Feuer – und gerieten selbst in die größte Falle, die es jemals auf Iotan gegeben hatte. Zum ersten Mal seit sie erschaffen worden waren, schossen die Bodenforts in den Himmel und Orbit von Iotan. Von ausgewählten AO-Meistern verstärkt, schossen Dutzende meterdicke Energiestrahlen empor und rissen die Schilde der weißen Schiffe auf. Für den Blutzoll von zwanzig Forts und zweihundert eigenen Schiffen gelang es den Iovar, auch diesen Angriff abzuwehren.
 

Nach weiteren zwanzig Stunden fielen acht Strafer ins System. Sie nahmen schnell Fahrt auf, näherten sich dem Orbit aber eher bedächtig. Sie feuerten bereits aus großer Entfernung auf die Verteidiger, lange bevor diese die Chance hatten, auf die Angreifer zu feuern. Je näher sie kamen, desto höher wurde der Blutzoll. Orbitalplattformen, die Bollwerke dieser Welt, wurden abgeschossen. Manche fielen auf Iotan hinab, manche explodierten im Orbit und wurden ein Trümmerregen, der so manchem anderen Schiff zum Verhängnis wurde.

Wieder griffen die Bodenforts ein, doch ihr Erfolg war diesmal mäßig.

Die Strafer schwenkten in den Orbit um Iotan ein, ließen sich beschießen und lokalisierten auf diese Weise die Positionen der Forts. Ihr Feuer lag präzise, vernichtete Fort auf Fort.

Als ihnen niemand mehr Widerstand leistete, kein Schiff, keine Orbitalplattform und kein Fort, sammelten sie sich im stationären Orbit über dem Nordkontinent. Zu acht aktivierten sie ihre Hauptwaffen, schossen gemeinsam auf eine bestimmte Position des Planeten.

Die Partikelwellen schoben sich heran, verursachten in der Atmosphäre wütende Stürme, trafen auf die Oberfläche dieser Welt und rissen ein riesiges Loch, das sechstausend Meter tief ins Gestein der Welt ragte und einen Krater von über vierhundert Kilometern Durchmesser schuf.

Fünfzig Stunden blieben die Strafer im Orbit, feuerten hier und da auf Schiffe oder Bodeneinheiten, die verdächtige energetische Aktivität gezeigt hatten und zogen schließlich ab. Dies taten sie mit Beschleunigungswerten, die verständlich machten, wie dumm es doch gewesen war, gegen diesen Gegner Widerstand zu leisten.

***

Dreißig Stunden nach dem Abzug der weißen Schiffe der Götter landeten die ersten Einheiten von Jonn Arogads gemischtem Verband auf Iotan. Der Palast des Kaisers in der Dämonenwelt war nicht mehr, die meisten Schiffe seiner Flotte und seiner treuesten Verbündeten waren vernichtet worden. Wer noch lebte wagte nicht einmal an Widerstand zu denken.

„Wahrscheinlich“, murmelte der Intendent vor sich hin, während er auf den Krater starrte, den ein Fehlschuss gerissen hatte, „sind sie froh, dass wir es sind, die Iotan nun in Besitz nehmen, und nicht sie.“

„Intendent. Wir haben das Haupthaus der Lencis erreicht. Der Bunker ist unbeschädigt. Der Hauskomplex ist in annehmbarem Zustand. Wir erwarten eure Anwesenheit.“

Jonn bestätigte und flog jenen Ort an, der sein Zuhause geworden war.

Dort erwarteten ihn bereits die Vertreter jedes wichtigen Hauses, welches dem Bündnis gegen den Kaiser beigetreten war.

Aris Ohana Lencis erwartete sie bereits, erstaunt, aber gefasst.

Als Jonn vor sie trat, sank er auf ein Knie, und die Hausvertreter taten es ihm gleich.

„Hiermit nehme ich diese Welt in Besitz, als Hauptwelt der neu gegründeten Republik, die Wohlstand, Sicherheit und Zufriedenheit für alle Iovar, für alle Daina und alle Daima bringen soll. Und hiermit bitte ich dich, Aris Ohana Lencis, darum, das Amt des Intendenten zu übernehmen, bis wir einen in gerechter, gleicher, geheimer und allgemeiner Wahl wählen können.“

Unsicher sah er die Vorsitzende des großen Hauses Lencis an.

Aris lächelte. „Natürlich. Bis ein legitimer Intendent gewählt wurde.“

Jonn vernahm diese Worte, aber er schien sie nicht verstehen zu können. Wohl aber die Männer und Frauen, die seit Monaten an seiner Seite kämpften. Sie sprangen auf, beglückwünschten Aris Lencis und klopften ihm auf die Schulter, denn nun war ein wichtiges Ziel erreicht. Wenngleich zu einem horrenden Preis.

Es war die Pflicht eines jeden Iovar, diesen Preis zu zahlen, aber das machte die Erkenntnis nicht leichter, für den Tod Hunderttausender verantwortlich zu sein.

Leichter machte es ihm nur eines. Das Glänzen der Wiedersehensfreude in den Augen seiner Frau, die Kinder, die nun zu ihm kamen und die eigene Kinder und auch Enkel an den Händen führten.

In der alten Welt waren sie als Lencis respektiert und als Halb-Naguad verabscheut worden. Doch in der neuen Welt, die er nun schaffen würde, die Aris Arogad mit ihm schaffen würde, da würde man sie nie wieder nach ihrer Herkunft beurteilen, nur noch nach dem was sie waren. Und nachdem wie sie waren.

Jonn stürzte zu ihnen, nahm sie einen nach dem anderen in den Arm und herzte und küsste sie. „Ich bin wieder da“, sagte er, und wusste doch, dass er log. Er war nicht wieder da. Er war nur kurz auf einen Kaffee vorbei gekommen.

Der Kaiser der Iovar war ein Dai gewesen. Ein Dai, der sich des Hauses der Tybal bemächtigt hatte, und mit der Hilfe seiner Untergebenen seit fast zweitausend Jahren regiert hatte. Sein Sitz war unangreifbar in der Dämonenwelt gewesen.

All das war einmal, der Kaiser entweder tot oder entmachtet. Mit der Vernichtung der Dämonenwelt hatte auch dieses Kapitel aufgehört. Nun würden sie beginnen, die Zukunft zu schreiben. Für seine Familie. Für alle Iovar. Für jeden Daina und jeden Daima in diesem Universum. Und für die Dai.

Es gibt kein Paradies

Prolog:

Ich genoss es. Oh, ich genoss es wirklich, einfach hier zu sitzen, mir die Illusion von frischem Seewind um die Nase wehen zu lassen und die Hitze der virtuellen Sonne auf meiner Haut zu spüren. Natürlich war das alles nur eine Illusion.

Es gab keine Halle auf der Hauptwelt des Cores, Villass genannt, in dem dieses Envirenment projiziert wurde und die Daima und Daina hinzugefügt wurden. Es war eine virtuelle Welt, die so nur in den Speichern der Rechenknoten des hiesigen Cores diente. Man existierte nur in Gedanken, und diese Gedanken wurden vom Rechensystem voll belastet. Es war die Informationsflut, angefangen bei der Umgebungstemperatur, der Feuchte des Sandes über die Stärke und Kühle des Windes bis hin zum sanften Rauschen der an den Strand schlagenden Wellen, die aus dieser Illusion, der virtuellen Welt eine beinahe echte machte.

Ich seufzte ergeben. Lange würde ich mich hier nicht mehr verstecken können. Schon bald würde Jonn meine körperliche Anwesenheit einfordern, würde ich Aris Ohana gegenüber stehen müssen.

Dieser Gedanke ernüchterte mich. Ich hatte nie gewusst, wie groß die Familie meiner Mutter wirklich war, und wie weit verzweigt sie war. Ich hätte nie gedacht, in meinem ganzen Leben nicht, dass ich sogar Blutsverwandte auf Iotan hatte.

Wenn ich daran dachte, wie meine Welt nach und nach gewachsen war, wie zuerst die Kronosier in ihm aufgetaucht waren, dann die Anelph und mit ihnen die Naguad, dann musste ich mich wundern, wie naiv ich doch gewesen war zu glauben, damit hätte es sich gehabt.

Waren die Iovar nicht der nächste logische Schritt? Hatte es mich wirklich zu verwundern, was wirklich hinter dem Core steckte, den ich auf dem Mars vernichtet hatte? Und hatte ich wirklich geglaubt, eine Maschine wie der Core könnte auf eigene Faust auf den Gedanken kommen, die Menschheit zu unterwerfen?

Die Götter hatte ich erst neulich kennen gelernt. Und ich hatte die Nachricht von der Vernichtung eines Strafers durch die AURORA mit Freude gehört. Oh, ich war nicht naiv. Ich wusste, dass unsere Probleme weder bei den Göttern begannen, noch bei ihnen aufhörten, im Gegenteil. Da waren immer noch die Reste des Legats, die sich laut dem Geheimdienst der UEMF kräftiger erholt hatten als ich gehofft hatte. Da waren die mit dem Core verbündeten Logodoboro, eine Zusammenarbeit, die schon fast zweitausend Jahre andauerte. Über die Motive der Führungsspitze der Logodoboro wusste ich selbst jetzt nicht viel, wo ich fast unbeschränkten Zugriff auf die Archive des Cores hatte. Aber ich vermutete, dass es die üblichen waren: Selbstüberschätzung, Eitelkeit, Gier. Motive, von denen auch ich nicht verschont werden würde. Denen ich bereits mehrfach zum Opfer gefallen war. Und ich war mir nicht sicher, ob ich sie wirklich abgeschüttelt hatte, sei es für jetzt oder für immer.

Und dann war da immer noch der Clan des Kaisers, ganz davon abgesehen, dass da draußen im Sternenmeer noch Dutzende Welten der Daima und Daina lagen, die teilweise eine eigene Daimon hatten. Diese waren isoliert, abgeschlagen und abgeschnitten, sofern Naguad und Iovar sie nicht integriert oder erobert hatten. Welche Motive jene Dai in den Daimon auf diesen Welten hatten, konnte ich nur erraten. Aber ich wusste, dass das fragile Zusammenspiel, die stillschweigende Übereinkunft, die ich anführte, lediglich vier Häuser der Naguad umfasste, dazu auf dem guten Willen der Anelph baute und jederzeit von den Kronosiern, die noch immer dem Legat ergeben waren, empfindlich gestört werden konnte.

Es war ein Pulverfass, und ich war nicht da, um die Lunte auszutreten.

So langsam wurde mir das alles zuviel. Ich fühlte mich der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Das war doch alles eine Nummer zu groß für mich. Vor kurzem noch war ich ein Soldat, der in der Liste der Besten Piloten einen unanfechtbaren Ersten Platz eingenommen hatte, über vierhundert Einzelabschüsse von Daishis waren ein Rekord, den nur jemand hatte erreichen können, der allein gegen alle kämpfte, und die Frechheit besaß zu überleben.

Ich hatte diese Frechheit besessen. Aber damals, in der guten alten, blutigen Zeit, da hatte ich mir auch weniger Gedanken machen müssen. Da hatte es klare Befehle gegeben, ich hatte versucht mein Gefechtsziel zu erreichen und zu überleben. Heutzutage wurde von mir erwartet, die Befehle selbst zu geben. Alles in allem erschien es mir erstrebenswerter dreitausend Tote zu ertragen, die von meiner Hand gefallen waren als die unüberschaubare Menge an Toten, die ihre Leben aufgrund meiner Befehle verloren hatten. Diese Zahl war spätestens nach dem Aufstand der Lencis, den ich mit ausgelöst hatte, bereits im Bereich der zehntausend angekommen, und ein Ende war noch nicht in Sicht.

Kurz betrachtete ich meine zitternden Hände. Und es würden noch mehr hinzu kommen, soviel mehr.

Ich kannte Jonns Plan, und zögerlich hatte ich ihm zugestimmt, weil ich keine Alternative parat hatte. Und überdies hatte ich den entscheidenden Streich gespielt. Ich hatte geahnt, dass die Götter das Paradies überwachten, und sobald die Strafer Iotan angriffen hatten wir auch die Gewissheit. Fünf Worte hatte ich sagen müssen, und nun würden die mächtigen Götterschiffe über Iotan herfallen, eine Welt, die fast zwei Milliarden Bürger beherbergte. Viele von ihnen waren aus der Familie meiner Vorfahrin Aris Ohana. Es gab keinerlei Grundlage dafür zu sagen, dass sich die Strafer mit der Vernichtung der Daimon zufriedengeben würden. Es gab keinen Grund zu sagen, dass sie besondere Rücksicht auf die tektonische Stabilität der Welt nehmen würden, wenn sie sie einmal angriffen und auf den Widerstand der Iovar trafen. Wenn sie diese ganze Welt vernichteten, wenn sie alles, aber auch wirklich alles zerstörten, dann teilte ich mit mir Jonn Arogad eine Blutschuld von zwei Milliarden Daima. Ich griff mir unwillkürlich ans Herz. Das war eine Schuld, die ich nicht tragen wollte, die ich nicht haben wollte. Und dennoch war ich das Risiko eingegangen.

Ich verstand Jonns Argumente nur zu gut. Wenn der Kaiser tot, verschollen, gefangen oder auf der Flucht war, dann war sein Clan kopflos. War der Clan kopflos, konnte er als Intendent der Revolution nicht nur einen neuen, dauerhafteren Frieden etablieren – sieben Familien, die bereits mit ihm zusammen arbeiteten, sprachen für die wahnwitzige Idee und versprachen Erfolg – er konnte auch die Abwehr gegen die Götter auf feste Füße stellen. Denn mit einem Angriff auf Iotan würde es nicht getan sein. Würde es niemals getan sein. Die Götter dazu zu zwingen aktiv zu werden war eine Herausforderung, und an deren Ende würde ein neuer Krieg stehen. Einer von der Sorte, welche die Götter ausgefochten hatten, um die Dai auszulöschen, die ihren schutzbefohlenen Daima und Daina zur Seite gestanden hatten.

Nein, der Kampf war hier noch nicht beendet. Er begann. Und er würde furchtbar werden. Letztendlich würde er entweder zur Erde getragen werden – oder auf die Hauptwelt der Götter, falls sie eine Hauptwelt hatten. Aber die eine Seite würde nicht ruhen, bis die Gefahr ausgelöscht war, und die andere Seite durfte nicht ruhen, solange die Götter existierten.
 

„Sir!“ Neben mir ließ sich Yuna Omaret Lencis nieder, die Offizierin, die ich damals vor der Dezimierung durch den Kaiser gerettet hatte.

„Ich hoffe, du bringst gute Neuigkeiten, wenn du mich schon mit einem terranischen Ehrentitel ansprichst“, murmelte ich.

Yuna lächelte mich an. Dabei hatte sie etwas Ähnlichkeit mit Yohko, fand ich. Sie stammte aus einem Nebenzweig der Familie, aber der schien mit Aris Ohana viel zu tun zu haben.

„Natürlich habe ich gute Neuigkeiten. Die beste zuerst: Es gibt Iotan noch. Die Strafer haben zwar ein Loch hineingestanzt, aber bis auf ein paar Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Springfluten, Unwettern und massig Staub in der Atmosphäre ist sie im großen und ganzen die alte.“

„Wie viele Strafer haben die Götter aufgeboten? Wie viele verloren? Was ist mit dem Kaiser?“

„Moment, Moment, nicht so viele Fragen auf einmal. Weißt du, ich muss mich auch erstmal an einen Biotank gewöhnen. Und dann dieses Paradies, es ist so ein interessanter Ort.“

„Ein virtueller Ort“, warf ich ein.

„Schon gut“, murrte sie und kam zurück zum Thema. „Die Götter haben erst zwei, dann fünf und schließlich acht Strafer eingesetzt. Die ersten beiden Wellen wurden vernichtet.“

„Wir haben Aufzeichnungen vom Kampf der zerstörten sieben Strafer?“

„Natürlich haben wir Aufzeichnungen“, erwiderte sie beleidigt. „Immerhin ist Iotan nun Hauptwelt des Aufstandes. Und es wurde ein neuer Intendent ernannt. Aris Ohana Lencis hat zugesagt und führt nun den Widerstand an.“

„Gibt es denn noch einen Widerstand? Was ist mit dem Kaiser?“

„Der Palast in der Daimon wurde mit ihr zerstört. Wir wissen nichts näheres, weil wir aus naheliegenden Gründen alle Verbündeten und Spione abgezogen haben. Wer es nicht geschafft hat, ist jetzt vermutlich tot. Aber auf jeden Fall hat der Kaiser seine unangreifbare Basis verloren. Das ist mehr als wir zu hoffen gewagt haben.“ Yuna nahm nachdenklich ein paar Steine in die Hand und warf sie in die Brandung. „Die Waffen der Strafer haben die Verteidigungsplattformen zerstört, die unsere Welt seit viertausend Jahren verteidigt haben. Dazu die Bodenforts, die zusätzlich von AO-Meistern verstärkt worden waren. Es war ein furchtbares Gemetzel. Aber es musste sein, oder Haus Lencis wäre ausgelöscht worden. Wenn nicht diesmal, dann beim nächstenmal. Und Jonn wäre dann einer der ersten gewesen.“

Ich schnaubte wütend. „Mit wie vielen Toten rechnen wir?“

„Zwei Millionen, wenn es ganz schlimm kommt.“

„Zwei… Millionen… Ich glaube, ich habe gerade einen neuen Negativ-Rekord aufgestellt.“

„Wenn, dann haben WIR ihn aufgestellt.“ Sie knuffte mich gegen den Oberarm. „Komm schon, seit wann ist Blue Lightning denn so empfindlich? Wären sie nicht von den Strafern geholt worden, hätten wir sie niederkämpfen müssen. Und dann hätte uns jedes Schiff gefehlt, dass dabei auf unserer Seite zerstört worden wäre. So aber haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“

Ich seufzte schwer. So konnte man es auch sehen. Und vielleicht sah ich es auch so. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass ich nicht längst in Fötalstellung am Boden lag und wimmerte wie ein Säugling, weil mir zwei Millionen Tote mehr auf der Seele lasteten. Aber was waren zwei Millionen schon gegen die sechs Milliarden Menschen auf der Erde? Gegen achthundert Millionen Anelph, gegen zwanzig Milliarden Naguad?

Oh nein, ich wollte nicht wenige opfern um vielen zu helfen, so verblendet, so blenderisch war ich nicht. Es war eher die alte „Ein toter Feind ist ein guter Feind“-Nummer.

Letztendlich war ich doch Soldat und Offizier und wusste, dass in einem Konflikt Soldaten starben.

Aber in der Daimon sind sicherlich nicht nur Soldaten gestorben. Das machte mir am meisten zu schaffen.

Yuna sah mich schräg von unten an. „Akira? Wenn, dann musst du die Schuld nicht alleine tragen. Ein Viertel kriegt Jonn Arogad, ein Viertel kriegt Haus Lencis, ein Viertel du, und den Rest schieben wir dem Kaiser in die Schuhe, weil er den Aufstand provoziert hat. Du weißt, hätten wir den Aufstand nicht gewagt, wären jetzt zwei Millionen Iovar mit dem Tode bedroht. Und hätte sich Haus Lencis nicht geweigert, die Naguad anzugreifen, wären es mittlerweile eine Milliarde Tote. Auf beiden Seiten.“

„Ich weiß ja, ich weiß!“, blaffte ich wütend. „Das macht es auch nicht leichter!“

„Und das ist der Grund, warum ich dich mag.“ Sie griente mich mit zusammengekniffenen Augen an und wirkte wie sechzehn, nicht wie die erwachsene Frau, die sie eigentlich war.

„Danke“, erwiderte ich säuerlich.

„Akira!“, klang hinter mir eine wohlbekannte Stimme auf.

Ich wandte den Kopf. „Du bist schon da, Maltran?“

Maltran Choaster, mein Stellvertreter, ließ sich rechts von mir nieder. „Ich hatte eine schnelle Reise. Aber ich habe alle meine Befehle ausgeführt. Die Logodoboro sind informiert und alle verfügbaren Einheiten sind auf dem Rückmarsch.“

„Was wissen wir über die Strafer?“

„Mit der Einheit, die von der AURORA vernichtet wurde, haben die Götter in diesem Sektor der Galaxis acht Einheiten verloren. Sie haben acht weitere über Iotan präsentiert. Sie können maximal zwei weitere Einheiten in dieser Region haben. Mehr nicht.“

„Bist du sicher?“, hakte ich nach.

„Dann lass es vier sein. Mehr werden jedenfalls nicht rechtzeitig hier eintreffen können. Nicht wenn wir schnell sind.“

„Was hat das zu bedeuten?“, rief Kiali. Sie entstand gerade in einem Farbschauer direkt vor meinen Füßen. Sie deutete vorwurfsvoll auf Yuna. „Sie ist kein Mitglied des Cores! Sie ist eine Iovar-Soldatin!“

„Mit der ich das letzte halbe Jahr zusammen gekämpft habe. Übrigens haben wir das Kaiserreich beinahe erobert. Es liegt nun in den Händen der Herrin der Lencis.“

„Das sind… Wider Erwarten gute Neuigkeiten. Aber man wird sehen, wie die Götter das auffassen werden.“

„Wieso? Dank uns konnten sie eine Daimon zerstören, die sie seit Jahrtausenden suchen. Wir sollten jetzt wertvoller denn je für sie sein, um weitere Daimon aufzuspüren.“

„Ich… Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist“, murmelte Kiali matt.

Ich lächelte still. Ja, so hatte ich mir das in etwa vorgestellt.

„Maltran?“

Der große Mann nickte mir zu. Dabei lächelte er leicht.

„Aris, bist du hier?“

Sie entstand in einem einzigen Augenblick aus weißen Nebelschwaden über dem Meer. Sie trat auf das Wasser und ging darauf auf uns zu. „Du hast nun großes vor, habe ich Recht, Akira?“

„Sehr großes. Habe ich deine Erlaubnis, Herrin?“

„Du bist mein Feldherr. Ich vertraue dir absolut.“

„Auch wenn fortan alles anders wird?“

„Auch wenn alles anders wird.“

Ich atmete tief durch und ließ mich nach hinten ins Gras fallen. Noch mehr Verantwortung, na klasse.
 

„Kiali, Aris, kommt bitte beide mal her. Bitte nehmt meine Hände.“

Zögernd traten die Projektionen heran. Doch als sie die Hände berühren wollten, glitten sie hindurch.

„Was ist das? Ein Fehler in der Projektion?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, kein Fehler. Nur ein Anfang. Ich bin nämlich wirklich hier. Nicht als Rechendatei, die aus einem Biotank adaptiert und hierher übertragen wurde, sondern als vollständiges Wesen. Genauer gesagt habe ich meinen KI-Container hierher projiziert. Ich bin das einzige reale Wesen in dieser Umgebung.“

„KI-Container?“, fragte Aris interessiert.

„Etwas, was du und Kiali die nächsten Tage schnell zu erschaffen lernen müssen. Auch all jene, die im Paradies leben und nicht einmal mehr ein Gehirn als Anker in die Realität haben. Es sind mehr als ihr gedacht habt.“

„Aber wir existieren nicht wirklich! Wir sind nur zusammengepfropfte AO-Fragmente!“, rief Kiali entsetzt. „Wir können nicht, was du kannst.“

„Ihr besteht aus KI. Und damit könnt ihr euch ebenfalls KI-Container projizieren. In die reale Welt kommen. Ich werde es euch beibringen. Wenn ihr mir vertraut.“

Aris ergriff meine Hände und drückte sie. „Natürlich, Akira Otomo. Ich vertraue dir.“

Mürrisch betrachtete Kiali diese Szene, bevor sie ihre schwarze Kapuze nach hinten schob und eine Flut blauschwarzen Haares entließ. „Und ich glaube einfach nicht, dass meine Zeit, mich wieder aufzulösen, schon gekommen ist. Auch ich schenke dir mein Vertrauen. Was aber hast du vor, Aris Arogad?“

„Euch zur Flucht zu verhelfen. Raus aus dem Pfand der Götter.“

„Du willst dich den Göttern widersetzen?“ Entsetzt sah sie mich an. „Wird das gehen?“

Ich lächelte dünn. „Ja, es wird gehen. Und ich werde es möglich machen. WIR werden es möglich machen. In diesem Moment kommen alle Raider, alle Transporter und alle Koalitionsschiffe, die wir wo auch immer auftreiben konnten, zu den Kernwelten. Die ersten treffen in diesen Sekunden ein, die letzten in zwei Tagen. Wenn wir schnell sind, können sie alle in spätestens zwanzig Tagen wieder gestartet sein.“

„Und was tun sie in dieser Zeit?“, fragte Aris. Sie hatte die Augen aufgerissen, sie schimmerten erwartungsvoll.

„Sie werden die gesamte Core-Zivilisation evakuieren.“

Ich ließ den beiden ein wenig Zeit, damit sie verstehen konnten, was ich mit meinem Stab und Jonn Arogad ausgebrütet hatte. Dann setzte ich nach. „Dazu muss das Paradies abgeschaltet werden. Dies ist in drei Tagen der Fall. Und wir werden es jede Stunde etwas kleiner machen, damit auch jeder Daima und jeder Daina versteht, dass es nun an der Zeit ist, in die Realität zurückzukehren.“

Ich nickte Maltran zu. Der erhob sich und zog dabei Yuna auf die Beine. Die Lencis winkte mir zu, tauschte einen Händedruck mit Maltran aus und verschwand.

Der große Offizier nickte mir ein letztes Mal zu, dann schien seine Stimme direkt aus dem Himmel zu kommen. Mit der Gewalt eines Gottes erschütterte sie das Paradies.

„Achtung, hier spricht Maltran Choaster! Dies ist keine Übung! Das Paradies wird auf unbestimmte Zeit geschlossen! Alle relevanten Daten werden zwischengespeichert! Alle Daima und alle Daina sind angewiesen, entweder in ihre Körper zurückzukehren oder Notaufenthalte aufzusuchen, die wir ihnen einrichten! Wir geben die Kernwelten des Cores auf und fliehen vor den Göttern! Wer immer die Kraft hat, uns dabei zu helfen, soll sich melden! Achtung, all jene, die noch existieren, obwohl sie keinen Anker mehr zur Realität haben: Meldet euch bei Aris, der Herrin des Paradieses. Wir lassen euch nicht zurück. Denn es gibt einen Weg wie ihr uns begleiten könnt! Ich nehme keine Widerworte entgegen und akzeptiere keine Beschwerden! Dies ist der einzige Weg, um uns vor der Vernichtung durch die Götter zu retten, und bei allem was mir heilig ist, das werden wir auch! Ob mit oder gegen euren Willen! Und wenn ihr schon nicht dazu bereit seit selbst etwas dafür zu tun, dann steht uns wenigstens nicht im Wege rum!“

Entschlossen erhob ich mich und applaudierte dem Freund. Eine gute Rede. Auch Kiali und Aris imitierten meine Geste.

„So, und jetzt wollen wir etwas über KI lernen“, sagte ich ernst und überließ Maltran und seinem Stab die Koordination der Flucht des Cores, von neun Welten in weniger als zwanzig Tagen.
 

1. Es war eine Sache, etwas zu hören. Es war eine ganz andere Sache, es auch zu sehen. Oder wie in diesem Fall erneut zu sehen.

Der riesige Krater in der Oberfläche von Iotan, der langsam mit Wasser vollief, hatte jedenfalls erhebliche Ähnlichkeit mit East Ends eindrucksvollster geologischer Unmöglichkeit. Als hätte man ein Stück Welt herausgestanzt.

Deprimierend an der Situation war, dass man den Krater nicht sehen konnte, er wurde lediglich angemessen und von leistungsfähigen Computern als Krater dargestellt. Eine dicke Staubwolke verhüllte jenen Teil der Welt effektiv und nachdrücklich.

Megumi Uno hatte keinerlei Verbindungen zu dieser Welt, wenn man einmal davon absah, dass ihre frühesten Vorfahren als Daima von dieser Welt geflohen waren, um nach eigenen Gesetzen und eigenen Regeln einen eigenen Staat zu gründen. Dennoch fühlte sie sich betroffen, entsetzt, und einer Panik nahe. Und das war bei der als unterkühlt geltenden Elite-Pilotin, die sich immer, wirklich immer im Griff hatte, eine große Leistung.

Sie legte eine Hand an ihre Stirn, wie um sich zu konzentrieren, aber tatsächlich wollte sie das Schwindelgefühl vertreiben, das sie erfasst hatte. Eine warme, weiche Hand legte sich auf ihre Schulter, seitlich, um sie zu stützen, ohne dass es auffiel. Megumi sah auf und erkannte Franlin Litov, Akiras Sekretär. Der große Mann hatte durch ihre Maske mühelos hindurch gesehen und stand ihr nun diskret zur Seite. Megumi fragte sich nicht das erstemal, ob sie sich diesen Mann mit Akira teilen konnte, wenn sie erst verheiratet waren. Okay, falls sie jemals heiraten würden.

Ohne, dass sie es bemerkt hatte, war auch Sora Fioran neben sie getreten. Die Attentäterin der Fioran stand bereit, um sie ebenfalls unauffällig zu stützen, sollte es erforderlich werden.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, klang die erregte Stimme von Slever yan Tybal auf, dem Anführer der kleinen kaiserlichen Flotte, die auf der AURORA bis auf weiteres interniert war.

Der Mann betrachtete seine zitternden Hände. „Wie sicher sind diese Koordinaten?“

„Sehr sicher“, sagte Sakura Ino ernst. „So sicher wie wir bei diesen Aufnahmen sein können. Sie haben die Filme des Angriffs gesehen. Acht Strafer haben Iotan angegriffen und offensichtlich besiegt.“

„Fünfzehn. Es waren fünfzehn“, warf der Tybal ein. „Sieben wurden von der Abwehr vernichtet.“

„Ich hatte nicht vor, dieses wichtige Detail auszusparen“, erwiderte Sakura. „Aber Tatsache ist, dass dieses… Dieses Loch entstand, als acht Strafer zugleich auf Iotan schossen. Wir können wohl von Glück sagen, dass bisher nichts schlimmeres passiert ist als ein paar Vulkanausbrüche, einige Erdbeben, ein paar Stürme und dergleichen. Ja, Kevin?“

Der Kronosier erhob sich. „Ich habe schnell ein paar Berechnungen durchgeführt. Die in die Atmosphäre aufgewirbelte Staubmenge wird reichen, um das Weltklima für drei Jahre um vier bis viereinhalb Grad abzukühlen. Das bedeutet Missernten, eiskalte Winter und Frost in Zonen, die normalerweise verschont bleiben, also in der Äquatorregion.“

„Das ist nicht so wichtig“, brummte Slever yan Tybal als Antwort. „Iotan versorgt sich schon seit Jahrtausenden nicht mehr selbst. Dafür sind die Kolonien zuständig. Solange die Raumfahrt nicht zusammenbricht, werden die Iovar nicht verhungern. Aber was wesentlich relevanter ist, dass ist die Position des Kraters.“

Der Offizier sah auf, und seine Augen schimmerten in einem gefährlichen Glanz. „Diese Koordinaten bezeichen den Palast des Kaisers!“

Sakura Inos Kopf ruckte hoch. Megumi setzte sich interessiert auf, ihre Schwäche war auf einmal wie fortgeblasen. Stattdessen fühlte sie Adrenalin durch ihre Adern jagen.

Sostre Daness am anderen Ende der Tafel tauschte einen kurzen amüsierten Kommentar mit Henry William Taylor aus und legte die Beine übereinander.

Kei Takahara runzelte die Stirn und sprach aus, was sie alle dachten: „Moment mal, ich dachte, die Strafer hätten die Dämonenwelt, ich meine die Daimon auf Iotan vernichtet, und nicht den Kaiserpalast.“

Slever lächelte dünn. Es wirkte etwas… Raubtierhaft. „Daimon? So nennen Sie diese Sphäre, Terraner? Ich kenne sie nur als kaiserlichen Palast. Als unangreifbare Zone, die man nur über bestimmte, sehr schwer bewachte Tore betreten konnte. Unangreifbar, nicht einzusehen, absolut immun gegen Angriffe, und von AO-Meistern bewacht, die eine Stärke jenseits unserer Vorstellung hatten.“

Kitsune richtete sich fröhlich in ihrem Sitz auf und hob die Hand. „Hier! Hier! Ich weiß, wer das war! Das waren Dai, die für den Kaiser gearbeitet haben! Das erklärt ihre monströse Stärke!“

Es vergingen ein paar Sekunden, bevor der Herrin der Fuchsdämonen das Paradoxon in ihren Worten bewusst wurde. „Hey, warum haben denn Dai für den Kaiser gearbeitet?“

„Das frage ich mich auch gerade“, sagte Tyges, der Anführer der East End-Daina, ernst. Der große, kräftige Dai legte beide Hände unter sein Kinn und lächelte sardonisch. „Aber die einfachste Erklärung ist wohl, dass der Kaiser selbst ein Dai war.“

„Ungeheuerlich“, sagte Dai-Okame, und dieses eine Wort aus diesem Mund sagte mehr als es eine Rede hätte tun können. Ein Dai, der sich nicht nur in weltliche Belange der Daima einmischte, sondern sie als absoluter Herrscher auch noch dirigierte wie es ihm passte?

„Was war los auf Iotan?“, fragte Kei mit gepresster Stimme. „Was ist da nur passiert?“

„Ich kann Ihnen sagen, was ich weiß“, sagte Slever nicht ohne Spott in der Stimme. Offiziell war er ein Angehöriger des herrschenden Clans, der Tybal, in dessen Namen der Kaiser regiert hatte. „Aber es ist nicht viel.“

„Sagt mal“, warf Megumi ein, „liegt es an mir, oder hat der Kaiser keinen Eigennamen? Ist das üblich auf Iotan?“

„Nein, natürlich nicht, Lady Daness. Und das hat auch einen bestimmten Grund, den ich jetzt erläutern werde.“ Der Tybal atmete kurz durch. „Als der Kaiser die Tybal an die Macht brachte, hatte er verlauten lassen, dass nie wieder ein anderer Iovar den Thron besteigen würde, weil er ewig regieren würde. Und das war nur ein kleiner Teil von dem, was er an Neuerungen brachte. Nicht nur, dass er den Kaiserpalast von der Hauptstadt in die unangreifbare Sphäre verlegte, die unsere Ortungsgeräte nicht einmal anmessen konnten, nein, er verstärkte die Reihen des Hauses auch mit seinen unbesiegbaren AO-Meistern. Widerstand innerhalb des Hauses gab es nicht, immerhin hatten wir ein Ziel erreicht, welches wir seit Jahrtausenden angestrebt hatten. Und der Kaiser verlangte nicht viel dafür, nur absolute Treue und absoluten Gehorsam.“

Müde rieb sich der Iovar die Nasenwurzel. „Ich wurde in dieses System hineingeboren, wurde erzogen es niemals in Frage zu stellen. Und für mich schien es auch immer so richtig zu sein, dass der Kaiser ewig leben sollte und uns ewig regieren würde. Ich fand daran nie etwas schlechtes. Auch die Tatsache, dass die meisten Mitglieder des Clans weder je den Kaiser zu Gesicht bekamen, noch die Daimon betreten durften, haben mich je verwundert. So war es halt, und so wurde es gehalten. Natürlich hätte es mich verwundern müssen, dass die anderen Häuser es anders sahen, ja, in den letzten zweitausend Jahren seiner Herrschaft oft versucht hatten seine Macht zu beschneiden oder seine Herrschaft zu beenden. Denn die anderen Clans wurden vom Kaiser mit harter Hand regiert, die oft auch blutig wurde.

Es war mir so, als wären die anderen Häuser, die anderen Familien nur Spielfiguren, die der Kaiser bewegte wie es im passte. Und wenn eine Spielfigur nicht so wollte wie er es vorhatte, dann zerbrach er sie. Auch das erschien mir schrecklich normal, so furchtbar normal. Ich hätte niemals geglaubt, es könnte einmal anders sein.“

Slever sah auf. „Und jetzt ist der Kaiser tot. Jetzt ist der Palast vernichtet. Die Revolution hat gewonnen, ohne selbst auf die Daimon zu schießen.“

„Noch hat sie nicht gewonnen. Denn den Funkauswertungen können wir entnehmen, dass es immer noch Tybal-Streitkräfte außerhalb des Systems gibt, die sich mit loyalen Verbündeten vereinigen. Der Kaiser ist tot, verschollen oder geflohen, seine unangreifbare Machtbasis vernichtet. Aber der Kampf ist noch nicht vorbei.“ Kei kratzte sich am Haaransatz. „Ich kann sie ja verstehen. Immerhin waren sie die ausführenden Organe des Kaisers und müssen mit Repressalien rechnen.“

„Aber das müssen sie doch gar nicht“, warf Slever ein. „Der Intendent hat eine gerechte Aufteilung der Macht versprochen, zum Nutzen aller. Eine neue Staatsform, ein neues Recht.“

„So, so. Sie glauben dem Intendenten also?“, fragte Makoto Ino ruhig.

Als der Iovar nickte, lächelte der kleine Mann wehmütig. „Ihre Kameraden anscheinend nicht, sonst würden sie nicht versuchen, das Blatt militärisch zu wenden. Wahrscheinlich werden sie es nicht schaffen, aber es werden noch einmal eine Menge Schiffe versenkt werden und Mannschaften sterben. Vielleicht mehr als beim Kampf gegen die Strafer im Orbit von Iotan.“

„Aber warum? Warum sollten sie so etwas dummes tun? Wieso versuchen sie es nicht einfach mal mit etwas Vertrauen in die neue Intendentin? Jeder respektiert Aris Ohana Lencis und…“

„Und?“, hakte Makoto nach.

„Natürlich weiß ich, warum sie so etwas dummes tun werden. Weil sie Daima sind.“ Dieser Erkenntnis schien ihm weh zu tun, auf jeden Fall stand Schmerz in Slevers Augen. „Und ich war vor wenigen Tagen noch ebenso wie sie. Voller Angst, voller Schmerz.“

„Nett, dass Sie sich binnen weniger Tage vom Saulus zum Paulus gewandelt haben“, bemerkte Sakura ironisch, „aber das hilft uns auch gerade nicht weiter.“

„Saulus? Paulus?“

„Eine Beschreibung eines Ereignisses von der Erde“, half Makoto aus. „Dabei hat sich ein Mann mit den Menschen verbündet, die er eigentlich auslöschen wollte.“

„Interessant. Aber ich gebe zu, das hilft uns wirklich nicht weiter.“

„Tatsache ist jedenfalls“, nahm Sakura den Faden wieder auf, „dass diese Bilder von der neuen Intendentin per Kurierschiff im Kaiserreich verbreitet werden. Die Frage ist nur, tritt sie damit die Lunte aus oder hat sie das Feuer erst noch angefacht?“

„Und was viel wichtiger ist, was tun wir jetzt? Da es keinen Kaiser mehr gibt, wen sollen wir dann um die Koordinaten der Core-Welt bitten, auf der wir nach Hinweisen nach meinem Bruder suchen wollten?“ Yohko sah sich in einem Anflug von Panik um. „Was, wenn nun niemand mehr die Koordinaten kennt? Was wenn…“

„Was wenn Akira uns zu sich ruft?“, erklang eine Frauenstimme hinter ihr.

Die Anwesenden wandten sich um.

„Entschuldigt, dass ich hier so einfach reinplatze“, sagte Ai Yamagata und verbeugte sich höflich, „aber ich denke, es ist an der Zeit um zu enthüllen, warum ich auf einen schnellen Aufbruch gedrängt habe.“ Wieder verneigte sie sich.

„Es klingt etwas unglaublich, aber während ich im Biotank war, hatte ich Kontakt mit Akira. Er hat mir gesagt, dass er die AURORA braucht, und dass wir uns beeilen sollen. Und er hat mir ein System genannt, in dem wir auf ihn treffen sollen. Ich glaube, jetzt wo der Kaiserpalast zerstört ist, sollten wir ohne Umwege dorthin fliegen.“

„Das sind interessante Informationen. Warum kriegen wir die erst jetzt?“

Ai errötete. „Es… Es tut mir Leid, aber die Erinnerung wurde in mir versiegelt. Ich wusste bis eben nicht mehr, als dass wir schnell aufbrechen sollten. Erst als ich die Bilder von Iotan gesehen habe, wurde mir alles wieder bewusst.“

„Ist das möglich? Kann Akira über eine solche Entfernung mit einem Menschen Kontakt aufnehmen?“

„Unmöglich ist es nicht. Es gibt ein Gerät auf Naguad Prime, das von AO-Meistern benutzt wird, um die nähere kosmische Umgebung zu überwachen. Theoretisch können zwei starke AO-Meister auch miteinander in Resonanz treten und Gedanken austauschen. Aber es wäre mir neu, dass das Kaiserreich solch ein Gerät hat. Was den Core angeht, weiß ich es nicht.“

„Danke, Sostre. Vielleicht fliegen wir dieses System wirklich an.“ Sakura sah der japanischen Geheimagentin direkt in die Augen. „Wohin müssen wir denn, Ai-chan?“

„Bakural.“

Slever sprang auf. „Bakural? Das ist aber eine dumme Idee! Eine ganz, ganz dumme Idee. Denn ich wette mit euch, dass sich dort kaisertreue Schiffe sammeln werden! Bakural ist eine Distrikthauptwelt, und sie ist Iotan näher als alle anderen Welten.“

„Klingt so als würde uns dort nicht langweilig werden“, sagte Megumi leise. „Fliegen wir dorthin. Wir haben ja keinen Streit mit dem Kaiserreich.“

„Und was wenn es den Truppen dort egal ist?“, warf Sostre ein. „Immerhin sind viele von uns Naguad.“

„Schluss mit dieser unfruchtbaren Diskussion! Akira braucht uns, also fliegen wir dahin. Basta!“ Herausfordernd sah sich Sakura um, aber niemand widersprach.

„Sehr gut. Tetsu, setz einen Kurs. Kei, ich will beim Austritt mit einer gefechtsbereiten Flotte aufwarten. Wir müssen eng gepackt fliegen, aber vielleicht kriegst du ein Modell hin, dass uns erlaubt, so viele Waffen wie irgend möglich einsetzen zu können, wenn es sein muss.

Ausführung, Herrschaften!“

Die Konferenz löste sich in Hektik auf.
 

Megumi kam sofort zu Ai und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Geht es ihm gut, Ai-chan? Geht es Akira gut?“

„Keine Sorge, er hat einen Plan.“

„Also geht es ihm gut. Viel, viel zu gut, wenn er schon wieder Pläne schmiedet.“ Sie seufzte viel sagend. Aber eigentlich wollte sie es gar nicht anders haben.
 

2.

Ein lautes, schepperndes Geräusch erklang im Hangar. Dann war wieder Ruhe. Doch kurz darauf erklang es erneut.

Auf Lady Deaths Sensorkopf leuchteten die blutroten Augen auf, als der Mecha selbstständig hochfuhr. Der Kopf bewegte sich ein paarmal hin und her, bis die Quelle der Geräusche identifiziert war.

„Prime, du seufzt doch nicht etwa?“

„Was soll ich machen?“, kam die Antwort von dem schneeweiß lackierten Mecha, „Sostre ist ein hervorragender Pilot, der sein Geschäft versteht. Aber er ist eben nicht Akira Otomo.“

„Vermisst du deinen Kleinen so sehr? Tja, dann hättest du besser auf ihn aufpassen sollen. ICH bin mit Brachialgewalt bis in die Spitze des Daness-Turms eingebrochen, um mein Mädchen zu retten. Aber wo warst DU, als Akira in die radioaktiv kontaminierten Vorstädte aufgebrochen ist?“

„Ich weiß, ja, ich weiß!“, klagte Prime Lightning. „Meinst du, ich mache mir deswegen keine Vorwürfe? Ich hätte ihn gerne gerettet, und wenn das nicht möglich gewesen wäre, dann wäre ich gerne mit ihm gegangen. Aber es war den Logodoboro-Verrätern wohl zu risikoreich, mich aus den Werkstätten des Arogad-Turms zu stehlen.“

„Man kann nicht alles haben“, erwiderte der riesige Mecha von Megumi Uno.

„Ja, aber man kann es sich wünschen, findest du nicht?“

„Ich weiß“, klang eine dritte Stimme auf, „ich bin hier der Jüngste in der Runde, aber könnt ihr bitte aufhören, eine allgemeine Frequenz zu benutzen? Geht mal auf ein privates Band, damit nicht jeder hier im Hangar gezwungen ist mitzuhören. Aber so wie ihr brüllt, hört euch garantiert auch die ADAMAS.“

„Halt ja die Backen still, Kleiner“, empfahl Prime. „Gegenüber dienstälteren künstlichen Intelligenzen sollte man immer höflich sein. Immerhin war ich die erste K.I., die gegen die Kronosier angetreten ist.“

Der „Kleine“ war der persönliche Mecha von Doitsu Ataka. Es handelte sich um einen Phoenix, das neueste auf der Erde gebaute Mecha-Modell, abgeschaut vom Daishi Delta, nur um etliches besser.

„Die Zeiten haben sich geändert, Alter. Heutzutage gehört das Schlachtfeld modernen, hippen und besser ausgerüsteten Typen wie mir. Was meinst du wie das rockt, wenn ich mit Ataka-sama in die Schlacht ziehe? Ja, ja, ich glaube, mein Pilot ist wirklich der beste Mecha-Pilot der ganzen UEMF.“

„Halt die Füße still, ja, Katana?“, fuhr Lady Death den Phoenix an. „Erstens gibt es da immer noch Lady Death, die wohl anerkannt lange Jahre die Top-Pilotin der UEMF war, und die Doitsu-chan noch immer weit überlegen ist. Und zweitens hat Akira seinen Ruf nicht auf dem Wochenmarkt gekauft! Weißt du, er hat zuerst mit Primus, danach mit Blue Lightning und schließlich mit einer Kombination der beiden so viele feindliche Mechas abgeschossen, dass er als ewiger Bester gilt.“

„Pah! Er hatte nur Glück, lange Zeit der einzige Mecha der UEMF zu sein. Heutzutage baut man ganz anders. Mein Pilot und ich, wir werden den Rekord schon sehr bald einstellen. Ich brauche nur genügend Ziele.“

„Große Worte“, meldete sich eine vierte Stimme zu Wort. „Es stimmt schon, ihr Mechas der Phoenix-Klasse seid stärker gepanzert, besser ausgerüstet, habt die Modulbewaffnung der Banges und könnt gleichzeitig ein Bataillon koordinieren. Und Doitsu Ataka ist ein hervorragender Pilot. Aber…“

„Was kommt jetzt, kleiner Sparrow? Kommt das Hohelied auf deine Pilotin Yohko Otomo?“

„Was heißt hier Hohelied? Mit meinem Vorgänger, dem ersten Thunderstrike, hat sie den halben Mars gerockt! Und mit mir war sie noch mal da, um den Sack zu zu machen! Damals warst du Grünkäse noch gar nicht geplant!“

„Gr… Grünkäse? Hey, ich habe die Stars and Stripes vom Himmel geputzt, als sie die Kalifornien-Basis aufmischen wollten!“

„Ach, was für eine Leistung, mit der SUNDER als Deckung“, stichelte Thunderstrike.

„Könnt ihr nicht mal leise sein?“, rief eine fünfte Stimme. „Andere hier haben Diagnoseroutinen laufen, auf die sie sich konzentrieren müssen! Ist mal wieder typisch! Gib einem terranischen Mecha eine Stimme, und er plappert wie ein Papagei. Hauptsache viele Worte, der Sinn ist Nebensache!“

„Du hältst dich da raus! Das ist eine rein terranische Angelegenheit, und ihr Ausländer habt da sowieso nichts zu sagen!“, rief der Phoenix beleidigt.

„Ach, werde ich jetzt diskriminiert, weil ich ein richtiger Banges bin? Ich wusste ja, dass bei euch nicht alles Gold ist was glänzt, aber dass eure K.I.s Rassismus entwickeln sagt ja so viel über eure Herren aus. Mein Pilot ist da ein ganz anderer. Mit Daisuke Honda würde ich direkt in die Hölle fliegen – ach nee, da waren wir ja schon oft genug.“

„Niemand diskriminiert hier einen Banges“, warf Prime ein. „Und niemand nennt den Grünkäse ab jetzt einen Grünkäse, verstanden?“

„Hey, das habe ich gehört!“

„Tatsache ist doch, dass wir alle an einem Strang ziehen müssen! Und dabei sollten die Jungen etwas auf die Alten hören. Wobei alt in diesem Fall besser bedeutet, nicht gerostet, oder so.“

„Da hast du dich ja gerade so vor dem Gong gerettet“, warf Lady Death eine Spur zu freundlich ein.

„Und vergesst nicht, warum wir uns auf dieser Expedition befinden. Nicht weil Admiral Ino Vielfliegermeilen sammelt, sondern weil wir alle, ich betone, wir alle Akira Otomo retten wollen! Die meisten von euch sind schon mit ihm geflogen, und ihr wisst, wie gut er ist, und wie sehr wir ihn brauchen. Deshalb sollte nie ein Zweifel daran bestehen, was wir vorhaben.“

Stille herrschte für bedrückende zwanzig Sekunden – für eine Künstliche Intelligenz war das eine halbe Ewigkeit.

„Ist er wirklich so gut?“, fragte Katana nach einer Weile.

„Warum fragst du das nicht deinen Piloten? Er wird dir sehr ehrlich antworten. Dann denk mal drüber nach. Niemand hindert dich daran, mit deinem Piloten der Beste zu werden. Aber du musst einsehen, dass es da jemanden gibt, der weit vorgelegt hat. Ist das in Ordnung?“

„Ja, das ist in Ordnung. Und ich werde mir Mühe geben!“

„Damit können wir wohl alle leben“, schloss Thunderstrike zufrieden.

„Und wenn wir schon mal dabei sind, kann ich als Banges beweisen, welcher Planet wirklich die besten Mechas baut.“

„Deine Herausforderung ist angekommen, Red Team Leader.“

„Beredet das ein andernmal, ja? Oder geht auf eine private Frequenz. Und sollte nicht jeder ein paar Analyseroutinen laufen haben?“

Die K.I.s der anderen Mechas bestätigten, manche allerdings etwas unwillig.

Aber Lady Death registrierte zufrieden, dass Kontakt nach Kontakt aus dem Netz ging.

Dann bekam sie einen Anruf auf der Leitung, die für persönliche Verbindungen zwischen Megumi und Akira reserviert war. „Was willst du denn noch, Prime?“

„Ich vermisse meinen Piloten, Lady. Ich vermisse ihn wirklich. Irgendwie ist Sostre ja wirklich ganz gut, aber ganz gut und phantastisch, das sind solche Welten, du glaubst es nicht. Damals, als du mit Jora Kalis geflogen bist, konntest du vielleicht ähnlich empfinden.“

Hätte Lady Death Augäpfel gehabt, hätte sie sie jetzt vielleicht verzweifelt gen Himmel gedreht und ein Stoßgebet ausgestoßen. So aber blieben ihr nicht viele Möglichkeiten. „Wo sind denn die Unterschiede zwischen Sostre und Akira genau?“

Es versprach eine lange Unterhaltung zu werden.
 

3.

Als die AURORA im Bakural-System aus dem Wurmloch kam, hatte sich bereits eine beeindruckende Streitmacht versammelt, um das Weltereignis gebührend zu würdigen.

Dadurch, dass ein Wurmloch allein durch seine Größe verriet, welches Schiff Einlass in das System begehrte, hatten die Iovar-Verteidiger gewusst, dass das mächtigste Flugobjekt aller Zeiten auf dem Weg zu ihnen war. Entsprechend hoch gerüstet war die Streitmacht, die sie erwartete.

Die Computer zählten über zweihundert Schiffe aller Klassen, und zur Überraschung der meisten Anwesenden auf der Brücke des terranischen Giganten auch etwas über zweitausend Raider, die sich aber passiv im Hintergrund hielten.

„Irgendwas stimmt hier nicht“, murmelte Kapitän Tybal, als er die einkommenden Transponderdaten checkte, die jedes Schiff zweifelsfrei identifizierten. „Hier fliegen Schiffe aller Clans zusammen, ungeachtet ihrer Bündnisse und ihrer Loyalitäten. Ungeachtet der Häuser und den Willen ihrer Anführer. Was ist hier passiert?“

Die Antwort kam umgehend über Bildfunk. Eine Verbindung etablierte sich und ein gebeugt stehender, grauhaariger Mann starrte mit wütender Miene in die Kamera. Nun, vielleicht war er gar nicht wütend, vielleicht sah er immer so aus, aber der Anblick verfehlte seine Wirkung nicht. „Admiral Tomosa“, hauchte Slever beinahe ehrfürchtig. „Der Bruder des letzten Kaisers.“

Als der Iovar die verwirrten Blicke der anderen bemerkte, winkte er ab. „Des Kaisers vor dem Dai, der den Thron bestieg. Es war eine Auflage des Dai-Kaisers, dass dieser Mann unsere Flotten anführt, wenn das Bündnis zustande kommen soll.“

„Bündnis? Ich würde es eher Erpressung nennen, ewiglich lange, marternde Erpressung“, sagte der grauhaarige Mann ernst mit einer Stimme, die sein Äußeres Lügen strafte.

Er sah auf, und seine Augen waren voller Kraft.„Sie sind weit genug geflogen, AURORA. Gehen sie mit ihren Begleitschiffen in einen stabilen Orbit um Welt Nummer acht, Bakubaku. Die Werften von Bakubaku stehen ihnen zur vollen Verfügung, Admiral Ino.“

„Irgendwas stimmt hier nicht. Irgendwas stimmt hier absolut nicht“, flüsterte Sakura und warf Tetsu einen Seitenblick zu. Der überprüfte noch einmal die Alarmbereitschaft der Flotte und der AURORA selbst.

„Wir danken für das Angebot, aber wir bevorzugen es, keines unser Schiffe zur leichten Zielscheibe in einer Werft zu machen“, versetzte Sakura laut.

Der alte Admiral runzelte die Stirn. „Ich wusste, dass Sie misstrauisch sind, störrisch sogar. Aber mir war neu, dass Sie nicht mehr schnell genug kombinieren können, Sakura Ino.“

Sakura blies die Wangen auf. „WIE BITTE?“

„Wie dem auch sei. Der Lordgeneral hat befohlen, dass Sie und Ihre engsten Offiziere auf TAMARD zur Audienz erscheinen, und das so schnell wie möglich. Sie brauchen acht Stunden bis in den Orbit, deshalb empfehle ich Ihnen, die YAMATO oder die KAGI zu nehmen, das sind Ihre schnellsten Einheiten. Der Lordgeneral hat wenig Zeit.“

„TAMARD?“

„Eine Werftplattform, die auch als mobiler Raumhafen genutzt wird. Bakural ist ein beliebter Zwischenstopp der iovarschen Raumfahrt, deshalb hat sich über Bakubaku schon früh ein Raumhafen etabliert, um es springenden Schiffen, die nicht ins Systeminnere müssen, leichter zu machen ihre Vorräte zu ergänzen, bevor sie wieder das System verlassen. Heute ist TAMARD unser wichtigster Verteidigungsaußenposten.“

Slever drängte sich ins Bild. „Admiral, was passiert hier? Ich hatte eine vollkommen andere Situation erwartet und…“

„Slever yan? Sind Sie das? Was machen Sie auf der AURORA? Wurde Ihre Flotte vernichtet?“

Der Tybal senkte betreten den Kopf. „Admiral, ich und meine Leute sind mit unseren Schiffen auf der AURORA interniert. Wir…“

„Admiral Ino, es ist in Ordnung. Sie können Slever yan Tybal freigeben. Wir alle stehen vor einer völlig neuen Situation. Der Angriff der Strafer auf den Kaiserpalast hat allen vernünftigen Daima im Kaiserreich klar gemacht, dass wir entweder getrennt fallen oder zusammen um unser Leben kämpfen können. Der Lordgeneral war in diesem Punkt sehr eindeutig. Und er hat damit Recht.“

Unsicher sah Sakura zuerst zu Megumi, danach zu dem Kapitän der Tybal.

Megumi Uno trat vor. „Admiral, ich bin Solia Kalis. Ich befehlige diese Expedition. Versichern Sie mir, dass Kapitän Slever yan Tybal und seine Mannschaften nicht bestraft werden, wenn wir sie Ihnen übergeben?“

„Warum sollte ich meine eigenen Leute bestrafen? Ich wusste ja, dass Sie ein vorsichtiger Mensch sind, Megumi Uno, und ich wusste, dass Ihnen das Leben Ihrer Schutzbefohlenen am Herzen liegt. Aber das Sie mir so etwas zutrauen irritiert mich ein wenig.“

„Äh“, machte Megumi und sah verlegen zu Boden.

„Um auf Ihre Frage zu antworten, Colonel Uno, ja, wir werden Slever yan Tybal und seine Mannschaften nicht bestrafen. Sie können sie sorgenfrei ziehen lassen.“

„Es heißt nicht Colonel. Es heißt Division Commander“, brachte Sakura heftig hervor.

„So? Wir waren uns nicht sicher, ob sie den Rang wirklich annehmen wird. Interessante Entwicklung.“ Der alte Iovar rieb sich das Kinn und schmunzelte. „Beeilen Sie sich jetzt bitte etwas, Admiral Ino. Wie ich schon sagte, der Lordgeneral hat gerade sehr viel zu tun, und je eher Sie ihm gegenüber stehen, desto besser für uns alle. Ach, und bringen Sie Ihre Dais mit. Kitsune und Okame.“ Der Bildschirm erlosch.
 

Sakura sah in die Runde. Sie sagte dabei ein einziges Wort. „Akira.“

Megumi nickte heftig und ihre Wangen hatten ein tiefes, aufgeregtes Rot angenommen. „AKIRA!“

Makoto hatte den Kopf nach vorne gebeugt und eine Hand auf die Stirn gelegt. „Ich wusste es! Ich wusste es! Ich hätte wetten sollen! Natürlich Akira, wer sonst?“

„Langsam, langsam. Noch ist hier nichts explodiert“, mahnte Tetsu Genda mit einem Schmunzeln.

„Tja, dann bleibt uns nichts anderes übrig als selbst nachzusehen. Welches ist unser schnellstes Schiff, Admiral Takahara?“

„Entgegen der Meinung von Admiral Tomosa ored Tybal sind nicht nur unsere Fregatten schnell. Ich empfehle eine der Neubauten der Bismarck-Klasse, die durchaus mit Fregatten mithalten können. Genauer gesagt die STADTHAGEN unter Kapitän Winslow. Ich werde Colonel Otomo darum bitten, ein paar KI-Meister zu detachieren, um den Antrieb zu verstärken. Die STADTHAGEN verfügt über ähnliche Vorrichtungen wie die Booster.“

„Einverstanden. Außerdem nehmen wir ein paar Kompanien der Hekatoncheiren sowie die Anführer der Otome mit. Ein wenig Infanterie ist sicher nicht verkehrt, oder?“

„Ich gehe Joan und Mamoru Bescheid sagen“, sagte Makoto schmunzelnd und verließ die Zentrale.

„Sostre, willst du mit?“

„Was denn, was denn, Sakura? Glaubst du ich will die Show des Jahres verpassen? NATÜRLICH komme ich mit.“

„Das wusste ich. Die STADTHAGEN soll landen. Alle Einheiten, die ich aufrufen werde, haben sich binnen einer halben Stunde in ihr zu versammeln. Na los, gehen wir unseren Streuner heim holen.“ Sie sah zu Tetsu herüber. „Du hältst die Stellung, aber ich bringe dir ein T-Shirt mit.“

„Ach, eines mit dem Aufdruck: Wir flogen los um Akira Otomo zu retten, und alles was ich bekommen habe ist dieses dämliche T-Shirt?“

„Etwas in der Art“, versprach sie.

***

Nach nur wenig mehr als den avisierten dreißig Minuten flog die STADTHAGEN dem mobilen Raumhafen entgegen. An Bord waren gut zwanzig Prozent der Elite der AURORA, was Infanterie, Mechas, Schiffskommando und Admiralität betraf.

Tetsu Genda sah dem Schiff lange Zeit nach, bevor er tief seufzte und sich abwandte.

„Ach komm schon, Tetsu“, raunte Hiroko Shiratori in vertraulichem Ton, „du weißt, dass einer immer zurückbleiben muss. Und da sowohl Kei als auch Mako-chan da mit Sakura-chan rüber fliegen, muss ja einer hier bleiben, auf den Verlass ist. Nicht wahr, Hitomi?“

Hitomi Seto, im Rang eines Commanders Herrin der Kommunikation der AURORA winkte ärgerlich ab. „Mir war schon immer klar, dass du etwas schwerfällig bist, was das Zwischenmenschliche angeht, Hiroko-senpai. Aber sogar du müsstest merken, was gerade in Tetsu-chan vorgeht. Was übrigens auch in mir vorgeht. Und du müsstest es eigentlich auch merken, wenn du nicht vollkommen…“

„Hitomi!“, rief die Herrin der Ortung entrüstet.

„Schon gut, Senpai. Aber merkst du denn nicht, dass wir uns gerade alle fühlen wie die nicht ganz so wichtigen Nebencharaktere in einem Heldenepos? Die Hauptfiguren gehen um den Hauptcharakter zu treffen, und wir armen Nebenfiguren müssen an Bord bleiben, um die Routinearbeiten zu verrichten.“ Nun seufzte auch die ehemalige Klassenkameradin von Megumi tief. „Nicht, dass ich mich nicht über das Vertrauen in mich freue, aber ich kenne Akira auch. Nicht so gut wie Kenji-kun, zugegeben. Aber ich fühle mich etwas ausgeschlossen.“

Hiroko zog die Stirn in Falten. „Also, jetzt wo du es sagst… Irgendwie dreht sich immer alles um Akira, oder?“

„Und um die, die direkt neben ihm stehen. Und wir in der zweiten Reihe können nur von außen zugucken“, fügte Hitomi hinzu.

„Ganz so schlimm ist es ja auch nicht. Bei der Strandparty waren wir ja dabei. Wir sind halt nur nicht immer dabei.“

Die drei tauschten lange Blicke aus und seufzten kollektiv.

„Nebenrollen.“ Tetsu grinste wild. „Die können aber auch einen Oscar kriegen. Also, lasst uns unser Bestes geben, damit Akira-kun einen Platz hat, auf den er zurückkehren kann.“

Die beiden Frauen reckten die Arme in die Luft und bestätigten mit einem lauten Jawohl.

Danach sah Tetsu in die Runde, in eine ganze Reihe fassungsloser oder amüsierter Gesichter. „Hat hier denn keiner was zu tun? Der Part mit dem das Beste geben gilt auch für euch.“

„Ja, Sir!“

Tetsu lächelte still. Immerhin, ihre Nebenrollen waren nicht unwichtig. Im Gegenteil. Alle setzten großes Vertrauen in sie.

***

Der große Moment war da. Die STADTHAGEN landete auf einem bevorzugten Stellplatz auf der gigantischen, fünf Kilometer durchmessenden Plattform; die Techniker und Fachleute von TAMARD setzten augenblicklich eine Schleusenmanschette an, die sich den Gegebenheiten der terranischen Technik erstaunlich flexibel anpasste. Als sich dann die Innen- und Außenschleuse der STADTHAGEN öffnete, erwartete die Männer und Frauen ein Heer an Medizinern.

„Da dies nicht der erste Kontakt zwischen Terranern und Iovar ist, erledigt sich eine Schutzimpfung“, sagte der federführende Mediziner, der sich als Professor Styr vorgestellt hatte. „Aber ich möchte sie alle bitten, zusammen mit einem meiner Mitarbeiter einen Fragebogen auszufüllen, um eventuelle Lücken im Impfschutz festzustellen und notfalls eine schnelle medizinische Hilfeleistung zu gewähren. Bitte beachten sie, dass vor allem AO-Meister für uns eine Bedrohung darstellen. Eine Krankheit, die sie mit einem nebensächlichen Gedanken vertreiben kann für uns, wenn übertragen, durchaus in einer Epidemie enden. Sind AO-Meister unter den Anwesenden?“

Verlegen runzelte der Mediziner die Stirn. „Ich glaube, anders herum geht es schneller. Wer ist nicht mit dem Umgang mit AO vertraut?“

Die Flut an Händen sank wieder nach unten. Dafür schossen zwei neue nach oben, jene von Kei und Joan.

„Gut. Wenn sie zwei bitte zu mir kommen würden, ich bin mit AO nicht sehr vertraut, dann gehe ich mit ihnen den Fragenkatalog durch. Ist der Anteil an AO-Meistern repräsentativ für die terranischen Schiffe, oder bildet die terranische Delegation eine Ausnahme?“

„Ausnahme“, erklärten verschiedene Stimmen unisono.

„Das ist gut. Dann muss ich keine weiteren Spezialisten anfordern.“
 

Eine halbe Stunde später benutzten sie eine Rolltreppe in die Tiefe der Station. Sie nahm auf der oberen Sohle des Laufgangs ihren Anfang und reichte bis tief in die Eingeweide der Station.

„Der Passagierzugang. Direkt an und unter der Oberfläche werden vor allem Waren zwischengelagert, teilweise im Vakuum. Deshalb verfrachten wir Passagiere direkt in den Kern der Station. Erstens ist es hier sicherer und zweitens hat man hier aus der Lobby einen wunderbaren Blick auf den Gasriesen Bakubaku“, erklärte der ranghohe Offizier, der sie begleitete.

Sie kamen direkt in einer Passagierlobby an; mehrere Rolltreppen führten von hier hoch ins Nirgendwo.

„Die Länge der Treppen ist flexibel. Sie kann achtzehn Meter variieren. Uns ist noch kein Schiff begegnet, das wir mit ihnen nicht erreicht hätten. Ihre ADAMAS wird wohl die einzige Ausnahme bilden, sollte sie je auf TAMARD anlegen“, führte der Offizier mit beleidigter Miene aus.

Sie betraten wieder einen Laufgang, der sie diesmal horizontal etliche hundert Meter weit beförderte. Sie kamen zuerst in der Zentrale an, in der ein paar hundert Schiffsbewegungen koordiniert wurden, rein aus dem System, raus aus dem System, Andockmanöver, Ablegemanöver, interplanetarer Verkehr, und was der Dinge mehr waren.

Der Superviser schenkte den Ankömmlingen einen bösen Blick und winkte sie einmal quer durch die Halle. Als die Lotsen beim Anblick der Terraner ihre Arbeit vernachlässigten, knurrte der alte Mann ein paar wütende Flüche.

„Lassen Sie sich von Yorim ban Verde nicht beeindrucken“, erklärte der Offizier nonchalant. „Er macht diesen Job schon seit dreißig Jahren, und Fehler sind ihm ein Gräuel. Am liebsten würde er die Lotsen alle durch K.I.s ersetzen lassen, weil er in den biologischen Körpern der Iovar eine potentielle Gefahrenquelle sieht, vor allem wenn sie übermüden. Aber letztendlich ist der Faktor von selbstständigen Entscheidungsträgern, die zudem abstrakt denken können, also ihre Denkschemata durchbrechen können, nicht zu unterschätzen. Nebenbei gesagt, er hat die Crew seiner Zentrale handverlesen. Wir können also sicher sein, dass hier nur die Besten arbeiten.“

An die Zentrale schloss sich eine große Halle an, die an einem gigantischen Tor endete. „Ein Banges-Hangar“, berichtete der Offizier stolz. „Wir haben ihn umgebaut in einen Sitzungssaal und mehrere Konferenzräume. Außerdem folgt noch der Empfangsraum des Lordgenerals. Ein rein formeller Raum, aber er hat an Bedeutung gewonnen, seit der Kaiser gefallen ist. Es scheint, dass wir Iovar einfach etwas Repräsentatives brauchen, um uns wirklich wohl zu fühlen.“

Der hochrangige Offizier, laut seinem Rangzeichen auf der Brust ein Kapitän – was einem Colonel entsprach – deutete auf eine junge Frau, die intensiv mit einem Außerirdischen sprach. Der große, aufrecht gehende Kopffüßler hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Tintenfisch, aber dafür waren vier seiner Tentakel zu gut ausgebildet, er benutzte sie um auf ihnen zu gehen, und die anderen sechs zu fein und zu klein. Außerdem widersprachen die zwei intelligenten Augen und der feinlippige Mund diesem Vergleich. Ebenso die melodische Altstimme, mit der er Iovar-Idiom sprach. Auch der feine goldene Flaum, der den silbernen Leib überall dort bedeckte, wo er keine Sinnesorgane hatte, sprachen dagegen. Dennoch blieb dieser erste Eindruck irgendwie haften.

„Yuna Omaret Lencis. Sie wurde erst vor kurzem zur Admiralin berufen. Sie ist eine der wichtigsten Zuarbeiter von Jonn Arogad, dem stellvertretendem Intendenten. Man erzählt sich, mit ihr begann die Revolution. Ihr Gesprächspartner ist ebenfalls Admiral. Er entstammt dem Volk der Iradae, welches innerhalb des Kaiserreichs sieben Systeme bewohnt. Bisher haben sich die Iradae aus allen Konflikten herausgehalten und mit horrenden Tributzahlungen ihren eigenen Frieden erkauft. Aber Admiral Lavajadel Meduse hat das geändert. Mit ihm begann die offensive Außenpolitik. Heute ist das Volk der Iradae ein ebenso wichtiger Verbündeter für uns wie jedes andere Haus der Iovar.“

Der Blick des Offiziers schweifte zu einem großen, breitschultrigen Mann herüber, der sie misstrauisch beäugte. „Vize-Kapitän Reuss. Man sagt, er hat Seite an Seite mit dem Lordgeneral gekämpft. Er ist Kommandeur seiner persönlichen Garde. Alle AO-Meister mit großer Erfahrung. Und alle sind dem Lordgeneral loyal.“

Sie durchquerten den Vorsaal, sahen debattierende Runden, die teilweise aus Iovar, teilweise aus Außerirdischen bestanden; in einigen Runden bemerkten sie sogar Robotkörper des Cores.

Als Joan wütend die Arme hob, ging der Kapitän dazwischen. „Langsam, langsam, Joan Reilley! Der Lordgeneral hat mich schon gewarnt, dass der eine oder andere so reagieren könnte wie Sie. Das sind keine x-beliebigen Core-Infanteriedrohnen. Dies sind Offizierskörper. Die Anführer des Cores verwenden sie, um zeitweise ihr AO aufnehmen zu lassen. Der Anführer dieser Gesprächsrunde ist Orag Taresi, Flottenführer und einer der direkten Untergebenen des Lordgenerals. Er ist ein wenig konservativ und versucht für die Aktionen des Cores einen angemessenen Gegenwert auszuhandeln. Aber an seiner fachlichen Qualifikation gibt es nichts auszusetzen, das hat er während der Revolution oft genug bewiesen. Übrigens sind manche Offiziere des Cores auch in ihren Originalkörpern anwesend.“

Sie gingen weiter, auf das riesige Tor zu, das einen Eagle problemlos hätte passieren können.

Der Kapitän meldete sie bei den beiden Wächtern an. Kurz darauf schwang das riesige Tor auf und ließ sie passieren.

„Darf ich vorstellen? Der Lordgeneral“, sagte der Kapitän mit einem breiten Grinsen und deutete auf einen hohen Lehnstuhl auf einem Podest im Hintergrund der Halle. Dort saß ein kleiner Junge von vielleicht sieben Jahren und malte mit wahrem Feuereifer auf einem Block herum. Dutzende Buntstifte lagen zu Füßen des Throns, und etliche Bilder waren mit kindlichem, naiven Geschick bereits fertig gestellt.

Megumi sackte der Kiefer herab. „D-das ist…“

„Der Lordgeneral, richtig“, stellte der Kapitän süffisant fest. „Aber wie es aussieht, ist er wohl gerade nicht Zuhause.“

„Was, bitte?“

***

Als ich das Paradies der Daima und Daina verließ, schwirrte mir immer noch der Kopf. Maltran schlug sich gut, aber es war abzusehen, dass wir dem Termin nicht würden einhalten können. Vielleicht war es besser, die Technik auf den Core-Welten zu vernichten anstatt sie abzubauen. Aber wer würde einem Volk von zweihundert Millionen Individuen dann einen Neustart finanzieren? Alleine das Rechnernetz, das für das Paradies notwendig war, würde ein kleines Vermögen kosten, womit sich andere eigene Monde kauften. Nein, die Technik musste mit, auf würgen und brechen. Aber wo sollten dann die Biotanks gelagert werden? Es musste eine Lösung her, eine Zwischenstation, etwas handfestes. Ich hatte gut geplant, aber anscheinend war es nicht gut genug gewesen. Ein kleiner Kommafehler in der Berechnung zeigte mir nun, dass wir nicht zwanzig, sondern vierzig Tage brauchen würden; für die Strafer, die mit irrsinnigen Werten beschleunigen konnten bedeutete dies, vom anderen Ende der Galaxis zu uns herüber zu springen und die Welten des Cores zu vernichten, wann immer es ihnen gefiel. Und das mitten in der Evakuierung, die gegen alles verstieß, was Core-Zivilisation und die Götter je vereinbart hatten.
 

Ich manifestierte mich zuerst einmal im Kommandoschiff, meiner Leuchtbarke, wie ich ab und an mit dem leichten Anflug von Zynismus zu sagen pflegte, der ich im letzten Dreivierteljahr immer wieder übernommen hatte. Von dort peilte ich, reines Bewusstsein, das ich gerade war, Laysan an. Sekunden darauf befand ich mich in seinem Körper.

„Da bist du ja wieder!“, hallte mir seine mentale Stimme aufgeregt mit. „Akira, du hast Gäste! Und die sind ja alle so nett. Und Sakura ist ja so schön, genauso wie in den virtuellen Welten, die wir zusammen erlebt haben!“

Hätte ich über einen Körper verfügt, wäre ich wahrscheinlich in einem Schwächeanfall zu Boden gesunken. So aber war ich ein paar Sekunden wie paralysiert und unfähig, einen Gedanken zu formulieren. Dann endlich sickerte die Erkenntnis durch. Sakura bedeutete AURORA, AURORA bedeutete, dass Ai es geschafft hatte, und wenn Ai meine Anweisung weitergeleitet hatte, bedeutete dies… Megumi!

„Ich übernehme jetzt wieder, Laysan. Aber diesmal dauert es nicht lange“, sagte ich mit zittriger Stimme.

„Schon in Ordnung. Ist ja deine Familie.“

Mir entging nicht der wehmütige Ausdruck in seiner Stimme. Ja, er sehnte sich nach einer Familie. Die letzten Wochen und Monate hatte ich ihm nie genug geben können, um sie zu ersetzen.

Ich schluckte einen Kommentar herunter, der ihn ohnehin nicht hätte trösten können und manifestierte meine KI-Rüstung. Dann stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass ich auf dem Thron saß, wie gutmeinender Spott den Stuhl im Audienzraum auf TAMARD bezeichneten – und zudem auf Sakuras Schoß. Sie hielt gerade ein von Laysan selbst gemaltes Bild in der Hand und hatte anscheinend gerade mit ihm gesprochen; meine Freunde waren über den Saal verteilt. Ich reagierte schnell, aber Sakura war schneller. „AKIRA!“ Übergangslos fand ich mich an ihrem Busen wieder. Aber zum Glück brauchte die KI-Rüstung nicht zu atmen.

Nun klangen auch die Rufe der anderen auf, und schnell versammelten sie sich um den Sitz.

Mühsam kämpfte ich mich aus Sakuras Umarmung, liebevoll natürlich, denn ich war nicht Idiot genug, um nicht die Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. „Ich bin wieder da, Sakura-chan.“

„Idiot“, hauchte sie und schubste mich von ihrem Schoß. „Nun geh schon. Es warten ja alle.“

Ich strich ihr liebevoll über die Wange. Sie war meine beste, meine allerbeste Freundin in diesem Leben, und ich liebte sie tief und innig. Es war nicht verkehrt, ihr das ab und an deutlich zu machen.

Dann wandte ich mich um und erstarrte. Als Sakura gesagt hatte, dass ja alle warten, hatte ich nicht erwartet, wirklich nahezu alle zu sehen.

„Akira!“, rief Megumi erleichtert und stürzte in meine Arme. Ich schloss die Arme fest um sie und drückte mein Mädchen fest an mich. Auch wenn dies nur eine KI-Rüstung war, eigentlich fast schon ein KI-Container, so spürte ich doch die Wärme ihres Körpers, spürte die sanften Bewegungen mit denen sie ihren Kopf an meiner Brust rieb und roch ihr Haar. „Ich habe dich so vermisst“, hauchte sie. „Idiot, warum hast du dich entführen lassen? Weißt du wie schrecklich einsam es ohne dich war?“

„Ich bin ja wieder hier“, sagte ich mit aller Wärme in der Stimme, zu der ich fähig war, während ich zugleich mit meiner Rührung kämpfen musste. Hätte ich in diesem Moment in meinem Körper gesteckt, der dicke Kloß in meinem Hals hätte mir das sprechen unmöglich gemacht.

Dann gab sie mich frei, nach nur wenigen Sekunden, mit Tränen in den Augen und einem frohen Lächeln, das mein Herz hüpfen ließ.

Nun kamen auch die anderen näher. Ich schloss sie alle nacheinander in die Arme. Zuerst natürlich meine kleinen Schwestern Yohko und Akari, danach Makoto, der tapfer die Tränen zurückhielt, aber seine roten Augen und die leicht rot geschwollene Nase sagten genug.

Kitsune ergriff die Gelegenheit und sprang als Fuchs auf meine Schulter. Nachdem sie Halt gefunden hatte, leckte sie mit ihrer Zunge über meine Wange. „Lass das Kitsune-chan, das kitzelt“, rief ich lachend.

„Deswegen mache ich es ja“, erwiderte sie frech, verwandelte sich wieder in einen Menschen und umarmte mich kurz, nur um mich dann Yoshi zu überlassen. Aber Joan drängelte sich vor, was dieser stoisch über sich ergehen ließ.

Schließlich kamen die Jungs aus meiner Gang zu ihrem Recht, wobei Kenji stoische Ruhe bewahrte, und Doitsu mich mit einem Gefühlsausbruch überraschte. Kei war weinerlich wie immer, wenn es um große Emotionen ging, und Yoshi ganz der Kumpel und beste Freund, den ich kannte. Nach mehreren aufmunternden Schulterklopfern und einem breiten grinsen von Daisuke, bevor er mich umarmte – was ich vor zwei Jahren noch als unmöglich eingestuft hatte – und reichte mich an die Slayer weiter. Hina war ein aufgeregtes Nervenbündel, Ami hatte nichts eiligeres als mir zu erzählen, dass sie nun mit Kei zusammenwar, Emi flüsterte mir etwas ins Ohr, was mich sicherlich zu Boden gestreckt hätte, wenn ich in meinem eigenen Körper gewesen wäre und lächelte dazu.

Akane begrüßte mich herzlich, Sarah überschwenglich. Gina machte aus ihren Tränen keinen Hehl, und auch ich freute mich, die gewitzte Argentinierin wieder zu sehen. Ai-chan in ihrem eigenen Körper zu finden war eine so große Überraschung, dass ich sie spontan hoch hob. Was mir einen bösen Kommentar von Henry einbrachte, ihm nicht seine Zukünftige abspenstig zu machen. Wir tauschten einen trockenen Händedruck, der seinem Charakter entsprach. Das Lächeln eher nicht.

Sostre Daness grinste von einem Ohr bis zum anderen als er mir die Hand schüttelte und auf die Schulter klopfte. Das entsprach nun seinem Charakter.

Dai-Okame-sama hielt sich im Hintergrund, aber als sich unsere Blicke kreuzten, verbeugte er sich ein wenig, und in seinen Augen lagen Bewunderung und Anerkennung. Ein Bild, das mir die Tränen in die Augen hätte schießen lassen, wäre ich in meinem Körper gewesen.

Danach drückte mich Solia Fioran, die artig gewartet hatte, bis sie endlich an der Reihe war, und zwar so heftig und verzweifelt, dass es mir fast die Tränen in die Augen getrieben hatte. „Ich bin so froh, dass du noch lebst“, hauchte sie dabei und vergoss Tränen an meiner Wange. Ich verstand wie sehr sie gelitten haben musste, nachdem sie den Personenschutz, den sie ihrem Cousin versprochen hatte, nicht hatte erfüllen können.

Danach schüttelte mir Franlin stolz und äußerlich ruhig die Hand. „Wir sind alle froh, dass es Ihnen gut geht, Sir.“ Ich sah, dass seine Augen feucht schimmerten, also klopfte ich ihm vertraulich auf die Schulter.

Der Letzte, der mich mit stoischer Ruhe begrüßte war Aris Taral. Ein wenig wunderte mich schon, dass Opa Oren ihn hatte gehen lassen, aber den erfahrenen Kämpfer und Lieblingsgroßonkel hier zu wissen war eine große Beruhigung. Wir ersparten uns eine tränenreiche Begrüßung, und Aris stellte nur trocken fest: „Gute AO-Rüstung. Könnte von mir sein.“

Nun, das war ja wenigstens mal ein Lob.
 

Ich klatschte in die Hände. „Und, wo sind die anderen? Wo ist Tetsu? Hitomi-chan? Hiroko-senpai? Aria? Wo ist Marus? Wo steckt Ban Shee? Was ist mit den anderen? Ist Torum gar nicht mitgekommen?“ Ich sah in verwundert aufgerissene Augen. „Was ist? Ich freue mich ja, dass ihr alle gekommen seid, sehr sogar. Aber das waren doch noch nicht alle.“

Ich seufzte leise. Anscheinend hatte ich den Bogen etwas überspannt. Also entschloss ich mich zu einem subtilen Themawechsel. Ich streckte eine Hand nach Megumi aus, und meine Freundin kam sofort an meine Seite. Ein berauschendes Gefühl, so zu denken und sie neben mir zu wissen. „Okay, die anderen kann ich später noch begrüßen. Und jetzt mal ans Eingemachte, denn ich habe wenig Zeit. Zuallererst will ich euch ein wenig über den Core erzählen, unseren neuen Verbündeten. Dann über die Situation im Kaiserreich. Und ich will dann von euch Informationen über die Erde, über die Naguad und speziell über die verseuchten Vorstädte der Hauptstadt und natürlich über Lorania und das Kanto-System.

Was wisst ihr mittlerweile über die Götter, denen ihr einen Strafer weggeschossen habt?“ Ich strahlte in die Runde. „Und habt ihr meinen Körper mitgebracht?“

***

Ein paar Stunden später war der große Augenblick für mich gekommen. Nach einer anstrengenden Konferenz, bei der alle Verbündeten beteiligt gewesen waren, einige davon über Funkkonferenz – ich hatte mir natürlich nicht nehmen lassen, Aris Ohana vollen Zugriff auf Raider-Technologie zu geben und diese auch unter den Verbündeten im Reich zu verteilen – bei der wir die Marschrichtung nach der Flucht des Cores festgelegt hatten und an der auch der Dai Tyges teil genommen hatte, stand er endlich vor mir. Der Biotank mit meinem Körper.

Ich musterte die schlafende Gestalt eindringlich. „Habe ich zugenommen?“, fragte ich zweifelnd. Wenigstens waren meine Muskeln nicht erschlafft, eine Problematik, welche die Biotanktechnologie schon lange gemeistert hatte.

„Nein, du hast nicht zugenommen. Willst du dich nicht mal beeilen und in deinen Körper kommen?“, tadelte Sakura. „Außerdem will ich den niedlichen Jungen wiedersehen, der dir als Anker dient.“

„Ach, daher weht der Wind. Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, dass Laysan alle Mädchen hier um den Finger gewickelt hat.“

„Wie du in deinen besten Zeiten“, rief Kei und hatte die Lacher auf seiner Seite.

„Nicht, dass ich es gewollt hätte“, brummte ich, und einige der Mädchen senkten verlegen die Köpfe.

Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, die Augen meines verlassenen Körpers hätten mich angesehen, hätten hasserfüllt auf mich herabgestarrt. Ich trat an den Tank, legte eine Hand darauf und sah, wie die Hand des Körpers im Tank ebenfalls gegen die Trennwand schoss. Für einen Augenblick glaubte ich, doppelt zu sehen. Einmal den Körper im Tank, dessen Augen sich nun tatsächlich öffneten, aber sehnsüchtig, nicht zornig auf mich herab blickten, und dann den Blick aus dem Tank hinaus, den Blick auf die mächtige KI-Rüstung gerichtet, die Laysan umschloss und mein KI, mein Bewusstsein bewahrte.

Die Umgebung wurde leise um mich, für ein paar Sekunden, die mir wie Ewigkeiten vorkamen, hörte ich nichts und sah nur den Tank und die Augen. Phantastische Augen, die mir im Spiegel nie so faszinierend vorgekommen waren. Irgendwie konnte ich es jetzt verstehen, dass die eine oder andere Frau von mir fasziniert war.

In die Stille drang Kitsunes Stimme an mein Ohr. „Schade. Er ist noch nicht soweit. Er hängt noch zu sehr an seinem Körper.“

Okames Stimme antwortete ihr: „Er hat noch Zeit. Tausende Jahre Zeit, um ein Dai zu werden. Wenn er das überhaupt will.“

Ich schüttelte unwillig den Kopf, der doppelte Sinneseindruck verschwand und ich sah die Welt wieder normal. Diesmal allerdings aus dem inneren des Tanks.

Ich steckte wieder in meinem Körper! Fassungslos hob ich die Arme, starrte auf meine Finger, während die Mediziner der AURORA schon dabei waren, den Tank in die Waagerechte zu legen und die Heilflüssigkeit abzusaugen.

Als sich der Tank für mich öffnete, reichte mir jemand einen Yukata. Ich erkannte ihn als meinen eigenen wieder. Eine Ordonnanz hielt stolz einen Kleiderbügel in der Hand, auf der eine volle Garnitur meiner Uniform hing, in der Linken hatte der junge Mann Schuhe und Socken parat. Für einen Moment dachte ich ernsthaft daran, diese Uniform nicht zu tragen. Aber sie war nun zu sehr ein Teil von mir, seit ich in ihr auf der Fushida-Oberstufe meine Schulkameraden rekrutiert hatte, dass ich es nicht übers Herz brachte.

Unter dem lauten Jubel meiner Freunde, Verbündeten und meiner Familie verließ ich den Tank. Ich nickte in die Runde und winkte die Ordonnanz mit der Kleidung heran. „Ich gehe mich schnell anziehen. Dann machen wir an dieser Stelle weiter.“

Ich bückte mich zu Laysan herab, der mich aus großen Augen ansah. Ich tätschelte dem kleinen Mann den Kopf und lächelte dabei. „Bald bist du Zuhause, kleiner Mann. Du wirst erstmal bei mir auf der AURORA wohnen.“

„Du gehst auf die AURORA?“, fragte Yura Lencis interessiert.

„Die AURORA ist ab sofort mein Flaggschiff“, stellte ich fest. Später hat man mir erzählt, dass die Szene von meiner „Wiedererweckung“ auf die AURORA und die Begleitflotte übertragen wurde, und das diese Ankündigung einen spontanen Jubel ausgelöst hatte, der minutenlang gedauert hat.

Als ich die mürrischen Mienen meiner Verbündeten sah, fügte ich erklärend hinzu: „Sie ist das stärkste Schiff.“

„Das will ich ja wohl auch meinen!“, stellte Sakura mit Betonung fest. Sie stemmte die Hände auf die Hüften und sah herausfordernd ins Rund. Aber niemand schien so dumm zu sein, ihr zu widersprechen. Sie schnaubte zufrieden, griff nach unten und nahm Laysan auf den Arm.

Selbst das konnte ihre Autorität nicht beeinträchtigen.

Damit war das Thema also geklärt, ich steckte wieder in meinem Körper und meine Uniform erwartete mich. Ich winkte dem wartenden Mann und machte mich auf den Weg in einen nahen Ruheraum, den ich für meine Bedürfnisse konfisziert hatte. Diese Bedürfnisse schossen jetzt natürlich in die Höhe, da ich wieder einen Körper hatte. Aber ich fand, die Vorteile wogen die Nachteile bei weitem wieder auf.
 

4.

Der Blick von Michael Fioran ging über die Silhouette von New York. Bereits in wenigen Tagen, ja, Stunden, würde hier nichts mehr so sein wie es einmal war.

Langsam wandte er sich um und nickte Mother zu, der Expression der Biocomputer auf der Erde. Der Avatar nickte zögerlich zurück. „Ich habe noch nie eine derart große Aktion verwaltet, Michael Fioran.“

„Du bist die leistungsfähigste Künstliche Intelligenz, die es jemals auf der Erde gegeben hat. Du brauchst keinen Gegner fürchten – höchstens meinen Enkel.“

Einige der anwesenden Legaten lachten leise dazu. Andere knurrten grimmig, denn der Enkel von Michael Fioran war Akira Otomo, den viele der Legaten als Geissel ansahen, als Mörder ihrer Pläne. Und als einzige Hoffnung.

Michaels Blick ging weiter zu den drei Dai, die ebenfalls am Tisch saßen. Dai-Kuzo-sama, Dai-Kuma-sama und Dai-Kitsune-sama erwiderten sein Nicken.

„Die Operation steht. Es gibt kein Zurück mehr“, meldete sich der Erste Legat Gordon Scott zu Wort. Leiser fügte er hinzu: „Aber ich werde nicht den Startschuss geben, Michael.“

„Keine Sorge. Wenn Sie sich nicht trauen, ich habe damit kein Problem“, meldete sich ein anderer Legat zu Wort. Juichiro Torah grinste wild in die Runde.

„Nein, es ist in Ordnung. Ich gebe das Kommando.“ Michael senkte den Blick. „Dies ist die beste aller Zeiten. Die mächtigsten KI-Meister haben diese Welt verlassen. Arno Futabe ist mit ihnen gegangen. Damit bin ich der stärkste KI-Meister auf dieser Welt. Und mit Dai-Kuzo-sama auf unserer Seite haben wir auch keine Dai zu fürchten.“ Michael schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. Dann öffnete er sie wieder mit einem Ruck. „Mother! Öffne den Ordner Operation Walküre und führe alle dort enthaltenen Befehle aus!“

Der Avatar nickte und senkte den Blick. Abermillionen an Informationen huschten über ihren Körper, während sie die Daten einlas. „Die ersten eintausend Befehle wurden erteilt.“

Michael wandte sich wieder dem Fenster zu. „Dann beginnt es jetzt. Wir erobern die Erde und den Mars…“

***

In Brasilien öffneten sich geheime Hangars in den Anden-Bergen. Das war den Erbauern sinnvoller erschienen als im feuchten, heißen Amazonasbecken zu bauen, in dem fester Grund in etwa ebenso selten war wie ein Papstbesuch.

Hinter den riesigen Klappen schoben sich Dutzende, Hunderte kampfbereite Daishis hervor.

Ihnen folgten schnelle Korvetten, die sich kurz nach dem ausschleusen in ihre Unsichtbarkeitsschirme hüllten.
 

Im Nordatlantik, genauer gesagt auf einer alten Ölplattform, bebte der Seeboden. Eine halbe Stunde später stand die Plattform auf einer noch größeren Plattform, die sich als unterseeissche Werft entpuppte. Als sich die Schleusen des Giganten öffnete, starteten nacheinander fünf Fregatten.
 

Im ewigen Eis der Antarktis ragten nur wenige Berge auf. Allgemein war das Festland der Antarktis ohne das sie umschließende Eis ein Archipel aus vielen Dutzenden Bergen und Inseln, richtiges Festland war eher selten. Erst das Eis machte eine geschlossene Fläche aus dem Land am Südpol.

In besagten Bergen enttarnten sich wie schon in den Anden riesige Werkstätten. Doch hier erhoben sich Fregatten und Zerstörer in den tiefschwarzen Himmel der winterlichen Antarktis-Nacht.
 

In Washington DC musste General Bowman mit Entsetzen feststellen, dass er seinem Präsidenten sehr schlechte Nachrichten überbringen musste. Im ganzen Land fanden schwere Kämpfe statt; die Mecha-Streitkräfte wendeten sich gegen die eigenen Truppen. Interessant an diesem Aspekt war, dass es vor allem unbemannte Mechas waren, die plötzlich auf den Militärstützpunkten wüteten, allen voran der hoch gepriesene und mit kronosischer Unterstützung entwickelte Stars and Stripes.

Alles deutete darauf hin, dass der Verbündete sie verraten hatte.

Als fünf Zerstörer aus dem Territorium Kanadas in das Land einbrachen und sich gegen jeden Widerstand über den Himmel über Washington D.C. durchkämpften, wurde es zur Gewissheit.

Die Kronosier, die mit ihrem Märchen von der Hegemonie der U.S.A. und der technischen Unterstützung die Hilfe von Präsident Wilson erkauft hatten, wandten sich nun gegen ihn.

Der Schlag war so schnell und so präzise geführt worden, dass dem Präsidenten nicht einmal die Flucht mit der Air Force One gelungen war.
 

In Russland war es nicht die Weite Sibiriens, sondern die Küste des Schwarzen Meeres, aus dem sich die kronosischen Streitkräfte wie Phoenix aus der Asche erhoben. Der besten, fähigsten und erfahrensten Piloten beraubt stand die russische Führung schon bald mit dem Rücken zur Wand.
 

Auf dem Mars war der Schlag ebenso schnell wie effizient. Nach nur wenigen Minuten heftiger Kämpfe befanden sich Gravitationskontrolle und Sauerstoffproduktion in der Hand der Kronosier und ihrer Söldner.

Damit hatten sie die gesamte Kolonie in ihren Händen.
 

Auf dem heimischen Mond ergab sich zuerst Aldrin, dann Collins und zuletzt erst Armstrong. Damit waren die drei wichtigsten Städte des Mondes in kronosischer Hand, ohne dass sie auch nur einen Schuss hätten abgeben müssen.

Der Mond war nun kronosisches Gebiet.
 

Eikichi Otomo sah in der Zentrale des OLYMP dabei zu, wie sich nach und nach ein Land der Erde nach dem anderen von blau für Verbündete oder rot für Gegner grün verfärbte, was die Eroberung durch die Kronosier bedeutete.

Er bemerkte sehr wohl, dass jene Länder, die bei der ersten Invasion besonders gelitten hatten, Japan, Deutschland, Indien, Südafrika, Frankreich, die Türkei und China von den Angriffen ausgespart waren. Noch. Aber es beruhigte ihn schon, denn dies hätte Kämpfe bedeutet, blutige Kämpfe, und keine Handstreiche. Die Menschen jener Länder hatten noch nicht vergessen wie es gewesen war, als die Himmel brannten. Gerade die Japaner hätten dies nicht hingenommen und diesmal sicherlich bis zur eigenen Vernichtung gekämpft.

„Michael“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Ich hoffe, du hast alles im Griff!“

Während er sprach, wandelte das fünfzigste Land seine Farbe auf grün.

Als hinter ihm geraunt wurde, wandte er sich um und erstarrte vor Entsetzen.

Eine junge Frau mit brandrotem Haar kam lächelnd auf ihn zu. Die Wachen hielten sie nicht auf, denn es war Kitsune, genau jene Kitsune, welche den zweiten Marsangriff mitgemacht hatte. Unter den Veteranen des OLYMP galt sie fast schon als Gottheit.

Doch das war unmöglich, denn Kitsune war an Bord der AURORA!

Bevor Eikichi es richtig registrierte, hatte er schon einen KI-Schild zwischen sich und dieser Kitsune aufgebaut, doch es war zu spät. Sie ließ sich auf die Hände sinken und verwandelte sich. Sekunden später stand ein riesiger Löwe mit Menschenkopf vor ihm.

„Sphinx!“ Die Gestalt sah ihn aus erschreckend menschlichen Augen an, dann sprang sie vor, durchbrach Eikichis Schutz mit einer Leichtigkeit, die sein jahrelanges Training verspottete und erwischte ihn mit einer der kräftigen Pranken. Vor den Augen der entgeisterten Zentrale-Besatzung wurde Eikichi Otomo von dem kräftigen Hieb an die nächste Wand geschleudert – und verschwand dort, als wäre sie nicht massiver Stahl, bedeckt mit Monitoren und Arbeitsstationen, sondern der Eingang nach Shangri-La.

Die Sphinx sah stumm in die Runde, verzog den Mund zu einem Lächeln und sprang hinterher.

Zurück blieb ein kleiner See an Blut und ein paar vollkommen verstörte UEMF-Mitarbeiter, die um etliche Lebenserfahrungen reicher waren.

***

„Ich sehe, du bist wieder wach.“

Eikichi öffnete die Augen und stöhnte unterdrückt. „Verdammt noch mal, hätte mir jemand gesagt, dass Step so anstrengend ist, hätte ich lieber das Flugzeug genommen.“

„Das vergeht wieder. Nicht jeder gewöhnt sich schnell daran, auf den Ley-Linien der Erde zu reisen.“ Dai-Kuzo-sama stellte einen Kaffee vor Eikichi auf dem Tisch ab und half ihn, aus dem Liegestuhl einen Sessel zu machen. „Trink erstmal. Das Koffein wird dir guttun.“

Eikichi sah in die Runde, während er sich den Kopf rieb. „Danke. Du hast die Sphinx ausgepackt?“

„Ich musste. Es gibt keinen besseren Leibwächter als sie. Und mitten im Nest der Kronosier zu sitzen ist selbst für mich ein wenig gefährlich. Ich konnte ja nicht wissen, was die Götter der Core-Zivilisation mittlerweile überlassen hat.“

„Dennoch, die Sphinx ist…“

„Sie hatte sich als Kitsune getarnt.“

„Das ist nicht mein Problem! Du weißt doch sehr wohl, dass die Sphinx zu makabren Späßen neigt. Wenn ich da allein an dieses Rätsel denke, dass sie den alten Griechen aufgestellt hat, dann…“

„Wir waren alle mal jung“, wiegelte Kuzo ab. „Und du glaubst doch nicht etwa die alten Geschichten, nach denen sie diejenigen, die ihr Rätsel nicht beantworten konnten, aufgefressen hat? Ach komm. Ein Mädchen muss auf seine Linie achten. Das war damals auch schon so.“

„Dennoch, sie ist eine Psychopathin! Nun, vielleicht nicht gerade eine Psychopathin, aber sie gibt absolut nichts auf menschliche Ettikette!“

„Sie steht gerade hinter dir“, schloss Kuzo trocken.

Eikichi fuhr herum und sah ihr ins strahlende Antlitz ihres eigentlichen Menschenkörpers. Kurz darauf hatte sie sich schon an die Brust des Executive Commanders gedrückt und an seiner Schulter eingekuschelt.

„Sie mag dich.“

„Und es interessiert sie einen Dreck, ob sie damit auf Gegenliebe stößt“, warf Eikichi ihr vor.

„Warum sollte sie auch? Sie ist eine Dai.“

„Eine mundfaule Dai.“

„Die dich mag.“

„Die mir mit einer Handbewegung den Kopf abschlagen könnte. Au, keine Krallen, Sphinx!“

Die Sphinx murrte unzufrieden und rieb ihren Kopf an Eikichis Kinn.

„Gut, dass meine Frau mich so nicht sehen kann.“

Kuzo lächelte dünn. „Sei froh, wenn deine Frau dich nicht sehen muss, wenn Sphinx dich nicht leiden kann.“

„Sehr witzig.“

Regelmäßige Atemzüge verrieten, dass die Sphinx eingeschlafen war. Oder es zumindest nur vorgab.

„Andererseits, wenn man sie so sieht, kann man kaum glauben, dass…“ Vorsichtig strich Eikichi ihr ein paar Strähnen goldenes Haar aus dem Gesicht.

„Dann kann man kaum glauben, dass ihre Mutter und deine Großmutter Schwestern waren, was?“, vervollständigte Kuzo.

„Nein. Dann kann man kaum glauben, dass in ihr eine schlimmere Kämpferin lauert als in Okame-senpai.“

„Oh, sie hat sehr liebevolle Seiten.“

„Die habe ich nie gesehen, wenn du sie mal wieder auf die Jagd nach mir geschickt hast!“, klang hinter Kuzo eine harte Männerstimme auf.

„Ach, sieh an. Das klingt doch irgendwie nach der treulosen Tomate, an der ich zweitausend Jahre meines Lebens verschwendet habe.“ Sie wandte sich um. „Dai-Tora-sama ist also wieder im Paradies.“

Juichiro Torah sah sie wütend an. Aber die Wut wich schnell einer gewissen Verzweiflung. „Ich habe die Daten von Greenwich gesehen. Du hattest Recht und ich hatte Unrecht.“

Eikichi sah auf, soweit es ihm mit der schlafenden Sphinx auf dem Schoß möglich war. „Wie läuft es auf eurer Seite?“

„Ach, dein Menschenspielzeug ist auch hier?“

„Bleib bitte sachlich. Sonst hetze ich Sphinx auf dich.“

Torah lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Aber dann ging eine gewisse Blässe über sein Gesicht. „Verdammt. Sie würde auf dich hören. Sie würde wirklich auf dich hören.“

„Lassen wir das alles mal beiseite. Wir haben viel zu besprechen. Ich nehme an, du bist als Vertreter der Kronosier zu mir gekommen. Dazu komme ich als Herrin der Dai und Eikichi als Vertreter der Terraner.“ Sie deutete auf einen freien Sessel am Tisch und nahm in einem anderen Platz.

„Wie ich schon sagte, ich habe gesehen, was auf East End passiert ist.“

„Das ist noch nicht alles. Die UEMF hat uns Aufnahmen zur Verfügung gestellt, welche von der Intendenten-Flotte über Iotan gemacht wurden. Wir wissen von sieben vernichteten Strafern.“

„Das sind doch gute Neuigkeiten. Wir können die Götter also besiegen.“

„Nein“, stellte Dai-Kuzo-sama klar. „Das können wir nicht. Auch nicht, wenn wir die Depotwelt öffnen und alle Kommando- und Kampfschiffe reaktivieren, die wir besitzen. Uns fehlt der entscheidende Faktor.“

„Entscheidender Faktor? Der Core schätzt die ursprüngliche Zahl der Strafer auf fünfzig bis sechzig, acht davon haben die Götter bereits verloren. Wenn wir nur genügend Feuerkraft aufbieten, dann…“

„Es sind über eintausend“, stellte Dai-Kuzo-sama trocken fest. „Warum glaubt ihr wohl, haben wir uns damals in die Daimon zurückgezogen? Weil wir den Kampf gefürchtet haben? Nein, weil wir die Vernichtung gefürchtet haben, die absolute, endgültige Vernichtung! Nicht nur jene von uns Dai, sondern auch jene unserer Schutzbefohlenen! Denn sie werden als nächste ausgerottet, wenn es keine Dai mehr gibt, damit nie wieder ein Daima oder Daina zum Dai aufsteigen kann!“ Sie senkte ernst den Blick.

„Und wenn wir genügen Kampfschiffe zusammen bekommen würden, um eintausend Strafer zu vernichten, würde das Sonnensystem, in dem gekämpft werden würde, bei der Urgewalt die wir entfesseln, vernichtet werden.“

„Gibt es eine Lösung?“, fragte Eikichi ernst.

„Nein, es gibt nur Ansätze. Und für die brauchen wir Zeit, dringend Zeit.“ Dai-Kuzo-sama sah die beiden ernst an. „Ich erbitte eure Zustimmung zur letzten Stufe des Plans.“

„Ich dachte, es würde nicht nötig werden, so weit zu gehen“, wandte Torah ein. „Ich dachte es reicht wenn wir die Götter glauben machen, die Erde würde nicht mehr in der Hand der Naguad sein.“

„Der beste Zeitpunkt ist jetzt. Eine zweite Chance bekommen wir nicht. Eikichi, Dai-Tora-sama, wollen wir es wagen oder gehen wir davon aus, dass die Scharade der Kronosier bereits ausreicht, um uns zu retten?“

„Wir haben viel zu gewinnen und alles zu verlieren. Im Namen der Menschen lege ich unser Schicksal in deine Hände.“

„Im Namen der Kronosier stimme ich ebenfalls zu.“ Torah senkte den Blick und schnaubte wütend. „Wenn ich jemals einen Gott in die Finger kriege, dann…“

„Dann macht es Knack. Ich habe schon mehr als einen getötet“, sagte Dai-Kuzo-sama ernst. Sie erhob sich. „Ich rufe mein Volk. Und dann tun wir es. Eikichi, sind die Befehle gegeben?“

„Ja.“

„Dann läuten wir jetzt das Finale ein.“
 

Epilog:

Die Medien überschlugen sich, als sie über das geheimnisvolle Verschwinden von Eikichi Otomo berichteten, über den Überraschungsschlag der Kronosier, die über eine beachtliche Streitmacht verfügten und von vielen Ländern offen unterstützt wurden, über ihre Eroberungen, über das allgemeine Chaos und über die KI-Meister, die mit der AURORA aufgebrochen waren und nun an jeder Ecke und jedem Ende fehlten.

Es herrschte blanke Panik auf der Erde, auch auf dem Mond und auf dem Mars, zumindest was die Presse anging.

Relativ umbemerkt davon zogen die Kriegsschiffe der Kronosier, der UEMF, der Anelph und der Naguad ihre Kreise über den beiden Planeten und dem Mond. Dabei entließen sie unsichtbar für jedes Auge eine Substanz, die so klein war, dass man sie nicht einmal als Staub hätte einschätzen können.
 

Mittlerweile hatte sich der Anführer der Kronosier als ehemaliger fünfter Legat Scott enttarnt und bekannt gegeben, dass er nun als Erster Legat die Operationen auf Erde, Mond und Mars anführte.

Ihm stellte sich Commander Jeremy Thomas entgegen, der versprach, nichts unversucht zu lassen, bis die kronosische Plage bis auf den letzten Halm geerntet worden war.

Die beiden Männer steigerten sich in ein hitziges Wortgefecht, welches weltweit live übertragen wurde, dass die Explosion einer Atombombe in der Wüste von New Mexico beinahe dabei unterging.

Beide Seiten beschuldigten sich daraufhin, die Bombe als Provokation benutzt zu haben.

Scott drohte das Atomwaffenpotential der U.S.A. und Russlands einzusetzen, die beide kronosisch besetzt waren und Thomas hielt mit den überlegenen Technologien der UEMF dagegen.
 

Für einen außenstehenden Beobachter, der jenseits der Marsbahn im Raum stand, wohlweislich auf der Höhe des Planetoidengürtels, malten sich die nächsten Stunden wie folgt aus. Zuerst wurde von heftigen Detonationen und schweren Beben auf dem Mars berichtet, der Ausfall der Gravitationskontrolle unter dem Nyx Olympus versagte. Kurz darauf verschwand der Mars sowohl aus der Ortung als auch aus der optischen Beobachtung. Von einem Moment zum anderen war er fort.

Dieses Phänomen setzte sich auch mit dem Mond fort. Es wurde von gigantischen Explosionen berichtet, von grellem Licht, irgend ein Sender berichtete von einer mit KI angereicherten Fusionsbombe – dann existierte der Mond nicht mehr.

Kurz darauf traf es die Erde. Über fünftausend Fernsehsender berichteten über die weltweite Situation, dann gab es wieder die Lichtblitze… Und die Erde existierte nicht mehr da, wo sie eigentlich hatte sein sollen.

Für den außenstehenden Beobachter bot sich die Szenerie auf den ersten Blick so dar, als hätten Kronosier und UEMF Erde, Mond und Mars gegenseitig vernichtet.

Dies war auch auf den zweiten, auf den dritten und den vierten Blick so.

Ein schneeweißer Strafer löste sich aus dem Deckschatten eines größeren Planetoiden, nahm Fahrt auf und verließ das System.

Schwarze Schatten im schwarzen Licht

Prolog:

Sollte ich jemals ein Alter erreichen, das ich selbst als alt bezeichnen würde, und sollte mich dann jemals jemand fragen, was für mich das bedeutendste in meinem Leben war, abgesehen von jenen, die ich liebe, dann hatte ich jetzt, genau jetzt die Antwort. Ich hatte einen Körper, und ich genoss es in vollen Zügen. Ich genoss es, wenn ich aß, ich genoss es, wenn ich trainierte, ich genoss es, wenn ich mich von heißem Wasser abbrausen ließ. Ich genoss es sogar, als der süße, beißende Schmerz durch mein Knie fuhr, als ich stürzte und mich verletzte.

Ich hatte ja gar nicht gewusst, was ich alles vermisst hatte, als ich nur in meiner KI-Form existiert hatte.

Gewiss, man konnte auch mit einem KI-Panzer fühlen, tasten, erfahren, aber ich fand, es war eine vollkommen andere Erfahrung, wenn man nicht automatisch dabei beschützt wurde und sich eben nicht verbrennen konnte. Ein Körper war viel sinnlicher, weit mehr als es eine KI-Rüstung oder ein KI-Container jemals sein konnten.

Kitsune versicherte mir zwar immer wieder, dass die von ihnen projizierten KI-Körper einem echten Körper in nichts nachstanden, aber weder hatte ich ihre Jahrhundertealten Fähigkeiten in der KI-Kontrolle, noch interessierte es mich wirklich, denn ich hatte nun ja meinen Körper wieder.

Ich konnte mich diesem wundervollen Gefühl aber leider nur wenigen Minuten am Tag hingeben, denn meine Zeit dazwischen war angefüllt mit wichtiger Arbeit, schnell eingenommenen Mahlzeiten und einer Schlafpause, die viel zu kurz für einen normalen Menschen war. Lange würde ich das nicht durchhalten, das war mir klar, aber in den letzten vierzehn der anvisierten zwanzig Tage würde ich nicht viel mehr Ruhe finden, nicht finden dürfen.

Ich hatte die Evakuierung der Core-Zivilisation befohlen, und ich hatte sie auch durchzuführen.

Zugleich hatte die Intendenten-Flotte alle Hände voll zu tun, um die Welten des Kaiserreichs vor Übergriffen zu bewahren. Nicht alle Welten waren nach dem Tod des Kaisers im Reich verblieben; viele kochten nun ungeachtet der Gefahr durch die Götter ihr eigenes Süppchen. Einige Clans hatten sich zudem selbstständig gemacht. Das Staatsgebiet war kaum geschrumpft, aber gegen die siebzehn neuen Nationen, die sich nun um oder sogar im Gebiet des Reichs befanden, musste Flagge gezeigt werden. Und dies konnte nur die Flotte, wollten wir nicht zulassen, dass jene Bürger, die dem Intendenten ihr Vertrauen gegeben hatten, die an die neue Demokratie glaubten, die mir glaubten, leiden mussten, weil wir nicht hatten für sie da sein können.

Es war unvorteilhaft, aber es hatte bereits Kämpfe gegeben, Blitzüberfälle, die wir nicht hatten verhindern können, Frachtdiebstahl, und was der Dinge mehr waren. Es erschien mir so hinreißen typisch, dass diese Übergriffe aus Systemen heraus erfolgten, in denen Daima lebten, die ursprünglich zum Kaiserreich gehört hatten, oder ihm zumindest bekannt gewesen waren. Die Nationen der Außerirdischen in dieser Region verhielten sich durchwegs friedlich, was vielleicht ein wenig daran lag, dass sie befürchteten, die Daima könnten sich gegen sie verbünden, wenn sie zu sehr auffielen.

Aber wenn diese Daima schon meinten, wir würden uns nicht um sie kümmern können, weil die Götter gerade alle unsere Kraft beanspruchten, dann würden sie bald merken wie unrecht sie hatten. In dem Punkt war ich mehr als froh, dass ich mich nicht um die Expedition der AURORA zu kümmern hatte und lediglich den Ärger mit dem Core, seinen Streitkräften und der Evakuierung hatte.

Auch das bedeutete Körperlichkeit. Wut, Verzweiflung, Trauer, Freude, hier ein Lachen, da ein Stirnrunzeln, ich liebte es einfach.

Zum Glück konnte ich diese Arbeit von der Poseidon-Flottenzentrale aus erledigen, die inmitten des Serenity-Meeres im Innenraum der AURORA lag. Das bedeutete, dass ich meine viel zu knappe Schlafphase und einen Teil meiner Mahlzeiten Zuhause bekam. Mein Zuhause in der AURORA war mir mittlerweile weit mehr vertraut als jenes auf der Erde. Außerdem, bei dem beständigen Zuwachs, den meine nahe Familie permanent erlebte, wäre das alte Haus in Tokyo ohnehin längst zu klein gewesen.

Unser aktueller Neuzugang Laysan hatte es mittlerweile geschafft sich einzuleben und ging sogar auf die Fushida Grundschule. Ein Schritt zu einem Funken Normalität, mochte man meinen, aber der Kleine wurde von den Mädchen derart verhätschelt, dass ich befürchtete, er würde ein verzogener Ratz werden. Zum Glück aber war ich seine direkte Bezugsperson, und nur was ich tat und erlaubte, war auch für ihn in Ordnung. Außerdem begleitete ihn Yoshis KI-Biest zur Schule und wieder zurück, eine kleine Sicherheitsmaßnahme, zu der mich ein Ziehen im Magen verleitet hatte. Sakura hatte es spöttisch als Väter-Magengeschwür bezeichnet, und diese Formulierung gab mir doch etwas zu denken. Allerdings waren meine Beweggründe praktischer Natur gewesen; ich hatte noch nicht vergessen, dass wir weder alle Agenten unseres Flugs zu den Anelph enttarnt hatten, noch dass auf diesem Flug neue hinzu gekommen sein konnten.

Wusste der Teufel, was ein KI-Biest war und wie Yoshi eines hatte erschaffen können. Er hatte versucht mir zu erklären wie er es gemacht hatte, inspiriert durch den Angriff der KI-Biester der Raider und mit freiem KI wie bei den Geistererscheinungen, die unsere AURORA beim Durchflug des Doppelsternsystems auf dem Weg zu den Anelph erlebt hatte. Wie hieß es doch gleich? Andea Twin. Auch hatte ich nie von KI-Biestern beim Core gehört, denn ansonsten hätte ich einige der Operationen weitaus besser und verlustfreier planen können.

Maltran Choasters Antwort, dass die Zahl der KI-Biester sehr limitiert war und ihr Einsatz außerdem umstritten ersparte ihm nicht die harsche Rüge von mir. Als mein Stellvertreter hätte er mich über die Existenz dieser Waffe informieren müssen, aber ich konnte mir seine Antwort schon denken: Du hast nicht gefragt.
 

Jedenfalls, mir ging es gut, einfach gut. Ich fühlte mich wohl, ich fühlte mich sicher, ich fühlte mich furchtbar erschöpft. Wenigstens ging es im Paradies voran. Auf drei Welten hatten wir das Netzwerk bereits abgeschaltet und hunderttausende Biotanks und Gehirntanks verladen. Auf den kleinen Flotten, die derart beladen die Core-Systeme verließen, war ein Notfallnetzwerk entstanden, um den Daima und Daina wenigstens einen schwachen Ersatz für das Paradies zu bieten.

Aber es standen noch immer sechs Welten aus, was zum Teil an Widerstand lag. Das Paradies verlassen wollten viele Bewohner nicht, das war auf den evakuierten Welten schon nicht anders gewesen. Andere wollten nicht zusammen mit Daina verladen werden, wenn sie Daima waren, und nicht mit Daima verladen werden, wenn sie Daina waren. Es waren viele kleine Dinge, die sich summierten und dazu führten, dass ich mehrmals in meinem Arbeitstag kurz davor stand, die Netze radikal abzustellen, um die Bewohner zu zwingen, das Paradies zu verlassen. Aber das ging leider nicht, denn einige Bewohner des Paradies existierten wirklich nur noch als KI. Oder AO, wie sie selbst gerne sagten. Ich ließ sie so gut es ging darin schulen, sich KI-Container zu erschaffen, um ihnen zu ermöglichen, uns weiterhin zu begleiten, aber unter ihnen hatte es bereits Verluste gegeben. Es waren nicht viele Daima oder Daina, die diesen Punkt ihrer Existenz erreicht hatten, aber mich schmerzte jeder einzelne, den wir an den Tod verloren.

Und dann war da noch diese lang vorbereitete Aktion im Gebiet der Naguad, die von den Logodoboro ausgeführt worden war, unterstützt von einem weiteren Haus, dessen Name mir bekannt war. Es juckte mir wirklich in den Fingern, meinen Urgroßvater zu informieren, wer die zweite Laus im Pelz der Naguad war, aber im Moment würde dies die Situation nur verschlimmern und keinen Vorteil für uns bedeuten.

Ja, die wundervolle Revolution der Logodoboro, die das Naguad-Reich in einen Bürgerkrieg hatte treiben sollen, Daness gegen Arogad, während Logodoboro sich seine eigene Mark sicherte und das Kaiserreich verführt werden sollte, ins Imperium einzufallen, seine Armeen ausdünnte und seinerseits anfällig für einen Core-Angriff werden würde… Dies war die Strategie in aller Kürze. Zum Glück war sie von hinten bis vorne schief gegangen. Zum Glück für uns alle.

Und nun stand ich hier, hatte in einer Hand die Scherben der gegenwärtigen Politik in der einen Hand, einen Kaffee in der anderen Hand - und ehrlich gesagt genoss ich beides.
 

1.

„Akira-chan!“ Mit einem Satz landete ein kleiner, frecher und extrem vorlauter Fuchs auf meinem Schoß.

„Was kann ich für dich tun, Kitsune-chan?“, fragte ich seufzend.

„Du könntest mir einen Kaffee einschenken. Ich war die ganze Nacht wach, und ehrlich gesagt geht mir das reichlich an die Nieren.“

„An die Nieren?“

„Umgangssprachlich“, erwiderte sie und verwandelte sich in das niedliche rothaarige Mädchen, als dass sie sich als Mensch zu repräsentieren pflegte.

Gehorsam griff ich nach Tasse und Kanne, um ihr einen Kaffee einzuschenken. „Gehst du zum trinken von meinem Schoss runter?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Aus großen Augen sah sie mich an. „Die Frage hast du doch wohl nicht ernst gemeint, oder? Natürlich gehe ich nicht von deinem Schoß runter.“ Sie lächelte tückisch, als sie nach dem Becher griff. „Sonst könnte ich das ja gar nicht machen!“ Als sie auf meinem Schoss herumzurutschen begann, seufzte ich ergeben. Ich würde nie verstehen, warum eine zweitausend Jahre alte Dai so viel Spaß daran hatte, mich zu necken. Wahrscheinlich musste ich selbst erst einmal so alt werden, um das zu verstehen.

„Morgen, Akira“, murmelte Megumi, als sie verschlafen in die Küche kam. „Horror. Ich hatte nur zwei Stunden Schlaf. Der Intendent will sich ein Regiment der Hekatoncheiren ausborgen, um eine Krise drei Systeme weiter in den Griff zu kriegen, und ich musste bis in den frühen Morgen Nachschub umdisponieren, Piloten versetzen und Dienstpläne umschaufeln, damit wir hier nicht ins schwimmen geraten. Wie du den Job geschafft hast ist mir schleierhaft.“

Ihr Blick blieb an Kitsune haften, die noch immer auf meinem Schoß saß und ihren Kaffee trank. Na, wenigstens rutschte sie nicht mehr herum. „Morgen, Kitsune-chan. Na, amüsierst du dich?“

„Ich gebe mein Bestes, um die allgemeine Stimmung oben zu halten“, erwiderte sie trocken. „Ich habe die Nacht auch nicht geschlafen. Ich war auf Agentenjagd, aber alle meine Spuren sind ins Leere gelaufen. Sowas frustriert.“

„Gute Arbeit, gute Arbeit“, murmelte Megumi und tätschelte der Füchsin den Kopf. Danach gab sie mir einen kurzen, sehr kurzen Kuss. „Und wie war es bei dir, Akira?“

„Ich konnte etwas länger schlafen, zugegeben. Aber auf mich lauert ein Riesenberg Arbeit. Wir erwarten den ersten Konvoi des Cores im Laufe des Tages. Aris wird dabei sein.“

„Aris?“ Megumi runzelte die Stirn. „Ach so, diese Aris meinst du. Die Herrin des Paradies der Daina und Daima, von der du erzählt hast.“

„Hm? Besteht die nicht lediglich aus Bewusstseinsfragmenten aller im Paradies vertretenen Daima und Daina?“, murmelte Kitsune. „Was ist an der schon besonderes?“

„Sie hat sich einen KI-Container erschaffen. Es ist ihre erste Zeit außerhalb der virtuellen Welt. Das nenne ich persönlich einen Meilenstein für sie. Eine vollkommen neue Erfahrung in einer fremden Umgebung. Ich bin gespannt, wie sie mit den vielen Sinneseindrücken zurecht kommt und… Wer zieht denn da an meinem Hosenbein?“

„Yosis Ki-Biest“, erklärte Kitsune. Sie beugte sich vor und tätschelte dem Hundegeist den Kopf. „Guten Morgen, mein Hübscher. Warum bist du denn so aufgebracht?“

„Er will wohl, dass ich mitkomme.“ Ich gab Kitsune einen Klaps auf den Allerwertesten und scheuchte sie so von ihrem bequemen Sitz herunter. Dann folgte ich dem KI-Biest in den Flur. „Spike heißt du, richtig? Was gibt es denn so wichtiges?“

Der Hundegeist beobachtete mich aufmerksam, als ich ihm folgte. Erst vor der Tür zu Yohkos Zimmer blieb er stehen. Erwartungsvoll huschte er durch die Tür hindurch – ohne sie zu öffnen. Das war ja ganz wie zu Akaris alten Zeiten, und schon damals hatte ich mich nicht so recht daran gewöhnen können.

Aus dem Zimmer klangen mir Stimmen entgegen. Sie gehörten zweifelsfrei Yoshi und Yohko, und die Tonlage wies auf einen handfesten Streit hin. Aha, darum war es Spike also gegangen.

Ich klopfte leise an. „Hallo? Geht es euch gut da drin?“

„Jetzt hast du es geschafft, Yoshi! Akira hat uns gehört.“

„Was kann ich denn dafür? Zum streiten gehören immer zwei und…“

Die Tür ging auf, ein Arm fuhr heraus und zog mich ins Zimmer. Danach fiel die Tür wieder ins Schloss. „…und vielleicht weiß Akira eine Lösung.“

Erwartungsvoll sahen die beiden mich an. Spike hatte sich unter dem Schreibtisch zusammengerollt und beäugte die Szene aus einem halb geöffneten Auge.

„Geht es wieder um das kleine Kästchen, mit dem Yoshi dich neulich traktiert hat?“

„Das ist Schnee von gestern“, murmelte Yohko und hielt ihre rechte Hand hoch. „Ein Verlobungsring war drin, und wie du siehst, trage ich ihn schon.“

Konsterniert sah ich die beiden an. „Ihr seid verlobt? Warum habt ihr mir das nicht gesagt?“

„Was wundert dich jetzt daran? Wir wohnen seit Jahren zusammen, wir schlafen miteinander, wir lieben uns, das war doch nur der nächste logische Schritt“, tadelte Yoshi. „Auch wenn jemand hier irgendwie Probleme damit hatte.“

„Entschuldige bitte, wenn ich Wert auf meine Selbstständigkeit lege“, murrte meine kleine Schwester.

„Es wundert mich nicht, dass ihr verlobt seid. Es wundert mich nur, warum mir niemand so etwas wichtiges gesagt hat!“

„Hey, du warst verschollen! Und das erste was du wissen wolltest, als wir dich endlich wieder hatten, war die politische Lage auf der Erde und bei den Naguad, nicht unbedingt die Familienangelegenheiten“, fügte Yohko hinzu.

„Ach, und jetzt bin ich plötzlich Schuld!“

„Stimmt doch auch, Akira. Du warst Oberbefehlshaber des Cores, und konntest uns nicht mal eine winzigkleine Nachricht zukommen lassen, dass du noch lebst und wie es dir geht? Akira, wir haben uns Sorgen um dich gemacht.“

„Vor allem die Kleinen sind fast vergangen vor Angst, Onii-chan.“

Das hatte Yohko schon lange nicht mehr zu mir gesagt. Brüderlicher Stolz stieg in mir auf, aber ich zwang mich, mich auf das wesentliche zu konzentrieren. „Ach! Und wie bezeichnet ihr meine Nachricht an Ai und die Bitte, sofort die AURORA auszuschicken? War das kein Kontakt?“

„Das ist auch so eine Sache! Wie zum Henker konntest du über Dutzende Lichtjahre hinweg mit Ai-chan Kontakt aufnehmen? Zudem war sie in einem Heilkoma und…“ Yoshi warf die Arme hoch. „Ich bin gar nicht so sicher, ob ich es wirklich wissen will. Erklär mir das in Ruhe, so in ein, zwei Jahrtausenden, ja? Aber vielleicht kannst du uns bei einer anderen Sache helfen. Yohko meint, dass…“

„Yohko kann für sich alleine sprechen. Onii-chan, wir streiten über die Leistungsbewertung meiner Otome und seiner Gyes. Wir sind uns ja wohl einig, dass im Otome-Bataillion neben den Slayern einige der viel versprechensten Mecha-Pilotinnen der UEMF zusammengefasst sind.“

„Soviel ist mir schon bekannt. Und?“

„Aber dennoch sind sie meinen Gyes nicht gewachsen. Noch nicht. Wir hatten viel mehr Training als ihr, Yohko, sieh das doch ein. Bevor du ernsthaft einen größeren Kampfeinsatz in Divisionsstärke in Betracht ziehst, bei der du und Hina das Rückgrat bilden wollt, solltet ihr…“

„Und genau da gehen unsere Meinungen auseinander! Ich sage, wir sind schon soweit!“

„Und ich sage, ihr seid es nicht!“

„Ich bin dienstälter als du, Yoshi, und die Anführerin dieser Expedition ist meine beste Freundin und bald auch meine Schwägerin.“

„Ha! Ich kenne Akira Otomo persönlich!“

Ich war versucht, die beiden darum zu bitten, mich aus ihrem Streit heraus zu halten, aber soviel Glück hatte ich wahrscheinlich nicht. Also blieb nur der Sprung nach vorne.

„Demnächst geht ein Regiment der Hekatoncheiren raus. Ich habe vergessen Megumi zu fragen welches, aber ich bin sicher, ein oder zwei Kompanien der Otome können sie begleiten. Ich weiß nicht, ob es einen Kampfeinsatz geben wird, aber es wäre ja schon schön zu wissen, wenn sie sich bereits bei einem normalen Einsatz bewähren, auf dem sie mit regulären Mechas zusammenarbeiten müssen. Wäre das eine akzeptable Variante?“

Mürrisch sahen die beiden mich an.

„Ich kann keinen von euch hören.“

„Ja, Onii-chan, ich denke, das geht in Ordnung.“

„Yoshi?“

„Da ich keinen Marschbefehl habe, werden Doitsu oder Dai-chan rausgehen. Es wäre zumindest mal den Versuch wert.“

„Also ist euer Streit beigelegt?“

„Vorerst.“

„Gut. Dann geht zu Megumi und erzählt ihr, was ich vorgeschlagen habe.“

„Gut!“, riefen sie im Chor und verließen das Zimmer.

Spike, das KI-Biest, öffnete ein Auge ganz und sah mich aufmerksam an.

„Merk dir das gleich für die Zukunft. Ich bin nicht immer da, um für dich die Kastanien aus dem Feuer zu holen, klar?“, mahnte ich.

Das KI-Biest gähnte und riss dabei das Maul furchtbar weit auf. Dann dehnte und streckte es sich fast wie eine Katze und kam auf die Füße. Mit einem Blick, den man durchaus als Amüsement hätte definieren können, trottete es an mir vorbei. Über mir polterte etwas laut, und ich wusste wohin Spike unterwegs war. Laysan war aufgewacht.

Oh ja, all das hatte ich furchtbar vermisst. Ich genoss jede Sekunde.

***

„Guten Morgen, Herrschaften!“ Der Empfang war nicht gerade enthusiastisch, als ich nach fast einem Jahr wieder einmal die Poseidon-Station betraf, aber wenigstens erwiderten alle Anwesenden meine Begrüßung.

Sakura sah mich böse über den Rand einer Teetasse hinweg an. „Wo warst du? Wir arbeiten schon seit zwei Stunden.“

Beschwichtigend hob ich eine Hand. „Ich habe Laysan zur Schule gebracht. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich verschlafen. Als ich im Core integriert war, hatte ich kein Schlafbedürfnis und deshalb auch keine Träume. Aber jetzt kann ich es wieder. Außerdem hat mich niemand geweckt, deshalb bitte ich, mir dieses Versehen nachzusehen.“

„Ist schon in Ordnung. Setz dich. Wir haben viel zu besprechen“, brummte sie unwirsch und erhob sich. „Meine Damen und Herren, wir…“

„Nicht so eilig, Cousinchen.“ Ich trat neben sie und legte eine Hand auf ihren linken Unterarm. „Bevor wir zum Tagesgeschäft kommen, möchte ich gerne eine Idee diskutieren lassen, die ich noch nicht ansprechen konnte, seit ich wieder hier bin. Makoto?“

„Ich höre dir aufmerksam zu, Akira.“

„Sind die Felder abgeerntet? Du weißt schon, die, auf denen wir die Anelph auf den Podesten mit einem Resonator eingefroren haben.“

„Zufälligerweise weiß ich, dass sie abgeerntet wurden.“

„Gut. Wir installieren an dieser Stelle das neue Paradies der Daima und Daina.“

„WAS?“

Aufgeregtes raunen ging durch den Konferenzraum. „Du willst den Core in der AURORA aufbauen?“

„Langsam, langsam, das wird keine Einrichtung für immer und ewig. Aber der Core funktioniert nur dann wirklich gut, wenn er seine volle Kapazität hat. Und die hat er nur, wenn die Biotanks voll vernetzt sind. Sobald wir eine schöne, sichere, oder abgelegene Welt gefunden haben, auf der wir die Core-Zentralwelt etablieren können, werden wir alles wieder abbauen.“

„Warum sollten wir unseren Gegnern helfen?“, meldete sich Kei Takahara zu Wort. „Ich meine, Hey, die AURORA hatte ein paar unliebsame Treffen mit den Raidern. Außerdem hätten sie über ihre Logodoboro-Agenten beinahe Daness und Arogad in einen Bürgerkrieg gestürzt, der vielleicht das ganze Imperium der Naguad vernichtet hätte. Von all dem Ärger mal abgesehen, den wir auf der Erde über Jahrhunderte mit Core-Agenten hatten! Ich bitte dich, Akira, warum sollten wir so etwas tun?“

„Weil ich es sage?“

„Entschuldige, wenn ich als dein Freund dir das sagen muss, aber hast du dir nicht mal Gedanken darüber gemacht, dass du während deiner Zeit im Paradies manipuliert worden bist?“

„Oh, sie haben mich manipuliert“, gab ich zu. „Sie haben mich mal alleine, mal mit Laysan durch ein halbes Dutzend virtueller Träume gejagt, in denen ich mal mehr und mal weniger erfolgreich um mein Leben kämpfen musste. In dieser Zeit haben sie versucht, mich gegen den Liberty-Virus einzunehmen. Haben wir zu diesem Themenkomplex Daten oder hört ihr das Wort zum ersten Mal? Wir sollten Okame und Kitsune dazu befragen.“

Ich sah in erschrockene Gesichter. „Kommt, Leute, ich gebe zu, diese Manipulation hat funktioniert. Aber nur insoweit, dass ich den Core nicht automatisch als Gegner angesehen habe. Verdammt, bevor mir Oren davon erzählt hat, wusste ich nicht mal was von ihm. Und gegen ihn kämpfen musste ich auch noch nie. Wenn man mal von der Drohnentechnologie absieht, die die Kronosianer eingesetzt haben.“

„Können wir nicht einfach sagen: Siehe da, Akira ist wieder in seinem Körper, lasst uns unsere Sachen packen und nach Hause fliegen!?“

„Nein.“

Müde rieb sich Kei sein Kinn. „Irgendwie wusste ich das.“

„Herrschaften, die Lage ist viel zu ernst, als dass wir uns lange um diesen Punkt streiten könnten. Wir haben einen neuen Gegner, und der ist gefährlicher als alle anderen zusammen. Der Ausbruch der Logodoboro und ihr Versuch, ein eigenes Reich zu gründen – vernachlässigbar.

Der Bürgerkrieg im Kaiserreich und der Tod des Kaisers – eine Fußnote.

Die Rebellion der Anelph und der Ärger mit Haus Elwenfelt – Vergangenheit.

Herrschaften, wir reden hier von einer Macht, die von den alten Dai herausgefordert wurde und sie besiegt hat! Ihr könnt euch überhaupt nicht vorstellen, wie groß das alte Reich der Dai war, bevor der Bürgerkrieg zwischen Daima und Daina ausbrach. Ihr wisst nicht, welche Gegenkraft notwendig war, um sie zu vernichten. Und doch gab es diese Kraft, und sie existiert noch immer und ist schlimmstenfalls noch stärker geworden!

Während ich im Core gefangengehalten wurde – ja, gefangengehalten, ich habe keine Angst, der Realität ins Auge zu sehen – habe ich einige meiner Erfahrungen genutzt, die ich während meiner Zeit in einem Biocomputer gemacht habe. Es gelang mir, die Grundlage für tiefergreifende Ermittlungen zu schaffen, nachdem Aris, also die Herrin des Paradies, mir schon mit diversen Andeutungen wichtiges Wissen vermittelt hat. Als die Cores aufgebrochen sind, um die Grundlage für eine Rebellion gegen den Kaiser zu schaffen, stießen sie in ein wahres Wespennest vor. Genauer gesagt in das letzte Aufflackern von Dai-Widerstand gegen die Götter. Eine letzte große Strafaktion, in der es nur eine Randerscheinung war, dass sie besiegt, unterworfen und benutzt wurden. Ich weiß längst nicht alles, aber soviel ist mir bekannt: Die Erde ist das Zentrum eines einstmals mächtigen Reichs aus Abkömmlingen der Menschheit. Sie haben sich im Durchschnitt kugelförmig auf zweihundert Lichtjahre um die Erde ausgebreitet, einige weiter, einige näher. Dann brach der große Krieg aus, auf dessen Höhepunkt die Götter eingriffen und begannen, gezielt die Dai zu jagen und zu vernichten, die auf beiden Seiten kämpften.

Dieses Raumgebiet auf der kernwärtigen Seite, von der Erde aus gesehen, wird nun teilweise von den Naguad und den Iovar beherrscht. Hinzu kommen hier und da versprengte Zivilisationen von Daima und Daina, sofern sie den Krieg überlebt haben. Und natürlich war hier bis vor kurzem noch der Core als dritte Macht.

Auf der anderen Seite der Erde, über ihr, unter ihr, rechts und links, wenn Ihr mir dieses anschauliche Modell entschuldigt, wissen wir nichts über die Dai-Zivilisationen. Da wir aber bisher noch nicht auf eine getroffen sind, müssen wir davon ausgehen, dass in ihnen entweder noch immer Daima-Daina-Kriege toben oder die Strafaktionen erfolgreich waren und bis auf einige wenige Nationen die Nachfahren der Dai ausgelöscht wurden. Vielleicht gibt es auch dort ein, zwei Völker, die den Dai-Krieg vergessen haben und sich ähnlich expansiv ausbreiten wie Iovar und Naguad, aber letztendlich sind sie nur noch Schatten von dem, was von den Göttern angegriffen und vernichtet wurde.

Wir brauchen Informationen. Und wir brauchen Verbündete. Und das Wichtigste, wir brauchen Zeit! Zeit, die wir vor allem nutzen können, wenn wir die Götter im Unklaren darüber lassen, wohin ihre willfährigen Vasallen verschwunden sind. Wir wären dann in der Lage, das volle Potential des Cores zu nutzen, ohne ihn angreifbar zu machen, denn vergesst nicht, ich bin der oberste Kriegsherr des Cores.“

„Ist das überhaupt noch aktuell?“, murrte Makoto. „Oder wurdest du schon entlassen und weißt gar nichts davon?“

„Ich hoffe nicht. Denn die Rettung des Cores ist ein wichtiger Bestandteil des Plans zur Rettung der Menschheit. Zur Rettung aller Dai-Nachfahren in diesem Universum.“

Ich sah zu einem meiner wichtigsten Berater herüber. „Henry, ich habe einen Job für dich.“

Henry William Taylor, ehemaliger britischer Geheimagent, ehemaliger Legat und jetziger Gefolgsmann – von mir – nickte ernst. „Du willst sicherlich meine Recherchefähigkeiten nutzen.“

„Richtig. Ich will, dass du in einen Biotank kletterst und die virtuellen Archive durchsuchst. Was bei den Türmen geklappt hat, klappt so sicher auch. Ich weiß, dass der Core mir gegenüber keine Informationen zurückhält, aber viele Informationen sind falsch sortiert. Sie müssen von Experten gesucht werden. Stell ein Team zusammen und mach dich an die Arbeit, sobald der Biocomputer des Cores einsatzbereit ist.“

„Und was soll ich genau finden?“

Ich seufzte leise. „Habe ich das nicht erwähnt? Die Götter haben den letzten Dai-Widerstand in dieser Region zerschlagen, als der Core auf sie traf. Dabei hat der Core Menschen aufgenommen und Wissen assimiliert. Wissen, dass uns vielleicht im Kampf gegen die Götter hilft. Du wirst dieses uralte Wissen finden und auswerten. Außerdem will ich, dass du nach Daima suchst, die in dieser Zeit vom Core aufgenommen wurden. Ihr Wissen kann ebenso wichtig sein.“ Aufmunternd sah ich die Offiziere an. „Seid ihr immer noch gegen meine Entscheidung?“

Sakura seufzte ergeben und zuckte mit den Schultern. „Du hast schon dümmeres gemacht, Akira. Und diesmal hast du ja wenigstens deine Sakura-chan bei dir, die schon auf dich aufpassen wird. Also mach wie immer so wie du denkst.“

„Danke, Sakura-chan.“ Erleichtert wollte ich mich zurücksinken lassen.

„Aki-chan?“

„Kitsune-chan. Das trifft sich gut. Ich wollte dich ohnehin fragen, was du über den Liberty-Virus weißt.“

„Und ich wollte dir sagen, dass der Dauerkontakt zur Erde abgebrochen ist. Zur Erde, zum Mond, zum Mars, und damit auch zu allen Relais, die uns mit den Naguad verbinden. Und das, mein lieber Akira, liegt am Liberty-Virus.“

Ich blinzelte erstaunt, verlegen und begriffsstutzig. „Was, bitte?“

In diesem Moment stürmte ein Adjutant-Offizier in den Raum. „Admiral Ino! Wir haben Totalverlust der Kommunikation mit dem Sonnensystem!“

„Kitsune-chan“, sagte ich leise in den Tumult hinein, den die Anwesenden verursachten, „was bitte ist der Liberty-Virus?“

„Ich dachte schon, du würdest nie fragen, Aki-chan.“ Sie verwandelte sich in einen Fuchs und sprang auf meinen Schoß. Aus ihren großen Augen strahlte sie mich an. „Der Liberty-Virus ist unsere mächtigste Waffe. Und Dai-Kuzo-sama hat sie gegen die Erde, den Mond und den Mars eingesetzt, wie es scheint.“

In diesem Moment hätte man von einer Sekunde zur anderen eine Stecknadel fallen hören können.
 

2.

Es gab Momente in meinem Leben, die sich zu kleinen Ewigkeiten dehnten. Dies war ein solcher Moment. Ich erinnerte mich daran, wie Aris, also die Herrin des Paradies der Laysan und ich ihren Namen gegeben hatten, versucht hatte mir mit den Konstruktträumen, den virtuellen Scheinwelten eine negative Einstellung gegenüber dem Liberty-Virus einzupflanzen. Hatte sie damit Recht gehabt? Warum eine Waffe? Und warum hatte sie zwei Planeten und einen Mond vernichten können?

Andererseits, wenn ich mir Kitsune ansah, die vollkommen ruhig und unbeeindruckt blieb, dann konnte ich mir sicher sein, dass hinter all dem eine rationale Erklärung steckte.

„Also, was ist passiert, Kitsune-chan?“, fragte ich ernst. „Was hat es genau mit diesem Liberty-Virus auf sich?“

„Meldungen von der Erde“, mischte sich Makoto ein, „besagten, dass kurz vor der Vernichtung die Kronosier einen Generalangriff auf die Erde, den Mond und den Mars gestartet haben. Dieser war relativ erfolgreich. Die letzte Anweisung, die uns erreicht hat, war auf neue Befehle zu warten.“

Makoto sah von dem Ausdruck in seiner Hand auf. „Das ist der letzte Stand der Dinge. Danach brach die Verbindung ab.“

„Kitsune?“, fragte ich scharf.

Die Füchsin sprang von meinem Schoss und verwandelte sich in einen Menschen. Dazu erschuf sie sich eine Uniform. Keine UEMF-Uniform, keine Hausuniform der Naguad, nichts was ich im Kaiserreich kennen gelernt hatte. Ihre blütenweiße Uniform, bestehend aus hochgeschlossener Jacke und Röhrenhose und belegt mit blutroten Aufschlägen war mir weder von der Farbgebung noch vom Schnitt je untergekommen. „Dai-Kitsune-sama, bitte. Persönliche Beauftragte von Aidar Dai-Kuzo-sama.“ Ihr Blick war so ernst wie ich es bei der Dai noch nie erlebt hatte. Nun, nicht bierernst, eher überlegen ernst.

„Nun gut, Dai-Kitsune-sama, persönliche Beauftragte von Aidar Dai-Kuzo-sama, darf ich eine Antwort erhoffen?“, sagte ich ohne Spott in der Stimme, aber voller Förmlichkeit, die sie normalerweise dazu gebracht hätte sich wie unter Schmerzen zu winden.

Aus dem Nichts enstand ein blutroter, bodenlanger Umhang, der sich schmeichelnd um ihre Schultern schloss, die Brust aber frei ließ. Ihr Blick war noch immer ernst, aber ich glaubte den ersten Schalk in ihren Augen blitzen zu sehen. Auf jeden Fall machte die Uniform ganz schön war her – an einem ernsthaften Mann.

„Du darfst, Reyan.“ Sie sah in die Runde. „Jeder Reyan hat ein Recht auf die Beantwortung seiner Fragen.“

„Dann hätte ich eine: Was ist ein Reyan?“, fragte Kei.

„Tut mir Leid, Kei, du bist kein Reyan“, sagte sie mit einem mitfühlenden Ton in der Stimme. „Und du hast noch einen weiten Weg dahin vor dir, falls du dich jemals dazu entschließt, ihn einzugehen.“

„Aha. Hat Reyan sein etwas mit KI zu tun?“, fragte Yoshi.

„Ja, so könnte man es grob ausdrücken.“

„Aha. Yoshi ist also ein Reyan? Wieso wird er so bevorzugt? Sind Doitsu und Dai-chan auch Reyan, weil sie ihr KI beherrschen?“, maulte Kei.

Kitsune seufzte. „Ausnahmsweise werde ich darauf antworten, weil du ein Daina Oren bist, Kei. Doitsu ist ein Reyan, aber Dai-chan ist noch immer nur ein Daina Oren, genau wie du. Nur sehr viel mächtiger.“ Kitsune blinzelte für einen Moment. „Wenn man mal davon absieht, dass die ganze Begleitflotte der AURORA auf dich hört.“

Sie sah zu Sostre Daness herüber, doch der junge Naguad winkte unauffällig ab. Ich registrierte diese Geste mit Verwunderung.

„Was genau heißt es also, ein Reyan zu sein? Ist das eine Vorstufe zum Dai?“, warf Doitsu ein. Sein Gesicht wirkte gefasst, aber seine Stimme zitterte, während er die Brille wieder die Nase hinaufschob und weiter fragte: „Bin ich auf der Stufe zum Dai? Ist Akira auf der Stufe zum Dai?“

„Nein“, sagte Kitsune geradeheraus. „Außerdem kommen wir vom Weg ab. Macht sich denn keiner hier Sorgen um die Solaren Planeten Mars, Mond und Erde? Glaubt denn keiner daran, dass sie zerstört wurde?“

„Ich glaube, die sind alle nur von deinen Klamotten geblendet“, murmelte ich leise. Tatsächlich hatte die Dämonin nicht nur die bewundernden Blicke der Slayer auf ihrer Seite.

„Nein, eigentlich glaubt keiner hier, dass der Liberty-Virus, wenn er denn eine Waffe ist, dazu eingesetzt wurde, die drei Welten zu zerstören“, warf Aris Taral, mein Großonkel, ein. „Immerhin wissen wir von den West End-Dai, dass der Liberty-Virus essentiell dafür ist, eine Daimon stabil zu halten. Wie eine Daimon aber eine ganze Welt umschließen soll, ja sogar drei, ist ein Thema für sich und schließt das Waffenthema nicht aus. Liege ich soweit richtig, Dai-Kitsune-sama?“

„Du bist auf dem richtigen Weg, Reyan Oren“, erwiderte Kitsune förmlich.

„Reyan Oren? Heißt das er ist ranghöher als ich oder Akira?“, warf Doitsu ein. „Ist das fair? Was ist dann Yoshis Opa? Ein Reyan Oren Oren Oren?“

„Richtig, Aris Taral ist… ranghöher trifft es nicht. Sagen wir einfach, er ist schon weiter als ihr es seid. Allerdings hat er auch ein Ziel im Leben. Im Moment ist er davon weiter entfernt als je zuvor, aber er hat ja auch noch tausende Jahre Zeit, um es zu erreichen.“ Kitsune sah den alten Mann tadelnd an. „Kannst du nicht mal diese dämliche Maske abschalten? Das irritiert mich.“

„Wie du wünschst, Dai-Kitsune-sama.“

Ich wollte meinen Augen kaum trauen, als sich das Gesicht meines Großonkels veränderte. Das alte, furchige Gesicht, das von vierhundert Jahren Leben gezeichnet gewesen war, wechselte gegen das eines Zwanzigjährigen. Sein weißes Haar wurde tief schwarz. Und seine alte Stimme bekam den etwas helleren Klang eines Mannes weit vor seinen besten Jahren zurück. „Was guckt ihr so? Könnt ihr eins und eins nicht zusammen zählen? Das war eine Maske, so etwas wie eine KI-Rüstung. Als Attentäter der Arogad bin ich darauf trainiert, ständig eine Rüstung aufrecht zu erhalten. Und denkt nur nicht, dass ein so junger Großvater wie ich auf der Erde nicht auffallen würde wie ein besoffener Elefant in Roppongi.“

Sakura starrte ihn aus großen Augen an. „Opa, du siehst so GUT aus.“

„Danke. Das höre ich eigentlich eher selten“, gestand der alte – nun wieder junge – Mann.

„Heißt das, Michael und Eri und all die anderen…“, fragte ich mit stockender Stimme.

„Natürlich. Wir sind alle KI-Meister und haben absolute Kontrolle über unser Äußeres und über unsere Körperzellen. Das macht uns ja erst zu Reyan.“ Ein wenig wehmütig sah er Kitsune an. „Ich nehme an, Vortein ist jetzt noch mehr gebunden als zuvor?“

„Ja. Mehr als zuvor. Es tut mir Leid, Aris Taral.“

„Das muss es nicht. Es war unsere gemeinsame Entscheidung.“

„Sprecht nicht in Rätseln!“, tadelte ich. „Die Solaren Planeten wurden also in Daimon gehüllt? Sehe ich das richtig?“

„Ja. Sie existieren nun in Daimon. Es ist ein sehr aufwändiger und anfälliger Prozess, der leicht von außen gestört werden kann, gerade bei der Größe, welche die Daimon diesmal hatten erreichen müssen. Und um sie stabilisieren zu können, werden Unmengen an KI benötigt. Wir haben hoch gepokert, wenn du es so ausdrücken willst, Akira, und wir haben die Strafer der Götter lange genug getäuscht, um den Plan durchzuführen. Wir waren uns nie ganz sicher, ob und wann sie die Erde angreifen würden.“ Kitsune schwieg und sah sich aufmerksam um. „Vortein Arogad, oder wie Makoto und Sakura sie kennen, Vivian, lebt seit ein paar hundert Jahren in der eigentlichen Daimon, um die KI-Verwertung für die Daimon zu optimieren. Ihr und ihrem Team ist es zu verdanken, dass wir drei derart riesige Daimon aufbauen konnten. Aber ich will ehrlich sein. Sie werden nicht lange stabil sein. Wenn die Strafer massiv angreifen brechen sie noch schneller zusammen. Oder um es kurz zu machen, wir“-

„ADMIRAL INO! WIR HABEN WIEDER KONTAKT ZUR ERDE! EXECUTIVE COMMANDER OTOMO SPRICHT!“

„-haben bestenfalls ein Jahr Zeit um uns effektiv vorzubereiten.“

„Vorzubereiten auf was?“, hakte Yoshi nach.

„Auf den Versuch der Götter, uns letztendlich auszurotten“, antwortete Kitsune mit tonloser Stimme.

„Stellen Sie uns durch. Ich bin gespannt, was Onkel Eikichi zu sagen hat.“

***

Es war beruhigend, meinen Vater zu sehen. Auch Yohko schien das so zu empfinden, und wie ich mit einer gewissen Rührung feststellte, ließ es auch Akari, Michi, Megumi und die anderen nicht ungerührt.

„…befinden wir uns nun in drei gigantischen, untereinander verbundenen Schutzkokons, sogenannten Daimon. Es handelt sich hierbei um eine Hochtechnologie aus einer Zeit weit vor unserer Zivilisation. Sie ist extrem mächtig, braucht aber enorm viel Energie. Wir haben an diesen Sphären gearbeitet, seit die AURORA das erste Mal in Richtung Kanto-System aufgebrochen ist. Wir haben sehr viel verbessert, optimiert, aufpoliert. Aber noch immer bedeutet das für uns, dass wir die Sphären bestenfalls ein Jahr aufrecht erhalten können. Im Moment nehmen die Daimon Anteile am KI jedes lebenden Wesens auf Erde, Mond und Mars und erhalten damit die Daimon. Nach einem Jahr müssen wir mit den ersten Toten rechnen, ausgelaugt vom KI-Verlust. So weit darf es aber nicht kommen. Vor allem aber dürfen uns die Götter nicht angreifen, denn jeder Beschuss der Sphären wird unsere Energie weiter reduzieren und uns früher in den Kampf werfen als vorgesehen.“

„Die Core-Zivilisation!“, rief ich dazwischen und erntete einen irritierten Blick meines Vaters.

„Was, bitte?“

„Wir haben beschlossen, die Core-Zivilisation bei ihrer Flucht zu unterstützen und sie an Bord der AURORA aufzunehmen. Vater, es sind unzählige Bewusstseine, die meisten liegen seit Jahrtausenden in Biotanks, viele existieren nur noch als Gehirn oder reines Bewusstsein! Wenn wir diese geballte Menge KI-Energie in die drei neuen Daimons verbringen, wird das den Kollaps hinauszögern.“

„Und die Strafer der Götter werden der AURORA wie ein Rattenschwanz folgen und schnell herausfinden, was wir hier veranstaltet haben“, erwiderte Eikichi. „Vielleicht haben sie es zu dem Zeitpunkt schon, und die AURORA fliegt in eine riesige Falle. Es sind so viele Unsicherheiten in diesem Plan.“

„Es ist ja noch nicht mal ein Plan. Es ist eine Idee. Aber es ist den Versuch wert“, beharrte ich.

„Es wäre eine Lösung“, gestand Eikichi widerwillig ein. „Für ein paar Wochen, vielleicht Monate. Außerdem entspräche das unseren Notfallplänen, jetzt wo wir den Göttern wieder ins Auge gefallen sind und sie anscheinend aktiver werden.“

„Das bedeutet dann wohl auch, dass unser Kontakt mit der Erde ein Inoffizieller ist, oder? Nur für den Fall, dass sich die Götter täuschen ließen, müssen wir sie ja nicht mit Gewalt darauf stoßen, dass es die beiden Planeten und den Mond noch gibt“, warf Makoto mit beißendem Spott ein.

„Bis jetzt hat es geklappt. Außerdem haben wir schon Kontakt zu unseren verlässlichsten Verbündeten aufgenommen und sie über die Situation informiert..“

Aris Taral hob eine Hand. „Eikichi?“

„Oh, bist du das, Aris? Ohne KI-Rüstung hätte ich dich gar nicht erkannt.“

„Danke, das fasse ich als Kompliment auf. Wie sieht es aus mit der Lieferung für Naguad Prime?“

„Dai-Kuzo-sama ist einverstanden. Die Aidar entsendet ein Schiff ins Imperium. Die Beauftragte für das Projekt werden zu gleichen Teilen Agrial Logodoboro und Meisterin Tevell vom Orden sein.“

Aris atmete aus. „Dann werden wir auch bald auf Naguad Prime eine Daimon errichten können.“ Als er die fragenden Blicke der Anwesenden sah, winkte er ab. „Nur ein alter Plan von alten Leuten wie mir. Es tangiert euch Jungen fast gar nicht.“

„Fast“, argwöhnte ich und zog eine Augenbraue hoch. „Okay, können wir dann zu den Dingen zurückkehren, die uns ganz tangieren? Abgesehen von einigen neuen Begriffen, die wir gelernt haben, hat sich ja auch die Situation verschoben. Bis vor kurzem wussten wir nicht einmal, dass es die Götter gibt. Ihr anscheinend schon“, sagte ich ernst und sah Onkel Aris und Vater an.

Als beide verlegen fort sahen, knurrte ich halb belustigt, halb verärgert: „Wusste ich es doch.“

Ich rieb mir die Nasenwurzel mit beiden Händen. „Also, wenn ich hier was zu sagen habe, dann ist es essentiell, dass erstens die Götter nicht spitz kriegen, dass sie Freischüsse auf drei Daimon haben, und zweitens die neuen Sphären so gut es geht mit Energie zu versorgen, bevor sie entweder ihre Einwohner durch KI-Raub töten oder in sich zusammenfallen und damit den Göttern schutzlos ausgeliefert sind. Und dann haben wir hier noch eine unübersichtliche Situation im Kaiserreich und eine ganz ähnliche Geschichte im Imperium.“

„Die allerdings für die Götter irrelevant ist, sobald sie merken, dass ihr Handlanger, der Core, geflohen ist. Die Jagd auf den Core wird oberste Priorität haben“, warf Makoto ein.

Zwei Fliegen mit einer Klappe, ging es mir durch den Kopf. „Mako-chan, erinnere mich daran, deine Dienstakte mit dem Vermerk Genie zu versehen. Warum nehmen wir nicht den Core auf, spielen ein wenig fangen mit den Strafern, vernichten einen oder zwei und setzen uns dann zur Erde ab?“

„Worauf sie auch niemals kommen werden, oder?“, warf Mamoru Hatake missmutig ein. „Wenn wir zur Erde springen, wissen die Götter, was gespielt wird. Dann brauchen sie uns nur noch im Sonnensystem zu erwarten.“

„Guter Einwand. Kitsune, eine Frage: Wie weit springt ein durchschnittliches Raumschiff?“

„Reyan?“, fragte sie mit mahnender Stimme.

„Dai-Kitsune-sama“, verbesserte ich mich sofort.

„Schon besser. Dreißig Lichtjahre, plus minus drei Lichtjahre. Es hängt davon ab, wie gut die Anlagen gewartet sind, wie die Verhältnisse beim Absprung sind, wo sich das Wurmloch im Nachbarsystem verankert.“

„Wie weit sind wir von Andea Twin bis nach Kanto gesprungen?“, fragte ich mit einem breiten Grinsen.

„Hey, da hat uns aber die Druckwelle einer Kernfusion etwas geholfen, oder?“, meinte Kitsune mit gerunzelter Stirn. „Andererseits waren das gute fünfzig Lichtjahre.“

„Die wir von einer Position aus in Angriff genommen haben, die nicht optimal für einen Sprung ins Nachbarsystem war, oder? Was würde passieren, wenn wir von einer idealen Position springen und unsere KI-Meister einsetzen, um die Sprungenergie zu verstärken? Um das Wurmlich weiter zu strecken?“

„Nun, vierzig Lichtjahre müssten dann drin sein. Vielleicht mehr.“

„Und wäre es möglich“, fasste ich meine Gedanken zusammen, „dass die Strafer das erstens nicht wissen und zweitens nicht herausfinden? Wären wir dann nicht hoffnungslos verschwunden, wenn wir einen solchen Gewaltsprung hinter uns bringen?“

„Die Idee hat was“, meldete sich Okame zu Wort. Er legte den Kopf leicht schräg. „Bei der KI-Kraft die uns zur Verfügung steht… Optimale Entfernung… Oberflächenbeharrung der Raumzeit… Oh ja, die real laufende Zeit müssen wir auch berücksichtigen. Hm. Wir müssen das System umbauen, um die Energieausbeute zu erhöhen. Oder wir müssen einen Planeten von der Größe Jupiters in die nächste Sonne werfen und auf der Explosionswelle reisen.“

„Ich bin für Umbau!“, meldete sich Kei spontan zu Wort.

„Dafür!“, klang es überall am Tisch auf.

„Gut, dann ist es abgemacht. Wir nehmen den Core auf und schaffen ihn zur Erde. Aber vorher spielen wir ein wenig Hasch mich mit den Göttern. Arbeitest du einen hübschen Kurs aus, Sakura?“

„Kein Problem. Grobe Richtung?“

Ich grinste sardonisch. „Die Richtung, welche die Götter wohl am meisten fürchten: Das randwärtige Raumgebiet jenseits der Erde, jener Bereich, in dem noch Dutzende, Hunderte Daina- und Daima-Reiche existieren können.“

Spontan erklang Applaus von den Anwesenden. Etwas, was ich honorierte, indem ich aufstand und mich tief verbeugte.

Als der Applaus abgeebt war, setzte ich mich wieder. „Was uns zum Tagesgeschäft zurückbringt.“

„Apropos Tagesgeschäft. Reyan Akira Otomo“, klang Kitsunes Stimme direkt neben mir auf – und ich meine direkt! Ein kräftiger Ellenbogen legte sich um meinen Hals und riss mich von meinem Stuhl. Dann spürte ich, wie ich in äußerst unbequemer Haltung davon geschliffen wurde. „Kommst du, Okame-Opa?“

„Dir gebe ich gleich deinen Opa“, brummte der Wolfdämon. Während er sich von der Wand abstieß, griff er nach einem Schwert, das neben ihm gelehnt hatte.

Mein eigenes sah ich gerade aus den Augenwinkeln in Kitsunes Rechter. „Alles in Ordnung, alles in Ordnung“, sagte sie gerade beschwichtigend zu meinen Freunden und Untergebenen. „Akira und wir beide haben nur eine kleine Lehrstunde, die wir un-be-dingt einlegen müssen. Danke für euer Verständnis!“ Mit diesen Worten schloss sich die Tür hinter mir.

„Darf ich alleine gehen?“, fragte ich.

„Hast du mich alleine gehen lassen, damals im Andea Twin-System?“, tadelte sie.

„Nein.“ Ich fügte einen ergebenen Seufzer an.

„Gut, dass ich mehr Vertrauen in dich habe.“ Sie ließ mich los, ich landete auf meinem Hintern und hatte plötzlich mein Schwert auf dem Schoß. Okame hielt mir hilfreich eine Hand hin. Ich griff zu und ließ mich hoch ziehen. „Danke“, ächzte ich.

„Danke sagt man hinterher“, versetzte er und ging weiter.

Ich folgte den beiden – was blieb mir auch anderes übrig. „Wie darf ich das jetzt verstehen?“, rief ich ihnen hinterher, aber ich bekam wie erwartet keine Antwort.

***

Ich stand den beiden Dai direkt gegenüber. Okame gab sich unnahbar wie immer, nur Kitsune hatte ein Lächeln aufgesetzt, das man nur mit tückisch gleichsetzen konnte. Das war an sich nichts außergewöhnliches, wenn man mal davon absah, dass ich erstens dieses Lächeln nicht gewöhnt war und zweitens mitten auf dem Serenity-Meer stand, in dessen Mitte sich die Poseidon-Admiralität erhob.

Rund um uns, in einem Kreis von fünfzig Metern Durchmesser verhielt sich das Wasser wie… Wie Eis, ohne wirklich Eis zu sein. Der Untergrund war fest, aber wenn ich meinen Finger eintauchte, hafteten Wassertropfen daran. Ich ordnete dieses Phänomen unter KI-Beherrschung ein, ohne es wirklich zu verstehen.

„Zieh dein Schwert, Aki-chan“, sagte Kitsune eine Spur zu ernst für ihren Charakter.

Gehorsam zog ich das Katana blank und warf das Futteral hinter mich. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war lag es auf dem Wasser, es versank nicht.

Die beiden Daimon wechselten einen kurzen Blick. „Akira-tono. Es wird Zeit, dass du ein paar Fragen stellst“, begann Okame ernst, „und Antworten erhältst.“

„Fragen? Im Moment fällt mir nur eine ein. Warum bist du plötzlich so steif, Kitsune-chan?“

„Ähemm!“

„Dai-Kitsune-sama“, korrigierte ich mich.

„Das ist eine gute Frage.“ Für einen Moment lächelte der alte Wolf tatsächlich. „Sie führt uns nämlich zum Grund unseres Hierseins. Akira-tono, du bist als Ningen-Krieger weiter als die meisten anderen Reyan im uns bekannten Teil der Galaxis. Wir, das heißt Dai-Kuzo und die Dai, haben dein Potential schon früh erkannt. Und da du das Blut einer Dai in deinen Adern hast, da…“

„Moment Mal, Moment! Auszeit, Auszeit! Was wollt ihr mir hier weismachen? Dass ich nicht nur eine Mischung aus Naguad, Iovar und Mensch bin, sondern auch noch Dai unter meinen Vorfahren habe? Geht das nicht etwas zu weit?“

„Entschuldige bitte, Akira, wenn du dich lieber irgendwelchen Hirngespinsten ergeben willst, die dir besser gefallen, als dich der Realität zu stellen“, giftete Kitsune. „Sieh es ein. Eine deiner Vorfahren war eine Dai, und sie hat einen kleinen Teil ihres Blutes bis an dich und deine Schwester weiter gegeben. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann macht alles weitere keinen Sinn.“

„Oooookay, einverstanden. Ich nehme das jetzt einfach mal so hin. Ich bin also auch ein wenig Dai.“

„Falsch“, klang Okames Stimme scharf auf. „Du bist kein Dai. Du hast nur unser Blut.“

„Oh, ich vergaß. Dai können sich verwandeln.“

„Weil sie keine Körper in dem Sinne mehr haben. Du erinnerst dich was ich dir gesagt habe, als wir damals von der Titanen-Station hoch in den OLYMP fuhren, der vom Resonatortorpedo gelähmt worden war?“

Ich sah der Füchsin direkt in die Augen. „Dass ihr zwei aus einer Abart des KI besteht.“

„Richtig. Das ist die Voraussetzung, um ein Dai zu sein.“

„Ha! Dann war ich ja nahe dran, oder? Immerhin habe ich eine lange Zeit ohne meinen Körper verbracht!“

„Aber du hast die Verbindung nie abreißen lassen“, mahnte Kitsune. „Auf eine andere Weise hättest du Ai-chan auch sonst nie erreichen können.“

„Zugegeben“, murrte ich.

„Und du bist noch viel zu sehr körperlich, Akira-tono. Solltest du jemals ein Dai werden wollen, ist es noch ein weiter, ein zu weiter Weg. Na, vielleicht nicht zu weit. Höchstens von deiner engstirningen Sichtweise aus, mit der du im Moment die Zeit noch betrachtest.“

„Verstehe“, log ich.

„Tust du nicht“, kombinierte der Wolf messerscharf. Oh, manchmal hasste ich ihn wirklich.

Er sah mich ernster an als zuvor und sagte mit geradezu feierlicher Stimme: „Akira Otomo. Dai-Kuzo-sama setzt große Hoffnungen in dich. Um nicht zu sagen, sie bürdet dir die Rettung aller Daina- und Daima-Zivilisationen auf, die es in diesem Universum gibt.“

„War ja klar. Warum habe ich das nicht schon erwartet?“, erwiderte ich. Plötzlich brummte mir der Schädel. Wieso eigentlich immer ich?

„Und damit du dieses Ziel auch erreichen kannst, hat Dai-Kuzo-sama beschlossen, Futabe-sensei von deiner Ausbildung zu entbinden. Ab hier übernimmt der größte Krieger der Daimon der Erde deine Ausbildung. Du wirst mit ihm Schwertkampf trainieren.“ Der Blick von Okame wurde böse. „Du hast Kendo trainiert und einen eigenen, interessanten Schwertstil entwickelt, aber vom Rang eines Schwertmeisters bist du noch weit entfernt. Geschweige denn von einer fokussierten Nutzung deines KIs mit dem Schwert.“

„Moment, heißt das, ich trainiere hier Schwertkampf mit dir, Okame-tono, und kann dadurch mein KI besser beherrschen?“

„Nein und ja.“

„Wieso nein und ja?“

„Ja, deine KI-Nutzung wird sehr viel besser sein. Und du wirst die KI-Beherrschung in Zukunft bitter brauchen. Nein, nicht ich werde mit dir trainieren. Es gibt einen besseren als mich an Bord der AURORA.“

Ich war versucht mich auf der fünfzig Meter durchmessenden Scheibe umzusehen, um nach einer vierten Person Ausschau zu halten. Wenn es nicht Arno Futabe war, dann vielleicht Sakura. Oder Opa Michael. War Torum Acati doch mitgekommen? Oder gab es einen Dai an Bord, den ich noch nicht kannte?“

„ÄHEMM!“, rief Kitsune, und automatisch sah ich zu ihr zurück.

„Darf ich vorstellen“, sagte Okame ohne jede Spur von Spott: „Dai-Kitsune-sama, Heerführerin der terranischen Daimon, oberste Kriegerin und Erste Schwertmeisterin. Sie ist die oberste Dai Oren unseres Staates.“

Kitsune reckte sich stolz in ihrer Uniform; ich hingegen fühlte, wie mir die Kinnlade immer mehr herabsackte. Kitsune? Kitsune-chan? WAS? Ich hatte für ein paar endlos lange Augenblicke das unstillbare Verlangen, in den Konferenzraum zurück zu stürmen und Vaters Abbild auf der Videowand anzubrüllen, bis mich spastische Lähmungen auf den Boden treiben würden. Warum Kitsune-chan?

„Mund zu, Akira, sonst siedeln sich Fliegen an“, murrte Kitsune. „Ist es so unwahrscheinlich, dass ich die Oberste Kriegsherrin der Dai bin?“

„Ki… Ki… Ki-kitsune-chan…“ Ich dachte an tausend Gelegenheiten zurück, in der ich sie erlebt hatte. Damals in Dai-Kuzos Wald bei unserer ersten Begegnung – obwohl ich längst nicht mehr ausschloss, dass wir uns schon zuvor begegnet waren – während der Zeit auf dem eingefrorenen OLYMP, damals als sie sich auf der GRAF SPEE andauernd in Fuchsgestalt in mein Bett geschlichen hatte, während der Kämpfe auf dem Mars, bei der ersten Expedition der AURORA, wie sie versucht hatte, die zerstörte Dämonenwelt auf Lorania zu infiltrieren, und, und, und… Ein hübsches, liebes, sanftes Mädchen mit Hang zu derben Späßen, zufällig unsterblich und in der Lage sich in einen Fuchs zu verwandeln, ein Kumpel von einem Mensch und an Lebensfreude nicht zu überbieten… All das sah ich vor mir und begriff es dennoch nicht. War das, was da vor mir stand, immer noch Kitsune, meine Kitsune? Die gleiche Frau, die mich so gerne neckte? Ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Dann war alles schwarz.
 

Wie aus weiter Ferne drangen Stimmen an meine Ohren. Es war als würden sie durch meterdicke Watte gesprochen werden. Dann hüllte mich übergangslos Wärme ein.

„…zu schnell zu viel erzählt, sage ich dir!“

„…Quatsch. Es ist die Rückführung in seinem Körper. Ein Kollaps, bestehend aus einem Konflikt aus seinem Kern-KI und dem frisch geschmiedeten KI in seinem Körper. Es war doch klar, dass er den Ausgleich nicht alleine herbeiführen kann.“

„Ich dachte, er, ausgerechnet er würde nicht deswegen zusammenbrechen und es alleine lernen.“

„Ha. Und das ausgerechnet von dir, wo du ihn sonst immer so verhätschelst und verwöhnst.“

Müde öffnete ich die Augen. Auf meiner Brust lagen zwei Hände, die unter schneeweißem KI aufglühten. Ich begriff. Ich bekam KI von außen, damit mein eigenes KI wieder in den Rhythmus kam. „Da-danke, Kitsune-chan. Es geht schon wieder.“

Begleitet von einem unwirschen Knurren verschwanden die Hände wieder von meiner Brust.

Dann erschien Kitsunes niedliches, besorgtes Gesicht über mir. „Das war ich nicht. Das war Okame. Er ist unser oberster KI-Lehrer und Ausbilder der Heiler.“

Ich sah zu Okame herüber, dem die Situation sichtlich peinlich war. „Danke.“

„Schon gut, Akira-tono. Wir sind schließlich beide Soldaten.“ Damit war das Thema für ihn abgehakt.

„Da kam wohl zu viel auf einmal. Erst der ganze Stress und dann will die gute Kitsune auch noch ne Extrawurst und Extrazeit mit Aki-chan… Kein Wunder, dass du zusammenbrichst.“

Übergangslos hing sie mir am Hals und warf mich schwungvoll wieder auf den Rücken. „Aber das ist eine so süüüüße Seite an dir, Aki-chan, ich könnte dich knuddeln, knuddeln, knuddeln bis ans Ende aller Zeiten! Du bist so niedlich, ich kann es kaum fassen.“

Ich lachte rau auf. Okay, diese Kitsune kannte ich. Und die war mir viel lieber als die steife Variante. „Ich liebe dich auch“, bemerkte ich mit der säuerlichsten Stimme, die ich hinbekam.

„Aber das weiß ich doch“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und drückte mir einen großen, feuchten Schmatzer auf die Lippen. Mit einem Kuss hatte das wenig zu tun, aber eine Menge mit einem Liebesbeweis.

Endlich ließ sie mich los, und Okame half mir auf die Beine.

„Geht es wieder?“, fragte der Wolf besorgt. Ehrlich, so erlebte ich den – wie nannte ihn Kitsune manchmal? – alten Griesgram das erste Mal.

„Na, na, du wirst doch nicht etwa ein verstecktes Faible für Aki-chan haben?“, tadelte Kitsune grinsend.

Die Miene des großen grauhaarigen Mannes wurde starr. „Ein Faible? Für einen gewöhnlichen, kurzlebigen, schwachen Menschen?“

Kitsune kniff den großen Dai in den Bauch. „Na? Na?“

„Ist ja gut! Ein klein wenig, vielleicht.“

Irritiert sah ich Okame an. Auch DAS hatte ich bisher noch nicht erlebt.

„Wenn du wieder sicher auf beiden Beinen stehst, wollen wir dann zur ersten Lektion kommen, Aki-chan?“ Sie deutete auf mein Katana, das zu meinen Füßen auf dem Boden lag. Oder vielmehr auf dem Wasser. Oder dem was auch immer ich gerade stand.

Seufzend bückte ich mich danach, bekam keinen Schwindelanfall und konnte mich auch problemlos wieder erheben. Soweit, so gut.

Kitsune lächelte hintergründig, während Okame im eigenen Saft schmorte. Sie ging ein paar Schritte und winkte dem Wolf zu. Der warf ihr die Klinge zu, die er aus Poseidon mitgebracht hatte. Sie fing die schlanke Klinge auf und zog sie blank. Auf dem ersten Blick sah sie aus wie ein Florett, aber dann bemerkte ich die Unterschiede. Es war eher ein Rapier, ein Sportrapier, weniger die klobigen Dinger, die man in der christlichen Seefahrt recht unchristlich eingesetzt hatte. Es gab ein paar frappierende Unterschiede – selbstleuchtende Rubine hatten jedenfalls am Handschutz eines Sportrapiers nichts verloren – aber alles in allem war es eine schwache, dünne Klinge, die ich mit einem Hieb meines Katanas durchtrennen konnte. Wenn nicht eine Dai die Waffe gehalten hätte.

Sie winkte mich heran. „Greif mich an, Akira. Mit allem, was du hast.“
 

Sekunden darauf hockte ich auf den Knien. Flehentlich sah ich Kitsune an. „Kitsune-chan, es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid!“

Fast zwanzig Meter hinter mir steckte ihr Rapier im Wasser, fast bis zum Heft verschwunden. So weit war es geflogen, nachdem ich es ihr aus der Hand geschlagen hatte.

Kitsune selbst schien untröstlich zu sein, so wie sie wie ein Häufchen Elend auf dem Wasser hockte und Rotz und Wasser heulte.

Okame versuchte das beste um sie zu trösten, aber das schien unmöglich. Und sein böser Blick sprach Bände.

Langsam kam ich auf die Beine. Kitsunes Tränen schienen sie schwer wie Blei zu machen, schienen mich wieder niederstürzen lassen wollen. Aber das ließ ich nicht zu. Ich straffte mich, reckte mich und stand dann aufrecht genug. Dennoch fiel mir jeder einzelne Schritt in Richtung der Dai schwer.

„Kitsune-chan, es tut mir Leid. Du warst noch nicht bereit, als ich angegriffen habe und...“

Übergangslos versiegte der Strom der Tränen. Sie sah mich an, und nach und nach schlich sich ein triumphierendes Grinsen auf ihre Züge. „Na, was habe ich dir gesagt, alter Wolf? Akira schafft das!“ Sie erhob sich, warf sich in Pose und lachte hinter vorgehaltener Hand. „Mein Schüler! Hörst du, mein Schüler! Beim ersten Versuch!“

Ehrlich gesagt verstand ich gerade überhaupt nichts, vor allem nicht ihre Stimmungsschwankungen.

Kitsune wandte sich mir zu, machte eine Geste mit der rechten Hand, die mir sanft über die Stirn strich und langte mit der Linken nach ihrem Schwert, das wie von Geisterhand heran geschossen kam und sich in ihren Griff schmiegte.

Übergangslos fühlte ich die Schwere von mir abfallen. Ich fühlte mich geradezu leicht. Oh.

Einen Augenblick darauf hatte ich begriffen. Nicht der Schwertangriff war Teil der Lehrstunde gewesen, sondern die Schwere zu überwinden.

„Respekt“, murmelte Kitsune anerkennend. „Du hast die KI-Blockade gleich beim ersten Versuch zurückgedrängt. Du bist schon sehr stark geworden. Das muss an deiner Zeit im Core und in Laysans Körper liegen.“

Ihr Lächeln wurde sardonisch, als sie die Waffe in die rechte Hand wechselte und sie von ihrem eigenen KI hellrot aufglühen ließ. „Gut, das spart uns einen halben Tag. Kommen wir zur nächsten Lektion. Bist du bereit?“

Hastig wich ich einen Schritt zurück, riss meine Waffe hoch und umspülte das Blatt mit meinem KI. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich die verfeinerte KI-Kontrolle nicht nur mit dem Schwert würde lernen müssen.
 

3.

„Das ist die genaue Lage, meine Damen und Herren“, schloß Eikichi Otomo seine Rede.

Ohne eine Miene zu verziehen wartete er die Reaktionen der Konferenzteilnehmer ab, egal ob sie im größten Konferenzsaal des OLYMP anwesend oder per Bildverbindung zugeschaltet waren.

Sein Blick ging über fünfhundert Diplomaten der Erde und des Mars im größten Besprechungsraum der gigantischen Orbitalstation, weitere hunderte waren per Wurmlochkommunikation zugeschaltet worden. Unter ihnen Admiral Nasahari, Kommandeur der Außenflotte sowie führende Köpfe der Naguad.

Die Menschen, Kronosier und Anelph sagten nichts. Kein Wunder. Wenn er selbst so plötzlich mit dem nahen Tod konfrontiert sein würde, wie er dies bei all den Vertretern der Menschheit getan hatte, dann wäre er sicherlich auch erstarrt gewesen.

„Und diese Daimon bietet uns einen sicheren Schutz?“, fragte Präsident Wilson vorsichtig, einer von einhundertsiebzehn Staatschefs im Saal. Man hatte ihn zwar von einem kronosianischen Kommando herschleifen lassen müssen, aber die Konferenz war sicherlich weder zu seinem Schaden noch zum Schaden seines Volkes gewesen. Im Gegenteil. Vieles war nun offensichtlich, nein, offensichtlicher geworden.

„Die Daimon wird uns, der Erde, dem Mars und dem Mond, ungefähr ein Jahr Schutz bieten, solange die Götter nicht auf die Idee kommen, auf unsere vermutliche Position zu schießen. Wir haben zu wenige Dai, um die vom Liberty-Virus aufgebaute Sperre lang genug effektiv genug aufrecht zu erhalten. Wir sind auf das KI angewiesen, das von den normalen Menschen emissiert wird, und normalerweise ungenutzt in der Umgebung verschwindet.“

„Was ist, wenn dieses Jahr um ist?“

„Dann, Präsident Wilson, sind wir entweder Sieger oder besiegt. Und besiegt bedeutet in diesem Fall tot.

Die Erde als ehemaliger Sitz des Kernreichs der Dai ist vor allem deswegen geschont worden, weil die Götter nicht sicher sein konnten, was die Dai auf ihr verborgen haben. Sie waren vorsichtig. Aber als sich für uns die Notwendigkeit ergeben hat, uns zu verstecken, haben wir auch unsere Schwäche zugegeben. Bitte, Bundeskanzler Schreiner.“

„Wir verstehen das Dilemma der Dai. Aber lassen Sie mich Advocato Diabolis sein: Was haben wir damit zu tun? Warum müssen wir etwas ausbaden, was die Dai vor fünfzigtausend Jahren in den Sand gesetzt haben? Dies ist nicht wirklich meine Meinung, aber im Interesse der Europäischen Union muss ich es aussprechen, Direktor Otomo.“

„Sie haben mein vollstes Verständnis für Ihre Seelenlage, Herr Bundeskanzler. Nun, einmal davon abgesehen, dass wir alle Nachfahren der Dai sind und die Götter nicht darin unterscheiden werden, wer sich den Dai verbunden fühlt und wer nicht: Die Strafer der Götter werden alles eliminieren, was sie als offene Bedrohung ansehen. In unserem Fall bedeutet das, dass wir, die Menschen der Erde, als potentielle Dai eine Bedrohung darstellen, die ausradiert werden wird, sobald die primäre Bedrohung durch die Dai selbst ausgeschaltet ist.“

„Wir hängen also drin, egal was wir tun“, sagte der Bundeskanzler grimmig, und Otomo sah die Goldene Brücke, die ihm gerade gebaut worden war.

„Das sehen Sie richtig, Herr Bundeskanzler. Es geht nicht um Ansichten, um Philosophien, nicht um Regierungsformen. Es geht nur um Abstammung. Es geht einfach darum, dass wir SIND. Wir können nichts dafür und wir können auch nichts dagegen tun. Es ist einfach so. Es gibt uns, wir stören, also werden wir ausradiert. Gerade wir Menschen sollten in einer solchen Einstellung die Gedanken unserer Vorfahren wiedererkennen. Es gibt genügend Beispiele, in denen Menschen einander ausgerottet haben, weil der andere einer anderen Kultur, einem anderen Glauben oder einfach einer anderen genetischen Linie der Menschheit angehört hat. Wir haben eine blutige Vergangenheit, und ebenso ist die Vergangenheit der Götter blutig, von Ignoranz geprägt und von der Verachtung des göttlichen Geschenks des Lebens. Die Götter könnten fast Menschen sein, wenn sie mir etwas Ironie gestatten.“

„Und was“, fragte Premier Saratov aufgeregt, „tun wir, während die Götter uns hoffentlich für ein Jahr in Ruhe lassen?“

„Wir werden uns vorbereiten. Wir werden versuchen, die Daimon weiter zu stabilisieren. Wir werden versuchen, unsere Streitkräfte für den Tag zusammen zu ziehen, an dem sich die Götter nicht mehr täuschen lassen. Wir alle, die wir die Verantwortung für die Menschen übernommen haben, denen wir nun vorstehen, werden in den Krieg ziehen, damit jene, die wir das normale Volk nennen, weiterhin eine friedvolle Zukunft haben.“

„Und wie bereiten wir uns vor?“

„Dazu möchte ich Dai-Kuzo-sama auf die Bühne bitten. Sie ist eine Daimon… Ich meine, sie ist die älteste Dai auf der Erde. Sie wird einiges zu den Vorbereitungen sagen.“
 

Eikichi wechselte den Platz mit der großen Frau mit den langen schwarzen Haaren, die wie Seide glänzten. Die Frau in dem weißen, bodenlangen Kleid schimmerte wie ein Diamant. Des Effektes Willen hatte sie ihre KI-Aura sichtbar gemacht.

„Meine Damen und Herren, ich bin Dai-Kuzo-sama, die Herrin der Daimon. Und die letzte Kriegerin, die aus dem Konflikt mit den Göttern überlebt hat, soweit ich das beurteilen kann.

Ich werde Ihnen nun sagen, wie die Vorbereitungen aussehen, die wir treffen werden. Viele von ihnen kennen bereits Juichiro Torah, den sogenannten Magier. Er wird als Hauptverursacher sogenannten KI-Raubs angesehen, dass bei den Opfern Ermattung bis hin zum Koma geführt hat. Seine Erfahrungen machen ihn zum Spezialisten für optimale KI-Verwertung, die wir in Zukunft brauchen werden, um drei riesige Daimon stabil zu halten. Doch diesmal wird, aufbauend auf seine vierhundert Jahre Erfahrung, lediglich das freie KI aufgesogen werden, welches die Menschen, Pflanzen und Tiere emissieren, welches sie ohnehin verlieren würden. Dies ist jedoch so immens viel, dass es vielleicht reicht, um die Daimon selbst bei einem Angriff stabil zu halten.“

Dai-Kuzo-sama schnippte mit den Fingern. Neben ihr entstand aus dem Nichts ein Wirbelwind, und aus diesem Wind schälte sich ein weißer Hund hervor. Das Tier wirkte freundlich, friedlich und intelligent.

„Dieses Tier ist ein KI-Biest. Es besteht aus freiem KI, das mit einem gewissen Eigenintellekt versehen wurde. Dieses KI-Biest ist wie ein Magnet für freies KI. Das ist seine einzige Aufgabe. Wir werden KI-Biester in den Metropolen umher wandern lassen, um das freiwerdende verschwendete KI zu ernten und dem Liberty-Virus zur Verfügung zu stellen. Die KI-Biester werden keinem Menschen KI entziehen, falls sie das befürchten. Dazu sind sie gar nicht in der Lage. Sie haben nicht mehr Verstand als ein treuer Hund, und Angriffswille ist ihnen absolut fremd. Wir werden weitere KI-Biester erschaffen und diese auf dem Mond und dem Mars einsetzen, um auch jene Daimon stabil zu halten. Des Weiteren werden in nächster Zeit drei weitere Daimon erschaffen werden. Im Nag-System werden die Welten Naguad Prime, Daness und Arogad mit dem Liberty-Virus kontaminiert werden; anschließend werden auch dort KI-Biester ausgesetzt werden, um das Zentrum des Naguad-Imperiums vor einem Angriff sicher zu machen. Ähnliche Maßnahmen planen wir für alle Planeten mit eigener Daimon.“

Die große Spinne sah in die Runde. „Was unsere Vorbereitungen angeht… Wir können uns nur aufrüsten. Die Bewaffnung, die Defensiv-Fähigkeiten und die Technik der Strafer ist statisch. Sie hat sich in fünfzigtausend Jahren nicht verändert, und soweit wir dies feststellen konnten sind auch neu gebaute Strafer auf dem gleichen Techniklevel wie vor fünfzigtausend Jahren. Die Technik der Götter stagniert. Sie stagniert, weil die Götter ausgerottet wurden.“

Aufgeregtes Geraune antwortete ihr.

Dai-Kuzo-sama hob beide Arme. „Ich selbst“, begann sie, „habe als ich jung war, ein Selbstmordkommando auf die Hauptwelt der Götter angeführt und dieses Volk bis zum letzten Individuum ausgerottet. Dies erschien uns damals die einzige Möglichkeit zu sein, den schrecklichen Vernichtungskrieg zu beenden, den sie gegen uns geführt haben.

Unser Erfolg ist zweifelhaft, denn die Strafer agieren immer noch, wie wir an den Verwüstungen auf West End und auf Iotan sehen konnten. Zwar wird die Vernichtung nicht mehr so effizient durchgeführt, ihr fehlt das Esprit eines abstrakt denkenden organischen Wesens, aber sie existiert noch immer und wird uns davon fegen, wenn wir jetzt nicht alle zusammen stehen. Damals konnten wir die Götter stoppen, zu einem horrenden Preis und zum Preis der Seele der Dai, die damals dieses furchtbare Massaker angerichtet hatten. Es hat Milliarden Daina und Daima gerettet, wenn auch nur für den Moment. Aber es war nur eine Atempause, genügend Zeit um die Daimon zu erschaffen, den Strafern ihren Hauptfeind fort zu nehmen. Zeit zu erkaufen, um vielleicht irgendwann einmal diese Bedrohung doch noch auszulöschen, bevor sie uns vernichtet.“

„Wollen Sie damit sagen, wir kämpfen gegen eine Robotzivilisation? Eine selbst erhaltende Technik, die übrig geblieben ist, nachdem die Götter getötet wurden?“

„Nein, das wäre zu einfach. Wir kämpfen nicht nur gegen die Technik der Götter.“ Dai-Kuzo-sama senkte den Blick. „Wir kämpfen gegen ihre Kinder.“

***

Mit einem deutlichen Gefühl der Verärgerung sah Makoto Ino auf den kleinen Vorplatz der Poseidon-Flottenzentrale herab, auf der er selbst vor über einem Jahr noch persönlich gegen die KI-Meister unter Torum Acati gekämpft hatte. Nun war er ein riesiger Picknick-Platz geworden. Es fehlte nur noch, dass ein paar gewiefte Händler vorbei kamen und heiße Würstchen und Getränke verkauften. „Will hier denn niemand mehr arbeiten?“, fauchte Makoto wütend.

„Na, na“, tadelte seine Schwester und nahm einen Schluck aus ihrem Teebecher. „Willst du nicht erstmal etwas trinken, um ruhiger zu werden?“

„Ru-ruhiger? Während um mich herum Anarchie herrscht? Ich BITTE dich! Das ist eine vollkommen unprofessionelle, einem UEMF-Offizier unwürdige Arbeitsweise! Wir…“ Mako riss die Augen auf. „Du auch hier, Sakura?“

„Ich habe Pause“, rechtfertigte sich die Oberbefehlshaberin der AURORA-Mission. „Außerdem ist das Schauspiel so interessant.“

Sie deutete auf die glatte Wasserfläche draußen auf dem Serenity-Meer auf dem drei einsame Gestalten standen und Schwertkampf trainierten.

Nun, zumindest das, was sie zu Schwertkampf erklärt hatten, denn die Kampftaktiken, die sie nun schon seit drei Tagen übten hatten mit einem Schwerterkampf nur bedingt zu tun. Es war mehr Schwertkampftraining mit Bogenschützenunterricht und Ausbildung im Panzer fahren auf einmal.

Aufgeregtes Gemurmel der Anwesenden erklang, als Akira Otomo, einer der Kämpfenden, plötzlich seine Gestalt verlor. Übergangslos stand an seiner Stelle eine etwa vier Meter große Rüstung, die entfernt an einen Ritter des Mittelalters erinnerte, jedoch um einiges flexibler war.

„Eine wirklich nette AO-Rüstung“, bemerkte Aris, die Herrin des Paradies, die bei Sakura saß und Tee trank. „Der ist aber lecker. Wo kommt der her?“

Sakura lächelte mütterlich. „Wir ziehen ihn selbst auf der AURORA. Dort oben am Rand, wo der holographische Himmel beginnt ist die Luft genau richtig für diese Sorte Tee. Wir haben auf den Vorsprüngen Beete angelegt. Ursprünglich kommt der Tee aus Nepal, einem Staat im Hochgebirge Himalayah.“

„Wow. Ob ich das mal sehen werde? Den Tee hier und im Hochgebirge?“ Mit großen, staunenden Augen musterte Aris – nein, eigentlich der KI-Container – den holographischen Himmel. Indessen stürzte sich die riesige Rüstung mit erstaunlicher Agilität auf Kitsune und trieb sie mit einem Hieb des Schwertes meterweit davon. Die Füchsin flog durch die Luft, schlug mehrere Salti und landete schließlich auf einer Hand und zwei Beinen, während sie meterweit davon schlitterte. Wütend fixierte sie die Rüstung Akiras und sprang voran. Aus dem Menschen wurde ein riesiger Fuchs, jede einzelne Klaue wurde nun zu einem ultrascharfen Schwert und die Fänge blitzten wie frisch geschliffene Dolche in der Sonne.

Derart gewappnet stürzte sie auf die Rüstung, grub ihre Pranken tief in das Material und biss den Kopf ab. Unter ihren Zähnen zerbarst das Material.

Erschrocken riefen die Zuschauer durcheinander.

Dann gab es eine Explosion; Sekundenlang konnte man gar nichts erkennen. Als sich der Rauch gelichtet hatte, konnte man einen schwer atmenden Akira Otomo sehen, der halb auf dem Boden hockte und sich auf sein Schwert gestützt hatte. An der alten Stelle stand eine sichtlich wütende Kitsune. Ihr Haar war von der Explosion mitgenommen worden, ihr mittlerweile menschliches Gesicht war verrußt.

„Eine AO-Explosion. Akira ist ein großartiger Krieger“, stellte Aris mit Genugtuung fest.

„Es bestätigt nur meine Entscheidung, ihn zum obersten Kriegsherren zu machen.“

Sakura reichte der Herrin des Paradies eine Tüte mit Bonbons. „Willst du noch welche?“

„Darf ich denn? Sind diese süßen Dinger nicht kostbar?“, fragte sie erstaunt.

„In gewisser Weise ja. Aber du darfst dir ruhig noch welche nehmen.“

„Oh, danke!“ Mit ungeschickten Fingern griff sie nach einem Bolschen, wickelte ihn aus und stopfte ihn sich in den Mund. „Schade dass Kiali das nicht erleben kann. So eine Erfahrung wie schmecken hätte sie bestimmt gefreut.“ Aris seufzte. „Sie koordiniert den Abbau der letzten Städte. Bevor das nicht geschafft ist, will sie das Paradies nicht verlassen.“

„Sie hat noch elf Tage dafür“, stellte Makoto fest. Er seufzte und ließ sich neben den beiden Frauen nieder. „So, so. Ihr schaut euch also Akiras KI-Training an. Ist es denn so spannend?“

„Ich lerne was dabei“, sagte Sakura nur trocken, und ein eiskalter Schauer ging Mako über den Rücken. „N-nee-chan, du machst mir Angst.“

„Die macht mir Akira auch gerade.“

In diesem Moment stießen die Rüstung und der gewaltige Fuchs wieder zusammen. Ein Schwert hielt Klauen ab, während ein Arm die andere Klaue und die Schnauze fortdrängte. Doch damit war Kitsunes Repertoire noch nicht am Ende. Ihr Fuchsschwanz wuchs in die Länge, spaltete sich auf und vervielfältigte sich auf neun. Diese Schwänze griffen die Rüstung von mehreren Seiten an; Akira blieb nichts anderes übrig als auszuweichen und fortzuspringen.

Beide verwandelten sich zurück, und offensichtlich entspann sich ein erheblicher Disput zwischen Akira und Kitsune. Als Ergebnis griff Okame ein und versetzte Kitsune eine derbe Kopfnuss. Danach winkte der Dai herrisch in Richtung der Außenwand. Dort öffnete sich ein Schott, und ein Daishi Beta löste sich. Die gigantische Maschine landete direkt neben Akira, ging in die Hocke und öffnete ihr Cockpit.

Wieder wechselten Akira und Kitsune ein paar Worte, dann beeilte sich der KI-Meister, in den Mecha zu kommen.

„Ich werde verrückt. Akira tritt in Prime Lightning gegen Kitsune an!“, rief jemand.

„Ich bin auf das Ergebnis gespannt“, brummte Sakura. Ihr Gesicht lächelte, aber ihre Augen nicht.

***

„Wo ist nur Yoshi, wenn man ihn mal braucht?“, fluchte Doitsu Ataka herzhaft und warf seinen Phoenix aus der Bahn von gut zwanzig Raketen. Nachdem sie ihn passiert hatten, fixierte er sie einzeln und ließ das Raketenabwehrgeschütz in Aktion treten. Nicht, dass eine verirrte Rakete einen seiner Kameraden traf oder gar sie SENCER, der Superkreuzer der Republik, welcher die Hekatoncheiren hergebracht hatte.

„Er ist bei der Arbeit!“, klang Yoshi Futabes Stimme auf. „Ich habe hier ein ganzes Regiment zu hüten. Ich kann nicht auch noch auf Regimentschefs aufpassen, die aus Lust an der Freude mitkommen!“

„Hey, hey, senke deine Waffen“, erwiderte Doitsu. „Ich Freund.“

„Schon klar. Nervender Freund. Hast du nicht genug auf der AURORA zu tun? Immerhin kontrollierst du immer noch die Unterwelt in Fushida City, oder? Musst du nicht ein paar Bordelle betreuen?“

„Wieso? Willst du eines besuchen?“

Diese Frechheit raubte Yoshi für wertvolle Sekunden den Atem. Als er wieder sprechen konnte, murmelte er leise eine Entschuldigung.

Doitsu trieb seinen Mecha Katana voran und jagte ihn mitten durch eine dichte Banges-Formation des Gegners. Die beiden Herakles-Schwerter in den vollmodulierten Händen hielten dabei blutige Ernte unter dem Feind. „Ist in Ordnung. Wir haben alle gerade ein wenig Streß. Wer konnte auch ahnen, dass wir mitten ins letzte Aufgebot der Kaisertreuen hineinfliegen werden?“

„Wir sind noch nicht mittendrin! Wir sind nur außen dran, aber ich befürchte, es dauert nicht mehr lange, bis sie dafür gesorgt haben, dass wir mittendrin sind. Und dann sind unsere einhundertzwanzig Mechas eins zu zwölf im Nachteil.“

Eine Serie an Explosionen erschütterten das All um Doitsu. „Eins zu elf.“

„Eins zu zehn“, erwiderte Doitsu und köpfte im Vorbeiflug einem Kommando-Banges den Sensorhelm mit den Funkanlagen ab. „Ich tue auch meinen Teil, um die Chancen auszugleichen.“

Der Yakuza-Sohn warf sich tiefer in die Formation der feindlichen Banges-Staffel. Wenn er eines von Akira gelernt hatte, dann, dass ein hervorragender Mecha-Pilot sich tief in die Feindesreihen hineinwagen konnte, wo jeder Fehlschuss einen Gegner traf. Eine Taktik für Lebensmüde – oder für Genies. In welche Sparte er einzuordnen war würde sich zeigen, wenn er noch in der Lage war, nach der Schlacht über diese Frage nachzudenken.

Er aktivierte die Herakles-Klinge und spaltete einen Feind in Oberteil und Unterteil. Dabei erwischte er den Piloten. In Gedanken machte er einen Strich auf einer imaginären Liste. Langsam aber sicher kam er Akira und seiner Todesliste näher. Irgendwann würde er es nicht mehr ertragen können, sich damit rausreden zu können, das Krieg herrschte. Irgendwann würde die Erkenntnis, das jeder Iovar, den er hier tötete, eine Familie hatte, womöglich Kinder. Und dass er dieser Familie eines ihrer Mitglieder fortgenommen hatte. Und noch eines, und noch eines, und noch eines… Doitsu wusste nicht, wie Akira das ertrug, aber ihm ging es so schon gewaltig an die Nieren. Noch war es nicht genug um in Katatonie zu versinken oder die Schöpfung oder das menschliche Naturell an sich anzuklagen, aber irgendwann würde dieser Tag kommen. Kriege würden kommen, genauso wie sie wieder gingen. Es würde nie zuende sein. Und die Zahl derer, die er tötete, würde weiter steigen. Wie hielt Akira das nur aus? Wie Megumi? Wie Yoshi?“

„Hey, Doitsu, bist du nicht schon etwas weit drin? Ich habe dich kaum noch auf der Ortung“, blaffte Yohko auf. Sie war Anführerin der Gruppe Otomes, welche die Gyes begleiteten. „Außerdem solltest du langsam mal zurückkommen, oder du verlierst den Anschluss an die SENCER. Sie dreht gerade und wird bald zurückspringen.“

„Gibt es noch dem Intendenten loyale Truppen im System? Lohnt sich der Durchbruch?“, fragte Doitsu hastig und nutzte einen kleineren Banges als Deckung, um eine Artillerieversion seinerseits zu bombardieren.

„Die Planeten sind fest in unserer Hand. Aber die äußeren Planeten werden als Aufmarschgebiet der Kaiserlichen missbraucht. Wir müssen zurück und Verstärkung holen! Wir… Komm langsam mal zurück, Doitsu!“

„Bogen!“, keuchte der Yakuza-Sohn. „Katana, Bogen!“

„Wenn du meinst, das hilft uns?“ Beine, Arme und ein Teil des Torsos wurde abgesprengt. Die Elemente hefteten sich aneinander und flogen als selbstständige Einheit davon. Zugleich startete der Katapult der SENCER das von Doitsu Ataka angeforderte Waffensystem.

In der Zwischenzeit, bangen fünf Minuten, wehrte sich Doitsu vor allem mit seinen eingebauten Raketen und manövrierte selbst nur mit den Rückendüsen wie ein junger Gott.

Dann war das Paket heran, entfaltete sich und dockte automatisch, mitten in der Kampfsituation. Nun endlich hielt Yoshi eine für ihn modifizierte Artemis-Lanze in der Hand. Sie war speziell auf sein Nahkampfverhalten ausgerichtet, außerdem waren Arme und Beine nun schwer gepanzert und mit Rüstungsbrechenden Dornen versehen. Ein Tritt von ihm konnte nun in jedem Banges schwere innere Schäden anrichten.

Mit einem Rundumschlag der Artemis-Klinge, dessen Blatt fast zwei Drittel der vierzehn Meter langen Lanze ausmachte, setzte Doitsu einen Befreiungsschlag, der drei weitere Banges ausschaltete. Plötzlich hatte er Luft. Er hob die Lanze und griff nach einer imaginären Sehne an ihrem Schaft. Zwischen dieser Sehne und dem Stab der Lanze spannte sich plötzlich ein Energiebolzen. Doitsu zog voll durch, und seine Energiemessanzeigen schlugen bis in den roten Bereich durch. Als der Bolzen die Lanze, nein, den Bogen verließ, schoss er an einigen Banges im Scout-Modus vorbei und vernichtete sie in einem Wirbel aus Energie. Dann traf er sein eigentliches Ziel, eine kaiserliche Fregatte. Der Bolzen bohrte sich mittig über der Brücke in die Panzerung, drang metertief ein und explodierte daraufhin. Die Fregatte brach aus ihrem Kurs aus; sekundäre Explosionen erschütterten sie.

„Toller Schuss, Briareos Top!“, rief Yoshi aufgeregt. „Aber es wäre trotzdem besser für dich, endlich wieder zurück zu kommen!“

„Ich will es versuchen, aber mir sind immer noch ein paar Banges im Weg! Ich…“

„Darf ich Sie unterbrechen, Sir?“, mischte sich die K.I. ein. „Der Gegner macht uns Platz. Erheblich Platz, Sir.“

Irritiert checkte Doitsu die Radaranzeige. Tatsächlich. Die Banges verließen seine Nahkampf- und Mittelkampfreichweite. Und einige versuchten bereits aus seinem Fernkampfradius zu entkommen. „Was passiert hier?“

„Ich konnte ein paar undechiffrierte Funksprüche auffangen. Und ehrlich gesagt mag ich sie nicht. Die halten uns tatsächlich für Akira Otomo und Prime Lightning. Als wenn der alte Opa der Weisheit letzter Schluss wäre!“

„Sie… halten uns für Akira und Prime?“ Wäre die Situation nicht so absurd gewesen, Doitsu hätte gelacht. Er war versucht zu fragen warum, er war auch versucht, die Sache richtig zu stellen. Aber letztendlich wollte er nur noch eines: Die Situation nutzen und mit den anderen auf die SENCER zurück zu kehren, bevor die Kaiserlichen merkten, dass sie eigentlich doch in der Überzahl waren. „Briareos Top, kehre heim.“

„Willkommen zurück, Blue Lightning zwei!“, klang Yoshis Stimme auf. Sie klang spöttisch, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Aber eben nicht vollkommen spöttisch.

„Das klingt gar nicht mal so schlecht“, erwiderte Doisu. Er tätschelte seine Konsolen. „Und du, Katana, solltest dich geehrt fühlen, mit einem so mächtigen Mecha mit derart erfolgreicher Geschichte verwechselt zu werden.“

„Mit Verlaub, Sir, aber ich schreibe lieber meine eigene erfolgreiche Geschichte.“

„Oh, das hast du gerade“, murmelte Doitsu. „Das hast du gerade.“

***

Die Flotte, die aus dem Naguad-Hauptsystem aufbrach, umfasste nicht ganz neunundvierzig Schiffe. Das war die Vorhut zusammengezogen aus über fünfzig Systemen, zusammengestellt aus Schiffen aller neun Häuser, einschließlich dessen, was dem reformierten Haus Logodoboro unter Agrial Logodoboro bereits wieder zur Verfügung stand. Spötter mochten sagen, dass diese Schiffe erstens zu wenig waren, um die Erde zu beschützen und zweitens im Imperium besser aufgehoben waren, aber all das störte die offizielle Anführerin der Flotte nicht besonders. Sie war Agentin, kein Militär, dennoch durfte sie die Flottille kommandieren. In allen weltlichen Belangen verließ sie sich natürlich auf ihren entfernten Cousin Rogan Arogad, der ursprünglich die Vergeltungsflotte für das Kanto-System hatte anführen sollen und als erster unter dem Verrat der Logodoboro hatte leiden müssen. Dennoch, als potentielle Erbin des Hausvorsitz wäre alles andere als das Oberkommando ein Affront gewesen.

Helen Arogad Otomo straffte sich. Es war noch gar nicht so lange her, da war sie in einem Biotank eingeschlossen gewesen, war Teil der K.I. des Arogad-Turms gewesen, unfähig, je wieder in ihren Körper zurückzukehren. So hatte sie gedacht. Aber die Ereignisse hatten sie überholt, hatten ihr ruhiges, gemütliches Leben, allsehend und allwissend als steuernder Teil des Computers erschüttert. Zuerst war es die Begegnung mit ihrem Sohn Akira gewesen, dann jene mit ihrer Tochter Yohko, die wieder den Wunsch in ihr geweckt hatte, selbst hören, selbst fühlen und selbst atmen zu können. Der wieder das Verlangen in ihr geweckt hatte, ihren Mann wieder in den Armen zu halten. Der ihre große Angst vor einer feindlichen, rauen Welt, die sie fast getötet hatte, vertrieb und ihr wieder die guten Seiten hatte zeigen können.

Ihre große Angst, nachdem sie aus dem unendlich erscheinenden Dämmerschlaf erwacht war, war wie fortgeblasen. Sie hatte jene Episode aus ihrem Leben akzeptiert. Sie hatte alles akzeptiert, auch ihre eigene Sterblichkeit. Und sie hatte erkannt, dass sie sich feige versteckt hatte, in ihrem kleinen, sicheren Biotank, in ihrer eigenen kleinen Welt. In ihrem kleinen Nest, in dem sie hatte bestimmen können was passierte, und zwar nur sie. Aber das war nicht Helen Otomo, nein, das war sie bestimmt nicht. Und mit ein wenig Verachtung sah Helen nun auf die Frau zurück, die sie vor wenigen Wochen noch gewesen war.

Sie lebte wieder, sie lebte in vollen Zügen, mit all ihrer Kraft. Mit all ihrem Geschick, jede Sekunde ausnutzend, jeden Traum genießend und in der Hoffnung, nicht nur Eikichi, Yohko und Akira wieder in die Arme, ihre eigenen Arme schließen zu können, sondern auch ihr neues, drittes Kind, Akari endlich so begrüßen zu können wie es ihr gebührte. Ob Akari schon einen Freund hatte? Akira hatte erwähnt, dass sie viel mit diesem Dai-Sproß zu tun hatte, diesem Michi Tora. Sie wusste nicht so recht, ob der junge Mann der richtige Umgang für sie war, aber sie wusste, dass ihre Gefühle für das junge Mädchen schon jetzt sehr mütterlich waren, ohne ihr je begegnet zu sein. Oh, zwei Töchter würden solch ein Spaß werden.

Ja, sie lebte gerne körperlich. Endlich wieder.
 

„Mylady Arogad, geben Sie den Startbefehl?“, fragte der Admiral vorsichtig.

„Nein. Wir warten noch.“ „Wie Sie wünschen.“

„Rogan?“ „Mylady?“ „Nenn mich Helen.“

„Wie Sie wünschen, Helen.“ „Und duz mich.“

„Einverstanden.“ „Und sag mir Bescheid, sobald eine Transmission vom Arogad-Turm eintrifft.“ „Verstanden.“

Die Meldung ließ nicht lange auf sich warten. „Eine Nachricht für dich, Helen. Ein Koordinatensystem, das sich auf das Kanto-System bezieht.“

„Gut. Diese Koordinaten sind unser Ziel.“ Helen lächelte erleichtert. „Dort erwartet uns die Flotte unserer Verbündeten. Die Tiremen greifen zu unseren Gunsten ein.“

Das außerirdische Volk der Tiremen auf ihrer Seite, das bedeutete weitere fünfunddreißig bis fünfzig Schiffe aller Klassen. Wieder ein Funken mehr Hoffnung für sie alle.
 

Epilog:

Kiali war nicht wirklich am Leben. Zumindest empfand sie es so. Sie war erschaffen worden, indem jeder Bewohner des Paradies einen kleinen Teil seines AO hergegeben hatte; sie war die Summe geworden und von ihrer Vorgängerin ausgebildet worden, bis sie in der Lage gewesen war, das Paradies und die Core-Zivilisation selbst zu leiten.

Sie stand für Krieg, sie hatte sich schon früh dafür entschieden. Es war eine Entscheidung der Verzweiflung gewesen. Ihre Vorgänger hatten schon Krieg geführt, und sie hatte sich dieser Haltung angeschlossen. Wieder, und wieder und wieder. Kiali hatte versucht, Aris vor Augen zu halten was Krieg war. Hatte versucht ihr begreiflich zu machen, welches Entsetzen, welche Schrecken damit verbunden waren. Welche Pein und Not. Aber Aris hatte auch den Krieg gewählt, was sich in ihrer schwarzen Bekleidung ausdrückte. Schwarz für das dunkel der Nacht, welches alles verhüllte, Motive, Ansehen, Denken, Gefühle und die Zahl derer, die WAREN.

Dann hatte Aris entschieden Akira Otomo zu sich zu holen. Sie hatte mit ihm gespielt, hatte ihn durch fiktive Welten gejagt, hatte versucht, ihn zu dressieren, aber das Gegenteil war entstanden. Weil sie mit Naivität, mit kindlicher Unschuld und ohne wirkliche Reife herangegangen war, hatte Akira sie beeinflusst, sie konditioniert, ihr seine Erfahrung vermittelt und sie vollendet. Akira wusste es wahrscheinlich nicht, aber der entscheidende AO-Splitter, der aus Aris erst wirklich die neue Herrin des Paradies gemacht hatte, war von ihm gekommen.
 

Kiali überprüfte den Fortgang der Evakuierung. Sie lagen gut im Rennen, und noch immer konnte sie die Götter hinhalten. Aber es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bevor Scouts oder sogar Strafer über einem der neun Core-Systeme erscheinen würden. Und was dann geschehen würde, lag nur bedingt in ihrer Hand.

Ein Signal informierte sie darüber, dass das Gros der Bewohne der Paradies verlassen hatte, dass nach und nach alle neun Teile des Paradies deaktiviert wurden. Das würde hunderte, ja, tausende Daima und Daina dazu zwingen, sich doch noch zu manifestieren, ihre Verstecke im Paradies zu verlassen. Bald darauf gab es nur noch einen winzigen Flecken Paradies. Der existierte rund um sie, Kiali. Es war der letzte Funken, der einzig und allein sie erhielt.

Ein zweites Signal erklang und teilte ihr mit, dass die letzten Schiffe starteten. Die Evakuierung stand kurz vor ihrem Abschluss.

Kiali aktivierte das Paradies wieder und besetzte es mit Pseudoleben. Die Städte, von Hightech und Menschen geräumt wurden wieder voll beleuchtet und pralles Leben simuliert.

Als der erste Strafer in einem der Systeme aus dem Wurmlochsprung kam, lächelte Kiali wehmütig. Sie hätte gerne einen KI-Container besessen. Blumen gerochen, Essen probiert, geatmet und mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört. Über etwas neues getastet, all das gemacht, was ihr hier im Paradies verwehrt blieb. Aber sie hatte eine Aufgabe, und die würde sie erfüllen. Sie stand für Krieg, und das würde sie bis zum bitteren Ende tun. Als der Strafer das Paradies anfunkte, ließ sie die Bodenforts aktivieren, welche nicht hatten abgebaut werden können. Gewaltige Waffen, einstmals im Dai-Krieg eingesetzt, erwachten zum Leben und spieen dem Strafer Tod und Vernichtung entgegen. Die Waffensysteme waren sehr effektiv, selbst gegen die Götter.

Der Strafer verging in einer lautlosen Explosion im eisigen Weltall. Aber das war nur der Anfang. Weitere Strafer kamen aus dem Sprung, und Kiali sah ihre größte Angst bestätigt, nämlich jene, dass dies eine Strafexpedition war. Über das wie und warum wusste sie nichts, konnte es auch nur ahnen. Aber sie wusste, die Strafer waren da, und sie würden alle neun Welten verwüsten, wenn sie es mussten. Nein, nicht wenn. Sondern bestimmt. Bestimmt wollten.

Die Bodenforts feuerten, Kiali ließ einige hundert Raider, die sie zurückgehalten hatte, über den neun Welten auf die Strafer niederfahren und sah dabei zu, wie die riesigen Raumschiffe jeweils drei von ihnen abschirmten, damit sie ihre schreckliche Hauptwaffe einsetzen konnten – direkt über den Standorten der Biocomputer, die einstmals das Paradies betrieben hatten.

Einige Strafer wurden vernichtet, aber das bremste sie vielleicht, hielt sie aber nicht auf.

Dann luden die Hauptwaffen. Für eine kurze Zeit, vielleicht ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monaten, würden die Strafer der Götter den Core aus den Augen verlieren. Und dies mochte Aris und Akira helfen. Vielleicht tat es das nicht, gestand sich Kiali ein, aber das änderte nichts daran, dass sie diesen Kampf mit vollem Herzen ausfocht. Sie glaubte, ihre Vorgängerin Fiesta hinter sich zu spüren, wie sie wohlwollend nickte, daneben ahnte sie Mercur, die erste Herrin des Paradies. Auch sie billigte ihr Tun, und es war ihr ein Trost von derart wichtigen Vorgängern Rückhalt zu erfahren. Auch wenn sie es sich nur einbildete… Oder nicht?

Licht brandete auf, erfüllte die Oberflächen der Core-Welten, erfüllte das Paradies. Bevor es alles erfüllte, ihr Sein, ihre Existenz, ihre ganze Welt, fühlte Kiali, wie heiße Tränen ihre Wangen hinabliefen. Sie fühlte sich vollständig. Sie war ihren Weg gegangen, bis zum Ende. Es war getan, es war komplett. Dennoch. Dennoch… „Ich hätte gerne einmal an einer Blume gerochen“, hauchte sie mit fast ersterbender Stimme. Dann brandete das Licht über sie hinweg.

Danach war… Nichts.

Grenzen

Prolog:

Mit einem geradezu mörderischen Flackern in den Augen sah Kitsune mich an. Der Griff ihrer Rechten um mein Kinn war nicht weniger mörderisch, und das Feuer in ihrer Stimme hätte den Nordpol schmelzen können.

„Aki-chan, du stehst vor deiner größten Herausforderung! Heute oder nie, das ist die Devise! Dies ist der einzige Gegner gegen du niemals verlieren darfst! Hast du das verstanden?“

„Ja, Coach!“

Ihr Blick wurde noch etwas intensiver, ging mir durch und durch. „Wir haben hart für diesen Moment trainiert! Und ich werde nicht dabei zusehen, wie unsere Anstrengungen in einigen wenigen Sekunden den Bach runter gehen, klar?“

„Das will ich auch nicht, Coach!“

„Dann bist du bereit? Nimmst du es mit diesem Gegner auf? Machst du ihn fertig? Weist du ihn in seine Schranken? Zeigst du wer der Herr im Boxring ist?“

„Ja, Coach!“

„Ich kann dich nicht hören!“

„JA, COACH!“

„Bist du bereit?“

„JA, COACH!“

„Wirklich bereit?“

„JA, COACH!“

„Dann auf in den Ring und kämpfe!“

Hochmotiviert sprang ich auf. Wenn nicht jetzt, dann nie. Wenn nicht hier dann nirgends. Ich musste meine Angst im Griff halten, ich musste Vertrauen in meine Fähigkeiten haben. Ich musste zu mir stehen, dann konnte mir der Gegner, dieser Gegner nichts anhaben.

Zeigte ich aber nur einen Hauch von Schwäche, dann würde er mich töten, eiskalt töten.

Ich schaufte wütend. Das würde heute nicht der Fall sein.

Langsam öffnete sich vor mir die Außenschleuse und entließ die komprimierte Atmosphäre auf einen Schlag. Beinahe wäre ich mitgerissen worden.

Das bedeutete natürlich automatisch, dass sich das eisige Vakuum etablierte und die tödliche Eiseskälte des feindlichen Universums in die Schleuse drang. Diese Kälte würde binnen weniger Sekunden die Wärme aus allem ziehen, was mit ihr in Berührung kam. Die Wände, das Innenschott der Schleuse, den Beleuchtungskörper und meine KI-Rüstung, meinen einzigen Schutz vor der Eiseskälte, vor dem Tod durch ersticken.

Ich spürte eine Berührung an meinem Kopf. Kitsune legte ihre Stirn auf meine, und durch die Vibrationen der Schwingungen konnte ich hören, was sie sagte. Obwohl das Medium Luft hier mittlerweile fehlte. „Den ersten Schritt hast du getan, Aki-chan! Jetzt mach den zweiten! Lauf!“

Ich nickte, beflügelt durch meinen Erfolg und durch ihre Worte ermuntert. Ich verließ die Schleuse und trat ohne Raumanzug auf die eisige Oberfläche der AURORA. Dann lief ich los, in Richtung der fernen GRAF SPEE. Die Strecke betrug fünf Kilometer, die Schwerkraft war leicht herab gesetzt, so weit oben von dem Schwerefeldgenerator, und lag nur bei Null Komma neun eins. Und die Luft in meiner KI-Rüstung würde nicht ewig halten, selbst wenn ich meine KI-Kontrolle nutzte und den Bedarf meines Körpers nach Sauerstoff künstlich drosselte.

Was für ein Abenteuer. Was für eine Verrücktheit. Was für ein Spaß.
 

1.

„Und das ist wirklich notwendig?“ Unsicher sah ich Kitsune an.

„NATÜRLICH ist es notwendig! Du bist gerade fünf Kilometer durch ein nahezu absolutes Vakuum gelaufen, und das bei Minus zweihundertsiebzig Grad Celsius. Auf jeder Schule dieses Universums würde es da Kältefrei geben.

Du wirst sehen, ein entspannendes heißes Bad ist jetzt genau das, was du brauchst.“

Mit enormer Kraft schob sie mich vor sich her. Und gelangte so mit mir ins Bad.

„Moment mal, Kitsune-chan. Du wirst doch nicht etwa…“

„Hey, sehe ich vielleicht so aus, als könnte ich die Distanz zwischen Meister und Schüler nicht wahren?“

Indigniert sah ich sie an. „Willst du eine ehrliche Antwort?“

„Männer“, brummte sie. „Das ist wohl dein Wunschtraum, eh? Aber in Ordnung. Solltest du jemals den Wunsch verspüren, dir von Kitsune-sama den Rücken schrubben zu lassen, dann brauchst du nur Bescheid sagen, A-ki-ra-chan.“ Sie gab mir einen Klaps auf den Allerwertesten. „Und jetzt zieh dich aus. Oder willst du mit Klamotten ins Badewasser?“

Zu meiner Erleichterung verließ die Fuchsdämonin das Bad wieder. Nicht, dass ich Angst vor ihr hatte. Die verspürte ich lediglich mir und meiner Disziplin gegenüber. Vor allem was Kitsune betraf, konnte ich mir nicht wirklich sicher sein, ob meine Hormone mir mal nicht den letzten Rest Verstand fortspülten und ich… Nun ja. Vielleicht hatte sie Recht, und da war doch etwas Wunschdenken dabei. Vor allem ihre Meinung, dass wir Menschen – und speziell ich – zu steif mit dem Thema Sexualität umgingen, konnte sich in einen Männerverstand fressen wie Schwefelsäure durch Karton.

Ich legte meine Kleidung ab. In dem Punkt hatte Kitsune wohl recht, wenn sie meinte, ich könnte ein warmes Bad gebrauchen. Denn wenngleich ich die Kälte in meiner KI-Rüstung nicht gespürt hatte, so war ich doch von ihr umgeben gewesen, sie hatte stattdessen in meinem Verstand gewütet, und alleine der Gedanke an ein heißes Bad hatte etwas berauschendes.

Als hinter mir die Tür aufging, merkte ich mit Beklemmung, dass ich nackt war. Und das war keine gute Voraussetzung, einem so niedlichen Mädchen wie Kitsune zu widerstehen.

„D-das halte ich jetzt für keine gute Idee. Ganz ehrlich, keine gute Idee“, stotterte ich.

Die Tür schloss sich wieder, aber ich hörte nackte Füße über die Fliesen gehen. Dann drückten sich weiche Lippen auf meine nackte Schulter. Ich spürte wie ich eine Gänsehaut bekam.

„Was ist keine gute Idee?“, klang Megumis amüsierte Stimme hinter mir auf. „Dass ich meinem Mann den Rücken schrubben will?“

Erstaunt fuhr ich herum. Tatsächlich, Megumi! Meine Megumi! In einem wirklich niedlichen, hoch gerafften Yukata, damit der Saum nicht nass wurde.

„Mir? Den Rücken schrubben?“

„Warum denn nicht? Hast du es schon vergessen? Wir sind verlobt. Und ich habe dich schrecklich vermisst, Akira, so schrecklich vermisst.“ In ihren Augen schimerten Tränen.

Ich griff zu, schloss sie in die Arme. „Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid. Immer mute ich dir solche Seelenqualen zu. Immer behandle ich dich so mies. Wäre ich Yoshi oder Doitsu, dann hätte ich dieses egoistische Arschloch längst schon einmal richtig durchgeprügelt. Ich will dich nie wieder verlassen.“

„Akira“, hauchte sie und schmiegte sich an mich an. „Das habe ich auch vermisst. Deine starken Arme. Den Geruch deiner Haut. Wenn ich daran denke, was für ein dürres Kerlchen du mit dreizehn warst, hätte ich nie gedacht, dass du einmal genauso breit und noch größer als Eikichi werden würdest.“

„Wie nett. Aber in den dürren Kerl warst du doch hoffentlich auch schon verliebt?“

„Natürlich.“ Sie löste sich ein wenig von mir und sah mich tadelnd an. „Für mich gab es immer nur dich. Du hast mir das Leben gerettet, ungezählte Male. Du warst für mich da, nachdem meine Eltern gestorben waren. Und du… Du hast mich geliebt, ohne etwas dafür zu verlangen. Ohne etwas zu erwarten. Du warst für mich da, einfach so. Vom ersten Augenblick, den wir uns kannten, warst du für mich da.“ Sie lächelte schief. „Okay, für mich und Yohko, zugegeben. Aber du warst es, an dessen Hemdsaum ich mich geklammert habe, wenn ich Angst hatte. Du bist mein großes Vorbild und mein Held, Akira.“

„Rede nicht so einen Unsinn. Ich bin kein Held. Du hingegen hast drei lange Jahre an meiner Stelle die Erde verteidigt, als ich irgendwo im Nirgendwo schwebte. Wenn hier einer Held genannt werden kann, dann ja eher du, mein Schatz.“

„Das hast du schön gesagt. Das hindert mich aber nicht daran, dich auf ein ordentlich hohes Podest zu stellen.“

„Das passt. Mein Podest für dich ist auch ziemlich hoch, da können wir uns zuwinken.“

Sie lachte mit ihrer hellen Stimme auf. Es war Musik für mich. Ich konnte mich noch sehr gut an die zurückgezogene, eisige Megumi erinnern, die mir begegnet war, am ersten Tag, den ich bewusst in dieser Welt erlebt hatte…

Davon war sie Meilenweit entfernt. Sie lachte. Sie war froh. Und sie hatte schon einmal gedacht, sie würde mich als Sterbenden in den Armen halten. Für sie, für dieses wundervolle Mädchen, würde ich jeden Gegner besiegen. Sie war es wert. Sie war alles wert.

Ihr Blick bekam etwas amüsiertes. „Da du ja schon mal nackt bist, Akira, kann ich ja mal…“

„Kannst du ja mal was?“, fragte ich.

***

„Na, ist das nicht schön?“ Mit einem leisen Kichern leerte sie einen kleinen Holzbottich mit warmem Wasser über meinen Kopf aus. Oh, es war schön. Es war ein sehr angenehmes Gefühl.

„Fast so schön wie den Rücken von dir gewaschen zu kriegen.“

„Oder die Ohren geputzt.“

„Oder die Ohren geputzt.“

„Oder den Bauch geschrubbt.“

„Ja, auch das.“

„Oder deinen besten Freund.“

„War Yoshi hier?“, fragte ich argwöhnisch.

„Oh, du“, meinte sie lachend und goss noch einen Bottich über mir aus.

Ich langte nach ihr und zog sie näher zu mir heran. „Stimmt es eigentlich, dass Frauen nichts unter einem Kimono tragen, damit die Unterwäsche nicht aufträgt?“

„Erstens ist das ein Yukata, kein Kimono. Und zweitens, warum interessiert dich das? Du kennst den Inhalt doch schon.“

„Und ich werde nicht müde, ihn noch mehr kennen zu lernen. Darf ich das auch mal? Dich so richtig von oben bis unten abschrubben?“

Nachdenklich sah sie zur Decke. „Äh… Nein.“

„Wieso nein? Du durftest mich doch auch abschrubben!“

„Schon, aber du würdest zu lange brauchen.“

„Du bist fies“, warf ich ihr vor.

Sie lachte mädchenhaft. Ja, auch das konnte sie. Neben ihrer Seite als knallharte Hawk-Pilotin hatte sie auch einen sehr fraulichen Aspekt. Manchmal konnte ich nicht begreifen, womit ich sie verdient hatte.

„Wann heiraten wir eigentlich?“, fragte ich gut gelaunt.

„Hei-heiraten?“, fragte sie erstaunt.

„Ja, heiraten. Die Fortsetzung von verloben. Du weißt schon, Verlobung ist ein Eheversprechen.“

Sie ergriff mein Gesicht und kam mir ganz nahe. „Akira, ist das dein Ernst?“

„Warum sollte das nicht mein Ernst sein? Ich meine, wir sind vielleicht noch etwas jung, aber wir können ja schon mal drüber sprechen, oder?“

„Ich… Ich habe unsere Verlobung bisher immer wie eine Waffe benutzt, um mich gegen dieses und jenes durchzusetzen. Aber seit du im Daness-Turm unsere Verlobung verkündet hast, da… Da habe ich mich eigentlich nie so wirklich verlobt gefühlt. Irgendwie wird es mir jetzt erst bewusst, was das alles bedeutet.“ Sie errötete und sah zur Seite. „I-ich meine, heiraten. Wir beide. Unser Leben lang zusammen bleiben. Vielleicht Kinder kriegen. Eine richtige Familie gründen. Und eines Tages sogar Großeltern sein! Akira, das ist eine so große Aufgabe, etwas so bedeutendes.“

„Na, na. Du machst doch jetzt hoffentlich keinen Rückzieher?“

„Nein, ich verstehe nur gerade, was du mir eigentlich hast sagen wollen, damals im Daness-Turm.“

Ich zog ihre Stirn auf meine. „Was hältst du davon? Wir laden alle unsere Freunde ein und verloben uns noch mal. Aber diesmal richtig, mit einer zünftigen Feier, und nicht mit einer Fernsehansprache. Denn falls einer von uns im Konflikt mit den Göttern sterben muss, hat der andere wenigstens diese Erinnerungen und…“

„Sprich nicht von so was!“, sagte sie harsch, ließ mich los und sprang auf. „Das letzte Mal als wir so ein Thema besprochen haben, hat mich nur ein Riesenzufall vor dem Tod gerettet und du hast wochenlang geglaubt, ich sei wirklich tot. Und ich habe schon mal geglaubt, dass du gestorben bist. Zweimal, übrigens. Ich will das nicht mehr. Ich will es einfach nicht mehr.“

Ich sah sie an. Megumi zitterte erbärmlich und brach langsam in die Knie ein. Einen Arm hatte sie sich um den Leib geschlungen, der andere lag auf ihrem Gesicht. Tränen flossen zwischen den Fingern hervor.

Langsam erhob ich mich und verließ das Bad. Ich wollte sie umarmen, sie trösten, ihr haltlose Versprechen geben. Aber ich wusste, wie substanzlos sie sein würden. Wie wenig sie taugen würden. Wie sehr ich sie damit belügen und verletzen würde.

Stattdessen kniete ich mich neben ihr hin und sagte: „Es ist schwer, ich weiß. Und es wird nicht leichter werden. Im Gegenteil. Die Chance, dass ich im Konflikt mit den Göttern sterben werde, dass wir im Konflikt sterben werden, ist recht hoch. Und dies ist die letzte Möglichkeit für dich, etwas für dich persönlich zu ändern. Ich kann mich aus diesem Kampf nicht heraushalten, aber du kannst es.“ Ich fühlte wie ich zu frieren begann, obwohl der Raum gut geheizt war. Warum tat ich ihr das an? Warum tat ich mir das an? Die Antwort war einfach.

„Ich liebe dich, Megumi. Ich liebe dich wie nichts sonst in diesem Universum. Du sollst nicht leiden müssen, nur weil ich es tue. Du hast das Glück verdient. Du hast alles Glück verdient. Nein, antworte nicht. Denke drüber nach. Denke gut drüber nach. Tod und Zerstörung werden mir noch sehr lange folgen. Aber du… Du musst da nicht bei sein. Du musst diesen Weg nicht gehen.

Lass die Gedanken sacken, und wenn du meinst, dass du eine Antwort gefunden hast, teil sie mir mit. Ich werde sie akzeptieren, egal wie sie lautet.“ Langsam richtete ich mich auf. Und mit jedem Zentimeter, den ich mich von ihr entfernte, glaubte ich eine Meile Distanz zwischen uns aufzubauen. Sie hatte sehr gelitten in unserer Beziehung. Sie hatte viel Schmerz und Leid ertragen müssen. Und ich war zu einem großen Grad Schuld daran, egal von welchem Winkel aus man es betrachtete.

Ich zog mich an und verließ das Bad mit nacktem Oberkörper. Ich hatte ihr diese Chance geben müssen. Das war ich gerade ihr mehr schuldig als jedem anderen Menschen in dieser Galaxis. Egal ob sie Daina, Daima oder was weiß ich auch waren.

Aber ich hatte eine furchtbare Angst davor, dass sie mich diesmal wirklich zurückließ. Ich spürte, wie Tränen meine Wangen hinabliefen.

***

Ich konnte nicht anders, irgendwie fühlte ich einen gewissen Verlust in meiner Seele. Mit den letzten Schiffes des Cores war die Nachricht von der Aktion der Strafer gekommen, und mit ihr Kialis letzte Botschaft. Sie hatte den Abzug des Cores verschleiern wollen, um uns so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Und sie war bei dem Versuch gestorben, sofern man von ihr sagen konnte, dass das Ende ihrer Existenz mit dem Tod gleichzusetzen war. Aber ich weigerte mich zu glauben oder zu sagen, sie sei gelöscht worden. Das nahm ihr alles, was sie menschliches an sich gehabt hatte.

Aris, die Herrin des Paradies, verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte nie die Erfahrung gemacht zu weinen, und nun schied ihr KI-Container so viel Wasser über die Augen aus, dass eine künstliche Existenz wie sie eigentlich hätte misstrauisch werden müssen. Aber das war sie nicht. Sie war zu sehr gefangen in ihrer tiefen Trauer, verkroch sich einfach in einer stillen Ecke und weinte. Es war ein Bild, das mir die Kehle eng werden ließ.

Ich war versucht, zu ihr zu gehen und sie zu trösten, aber ausgerechnet Laysan machte dabei einen adäquaten Job.

Maltran Choaster zog mich aus meinem Wohnzimmer auf den Gang.

„Der Aufbau des Computers vollzieht sich, Akira. Wir liegen im Zeitplan, und bald können wir das Paradies wieder aktivieren.“

Was der Offizier und mein Stellvertreter in der hierarchischen Struktur des Core-Militärs meinte, war natürlich das unförmige Gebilde, welches im Innenraum der AURORA in die Höhe wucherte. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatten wir dort über eine Million Anelph mit Hilfe eines Resonatortorpedos in der Zeit eingefroren; nun entstand dort ein Warteplatz für ein paar Millionen Daina und Daima. Viele würden ihre Körper wieder in Biotanks ruhen lassen; manche hatten nicht einmal mehr einen Körper und existierten nur noch als Gehirn oder als ihr KI. Das sparte Platz. Aber ich hasste es, so über dieses Thema zu denken.

„Das sind gute Neuigkeiten. Wir können alle ein wenig Normalität gebrauchen. Und dann kann Aris in das Paradies zurückkehren.“

Das war wohl die beste Lösung für uns alle. An diesem Ort, jener fiktiven Welt jenseits der Körperlichkeit, war die Herrin wohl wirklich am besten aufgehoben.

„Wirst du auch zurückgehen?“, fragte Maltran geradeheraus.

„Nein. Mein Paradies ist hier. Aber ich werde sie besuchen gehen, wie ich es bisher immer getan habe. Es gibt zu viele Dinge, die ich nur in meinem Körper vollbringen kann.“

„Ich verstehe.“ Ein wenig müde sah Maltran zu Boden. „Schade, ich hatte gehofft, wir würden gemeinsam nach Hause gehen.“

„Hier ist mein Zuhause, Maltran“, sagte ich ernst. Dann begann ich ein zaghaftes Lächeln. „In dem du immer willkommen bist, mein Freund.“

„Danke. Das höre ich gerne.“

Ich klopfte dem Mann auf die Schulter. Ich mochte ihn. Ich mochte ihn wirklich.

In diesem Moment kam Megumi aus ihrem Zimmer. Zuerst lächelte sie, als sie mich sah, dann aber huschten Schatten über ihr Gesicht und sie drückte sich an uns vorbei in die Küche.

„Habe ich was verpasst?“, fragte Maltran mit gerunzelter Stirn.

Ich schüttelte den Kopf. Es hatte mir weh getan, als sie ohne mich anzusehen an uns vorbei gegangen war. Natürlich, ich hatte sie wieder verletzt, wie schon so häufig. Und diesmal hatte ich ihr vielleicht richtig weh getan. Nicht unbedingt mit meinen Worten, aber eventuell, weil ich sie ausschloss. Aus meinem Schicksal, aus meinem Leben, aus meinem Herzen. Ich wollte das nicht. Aber ich hatte es ausgesprochen. Und nun konnte ich nur noch hoffen, dass sie mich nicht verließ. Dass sie bei mir blieb. Und dass wir beide nicht sterben mussten.

„Sag mal, wie war es eigentlich, nur mit einer AO-Rüstung geschützt durch Vakuum zu laufen?“

„Warm“, erwiderte ich. „Sehr warm.“

***

Auf dem freien Feld wuchsen die Plattformen schichtweise in die Höhe. Gewaltige Energieleitungen wurden gelegt, um die Versorgung der unzähligen Biotanks zu gewährleisten, und die gigantischen Hawks reichten bei den Aufbauarbeiten eine helfende Hand.

Es sah schon ein wenig wie in einer Puppenstube aus, wenn die humanoiden Kampfroboter mit den gewaltigen Schulterschilden die zerbrechlich wirkenden Biotanks in die Hände nahmen und nach genauen Anweisungen auf den verschiedenen Ebenen platzierten.

Zugleich waren diese Aufbaumaßnahmen ein Publikumsmagnet geworden. Wer erwartet hatte, dass Joan Reilley wieder ein Konzert geben würde, sah sich enttäuscht. Aber dennoch war das Interesse am neuesten Gast in der AURORA groß genug, um sogar Schulklassen dazu zu bringen, hierher Ausflüge zu machen. Unzählige AURORA-Mark wechselten den Besitzer, als gewiefte Geschäftsleute auch noch Buden aufstellten, um Essen und Ramsch zu verhökern. Das ganze nahm bei schönstem warmen Sonnenwetter beinahe schon Formate eines Frühlingsfestes an. Es fehlte eigentlich nur noch ein zünftiges Bierzelt.

Für all diese Dinge hatte Chiba natürlich keinen Blick. Der Stellvertreter und beste Mann von Ataka-samas Gruppe, der AURORA-Gumi, hatte alle Hände voll zu tun, in der Abwesenheit seines Herrn nicht nur die Geschäfte in der Stadt am laufen zu halten, anderen illegalen Banden, die auf der AURORA Fuß zu fassen versuchten, nachzuspüren und auch noch diese Kirmesbuden zu organisieren. Außerdem liefen Verhandlungen mit einigen noch nicht so bekannten Bands, die am Ort des legendären Joan Reilley-Konzerts an sie anknüpfen und die Massen begeistern wollten. Warum nicht, wenn sogar die legendäre Anelph-Band Garkan Front Interesse angemeldet hatte? Und ein wenig feiern hatte sicherlich jeder auf der AURORA verdient.

Natürlich war Chibas Arbeit damit noch nicht erschöpft. Abgesehen vom weltlichen Teil dieser improvisierten Veranstaltung und dem Geld verdienen war die Gumi auch dafür verantwortlich, die Sicherheit zu organisieren. Sicherheitskräfte und Yakuza arbeiteten dafür eng zusammen.

Also verwunderte es ihn nicht, als die Baustellensicherheit ihn sofort anrief, als sie mit der Situation sichtlich überfordert war.

Was den glatzköpfigen Yakuza schließlich erwartete war ein Lastwagen mit acht Biotanks terranischer Fertigung und einem jungen Sergeant, der mit seinem Lieferschein auf das Baugelände wollte.

„Lassen Sie den Mann passieren“, sagte Chiba zu dem Anführer der Straßenwache. „Er gehört zum Team von Spezialist Taylor. Er und ein siebenköpfiges Team werden mit Hilfe dieser Biotanks in das Paradies integriert werden, sobald es hochgefahren wird.“

Damit hatte er schon mehr Informationen preisgegeben als er eigentlich durfte, aber die Verwicklung von Henry William Taylor war keine wirklich wertvolle Neuigkeit und wäre spätestens am Abend bekannt gewesen, wenn der ehemalige Legat und jetzige Gefolgsmann von Akira Otomo mit seinem Forscherteam in die Tanks gestiegen wäre.

Stattdessen hatte er der Wache verschwiegen, warum Taylor in einen Biotank kletterte: Nämlich um mit Historikern und Linguisten die virtuellen Archive des Paradieses auf Hinweise aus der Vergangenheit zu untersuchen und Daten über die Götter zu sammeln.

Der Wagen fuhr an ihm und der Straßenwache vorbei. Chiba widmete sich wieder seiner Arbeit. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass Taylor einen wichtigen Beitrag für das Überleben der Menschheit leisten würde.

Komisch, dass ausgerechnet er als Yakuza darüber nachdachte. Aber an Bord der AURORA sein zu dürfen veränderte viele Dinge, sogar die Sichtweise eines alten Gauners, der nie zu hoffen gewagt hätte, bei etwas so wichtigem wie der Rettung der Menschheit einmal eine noch so kleine Rolle spielen zu können.
 

2.

Poseidon hatte einen riesigen Vorteil. Seine Lage inmitten des Serenity-Meeres bescherte der Flottenzentrale einen wundervollen fiktiven Sonnenaufgang, einen traumhaften Tag und einen noch schöneren Abend. Natürlich wanderte die Sonne nicht wirklich über den Himmel. Aber sie wurde morgens aufgefahren und abends gedimmt, wobei verstärkt Rottöne in den holographischen Himmel eingeflochten wurden. Es war phantastisch. Nur leider hatte ich gerade keine Zeit, den Sonnenuntergang zu bestaunen.

„Wiederhole das noch mal, Doitsu.“

„Ein riesiges Wespennest! Wir haben einhundertsechzig Schiffe aller Klassen und über viertausend Banges gezählt! Akira, das glaubst du nicht! Diese Streitmacht ist stark genug, um diesen Außenposten zu überrennen!“

„Was schlägst du also vor?“

„Zuschlagen, bevor sie zuschlagen. Wir vernichten so viele von ihnen wie möglich. Und dann bieten wir dem Rest die Kapitulation an.“

Ich sah zur Seite. „Sakura?“

„Machbar.“

„Mako?“

„Sag mir was du mitnehmen willst, und du kriegst es. Am besten springen wir gleich mit der ganzen Flotte. Die AURORA sollte ohnehin den Standort wechseln, bevor sie das Bakural-System und die Station TAMARD durch ihre Anwesenheit gefährdet.“

Yoshi drängte sich ins Bild. „Wenn ich auf der taktischen Seite etwas sagen darf…“

„Nur zu, Gyes Top.“

„Solange ich hier noch was zu sagen habe, als eigentlicher Einsatzleiter“, sagte er mit einem Seitenblick auf Doitsu, „die Kaisertreuen haben ihn mit Blue Lightning verwechselt. Ab dem Moment hatten sie die Hosen voll. Ich frage jetzt nicht wie Iovar dazu kommen konnten dich zu fürchten, Akira. Und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Aber können wir das nicht benutzen? Vielleicht geben sie kampflos auf. Diese Region kann wahrlich etwas Frieden gebrauchen.“

„Und bei der Gelegenheit kannst du mir Hina und die anderen schicken“, mischte sich nun meine Schwester Yohko ein. „Notfalls kläre ich die ganze Situation nur mit den Otome.“

„Hört hört wer da so laut bellt. Nur mit dem beißen hapert es noch etwas“, spottete Doitsu und schob seine Brille wieder die Nase hinauf. Dabei entstand ein gleißender Effekt auf den Gläsern.

„Ich beiße dich gleich mal. Alles was meine Otome brauchen ist mehr praktische Kampferfahrung. Und da wir hier auch gegen KI-Meister der Iovar antreten werden, ist die Situation ideal.“

„Wir kommen rüber. Alarmiert die ganze Flotte. Unser nächster Halt ist das Paskem-System. Von dort springen wir gemeinsam mit den Gyes und der Otome-Kompanie nach Tautor.“ Ich sah zu Megumi und Sakura herüber. „Wenn es genehm ist.“

Beide Frauen nickten kurz angebunden.

Also sah ich Kei an, der sich zu meiner vollkommenen Überraschung mit Ami Shirai verlobt hatte. Diese Verlobungssache grassierte allmählich, wie ich fand. Wenn ich heiratete, machten sie mir das dann auch alle nach? Irgendwie ernüchterte mich dieser Gedanke. Vom heiraten war ich wohl gerade sehr weit entfernt. „Einwände, Flottenchef?“

„Nicht die Spur. Wir müssen uns ohnehin langsam in Bewegung setzen, wenn wir nicht das nächste Ziel der Götter sein wollen. Wegen der ADAMAS sind wir ohnehin auf deren Abschussliste, schon vergessen? Und sobald sie raus kriegen, dass wir die Core-Zivilisation an Bord haben, wird es nicht besser.“

„Dann ist es beschlossen. Wir brechen mit allen Schiffen so schnell es möglich ist auf. Yoshi, Doitsu, Yohko, wir sind in einer Woche da.“

„Das nenne ich fix“, staunte Yoshi.

„Wir probieren das neue Verfahren aus und springen schon früher als wir eigentlich könnten“, erklärte ich.

Mein Blick ging in die Runde. „Ausführung.“

Kurz darauf brodelte der Raum vor Dynamik.

***

Die beiden Männer standen schweigend vor dem Panorama-Fenster und sahen auf die Skyline von Manhattan herab. Die Stadt war nicht in Gewalt und Tod versunken, brannte nicht an ungezählten Ecken und drohte nicht für immer von der Landkarte getilgt zu werden. Natürlich hatten die Kronosier die Stadt nicht ohne Kampf übernehmen können. Aber die Tatsache, dass das New York Police Department noch immer die zivile Exekutivkraft war und die New Yorker die Oberherrschaft der Kronosier für den Moment still akzeptierten hatte vieles verhindert, was durchaus zu einem Meer von Blut hätte führen können.

Nun, die Kronosier und ihre Truppen hielten sich auch bemerkenswert zurück. Nach der Niederlage des militärischen Flughafens und der Kapitulation der Nationalgarde beschränkte sich die kronosianische Präsenz auf Washington D.C., Norfolk und die großen Militärbasen.

Präsident Wilson war noch immer im Amt und der Generalstab nicht abgesetzt. Aber das Militär der U.S.A., vom einfachen G.I. bis hin zum Mechaträger stand unter Arrest.

Wie lange dieser Zustand aufrecht erhalten werden konnte stand in den Sternen, wirklich in den Sternen. Doch im Moment war die Lage ruhig.

Der linke Mann war Legat Gordon Scott, der neue Anführer des wiederauferstandenen Legats. Der rechte ließ sich Michael Berger rufen und war seit einigen Wochen die treibende Kraft und der Hauptgeldgeber der Kronosier geworden. War Scott das Aushängeschild, so konnte man den Naguad neben ihm ohne weiteres als die graue Eminenz bezeichnen, die im Hintergrund die Fäden zog.

Die Kronosier und ihre Truppen wurden benutzt, das war Scott klar. Aber er hatte dem willentlich zugestimmt. Denn in diesem Kampf gab es vielleicht etwas, was er und seine Leute sonst nie erreicht hätten: Einen Platz zum leben.

Im langen Krieg gegen die UEMF, in den ungezählten Versuchen unfähiger Anführer, nach Zerstörungsorgien und immensen Verlusten, denen ihre Besten wieder und wieder zum Opfer gefallen waren, nach vielen Versuchen, das Blatt entscheidend zu wenden, bis hin zum Verrat der Position der Erde an die Naguad, nach all dem wusste Gordon Scott, dass seine Leute, sein Volk, in einer unheilvollen Position standen. Sie waren weder Fisch noch Fleisch. Als Herren des Mars hätten sie gut leben können, aber der Mars gehörte nun der UEMF, und die UEMF war nicht die Erde.

Viele Staaten waren Mitglieder der United Earth Mecha Force. Während des Krieges einen Keil zwischen sie zu treiben hatte sich als schwierig und letztendlich sinnlos erwiesen. Aber mit dem Sieg auf dem Mars, den der Enkel dieses Mannes herbeigezaubert hatte wie ein Magier war die innere Geschlossenheit zugunsten von nationalistischer Tendenzen zersprungen wie ein Glas in das man heißes Wasser gefüllt hatte.

Doch die UEMF hatte überlebt. Sie war längst eine Organisation geworden, die über den Staaten stand. Viele Stimmen machten Eikichi Otomo den Vorwurf, die UEMF-Streitkräfte wie seine Hausarmee zu führen und zu behandeln, aber Scott wusste es besser. Nur wenn die UEMF weiterhin unabhängig agierte, unbeeinflusst von den Mitgliedsstaaten, nur wenn sie ihren Auftrag, die Erde, den Mars und den Mond zu schützen weiterhin selbstständig wahrnahm, konnte sie funktionieren. Und sie funktionierte gut, selbst nun, wo so viele Staaten aus dem Bündnis ausgebrochen waren, selbst jetzt, wo die U.S.A. und viele andere Staaten kronosisch besetzt waren. Selbst jetzt, unter der ultimativen Bedrohung. Scott konnte nicht anders und musste vor Otomo den Hut ziehen. Der Mann hatte die Zeichen der Zeit stets gesehen und immer auf sein Ziel hingearbeitet, die Welt selbst schützen zu können, auch wenn alle Staaten der Welt ihm den Rücken zukehrten. Eikichi Otomo war nicht zum König der Erde geworden, nicht zum Regenten. Nein, er war ihr Verteidiger, ihr Oberster Paladin. Und für dieses Ziel hatte er seine eigenen Kinder geopfert, wieder und wieder in den Kampf geworfen. Er hatte das auf die Waagschale getan, was ihm das Kostbarste war. Nicht einmal die verrücktesten Legaten – von denen es einige gegeben hatte – waren jemals so weit gegangen.

Und nun, an einem Punkt der Entwicklung, an dem der überlebende Legat, an dem die kronosischen Kräfte ins Spiel hatten zurückkehren können, an dem sie wieder eine Macht darstellten, war Michael Berger zu ihnen gekommen und hatte sie erobert. Er war als Investor gekommen, hatte schleichend die Macht an sich gerissen, und sogar Mother, den allmächtigen Avatar der kronosischen Biocomputer auf seine Seite gebracht.

Und seit einiger Zeit ging das Gerücht um, Flieder wäre auf seiner Seite. Wie er dieses Kunststück hätte vollbringen sollen war Scott schleierhaft, denn Flieder war der Codename für eine KI-Assasinin, die während der ersten AURORA-Expedition, Unternehmen Troja, verschollen war.

Aber wenn das wirklich stimmte und die Algerierin nun für Berger arbeitete, dann würden die meisten Kronosier und ihre Söldner nichts entgegen setzen können. Von den KI-Meistern der Organisation war die selbst unter jenen, die KI-Assasinen geworden waren, die Beste und die Gefährlichste.

Unvermittelt begann der Legat zu sprechen. „Michael, wann rotten Sie uns aus?“

Amüsiert sah der Naguad herüber und zog dabei beide Augenbrauen hoch. „Wie meinen?“

„Wann endet unsere Nützlichkeit für Sie? Wann kommt die UEMF und hebt uns aus?“

„Sie glauben, dass die UEMF mit mir als willigen Helfer von innen Ihre Organisation auslöschen wird? Seien Sie nicht albern.“

„Wir sind Ihr Feind“, warf Scott ein.

„Das fällt Ihnen aber reichlich spät ein. Immerhin bin ich schon ein paar Monate in diesem Laden“, spottete der Fioran.

„Wenn Sie es tun, waren Sie uns wenigstens vor. Einige von uns wollen selbst entscheiden wie sie gehen.“

Nun wandte sich Michael dem Legaten zu. „Gordon, Sie haben mein Wort: Die UEMF wird die Kronosier nicht vernichten. Im Gegenteil. Sie wird eines Tages an das Legat herantreten und ihm eine vollwertige Mitgliedschaft anbieten. Vielleicht nicht als gleichberechtigte Organisation, aber doch als zukünftige wertvolle Stütze zur Rettung der Menschheit. Sie wissen, um was es uns geht.“

„Ja, und da wird ein Störfaktor wie die Kronosier irgendwann einmal tödlich sein.“

„Nur wenn die Kronosier ein Störfaktor sein wollen.“ Michael lachte leise. „Mein Enkel Akira hat den Mars erobert. Erinnern Sie sich?“

„Ja. Ich war hier auf der Erde, als es geschah.“

„Sie haben dadurch fast alle Mitarbeiter auf dem Mars verloren, dazu Dutzende Schiffe. Außerdem konnten mit den aus dem Core gezogenen Daten fast zwei Drittel aller Nester auf der Erde ausgehoben werden können. Der Rest wurde unerbittlich gejagt.“

Scott nickte dazu. Er erinnerte sich noch sehr gut an das erste Jahr nach der Eroberung. Mother war mit der Abschaltung der einzelnen Komponenten immer schwächer geworden, hatte die überlebenden Legaten immer weniger beschützen können, und als gejagter Mann war Scott mit seinen wenigen treuen Gefolgsleuten von Versteck zu Versteck gehetzt worden, bis es ihm irgendwann gelungen war, seine Spuren gut genug zu verwischen. Danach hatte er sich angesehen, was von den Kronosiern noch übrig geblieben war und hatte zu seinem Entsetzen feststellen müssen, dass das neue kronosische Volk im großen und ganzen loyal zur UEMF stand. Dennoch war das Legat nicht geschlagen worden; nicht vollständig geschlagen worden. Er hatte sich erholt, über Mother Kontakt zu den anderen Überlebenden aufgenommen, enorme Gelder abgerufen, die sie über Scheinfirmen in neutralen Staaten gebunkert hatten. Damit hatte er Firmen unterwandert, neue gegründet und anschließend aus den Trümmern wieder das aufgebaut, was ihm möglich war. Es hatte genug sein sollen, den Kampf eines Tages wieder aufzunehmen. Es hatte genug sein sollen, den Legat wieder entstehen zu lassen und diesmal mit Kronosiern zu besetzen, die ihren Job verstanden. Die sich einem höheren Ziel verpflichtet fühlten und nicht der kurzsichtigen Gier nach Reichtum und Macht.

Wobei er sich nie ganz sicher war, was ihn damals überhaupt dazu veranlasst hatte, alle Brücken hinter sich abzubrechen, um ausgerechnet jener Organisation beizutreten, welche die Städte der Welt angriff. Hatte er auf der Seite der Sieger sein wollen? Hatte er die Chance gesehen, Einfluss auf die Kronosier zu nehmen? Wollte er etwas besser machen? Wollte er Ziele erreichen? Ein kluger Mann hatte mal gesagt: Es gibt kein Volk. Es gibt nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, und das ist eine Meinung von vielen tief in jedem Menschen.

Dieser Mann hatte gemeint, dass es Homogenität nicht gab. Man konnte ein Rudel Fußballfans nur als Gruppe zählen, solange es um Fußball ging. Kam Handball hinzu, verließen einige die Gruppe und andere kamen hinzu. Wenn man das Spiel lange genug fortsetzte, dann hatte man irgendwann in der Gruppe nicht mehr ein einziges Gesicht aus der Gruppe der Fußballfans. Und die meisten, welche die Gruppe verlassen hatten oder ihr beigetreten waren, hatten mit nicht einmal einem Drittel gleiche Interessen. Zudem waren sie unorthodox verteilt, sodass nur Gruppen mit kleinster und klarster Aussage wirklich groß wurden. War die Aussage komplexer, schrumpfte die Gruppe.

Bei Fußball war die Gruppe groß, ging es aber um verschiedene Vereine, spalteten sich die Interessen.

In der Politik war das nicht anders. Das große Thema, das sie erst alle zu Kronosiern gemacht hatte, das war Macht gewesen. Einige hatten ihr gehuldigt, andere hatten in ihr gebadet, wieder andere hatten sie rücksichtslos gebraucht. Aber Macht hatten sie alle haben wollen.

Geld war eine Form dieser Macht gewesen. Mit Geld hatten sie Rekruten angelockt, mit ihnen die Streitkräfte aufgebaut, ihr Heer formiert. Damals war er selbst einer dieser Rekruten gewesen, hatte gegen die Länder der Erde gekämpft. War früh und schnell befördert worden, hatte ein eigenes Schiff bekommen und selbst Autorität ausgeübt. Damals war ihm eine andere Form der Macht bewusst geworden. Macht durch Ausstrahlung. Seine Untergebenen hatten ihn respektiert, verehrt, und er hatte diese Macht über sie nie missbraucht, stets so gelenkt, dass sein Schiff am besten funktionierte, die beste Leistung zeigte.

Aber dieser Respekt war es letztendlich gewesen, der ihm die große Lücke zwischen Legat und den einfachen Kronosiern und Söldnern gezeigt hatte.

Auch wenn das Legat gerne zum Besten gab, warum es die Erde hatte erobern wollen hatte es genügend unter ihnen gegeben, die die immense Chance gesehen hatten. Die Chance, die Erde nachhaltig zu verändern, die Menschen zu verändern.

Scott sah auf seine Hände hinab. Ja, mit ihnen hatte er das Schicksal wenden wollen. Er hatte es besser machen wollen. Und er hatte versucht in das Legat aufzusteigen, Einfluss auf die Politik zu nehmen, etwas zu verbessern, zu verändern. Und dann war er ins Legat gekommen, hatte Einfluss auf die Politik genommen. Und war auf der Erde gewesen, als Akira Otomo alles zerstört hatte, was er überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte. Sein Werk hatte noch nicht begonnen und war schon vernichtet worden.

Und die Erde? Hatte sie sich verändert? Verbessert? Nein, sicher nicht. Lediglich die UEMF existierte weiterhin, wie ein winziges Zeichen der Vernunft.

„Und jetzt“, sagte Michael Fioran, genau in dem Moment, in dem der Legat mit seinen Gedanken wieder an das hier und jetzt dachte, „stehen Sie hier und haben Macht. Macht genug, um jene Staaten zu erobern und zu kontrollieren, die aus falschen Stolz, aus Unvernunft oder einfach aus Trotz unseren großen Plan zur Rettung der Menschheit sabotieren würden. Ich weiß, das ist Hybris, hoffnungslose Überlegenheit, aber ich stehe dazu. Ich stehe auch mit meinem Wort dafür gerade. Ich will der Welt ihre Chance geben, und ich weiß, dass Sie es auch wollen. Die Kronosier, die Sie um sich versammelt haben, Legat Scott, sind nicht einfach nur jene, die uns über die Jahre nicht in die Netze gerieten. Es sind jene, mit denen ein Idealist wie Sie zusammenarbeiten kann.

Hätte ich nicht die Vernunft gesehen, hätte ich nicht den Willen gesehen etwas zu verändern, hätte ich das Legat auslöschen können.

Nun ist es wichtig, dass Sie etwas begreifen, Legat Scott. Sie werden niemals alle Menschen ändern können. Sie werden niemals alle Ziele erreichen können. Alle die Ihnen heute zujubeln können Sie morgen schon ausbuhen. Ziele sind abstrakt, und das müssen sie auch bleiben, sonst werden sie nie Wirklichkeit. Was ist schon Weltfrieden? Was Gewaltlosigkeit? Was die Abschaffung aller Waffen? Was das harmonische Zusammenleben von Mensch und Natur? Abstrakte Ziele, die wir nicht erreichen können. Aber wir können nach ihnen streben. Jeden Tag nach ihnen streben.

Sie können keinen perfekten Staat erschaffen, nicht solange es Menschen gibt, die ihn bewohnen. Sie können dem nur sehr, sehr nahe kommen. Und jene, die heute an Ihrer Seite streiten können Sie morgen schon hintergehen. Das ist der Lauf der Dinge, das ist der Wechsel der Welt. So geschieht es, so ist es.

Veränderungen, die Bestand haben wollen, müssen langsam vonstatten gehen und ins Bewusstsein der Menschen einsickern. Sie können Grundlagen legen, aber die Menschen nicht zwingen, niemals zwingen. Aber alle, die diese Grundlagen annehmen, sich zu eigen machen, sind ein weiterer entscheidender Schritt auf dem Weg zum abstrakten Ziel.“

„Sie wollen mir also sagen, was ich bisher getan habe ist eigentlich sinnlos, meine Ziele kann ich nur mit Gewalt durchsetzen oder ihnen sehr viel Zeit geben, aber ich soll trotzdem weitermachen?“

„Im Prinzip ja. Sie müssen begreifen, dass Sie nützlich sind, wenn Sie Ihre Ziele weiterhin verfolgen, Gordon. Sie können Dinge tun, die der UEMF verwehrt sind. Sie können Menschen erreichen, die trotz aller Vernunft nie auf uns hören würden. Es heißt, nur Nixon konnte nach China gehen. Und es scheint, dass wir in diesen Tagen unseren eigenen Nixon brauchen, einen Gestrauchelten, der das Richtige tut, um die Welt zu stabilisieren.“

Der Naguad sah gen Himmel. „Seit zwei Wochen befinden sich Erde, Mond und Mars in eigenen Daimon, Dämonenwelten. Diese Zeit ist unerbittlich verflossen. Die große Spinne hat gesagt, dass wir das KI dieser Welt gut ein Jahr sammeln können, bevor der Bedarf des Liberty-Virus so hoch wird, dass nicht mehr nur freies KI, sondern auch die lebenden Dinge selbst angezapft werden. Das wird zwangsläufig zu ihrem Tod führen. Für den einen schneller, für den anderen langsamer. Aber das brauche ich Ihnen als Projektleiter Youma ja nicht zu erklären.“

Scott räusperte sich verlegen. Youmas künstlich aus KI herzustellen und zur Sammlung von weiterem KI zu benutzen hatte sich damals wie eine tolle Idee angehört, war aber dank der Magischen Youma Slayer schnell nach hinten losgegangen. Im Prinzip taten seine ehemaligen Gegner heute das gleiche wie damals er und Tora. Und das Ergebnis würde das gleiche sein, irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft. Doch während ihre Youmas immer nur wenige Menschen gefährdet hatten, hatte Michael Fioran die zweifelhafte Ehre, gleich drei Welten nach und nach zu entvölkern. Sie gingen ein hohes Risiko ein, aber immerhin hatte ihr Gegner, ihr letzter Gegner auch das größte Gefahrenpotential. Falls dahinter nicht noch ein stärkerer, mächtigerer, verheerenderer Gegner lauerte.
 

Übergangslos wurde Gordon Scott aschfahl, als sich eine riesige Pupille vor das Aussichtsfenster schob und ihn beobachtete. „Michael, was ist das?“

„Das ist der Marsmallow-Mann.“ Michael lächelte amüsiert. „Er ist das KI-Biest, welches in New York das freie KI sammelt. Wir orientieren uns bei der Kreation der KI-Biester an Legenden, Vorlieben und Wappen. Und New York hat sich diese Gestalt für die Kreatur gewünscht, die ihr freies KI absorbiert.“

Das Gesicht des Fioran wurde ein wenig düster. „Oder sie einst alle töten wird. Entweder macht es das KI-Biest, nach und nach, oder die Daimon fällt zusammen, und die Götter tun es. Mit einem Schlag.“

Michael winkte freundlich. Die Pupille wich etwas zurück, und eine riesige weiße Hand erschien, die eifrig zurückwinkte.

„Er ist riesig.“

„Er ist immateriell, keine Sorge. Aber seine Größe zeigt ganz deutlich wie viel freies KI diese Gigantstadt zu bieten hat.“

Der Marshmallow-Mann trat noch weiter zurück, winkte weiterhin und lächelte dabei, bevor er seinen Weg fortsetzte.

„Dies ist der achtzigste Stock“, sagte der Legat fassungslos.

„New York hat fast zwanzig Millionen Einwohner“, erwiderte der Naguad.

„Unglaublich. Hätte ich jemals ein so großes KI-Biest geplant, hätte man mich ausgelacht. Aber Sie erschaffen es einfach. Respekt.“

„Manche Dinge geschehen nur, wenn man sie selbst macht. Merken Sie sich das als Lektion, Gordon.“

Der Legat sah dem KI-Biest nach und dachte über diese Worte nach. Wenn er selbst es nicht tat, wer würde es dann tun? Wenn er die Zukunft der Kronosier nicht gestaltete, wem durfte er es überlassen? „Erzählen Sie mir von dieser Partnerschaft mit der UEMF, Michael Fioran.“

***

„Es ist unglaublich! Eine riesige Wölfin streift durch Rom, erklimmt die Spanische Treppe, rennt um das Collosseum herum und spielt mit den Kindern!“

„In Berlin tobt der Bär, genauer gesagt der Berliner Bär. Das beliebte Wahrzeichen der Stadt wurde lebendig und erfreut als lustiger, brummender Gigant die Menschen zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz.“

„Los Angeles, die Stadt der Engel, trägt seit heute ihren Namen zu Recht. Denn über der Stadt schwebt ein strahlender Engel mit seinen schneeweißen Flügeln und betet in religiöser Verzückung für das Heil dieser Welt.“

„Mexico City hat einen neuen Helden! Ein mächtiges Wesen ist erschienen wie ein Sendbote Gottes und hat die herrliche Stadt und den mächtigen Talkessel, in dem sie liegt zu seinem Nest erkoren. Der prächtige Leopard erweist der Stadt mit seiner Anwesenheit die Ehre.“

„Tokyo ist um ein Wunder reicher. In Roppongi streift eine riesige Gestalt herum, eine fünf Meter große, dicke, aufrecht gehende Katze mit quittegelbem Fell und einem fröhlichen Grinsen im Gesicht, die mit den Kindern spielt, sie auf seinem Fell toben lässt und zu jedermann freundlich ist. Tokyo ist stolz auf dieses Symbol und auf das einzige materielle KI-Biest zugleich.“

„Kairo ist der Hort der islamischen Kultur. Und Kairo ist eine enge, verwinkelte eigene Welt. Seit dem heutigen Tag ist Kairo aber auch die Stadt der Wunder, denn über der Stadt segelt ein riesiger Wüstenfalke, der mit wachem Auge über sie wacht wie einst die antiken Götter über das Sagenreich der Pharaonen.“

„In Kalkutta neigen die Gläubigen das Haupt vor den Göttern, denen es gefallen hat, uns in der schwersten aller Stunden ihren Beistand zu zeigen, indem sie uns einen riesigen weißen Elefanten sandten, der unübersehbar über die Gebäude der Stadt hinausragt und sie unter seinem mächtigen Bauch beschützt. Dies ist die Zeit der Wunder.“

„…Ein prachtvoller schwarzer Stier in Madrid… …geht ein riesiger Löwe durch London… …hat Paris, die Stadt der Liebe, nun seinen eigenen Cupido… …Holla! Nun hat Rio letztendlich alles, was es auf dieser Welt gibt, denn seit heute tanzt eine riesige Sambafee durch unsere Straßen… …liegt ein riesiger Panda auf dem Platz des Himmlischen Friedens und verträumt seinen Tag im schönen Peking… …hat Moskau seinen eigenen russischen Bären… …streicht seit gestern ein gigantischer Tiger durch Shanghai, dessen Schwanz sogar noch die Hochhäuser streift… …in Hamburg fliegt die weiße Taube übern Kiez und in München strolcht ein echter Wolpertinger durch die Straßen… …sitzt seit Stunden ein gigantischer Koalabär neben der Staatsoper von Sidney und genießt die Sonne…“
 

3.

So ein Sprung war doch was feines. Nichts zu tun, niemand zu bekämpfen, man hatte Freizeit! Richtige Freizeit! Was für ein exotisches Wort. Ich hätte nie gedacht, dass es mir bei dem scharfen Training von Kitsune je wieder so leicht über die Lippen gehen würde.

Herrliche, langweilige, unbeschwerte Freizeit. Zwar nur in meinem Garten, aber immerhin.

„Kannst du mir was erklären, Kitsune-chan?“

Die Fuchsdämonin öffnete ein Auge einen Spalt weit, gähnte und drehte sich auf die andere Seite. Das hätte wirklich süß ausgesehen, wenn sie gerade ein Fuchs gewesen wäre. So aber war es doch etwas irritierend, wenn ein Mensch sich so verhielt. Hätte nur noch gefehlt, dass sie sich zwischen den Beinen gekratzt hätte.

„Kitsune-chan?“

„Was denn?“, murmelte und wälzte sich wieder in meine Richtung. „Ich habe Pause.“

„Die du ausnutzt, um im Bikini ein Sonnenbad zu nehmen“, murrte ich.

„Pause ist Pause. Aber für den großen Ningen-Helden Akira Otomo mache ich eine Ausnahme. Also, Reyan Oren, schütte mir dein Herz aus. Ich höre dir zu, für eine kalte Cola.“

„Das ist Erpressung“, warf ich ihr vor, angelte aber gehorsam eine der kalten Flaschen aus der Kühltasche. „Hier, bitte.“

„Danke. Du bist ein Lebensretter. Bis zur Tasche hätte ich es nie geschafft. So, und jetzt klage der Tante dein Leid.“

„Tante ist gut“, murmelte ich. „Mir geht eine Sache nicht mehr aus dem Kopf.“ Ich blinzelte. Es war fast Mittag, aber ich hatte keine Probleme, mich der moderaten Sonne der AURORA auszusetzen. Meine Fähigkeiten als KI-Meister würden selbst einen schweren Sonnenbrand ausheilen. Ach was, von vorne herein verhindern. Ich brauchte nicht mal Sonnenöl, und das machte das Leben als KI-Meister doch sehr angenehm.

Ich ließ meinen Blick über den Garten schweifen. Kei und Ami lagen faul im Pool, Laysan und Sakura spielten miteinander Ball und versuchten Makoto dazu zu bewegen, mitzumachen. Und Megumi unterhielt sich mit Joan. Dabei trafen mich immer wieder böse Blicke der Diva, also konnte ich mir schon denken, worüber sie sprachen.

„Also, was willst du? Erst bringst du mich um meine Pause und dann bist du stumm wie ein Fisch.“

„Entschuldige.“ Ich räusperte mich vernehmlich. „Es gibt da eine Frage, die mich quält, und zwar…“

„Wenn du wissen willst, wie ich entstanden bin, also das war so: Wenn ein Fuchsdämon und eine Fuchsdämonin… Was?“

„Der Witz ist alt, Kitsune-chan. Außerdem weiß ich, dass deine Vorfahren ein Adler-Dai und ein Wolf-Dai waren. Wie du jemals dazu gekommen bist, die Füchse anzuführen ist mir schleierhaft.“

„Der Job war halt gerade frei. Und da ich nichts besseres vorhatte und zudem die mächtigste Dai seit zehntausend Jahren war, habe ich halt den Posten übernommen. Außerdem mag ich den niedlichen Tierkörper.“ Sie lächelte mich über den Rand ihrer Sonnenbrille an. „Du doch auch, Aki-chan.“

„Nicht nur den Tierkörper“, erwiderte ich.

„Oooh, das hast du so süß gesagt! Ich bin ja hingerissen! Hin-ge-ris-sen! Aki-chan, du bist so ein niedlicher Daina, ich könnte dich den ganzen Tag drücken.“

„Mehr als ohnehin schon?“, fragte ich aus meiner sehr unbequemen Pose, in die Kitsune mich gerissen hatte, ohne dass ich den Hauch der Chance auf eine Gegenwehr gehabt hätte. Nun, manche Männer hätten bestimmt dafür getötet, wären sie von der niedlichen Dai mit dem Gesicht auf ihren Busen gedrückt worden; und im Gegensatz zu Sakuras üppiger Oberweite blieb mir hier noch die Chance zu atmen.

Aber die schmerzenden Blicke in meinem Nacken zeigten mir, dass das was ich hier tat nicht gerade von Vorteil für mich war. Oder vielmehr was ich mir antun ließ.

„Oh, da ist ja jemand eifersüchtig. Und das, obwohl Megumi-chan dich schon die ganze Woche so kalt behandelt. Was meinst du, Aki-chan, wollen wir ihr mal etwas geben, das sie so richtig eifersüchtig macht?“

„Es liegt nicht an ihr“, erwiderte ich. „Es liegt an mir.“

„Was?“ Überrascht ließ sie mich wieder los. „Was hast du getan?“

„Ihr die Wahl gelassen. Immerhin wird die Situation immer gefährlicher für uns und sie sollte die Chance haben, sich zurückzuziehen, wenn sie es wünscht.“

„Akira, du bist ein Idiot.“

„Ja, Sensei. Ich weiß, Sensei. Aber ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden, wenn ich es nicht ausgesprochen hätte.“

„Ein Riesenidiot“, stellte sie fest. „War es das, was du wissen wolltest?“

„Eigentlich nicht, das wusste ich schließlich schon vorher“, erwiderte ich brummig.

„Worum geht es?“

„Um die Trennung von meinem Körper. Ich war zeitweise achtzig oder mehr Lichtjahre von ihm entfernt, oder?“

„Ja, das dürfte in etwa hinkommen. Und? Was ist damit?“

„Ich konnte mit meinem Körper als Relais mit Ai-chan kommunizieren.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen. Eine Meisterleistung. Auch einer der Gründe, warum Kuzo-sama zugestimmt hat, deine weitere Ausbildung in meine Hände zu legen. Du hast enormes Potential.“

„Das mag ja sein, aber wie ist das möglich? Ich meine, es ist ja schon verrückt genug, diese Entfernung zurückzulegen. Aber wie kann ich mit meinem Körper über diese Distanz verbunden gewesen sein?“

Kitsune zuckte mit den Achseln. „KI.“

„KI? Das ist alles?“

„Natürlich nicht dein eigenes KI. Kannst du etwas mit dem Begriff… Warte, wie nennt Ihr Menschen es? Ley-Linien. Kennst du das Wort?“

„Ley-Linien. Hm, da klingelt was.“

„Man nennt sie auch Erdenergielinien. Nun, die Wahrheit ist, sie sind Teil des planetenumspannenden elektromagnetischen Feldes und überziehen die ganze Welt. Diese Energie fokussiert sich an manchen Orten zu langen Strängen, dies sind die Ley-Linien. Das gleiche gibt es auch auf stellarer Ebene, nur eben nicht als Elektromagnetismus, sondern als gravitatorische Kraft. Wir nennen diese Linien, die sich durch den Weltraum pflanzen, Lokk-Linien. Als du mit deinem Körper kommuniziert hast, hast du dich der Kraft der Lokk-Linien bedient. Lokk-Linien sind nur bedingt Teil des Einstein-Raums. Sie haben sich tief in die Raumzeit des Universums eingegraben, bilden fast eigene kleine Universen. Das macht sie für den Weltraum aber noch wichtiger. Und das ist das besondere daran: Dein Verstand war in der Lage, auf den Lokk-Linien in Nullzeit achtzig Lichtjahre und mehr zu reisen, beziehungsweise sich der Linien als Sprachrohr zu bedienen. Sieh es wie eine große Stimmgabel.“

„Ich verstehe“, log ich.

Kitsune seufzte. „Und Dai-Kuzo-sama isst gerne Fischbrötchen. Sei froh, dass das die einfache Erklärung war. Die komplizierte willst du gar nicht hören.“

„Das heißt also, ich war nicht mit einer superlangen und hauchdünnen Nabelschnur permanent mit meinem Körper verbunden?“

Kitsune sah mich an als hätte sie einen Idioten vor sich. Vielleicht stimmte das sogar. „Sag mal, was hast du geraucht? Achtzig Lichtjahre, Aki-chan! Achtzig! Egal wie dünn diese Nabelschnur auch sein mag, bei dieser Entfernung wäre von dir nicht mehr genügend übrig geblieben, weil deine ganze Substanz für die superlange Nabelschnur drauf gegangen wäre!“

Misstrauisch musterte sie mich. „War das deine weltbewegende Frage?“

„Ich wollte es ja nur mal wissen“, murmelte ich verstimmt. „Immerhin sagt man ja bei außerkörperlichen Erfahrungen, dass man mit einer Art Nabelschnur mit dem eigenen Körper verbunden bleibt.“

„Aki-chan… Hör auf dem Fernsehen zu glauben.“

„Ich meine ja nur.“

„Du meinst zuviel. Deswegen hast du auch Megumi so vor den Kopf gestoßen.“ Sie seufzte viel sagend. „Männer halt. Was wundert mich das überhaupt noch? Hör zu, Aki-chan, wenn du Megu-chan so etwas sagst, dann brauchst du dich nicht zu wundern, wenn sie dein Angebot annimmt, klar?“

„Ja, ich weiß“, murmelte ich bedrückt.

„Aber wenn sie das tut, kannst du jederzeit zu Kitsune-sama kommen. Ich finde dann schon einen Weg, dich zu trösten.“ Sie zwinkerte mir zu.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob es angemessen war, eine eiskalte Dusche zu nehmen.

***

Der Einloggvorgang in den gigantischen virtuellen Raum, der das Paradies von Daima und Daina bildete, ging nicht ohne Folgen an Henry Taylor vorbei. Bereits zweimal hatte er lange Zeit in einem Heiltank verbringen müssen, und das beide Male, weil ihn dieser junge Strolch und Tausendsassa Akira dahin verfrachtet hatte. Deshalb hatte er seine Erfahrung mit der virtuellen Welt auf der anderen Seite.

Aber dies hier, dies war der Ursprung der Virtuell-Welten aller Biocomputer weltweit, aller existierenden K.I.-Netzwerke, die von menschlichen Gehirnen unterstützt wurden.

Dies war das gelobte Land für jeden Escaped und jeden ernsthaften Forscher.

Henry hielt kurz an sich, als er auf ziemlich wackligen Beinen zu stehen kam. Er sah an sich herab, und nichts erinnerte ihn daran, dass er gerade in einen gigantischen Biocomputer eingeloggt hatte. Selbst in der virtuellen Welt der heimischen Biocomputer war er sich immer bewusst gewesen wo er war, und woraus seine Umgebung bestand. Aber dies hier fühlte sich an wie… Die Realität.

„Geht es?“, fragte eine besorgte Stimme neben ihm.

Henry William Taylor sah zur Seite und zwang sich trotz aufsteigender Übelkeit zu einem Lächeln. „Natürlich, Ai. Die Intensität des Landes hat mich nur für einen Moment überrascht.“

Er ließ seinen Blick über die große weite Wiese schweifen, über der ein strahlend blauer Himmel hing. „In den anderen Biocomputern haben die Menschen geglaubt, in der Realität zu sein, solange ihnen niemand bewusst gemacht hat, dass sie in einer Scheinwelt leben. Das hat sich Akira zunutze gemacht und ist aus eigener Kraft aus ihr aufgebrochen. Hier aber musst du wissen, dass es noch eine andere Realität gibt, sonst fängt diese dich ein.“

Henry wandte sich um. Sein Team schien vollzählig zu sein. Gerne hätte er Sarah Anderson dabei gehabt, aber die wichtigste Wissenschaftlerin der Escaped gab ja lieber ihrem Zigeunerblut nach, um als Youma Slayer und Anführerin bei den Otomes wüste Abenteuer zu erleben, anstatt wertvolle Grundlagenforschung zu betreiben. Mann, wie er die junge Frau beneidete.

„Was seid ihr?“, herrschte ein Mann sie an. Äußerlich sah er aus wie Mitte dreißig, aber die Augen waren alt, uralt, weit älter als er bei Naguad gesehen hatte, die schon tausend und mehr Jahre hinter sich gebracht hatten.

„Wie, was seid ihr?“, fragte Henry verdutzt.

„Seid ihr Daima oder Daina?“

Henry zog die Stirn kraus. „Spielt das eine Rolle?“

„Natürlich spielt das eine Rolle! Es entscheidet auf welche Seite des Paradies ihr dürft! Dies hier ist die Hälfte für die Daina! Und dort drüben ist das Gebiet für die Daima!“

„Ist es denn so wichtig? Warum können wir nicht gehen wohin wir wollen?“

„Es gibt Regeln im Paradies. Und damit es ein Paradies bleibt, gehen sich Daima und Daina aus dem Weg. Ich war ja von Anfang an dagegen überhaupt Daina aufzunehmen. Oder man hätte wenigstens zwei getrennte Paradiese errichten können. Aber das hätte ja einen Rückschlag bei der Rechnerleistung bedeutet. Und deshalb frage ich euch: Seid ihr Daima oder Daina?“

„Was sagt denn die Herrin dazu“, fuhr Henry dem Mann in die Parade.

„Die Herrin? Sie ist für die Außenpolitik zuständig. Den Rest regeln wir hier drin immer noch selbst. Also, beantworte meine Frage.“

Henry wandte sich kurz um und musterte sein Team. Zwei seiner Leute waren Anelph, einer ein Naguad aus dem Arogad-Haus und ihm schon seit dieser Zeit als Historiker zugeteilt. Dann waren da noch Ai und drei terranische Wissenschaftler. Er hatte Glück. Es ging genau auf. „Wir vier sind Daima“, sagte er und deutete auf die Anelph und den Arogad, „und jene vier sind Daina.“

„Dann ist es entschieden. Ihr Daima geht da rüber. Und ihr Daina kommt einfach mit mir.“

Ai Yamagata zögerte einen Moment.

„Du übernimmst die Koordination über die andere Hälfte des Teams“, erklärte Henry mit ruhiger Stimme. „Die Ziele sind bekannt. Wir können jederzeit miteinander in Verbindung treten oder uns ausloggen. Und vergiss nicht, Akira erwartet brauchbare Ergebnisse.“

„Ja“, murmelte sie schwach und sah ihn dabei an, dass so mancher Hundewelpe auf diese flehentlich bittenden augen neidisch geworden wäre.

Henry konnte nicht anders, auch wenn dies nur eine virtuelle Welt war, er gab ihr einen langen, gierigen und erfreulich von ihr erwarteten Kuss.

„Geh jetzt“, sagte er zu Ai und schickte sie mit einem Klaps auf ihr wohlgeformtes Hinterteil auf den Weg.

Zögernd folgte sie mit ihrem Dreierteam dem Daina, der sie gerade lautstark für das fraternisieren mit einem Daima tadelte. Diese Grenzen zu ziehen hatte keinerlei Sinn, wenn sich irgendjemand vornahm, sie wieder einzureißen.

Henry sah ihr einen Augenblick nach, dann winkte er den übrigen drei Forschern. „Herrschaften, auf uns wartet eine Menge Arbeit.“

„Verstanden.“

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung, auf das Gebiet der Daima zu.
 

4.

Bei unserer Ankunft im Pascem-System herrschte große Betriebsamkeit. Ein Probelauf des KI-Einspeisers für die Triebwerke verschaffte uns die Möglichkeit, die AURORA weit über das normale Maß zu beschleunigen und den Abstand zur SENCAN, dem Trägerschiff für das Gyes-Regiment binnen eines Tages zu überbrücken. Etwas, wofür wir sonst vier gebraucht hätten. Das war ein sehr erfolgreicher Probelauf und ließ uns alle für die Zukunft hoffen.

Der nächste Schritt würde der Sprung zurück nach Tautor sein, in dem die Kaisertreuen den Raum, aber nicht die Planeten beherrschten. Mit der Streitmacht der AURORA, den verbündeten Iovar-Einheiten, vereinzelten Schiffen anderer Verbündeter der Intendenten-Flotte sowie zweitausend Raidern hoffte ich die Situation sehr schnell klären zu können.

Aber da gab es etwas, was beinahe noch wichtiger war.

Und es begann, als die Gyes und die Otomes für Reparaturen und Wartungen auf die AURORA zurückkehrten.
 

Es herrschte auch im Wartungshangar rege Betriebsamkeit. Ein Regiment, das bedeutete einhundertzwanzig zum Teil schwer beschädigte Mechas. Wir konnten von Glück sagen, dass wir die Besten geschickt hatten, sonst wären wir nicht mit einem dunkelvioletten Auge davon gekommen. Mit einem regulären Daishi-Regiment hätte man uns den Kopf abgeschlagen.

So aber hatte es gereicht, um den Gegner auf Abstand zu halten und das System wieder zu verlassen. Gute taktische Entscheidung. Besser als ein Last Man Standing-Gefecht, das alle in den Untergang riss.

Ich grinste wölfisch, als die Piloten der Hawks, Sparrows, Eagles und Phoenix sowie die beiden Begleitmannschaften der LRAO zum Debriefing gerufen wurden.

Leiten würde Makoto die Nachbesprechung. Dafür gerade stehen Doitsu. Denn der eigentliche Missionsbefehlshaber, mein alter Freund Yoshi Futabe, würde mir Rede und Antwort stehen müssen.

Ich konnte mir vorstellen, wie irritiert er sein musste, wenn er von Makoto gleich wieder aus dem Briefingraum gejagt wurde. Wenn er auf diesen Konferenzraum zuging, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Wenn er die Tür öffnete, eintrat, und mich sah.

„Hallo, Ralf“, empfing ich ihn.

Yoshi erstarrte in der Tür.

„Komm rein und mach hinter dir zu. Es gibt kein Entkommen.“

„Bist du irre, diesen Namen zu nennen, Akira?“, zischte mein bester Freund wütend und schloss die Tür hinter sich. „Haben wir nicht zusammen beschlossen, alles auf sich beruhen zu lassen und fortan einfach nur zu leben?“

Ich grinste ihn böse an. Langsam hob ich das an, was ich seit seinem Eintritt auf meinem Schoß gestreichelt hatte. Eine ziemlich geknickte Kitsune in Fuchsgestalt, die sich ohne Gegenwehr am Nackenfell anheben ließ. „Ich habe nichts verraten!“, beteuerte sie.

„Setz dich, Yoshi.“

„Akira, wenn wir mal ganz ehrlich sind, dann…“

„ICH SAGTE, SETZ DICH!“

„Jawohl!“ Gehorsam nahm er mir gegenüber Platz.

„Weißt du, Yoshi, mein guter alter Freund, mir sind von vorne herein so viele Unstimmigkeiten in dieser Welt aufgefallen“, sagte ich nachdenklich und begann Kitsune wieder zu kraulen.

„Oh, ja, weiter oben zwischen den Ohren, bitte.“

„Zum Beispiel diese hahnebüchene Geschichte über eine superdeformierte Gottheit, die uns beide in diese Welt versetzt hat. Oder diese vollkommen verblödete Aussage von Kuzo-sama mit der Wiedergeburt in diesem Universum.“

„Also, ich fand das sehr schlüssig“, brummte Yoshi beleidigt.

„Weißt du, wenn ich so drüber nachdenke, dann fallen mir doch einige Sachen auf. Zum Beispiel: Warum sieht Kitsune dieser superdeformierten Gottheit so ähnlich?“ Ich hob sie wieder am Nackenfell an und sah ihr in das verlegen lächelnde Gesicht.

„Äh, gute Gene?“

„Oder warum habe ich absolut keine Erinnerung an die andere Welt? Ich sehe immer nur diesen Raum, uns beide im Raum und die superdeformierte Gottheit, die meinen Wunsch erfüllt. Warum weiß ich nicht mehr? Hatte ich Familie? Wie waren die Namen meiner Familienmitglieder? Wie hießen unsere anderen Freunde? Immerhin sollen wir dort ein ganzes Leben verbracht haben, oder?“

„Vielleicht hat Dai-Kuzo das alles gelöscht weil sie meinte, es wäre fortan unsinniger Ballast für uns?“

„Dem widerspricht aber dein Vorschlag, Kuzo zu bitten unsere Erinnerung an das andere Universum auszulöschen. Hast du das schon vergessen?“ Wieder begann ich Kitsune zu kraulen. Diesmal aber zitterte sie erheblich auf meinem Schoß.

„Jeder Mensch sollte mindestens Eltern haben, oder? Und selbst wenn er die nicht hat, irgendjemanden, der ihn groß gezogen hat. Hast du Eltern, Yoshi? Ich kann mich nicht daran erinnern, in der anderen Welt welche gehabt zu haben. Da ist nichts, absolut nichts.“

Nachdenklich runzelte ich die Stirn. „Aber da gibt es vielleicht etwas, was Licht in dieses Dunkel bringen kann. Was war es doch gleich? Ach ja, deine Geburtsurkunde!“

Freudestrahlend griff ich unter den Tisch und zog ein Papierdokument hervor. Mit einer leichten Drehung aus dem Handgelenk warf ich es Yoshi zu.

„Und oh Wunder, was steht denn da für ein Geburtsname? Lesen wir da wirklich, ich betone: Wirklich Yoshi Ralf Futabe?“ Mein Lächeln wurde immer mehr zur Fassade. Ich ließ meine Augen vor KI aufleuchten und meine Körperaura Funken schlagen. „Hast du mir nicht was zu sagen, Ralf?“

Mein alter Freund schluckte hart. „Äh…“

***

Niedergeschlagen saß Yoshi alias Ralf am Tisch und starrte auf die Tischplatte herab. Neben ihm hockte Kitsune, diesmal als Mensch, aber nicht weniger deprimiert.

„Darf ich euch also zusammenfassen? Dieser irrwitzige Plan stammt also von Opa und Kuzo“, sagte ich in einem strengen Tonfall, den ich sonst nur benutzte wenn ich die Fehler von Piloten tadelte. „Nachdem sich meine Erinnerung selbst nach Jahren nur lückenhaft wieder einstellte habt ihr euch zu einer Schocktherapie entschlossen. Entdecke die Welt noch mal, und das mit kindlicher Begeisterung. Ihr habt mir eingeredet, ich würde in einer parallelen Welt existieren, und um es glaubwürdiger zu machen, hat Yoshi mitgemacht. Uns beiden wurde partiell das Gedächtnis blockiert, um seine Reaktionen glaubhafter zu machen, und dann kam Kitsune vorbei und hat getan, als würde sie uns in eine Welt versetzen, die aus einem Manga stammt. Warum aus einem Manga?“

Zerknirscht sah Yoshi mich an. „Daran bin ich wohl Schuld. Du hast irgendwann mal gesagt, die Hawks, die Daishis und die Antriebe kämen dir so vor wie frisch einem Manga entsprungen. Also haben wir dir eingeredet, du wärst verjüngt worden und müsstest wieder auf die Schule gehen, in einer Welt, in der es tatsächlich Mechas gab. Das haben wir vor allem getan, damit Megumi endlich wieder mit dir sprechen kann. An sie hast du dich ja kaum noch erinnert, und wir konnten das nicht mehr mit ansehen.“

„Und du hast brav mitgemacht. Und hat mir diese hanebüchene Geschichte aufgetischt.“

„Welche? Die mit den KI-Fähigkeiten, die ich plötzlich entdeckt habe? Diesen Teil meiner Erinnerung hat Kuzo amnesiert.“

„Nein, den Part, in dem du mit Dai-chan zusammengestoßen bist! Du hast doch längst gewusst, dass er auf Sarah und damit auf die Escaped aufgepasst hat, mit der ich in diesem Supercomputer gefangen gewesen war.“

„Was? Das? Oh. Sorry, aber du hast mich als erster in die UEMF geholt. Bis dahin war ich über Interna nicht informiert. Meine Eltern sind zivile Mitarbeiter, keine militärischen, genau wie mein Opa.“

Bei diesem Rückschlag verschlug es mir kurz die Sprache. Aber ich hatte mein Pulver noch nicht verschossen. „Deinen deutschen Namen hat Kuzo verwendet, weil ich ihn im Zusammenhang mit dir kannte. Anschließend wurden alle Dokumente bereinigt, um mich nicht durch einen unerklärlichen Zufall auf die Wahrheit zu stoßen.“

„Bis auf meine Geburtsurkunde. Mist, ich hätte nicht gedacht, dass… Warte mal, warte mal, wir haben meine Geburtsurkunde gefälscht! Und wie kommst du da überhaupt ran, hier auf der AURORA, mitten zwischen den Sternen?“

Ich grinste wohlgefällig. Oberwasser, oh wie ich das liebte. „Keine Ahnung. Eines Tages hatte ich das Ding einfach in der Hand.“ Dass ich in diesem Moment vor einem Drucker stand, erwähnte ich vorsichtshalber nicht.

„Also, Ralf, Ziel dieser Schmierenkomödie war was?“

„Wir wollten dein Interesse für die Welt wieder wecken. Akira, du bist mein bester Freund, und dich so zerstückelt zu sehen konnte ich nicht ertragen. Du warst der alte Akira mit vielen, vielen Löchern, und das konnte ich einfach nicht mit ansehen. Also dachte ich mir, ein neuer Akira, der die Löcher alleine wieder füllt, wäre besser als dieses Wrack!“

„Danke für das Wrack“, murrte ich.

„Wir haben es nur gut gemeint. Wobei mir jetzt erst bewusst wird, dass ich damals tatsächlich Dai-Kuzo-sama begegnet bin. Sie hat mich in den Plan eingeweiht und meine Zustimmung eingeholt.“ Yoshi errötete. „Hat sie mich geküsst? Hat sie mich wirklich geküsst?“

Ich runzelte die Stirn. Das weckte Erinnerungen.

„Oh, das“, kam es von Kitsune. Sie lächelte breit und machte eine wegwerfende Geste. „Das ist ihre Art, interessante Leute kennen zu lernen. Es ist ein KI-Scan. Ein ziemlich präziser, wenn ich mal so sagen darf.“

„Aha. Ein angenehmer Scan“, nuschelte ich.

Yoshi nickte dazu.

„Aber es ging nicht nur darum, dich wieder für die Welt zu interessieren, die dir so übel mitgespielt hat. Oder Megumi die Chance zu geben, wieder mit dir zu kommunizieren. Es ging auch darum, deine selbstzerstörerische Ader zu bekämpfen.“ Kitsunes Blick wurde ernst. „Denn immer wenn du eine deiner riesigen Gedächtnislücken entdeckt hast, kam es vor, dass du destruktiv, leicht katatonisch oder depressiv wurdest. So wie du warst, hättest du nicht weiter leben können, ohne irgendwann über dich selbst zu stolpern. Deshalb haben wir uns entschlossen, dir einen totalen Neuanfang in einer für dich neuen Welt vorzugaukeln. Und es hat ja auch sehr gut geklappt. Bereits am ersten Tag warst du aufmerksamer. Wacher. Mitfühlender. Denn genau an diesem Tag hast du das erste Mal von dir aus ein Wort mit Megumi gewechselt. Das ist dir vorher immer schwer gefallen, weil du sie mit deiner Schwester assoziiert hast. Und die Erinnerung an Yohko war eine der Lücken, die dich destruktiv machte.“

„Aha. Ich war also ein Soziopath.“

„Nein. Du warst verwundet. Und wir haben alles riskiert, um dich zu heilen.“ Yoshi sah mich ernst an. Aber dann umspielte ein Lächeln seine Lippen. „Und ich glaube, es ist uns ganz gut gelungen. Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem du zu mir gekommen bist und gesagt hast, du würdest in dieser Welt bleiben wollen? Das war ein wundervoller Tag. Für mich, für diese Welt und für all die Menschen, die dich lieben. Vielleicht auch für die, die dich fürchten. Davon gibt es auch einige.“

„So ist das also“, murmelte ich nachdenklich. Sich die Wahrheit selbst zusammenzureimen war so eine Sache. Alle Vermutungen bestätigt zu sehen war jedoch ein ganz anderes Kaliber.

„Wie bist du uns eigentlich auf die Schliche gekommen?“, fragte Kitsune verdutzt. „Hast du etwa erkannt, dass die superdeformte Gottheit und ich ein ähnliches Temperament hatten?“

„Oder war es mein deutscher Name? Hing dir Ralf im Gedächtnis?“

„Nein, weder noch. Mir ist einfach aufgefallen, dass ich gar keinen deutschen Namen habe. Ich meine, damals im Zimmer, als ich dir von meiner Idee erzählt habe, in einer Welt zu leben, die wie ein Manga aufgebaut ist, hast du mich nicht einmal mit Namen angeredet. Und ich wusste meinen Namen ja nicht mal selbst. Das hat mir all die Jahre zu schaffen gemacht. Und dann wusste ich endlich, woran ich war.“

Etwas kleinlaut sahen mich die beiden an. „Bist du böse auf uns, Akira?“

„Wer weiß alles davon?“

„Eikichi, Michael, Dai-Kuzo, ich, Okame, Yoshi natürlich, Eridia und Yoshis Opa. Das dürften alle gewesen sein.“

„Hm. Verstehe. Nein, ich bin euch nicht böse. Denn in einem wichtigen Punkt habt ihr ja Recht. Ich will ja in dieser Welt bleiben. Schön, dass ich nun weiß, dass ich gar keine andere Wahl habe.“ Ich erhob mich und schlug beide Hände auf den Tisch. „Und jetzt, Herrschaften, lasst uns was für diese Welt tun und die nächste Schlacht vorbereiten!“

***

Für diesen Schlag würden nur Schiffe der UEMF und der verbündeten Anelph und der Naguad teil nehmen. Ich brauchte dringend einen klaren Beweis dafür, warum dieses Schiff mein Flaggschiff war, warum diese Leute mein Schutz sein sollten.

Wenn sie sich in den Augen aller Verbündeter bewährten, würde dies auch meinen Kurs als Anführer des Cores und Berater des Intendenten gegenüber der UEMF bestätigen. Ich profitierte also doppelt und dreifach davon.

Den Sprung ins Nachbarsystem würden wir auf eine, nun, unkonventionelle Art vornehmen. Nachdem sich der Antrieb als den Belastungen eines KI-verstärkten Normalflugs gewachsen gezeigt hatte, planten wir nun den nächsten, mächtigen Schritt vorwärts. Wir würden mit Hilfe von KI durchstarten, das Wurmloch aufbauen und im Feindgebiet weiter KI-verstärkt fliegen. Ein Gewaltakt sondergleichen.

Anstatt der zwei Wochen, die uns dieses Manöver normalerweise kosten würde, veranschlagten unsere Wissenschaftler lediglich zwei Tage. Grund genug, um Prime Lightning kurz vor der vielleicht entscheidenden Schlacht auf Herz und Nieren zu prüfen.
 

Ich stand also mit Karl an der Bay von Prime und nahm Diagnosen vor. Einige Segmente hatten wir bereits ausgetauscht, sie waren der dauerhaften Belastung nicht gewachsen gewesen. Aber ein wenig Verschleiß gab es immer.

„Akira. Willst du Primes Reaktor nicht endlich gegen die Batterien austauschen lassen? Mit den Batterien fliegst du sicherer. Und du drohst nie, in einer gewaltigen Kernfusion zu verpuffen. Erinnere dich, Blues Ende hast du auch nur überlebt, weil er mit den Fusionsbatterien ausgerüstet war. Da gab es nicht viel was hätte hochgehen können.“

Mahnend sah ich Karl an.

Der grauhaarige Mann runzelte die Stirn. „Ich sags ja nur, weil ich um dich besorgt bin, Junge.“

Ironisch zog ich die Augenbrauen hoch.

„Ich hätte es auch vor der Schlacht geschafft, wirklich.“

Nun runzelte ich die Stirn.

„Okay, okay.“ Mit einem leisen Fluch zog er seine Schirmmütze tief ins Gesicht und widmete sich seiner Diagnoseeinheit. „Du kannst es mir nicht verübeln, dass ich es versucht habe, Akira.“

„Nein, das tue ich wirklich nicht“, erwiderte ich amüsiert. „Ich kann niemandem etwas lange übel nehmen. Außer mir selbst vielleicht.“

Dumme Worte, ganz dumme Worte. Die führten mir nur wieder vor Augen, was ich den Menschen in meiner Umgebung wissentlich angetan hatte. All meinen Freunden, all den geliebten Menschen, mit meinem Exil, mit meiner Entführung. Wie schwer hatte ich sie alle verletzt? Vor allem Megumi…

Meine Gedanken schweiften zurück in eine einfachere Zeit. Die Zahl der Frauen, die sich für mich interessiert hatten war damals erheblich höher gewesen. Ich dachte da nur an Hina und Akane, die mittlerweile beide in sehr glücklichen Beziehungen steckten, auch wenn es lange Zeit für Akane schlecht ausgesehen hatte. Oder Joan, tja. Bei meiner Cousine Sakura war ich mir auch nie wirklich sicher gewesen, wie sehr sie mich liebte. Und auch meine Fioran-Cousine Sora hatte immer einen recht merkwürdigen Blick, wenn sie in meiner Nähe war. Und wenn ich an Yuna dachte, musste ich leider feststellen, dass mich die Lencis bereits viel zu sehr ins Herz geschlossen hatte. Nein, das waren Beispiele aus der Gegenwart, und sie überspielten, wie viele Frauen in der Vergangenheit in mich vernarrt gewesen waren.

Insgeheim war ich ja froh, dass ich für Lonne nie mehr gefühlt hatte als ein großer Bruder für seine kleine Schwester fühlen durfte, denn eigentlich war der weißblonde Wirbelwind vom Mars eigentlich genau Akira Otomos Beuteschema gewesen. Wahrscheinlich hatte ich es immer geahnt oder gewusst, dass sie meine Schwester war. Zumindest interpretierte ich das in meine damaligen Gedanken und Gefühle hinein.

„Akira.“

Oh, ja, beim Klang dieser Stimme fiel mir die wichtigste Frau von allen wieder ein. Megumi. Meine Megumi. Ich hatte es ernst gemeint als ich gesagt hatte, ich würde sie heiraten wollen. Aber ich hatte es auch ernst gemeint als ich gesagt hatte, ich würde ihr die Wahl lassen. Aber wenn sie sich entschied, wenn sie sich für mich, für die Gefahr, für den drohenden Tod und ein Leben in Unsicherheit entschied, dann würde ich sie packen und nie wieder loslassen, denn dann hatte alle Chancen… „Was ist denn, Karl?“

„Es ist nicht sehr nett von dir, ein Mädchen zu ignorieren, Akira“, mahnte er mich mit Spott in der Stimme.

Überrascht fuhr ich herum. Tatsächlich stand dort Megumi! Wie dumm konnte ein einzelner Mann eigentlich sein? Verlegen senkte ich den Blick. „Entschuldige, ich war in Gedanken. Ich… Du trägst ja wieder dieses hübsche Sommerkleid.“

„Schön, dass dir das auffällt. Mein Haar ist auch etwas länger. Hast du das auch gesehen?“, tadelte sie mich.

„Natürlich ist es mir aufgefallen. Aber… Entschuldige, Männer sind nicht gut in solchen Dingen. Sie übersehen offensichtliches manchmal.“

„Ja, das bin ich ja mittlerweile von dir gewöhnt.“ Sie musterte mich mit einem abwertenden Schnauben. „Musst du einen Overall tragen? Kannst du nicht wenigstens deine Uniform anziehen?“

„Vielleicht eine etwas dumme Idee für einen Checkup“, konterte ich pikiert. War sie hier um mich maßzuregeln?

„Mit Uniform wäre es aber schöner“, widersprach sie und sah verlegen zur Seite.

„Schöner?“ Irritiert sah ich sie erröten.

„Ich habe mich entschieden, du großer blöder Holzkopf.“ Sie sah mir direkt in die Augen. „Du kriegst jetzt meine Antwort, okay?“

Ohne zu zögern griff sie nach dem Kragen des Overalls, zog mich zu sich heran und gab mir einen sehr intensiven Kuss, der so überraschend für mich kam, dass ich weder meine Hände um sie legte, noch ihre wild tanzende Zunge im Zaum halten konnte.

„Wow“, machte ich, nachdem sie mich freigegeben hatte. „Und wie lautet deine Antwort nun?“

„Du bist ein Idiot, Akira“, tadelte sie mich mit leiser Stimme, und zog mich erneut zu sich. Diesmal schloss ich meine Hände um sie und drückte sie an mich. Nie wieder gehen lassen, das war das Motto der Stunde.
 

5.

Es bedeutete nicht unbedingt ein Risiko als Daima in den Daina-Bereich zu wechseln, immerhin existierte man im Paradies nur begrenzt körperlich. Aber die Zahl der Gesprächspartner nahm doch rapide ab und tendierte gen Null.

Henry Taylor war dennoch in den Daina-Bereich gekommen. Ai Yamagata nahm ihn in Empfang und führte ihn in eine Katakombe, die sich urplötzlich vor ihm im immergrünen Rasen auftat. Sie stiegen die Stufen bei schlechter Beleuchtung herab, passierten eine düstere Katakombe und fanden ein weiteres Treppenhaus. Dies ging fünfmal so, dann befanden sie sich nach Henrys objektiver Meinung dreißig bis vierzig Meter unter dem Paradies.

Doch als er die letzte Stufe passieren wollte, stürzte seine Welt. Er ging nicht mehr abwärts, sondern aufwärts. Und er ging auch nicht in die Finsternis hinab, sondern in sie hinauf.

Es war nicht länger eine Katakombe, sondern ein unendlich weites Firmament, durchsetzt mit hellen Sternen, dem gütig strahlenden galaktischen Zentrum und einem riesigen grünen Mond, der friedlich auf die Welt herab schien. Es war beinahe taghell, aber es reichte noch, um als gemütlich zu gelten.

„Wo sind wir hier?“, flüsterte er.

„Dies hier ist ein weiterer Teil des Paradies. Dieser Teil nennt sich Abendtraum. Es gibt auch ein Meer, eine Welt für Sonnenaufgang und für Sonnenuntergang sowie einige kleinere Bereiche, in denen die Daina ihren Interessen an der realen Welt nachgehen können. Sag bloß die Daima haben so etwas nicht.“

„Nicht, dass ich es bisher entdeckt hätte.“ Mist. Wenn er zurück war, würde er intensiv nach solchen Bereichen Ausschau halten müssen.

Ai führte den Agenten, den Legaten und jetzigen Historiker auf eine kleine Veranda. Dort hockte ein uralter Daina auf einem Liegestuhl und nippte ab und an vom Cocktail, der auf dem Tisch neben ihm stand. Er war allein, und das musste seinen Grund haben, denn der Bereich Abendtraum war eigentlich sehr gut besucht.

„Das ist er?“

Ai Yamagata nickte. „Das ist er.“

Der Alte zog die Stirn in ungezählte Falten. Sogar die schienen noch eigene Falten zu haben. Ihn uralt zu nennen wäre sicherlich ein maßloses Kompliment gewesen. „Was sollen denn diese ewigen Störungen? Zuerst der Umzug des Paradies wegen diesem Daina-Kind, das sich Soldat schimpft, und nun zwei Gesprächspartner am gleichen Tag. Die Zeiten sind sehr hektisch geworden.“

„Du ahnst ja gar nicht wie hektisch, Alter“, sagte Henry anstelle von einer Begrüßung. „Entschuldige dass wir deine Ruhe stören, aber wir müssen alle Opfer bringen, wenn die Menschheit überleben will.“

Der alte Mann beobachtete ihn für eine Sekunde interessiert. „Du kommst von Mu, nicht wahr? Genau wie deine junge Freundin.“

„Mu?“, wiederholte Henry. Er hatte Hinweise auf diesen Begriff gefunden, vor allem in den Fioran-Archiven auf Nag Prime. Sie bezogen sich auf einen vernichteten Kontinent auf der Erde.

„Meinetwegen Lemur oder Atlatas. Oder Olympo. Oder Ragnirak. Es gibt ein halbes Dutzend Namen für diese Welt, je nachdem ob man sie liebt oder verabscheut.“

Henry beschloss auf das Spiel einzugehen. „Ja, das bin ich.“

„Setz dich“, sagte der alte Mann und deutete auf einen Stuhl, der aus dem Nichts erstand. Das war erstaunlich, denn um Missbrauch vorzubeugen verfügten die normalen Bürger des Paradies nicht über die Fähigkeit, willentlich Materie zu erschaffen. Man stelle sich vor, wie rivalisierende Daima und Daina sich auf der grünen Wiese gegenseitig mit Hochhausprojekten zu übertrumpfen versuchten.

Gehorsam nahm Henry Platz.

„Ich bin es nicht gewohnt, so viele Worte am Stück zu sprechen. Ich bin es auch nicht mehr gewohnt lange Zeit aktiv zu bleiben. Ich werde mich bald wieder in meinen Schlaf zurückziehen, zumindest bis ihr den Core wieder abbaut und neu errichtet. Das wird zwar noch etwas dauern, aber selbst ein Jahr im süßen Vergessen ist es wert, durchträumt zu werden.“

„Na, dann hoffe ich doch, dass du noch lange genug wach bleibst, um mir ein paar Fragen zu beantworten. Sicherlich weißt du schon, was wir im Auftrag von Akira Otomo suchen, Alter.“

„Deine liebreizende Freundin hat es mir bereits erzählt. Ein außergewöhnlicher Mensch. Sehr stark. Sehr erfahren im Umgang mit dem KI.“

„Müsstest du nicht AO sagen?“

„Ich bin kein Daima. Normalerweise ist es mir egal, wie mich jemand bezeichnet, in welchen Topf er mich wirft. Aber KI ist die wesentlich ältere Bezeichnung, und ich bin zu alt um mich noch umzugewöhnen.“ Er seufzte tief. „Ai sagte mir, ihr sucht Alte. Nun, ich bin sehr alt. Du hast einen gefunden, schätze ich. Und was willst du von einem Alten, Henry William Taylor?“

„Wie du sicher weißt sind wir mit den Göttern aneinander geraten.“

„Ja. Dieses Kind, Akira Otomo, hat sie herausgefordert. Ein interessanter Bursche.“

„Und du weißt, dass wir nun nichts dringender brauchen als Informationen über die Götter.“

„Bah! Ihr braucht keine Informationen über die Götter! Ihr braucht Informationen über euch selbst! Darin liegen Antworten! Alle Antworten!“

Der Alte sah ihn mit flammenden Augen an. „Sean O´Donnely, bist du bereit diesen Weg zu gehen? Bist du bereit, tiefer in die Vergangenheit einzutauchen als je ein Mensch zuvor? Kannst du ertragen, was du sehen wirst?“

Erschrocken fuhr Henry auf. „Wer bist du, Alter?“

„Das ist die falsche Frage. Nicht ich, sondern wir.“ Er lächelte dünn, und dabei schien sein Gesicht zu flackern. Henry glaubte schattenhaft zu erkennen, dass dabei Dutzende Gesichter über das eigentliche Gesicht huschten. „Wir sind Dai, Sean. Und wir werden unser Wissen mit dir teilen, Archivar von Akira Otomo.“

Der Alte erhob sich und streckte eine Hand nach ihm aus. „Bist du dazu bereit?“

Henry winkte ab, als Ai in Abwehrstellung ging. Dazu schüttelte er dezent den Kopf, und die japanische UEMF-Agentin entspannte sich wieder.

Langsam ergriff Henry die dargebotene Hand. „Es ist mein Beruf.“

„Wohl eher deine Berufung“, erwiderte der Alte spöttisch.

Dann füllte Licht Henrys Bewusstsein aus, bis seine Augen vor Schmerz zu verglühen drohten.
 

Epilog:

Als Henry die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich wie ein lange eingestellter Daishi, dessen Reaktor mit Gewalt und unter Umgehung aller Sicherheitsvorkehrungen hoch gefahren wurde. Sein Kopf schmerzte, als hätte jemand seinen Schädel geöffnet und die Gehirnmasse mit einem Löffel umgekrempelt und das Licht flackerte vor seinen Augen.

Licht? Mühsam zwang er sich dazu, die Augen offen zu halten. Tatsächlich, er sah in einen Leuchtkörper. Genauer gesagt schie die ganze Wand ein Leuchtkörper zu sein.

Als sein Empfinden für das hier und jetzt zurück kam korrigierte er sich. Er lag und starrte an die Decke.

Langsam, immer darauf bedacht, die Hornissen in seinem Kopf nicht zusätzlich zu verärgern, richtete er sich auf. Herrlich wenn man sich fühlte wie nach einer durchsoffenen Nacht, ohne den Spaß gehabt zu haben. Was war überhaupt passiert? Er erinnerte sich an Ai, die gemeinsame Mission im Paradies der Daina und Daima und an den Alten. Oder besser gesagt, die Alten. Wo war er? In einem neuen Aspekt des Paradies?

Ächzend wuchtete er sich auf die Beine. Er hatte auf einer Art Futon gelegen. Der Futon ruhte in einem ansonsten nackten Zimmer, das in gehaltvollen Beigetönen dekoriert war. Eine Tür links von ihm führte irgendwo anders hin. Und direkt vor ihm existierte eine gewaltige Fensterfront, die den Ausblick auf einen unendlich blauen Himmel freigab.

Henry trat an an das Fenster heran. Es löste sich vor ihm auf als hätte es nie existiert.

„Guten Morgen, Reyan Oren Sean. Hier spricht ihre persönliche K.I. Lucus. Wünschen Sie einen Überblick über die Kampflage?“

„Kampflage?“, fragte Henry leise, aber die K.I. schien die fragende Betonung nicht erkannt zu haben.

„Die Kampflage im von Daima und Daina beanspruchten Raum hat sich gegenüber dem Vortag nicht verändert. Noch immer beansprucht das Daima-Großkonsortium die Systeme Lyra, Lega und Mereuze als Teil ihres expansiven Territoriums. Dai Mentro Zirkos hat dazu gesagt, dass die Lemurische Föderation keines der System aufgeben wird. Auf der anderen, dem galaktischen Zentrum zugewandten Seite kam es erneut zu schweren Zusammenstöße zwischen Daima-Truppen und Einheiten der Götter. Die Basis Lekon und die Außenposten auf Virrte und Songmar wurden vernichtet. Erneut hat Tyrann Orestal um den Beistand der Lemurischen Föderation gebeten. Das Anliegen wird mit Priorität im Rat diskutiert, und es ist abzusehen, dass wir bald eine Flotte zur Unterstützung der Orianischen Koalition entsenden werden, um dem Treiben der Götter Einhalt zu gebieten. Innenpolitik. Hochkanzler Odinus hat erneut Dai Mentro Zirkos damit beauftragt, die…“
 

„STOPP!“, rief Henry. „Verschieben wir das auf später. Nenn mir erst einmal Ort, Datum und Uhrzeit. Sei dabei so präzise wie möglich.“

Die Stimme der K.I. verstummte für ein paar wertvolle Sekunden. Henry nutzte die Zeit, um durch den leeren Fensterrahmen zu treten. Nun stand er auf einem gefliesten Balkon. Warmer Südwind umspielte seine Haare und trug ihm die angenehme salzige Seeluft zu. Er sah den Balkom hinab und erkannte einen weitläufigen Sandstrand, der direkt an einem gewaltigen Ozean zu liegen schien. Links und rechts von ihm erhoben sich Dutzende Häuser. Und jedes verfügte über ein paar hundert dieser Balkons, auf dem er stand.

Dazu schien die Sonne mit warmem, sanftem Licht auf ihn herab. Okay, die Sonne kannte er. Und langsam dämmerte ihm die Wahrheit.

„Ihr befindet euch auf Lemur, dem Hauptkontinent von Atalantis, der Haupt- und Ursprungswelt der Dai. Im Moment seid Ihr in Eurem Appartement am Raumhafen der Hauptstadt Attala. Es ist der fünfzehnte dritte des Jahres siebentausend n.E. des offiziellen Kalenders. Es ist exakt eine Stunde vor Mittag. Ihr habt erst wieder um zwei Uhr Nachmittags einen Termin. Wir…“

„Stopp. Was bedeutet n.E.?“

„N.E. bedeutet nach der Expansion und bezeichnet jenen Zeitraum, an dem die Dai das erste Mal von ihrer Heimatwelt aufgebrochen sind, um mit ihren Gefährten das Universum zu bereisen.“

Henry seufzte schwer. Das war ja schlimmer als der Kopfschmerz. Er war in der Vergangenheit, noch schlimmer, in der allertiefsten Vergangenheit! Glücklicherweise aber schien es sich bei dieser Welt um die Erde zu handeln. Was er nun noch klären musste war, ob er wirklich durch Raum und Zeit hierher versetzt wurde, oder ob es sich um eine Konstruktrealität handelte, wie Akira sie erlebt hatte.

Und dann würde er so viel wie möglich heraus finden müssen.

Hm, langsam begann ihm die Situation Spaß zu machen.

Chikara

Prolog:

„WAS?“ Ich war sicher, mein Schrei, geboren aus Unglauben, Wut und Enttäuschung war in ganz Fushida City zu hören.

„Es ist wie es ist, Division Commander.“ Doktor Schneider sah mich ernst an, dann fügte er hinzu: „Akira-kun.“

„Aber… Aber… Aber… Warum?“

„Wie du sicher weißt“, sagte der Mann, der seit Jahren mein Militärarzt war, in dozierendem Tonfall, „haben wir etliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass wir bei den anderen von den Dai abstammenden Völkern Epidemien auslösen und umgekehrt Epidemien auf die Erde einschleppen. Das verhindert natürlich nicht die Entstehung neuer Arten, wenn zum Beispiel spezifische Naguad-Viren mit terranischen Viren zusammen treffen und miteinander DNS austauschen.“

„So weit kann ich Ihnen folgen“, murrte ich.

„Jedenfalls sind es Naguad-Viren, die terranische Immunsysteme nicht gewöhnt sind. Das gleiche gilt für Iovar-Viren. Wir sind immer auf der Hut, um zu verhindern, dass eine neue Art, gegen die es noch keine Abwehrmöglichkeit gibt, epidemische Zustände erreicht. Du hast das selbst erlebt, nachdem die Besatzung der TAUMARA eingesammelt worden war. Fast alle Soldaten des Schiffs erkrankten an einem relativ harmlosen Schnupfenvirus, der sie jedoch vollkommen aus den Latschen gehauen hat. Es gab glücklicherweise keine Toten.“

Daran erinnerte ich mich sehr gut. Damals hatte ich Aria Segeste in Pflege. Eine teure und liebe Freundin, von der ich im Moment nicht einmal wusste, wo sie gerade war.

„Und das was dich da erwischt hat, Akira-kun, ist ein neuer Virus. Du beherrschst dein KI und kannst deine körpereigene Abwehr regulieren, aber eine Zeitlang wirst du im Krankenbett verbringen müssen, zumindest für den Zeitraum des Fieberschubs und der Inkubationszeit.

Wenn du nicht mehr Überträger bist, sieht es anders aus.“

„Na klasse“, murrte ich. „Wie lange?“

„Drei, maximal vier Tage.“

„So lange? Aber bis dahin ist die ganze Schlacht gegen die Kaisertreuen doch geschlagen!“, rief ich entrüstet. „Ich kann doch nicht hier im Bett liegen, während meine Division ihr Leben riskiert!“

„Meine Division!“, warf Megumi ernst ein. „Und wenn der Doktor sagst, du sollst im Bett bleiben, dann bleibe das auch.“

Ihrem strengen Blick hatte ich nichts entgegen zu setzen. Aber das Gefühl bei lebendigem Leib zu kochen half dabei sehr. Ihr Gesicht wurde sanfter. „Werde bitte schnell wieder gesund, Akira.“

„Okay, okay, ich habe verstanden. Bleibe ich eben hier und langweile mich vier Tage lang, während ihr da raus dürft und Spaß habt.“

„Typisch für dich, eine Raumschlacht mit Spaß gleichzusetzen“, erwiderte Megumi, während auf ihrer linken Schläfe eine Ader pochte. Das passierte selten, und es war definitiv eine Warnung. In diesem Fall eine Warnung an mich.

Bedächtig ließ ich mich auf den Rücken sinken und zog die Bettdecke bis ans Kinn hoch. Etwas kleinlaut fragte ich: „Kriege ich eine Hühnersuppe?“

Megumi begann übergangslos zu strahlen. Das geschah so schnell, dass es mir schon wieder Angst machte. „Natürlich, Akira. Ich werde dir gleich eine zubereiten.“

Megumi verschwand mit einem zufriedenen Lächeln aus meinem Raum. Oh, verdammt, wahrscheinlich genoss sie es, sich um mich zu kümmern, während ich krank war.

„Doc, eine Frage hätte ich da noch.“

„Schieß los.“

„Warum wurde mein Körper nicht geimpft? Ich meine, ihr hattet ihn doch im Biotank mit! Warum hat er nicht den gleichen Immunschutz bekommen wie alle anderen Teilnehmer an der Mission?“

„Das hat zwei Gründe. Der erste ist, dass du sowohl Iovar- als auch Naguad-Abkömmling bist. Wenn jemand in seinem Immunsystem Daten zu Viren beider Spezies gespeichert hat, dann sicherlich du.“

„Okay, das macht Sinn. Ein wenig gepokere, aber es macht Sinn. Und der zweite Grund?“

Doktor Schneider lüftete seinen Kragen. „Wir haben es vergessen.“

„Wenigstens ist das eine ehrliche Antwort“, erwiderte ich. Leider zwang sie mich nun dazu, drei bis vier Tage im Bett zu verbringen. Ich würde die Schlacht verpassen! Ich würde nicht in der Lage sein, meinen Freunden beizustehen! Ich würde nutzloser, schwerer Ballast sein! Und das einem Blue Lightning, es war unglaublich und dazu angetan, meine Tränen vor Schmerz fließen zu lassen.

Andererseits… Meine Pflichten waren in letzter Zeit stetig gewachsen, und eine Auszeit kam mir jetzt, wo ich wieder in meinem Körper war, mehr als Recht. So konnte ich wenigstens mal sehen, was meine vielen Stellvertreter an viel zu vielen Fronten taugten. Außerdem… Bot die Situation gewisse Möglichkeiten.

„Doc, können Sie mir die Mangas aus dem Regal reichen? Die vierzehn Bände von Beyond Enemy Lines?“ Endlich hatte ich mal genügend Zeit, um wieder richtig viel zu schmökern.
 

1.

Als die junge Frau vor ihrer direkten Vorgesetzten stand, zitterte sie ein wenig.

Major Hina Yamada sah von dem Bericht auf ihrem Datapad auf und musterte die Offizierin vor sich einige Zeit.

Es war noch nicht lange her, da war sie eine einfache Highschoolschülerin gewesen. Dann hatte eine Wesenheit, die sie nie kennengelernt hatte, zu einem Slayer gemacht, genauer gesagt zur Anführerin der Slayer. Und als diese hatte sie am Marsangriff und an Operation Troja teilgenommen, der ersten Expedition der AURORA. Nun kommandierte sie als Vize ihr eigenen Mecha-Bataillon, welches sich aus viel versprechenden Frauen zusammen setzte, die entweder KI-Meisterinnen waren, wie das Häufchen Elend vor ihr, oder hochbegabt in seiner Kontrolle waren. Verantwortlich war sie nur Colonel Yohko Otomo gegenüber, der Oberbefehlshaberin der Otome.

Die junge Frau vor ihr war eine Slayer, und im Bataillon hatte sie den hohen Offiziersrang einer First Lieutenant inne. Das reichte aus, um notfals eine Kompanie zu befehligen. In diesem Fall jedoch war es eine Vierergruppe Mechas, die unter ihrem Kommando standen.

„So ist das also“, murmelte Hina und legte das Datapad auf ihren Schreibtisch. „Seit wann weißt du es?“

„S-seit einem Monat.“

„Und jetzt ist es?“

„Der vierte Monat.“

Hina Yamada sah sie streng an. „Du hättest mich spätestens im zweiten Monat informieren müssen! Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, und das kann ich nicht, wenn du mich derart hintergehst.“

„Entschuldige“, erwiderte die junge Frau vor ihrem Schreibtisch. „Das liegt wohl einfach daran, dass ich so dumm bin.“ Gespielt klopfte sie sich gegen den Kopf.

Hina schnaubte wütend aus. „Hätte das jetzt jemand anderes über dich gesagt, hätte ich ihn in der Luft zerrissen!“

„AAAH! TUT MIR LEID!“

Hina legte eine Hand an die Stirn und seufzte. „Entschuldige. Ich mag es nun mal nicht, wenn du dir einredest, dumm zu sein. Und ich mag es nicht, wenn man meine Freunde erniedrigt. Und du bist ein sehr wichtiger Freund für mich.

Mist, ich klinge schon wie Akira-san.“

„Das ist doch nichts schlechtes. Aki-chan ist ein guter Anführer, und sich an ihm zu messen ist…“

„WIE DEM AUCH SEI!“, blaffte Hina und brachte die junge Frau dazu, entsetzt zusammenzuzucken.

„Fühl dich hiermit getadelt, okay?“

„Ja, Ma´am.“

Hina Yamada griff wieder nach ihrem Datapad und machte ein paar Einträge. Das fertige Dokument sendete sie unter anderen an den Drucker in ihrem Büro. „Du bist ab sofort von Kampfeinsätzen freigestellt. Außerdem habe ich für die nächsten drei Monate leichten Dienst eingetragen. Die letzten beiden Monate ist das schwerste was du tun darfst, eine Schulung oder eine Besprechung leiten. Und nach dem Termin bist du mindestens ein Jahr im Urlaub. Haben wir uns verstanden?“

„Du schickst mich auf den Boden?“

„Die große Augen-Nummer zieht nicht bei mir. Nicht in so einem wichtigen Fall.“ Hina Yamada sah die Slayer vor ihrem Schreibtisch eindringlich an. „Ab sofort hast du nicht nur auf dein Leben zu achten, sondern auch auf das von deinem Kind, oder? Also ist Vorsicht mehr als angebracht.“

Hina erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und schloss die verdutzte junge Frau in die Arme. „Herzlichen Glückwunsch, Emi Sakuraba. Ich freue mich für dich und Kenji.“

Emi war den Tränen nahe, als sie die Umarmung erwiderte. „Danke, Hina-chan.“

„Ich hoffe, er weiß es schon?“, fragte Hina tadelnd.

„Ja, und er platzt schon fast jeden Tag, weil er es nicht erzählen darf. Wir hatten ausgemacht, dass ich es zuerst erzähle, und dann…“

„Verstehe. Wisst ihr schon was es werden wird?“

„Nein, wir wollen uns überraschen lassen. Aber…“

Argwöhnisch hielt Hina die junge Frau etwas von sich fort. „Aber?“

„Aber das ist auch nicht unser Hauptproblem. Unsere Familien, sie…“

„Ärger? Sie stimmen eurer Beziehung nicht zu?“

Emi nickte schwer.

„Das macht nichts. Du hast doch uns. Wir sind auch eine Familie, und das sogar eine ziemlich gute.“

„Ja, das stimmt. Aber…“

„Kein aber. Wann werdet ihr heiraten?“

„Hina-chan, das…“

„Es ist ein Kind unterwegs. Wollt ihr vielleicht auf das fünfte warten?“

„Das ist es nicht. Aber wir können doch nicht vor Aki-chan und Megu-chan heiraten und…“

Ernst legte Hina beide Hände auf die Schultern Emis. „Hör mal zu, Schatz. Wenn du darauf wartest, dass die beiden irgendetwas auf die Reihe kriegen, dann dauert es wirklich bis zum fünften Kind. Vergiss nicht, Akira-san zieht den Ärger an wie der Dreck die Regenwürmer. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn er wieder entführt wird. Oder in der Zeit zurückgeschleudert. Oder für tausend Jahre ein außerirdisches Riesenreich regieren muss. Oder…“

„Schon gut, schon gut, ich habe es verstanden!“, beeilte sich Emi zu sagen. „Und das schlimme ist, es klingt alles so plausibel.“

Hina lachte leise. „Ich weiß. Es erschrickt mich selbst ein wenig. Also, wer soll dich im Kampf ersetzen? Wer soll deine Truppe anführen?“

„Stimmt, da war ja noch mehr.“

„Und denk nur nicht, dass du mir die Verwaltungsarbeit alleine aufdrücken kannst, kaum dass du im Mutterschutz bist“, sagte Hina tadelnd.

Die werdende Mutter lachte befreit.

***

Da lag ich also, gefangen in meinem Bett, umgeben von Kiloweise Manga-Büchern und gebeutelt von kräftigen Hitzeschüben, die mich dann sekundenlang dazu zwangen, meinen Lesestoff aus der Hand zu geben. Tja, sein KI zu beherrschen hatte schon seine Vorteile. Für eine Krankheit, die mich normalerweise eine Woche oder länger zu Boden gerungen hätte, brauchte ich nun nur zwei Tage. Die anderen Extratage waren nur dazu da, um meine Zeit als Überträger einzudämmen, also jene Zeit, in der sich die Viren reproduzierten und meinen Körper wieder verließen. Ansonsten verstärkte ich mein Immunsystem so gut es ging. Ich war zeitweise sogar auf den Gedanken gekommen, mir das Virus vorzustellen und vorzugeben, es in meinem Körper zu jagen. Ich hatte sogar ein paar hundert Exemplare in meiner Vorstellung vernichtet. Aber leider war das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn in meinem Körper tummelten sich gerade ein paar Millionen Viren.

Umwirsch legte ich mein Buch zur Seite. So konnte ich das nicht akzeptieren. Eine Auszeit war gut und schön, aber ich war es nicht mehr gewohnt, alleine und ungestört zu sein.

Genauer gesagt vermisste ich etwas. Eigentlich vermisste ich sogar eine ganze Menge.

„Sora.“

Wie ein Schatten, der aus einem Schatten geboren wurde, trat meine entfernte Cousine in den Raum hinein. „Du hast gewusst, dass ich hier bin?“

„Es ist deine Pflicht, auf mich zu achten, oder?“, erwiderte ich ernst.

Darauf hatte die Assasinin vom Fioran-Turm nicht wirklich einen Konter. Sie nickte nur stumm.

„Sora, du musst mir einen Gefallen tun.“

„Natürlich, Meister Arogad.“

Na, wenigstens einer im Haus, der auf mich hörte, anstatt das Gegenteil voraus zu setzen.

„Ich brauche eine Installation. Genauer gesagt eine Kommunikationseinrichtung, die direkt mit Poseidon verbunden ist. Wenn wir morgen aus dem Sprung kommen, will ich wenigstens sehen was passiert, wenn ich schon nicht mitmischen kann.“

„Verstanden, Meister Arogad.“

„Du brauchst es nicht zu stehlen oder über dunkle Kanäle zu beschaffen. Ruf einfach Mako-chan an und sag ihm, es ist mein Befehl.“

Die groß gewachsene Leibwächterin verzog das Gesicht unwillig. „Das ist doch zu einfach. Besser wäre es gewesen, das Datennetz in Poseidon heimlich anzuzapfen und…“

Ich zog die linke Augenbraue hoch. „Sora.“

„Ist ja schon gut, Akira. Ich dachte, ich könnte ein wenig Spaß haben, das ist alles. Wünschst du sonst noch was?“

„Nein, das soll es erstmal gewesen sein.“

Sora wandte sich ab, um meinen Wunsch zu erfüllen.

„Aber, Sora…“

Sie sah zu mir zurück, fragend.

„Du machst einen guten Job, Mädchen.“

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. „Danke, Akira.“
 

2.

Es gab viele Dinge, die Henry William Taylor unvorbereitet getroffen hatten. Eines davon war der hell erleuchtete Tag, der ihn erwartete, das rauschen der nahen Brandung, die ganze, lichtdurchflutete Welt um ihn herum – und die Tatsache, dass er integraler Bestandteil von ihr war. Die essentielle Frage, die ihn nun beherrschte war, hatte ihn der uralte Dai – oder vielmehr die uralten Dais – wirklich in die Vergangenheit versetzt, oder war dies eine der superrealen Konstruktrealitäten, von denen Akira berichtet hatte? Befand er sich in der kollektiven Erinnerung der Dais? Oder war die Lösung ganz anders?

Fakt war, in dieser Welt wurde er Sean genannt. Das war sein Geburtsname, den er schon vor Jahren abgelegt hatte. Zuerst, weil es seine Mission so wollte, und danach aus Scham über die Charakterwandlung, die mit ihm vorgegangen war. Sean O´Donnely sollte tot sein. Und er sollte auch tot bleiben. Aber hier wurde er wieder so genannt. Darüberhinaus nannte ihn seine persönliche Künstliche Intelligenz Lucus einen Reyan Oren.

„Lucus.“

„Reyan Oren Sean?“

„Definiere meinen Status, meinen Rang und meine Aufgaben.“

„Reyan Oren Sean, ich versichere, dass…“

„Fang mit dem Rang an. Was ist ein Reyan Oren? Ist Sean mein Name?“

„Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr? Soll ich eine Medo-Einheit verständigen?“

„Sag du es mir. Bin ich gesund?“

„Ich kann keinerlei Anzeichen von Erkrankung feststellen. Auch die Gehirnwellen bewegen sich in normalen Parametern. Nur der KI-Level ist geringer als er sein sollte.“

„Dann beantworte meine Fragen, wenn es keine medizinischen Bedenken gibt.“

Henry glaubte die K.I. seufzen zu hören. „Reyan Oren ist euer Rang, Herr. Sean ist euer Vorname. Euer voller Name ist Sean O´Donnely.

Der Rang als Reyan bedeutet, dass ihr ein hoch begabter Daina seid, der den Sprung zum Dai schaffen kann. Der Zusatz Oren bezieht sich auf eure Begabung, das körpereigene und fremdes KI zu manipulieren. Er bedeutet Meister unter den KI-Experten. Auch dies ist ein Anzeichen dafür, zum Dai aufzusteigen. Soweit ich weiß hattet ihr aber nie derartige Ambitionen.“

„Interessant. Ich habe also was gegen die Unsterblichkeit“, murmelte Henry.

„Nicht unbedingt gegen Unsterblichkeit, wohl aber dagegen, den eigenen Körper aufzugeben.“ Lucus machte eine kunstvolle Pause. „Euer Status ist militärischer Natur. Ihr seid Kapitän des Kommandoschiffs STELLAR, welches gerade aus einem Großeinsatz gegen die Umtriebe der Götter zurückgekehrt ist. Erfolgreich zurückgekehrt, möchte ich betonen. Mit einem Kommandoschiff und neun Periphal-Kreuzern habt ihr acht Strafer und einunddreißig Sucher vernichtet. Die meisten in einer offenen Feldschlacht um Naginal, die fünfte Welt der Sonne Agrifs im Daima-Sektor Großfürstentum Ryssan. Ihr geltet als Kriegsheld und wurdet von Dai Mentro Zirkos dazu beauftragt, vor eurem nächsten Auftrag für Kriegsanleihen zu werben. Etwas, was ihr unwillig angenommen habt, und auch nur für den Zeitraum der Reparaturen der STELLAR. Was uns zum Termin um zwei Uhr bringt. Der Sender Attala Live lädt euch als Sachverständigen zu einem Exklusiv-Interview von Dai Zirkos ein, um Sachdaten zum Besten zu geben. Der Sender interessiert sich vor allem für die Daima-Daina-Konflikte und die Intervention der Götter.“

„Lucus. Was sind die Götter und wie gefährlich sind sie?“

„Die Götter sind eine außerirdische Spezies, die ursprünglich aus Gliederfüßern entstanden ist. Sie besitzen ein eigenes kleines Reich aus fünfundneunzig besiedelten Systemen, in denen sie dreihundert Sauerstoffwelten besitzen. Über siebzig Prozent haben sie mit Hilfe ihrer Technologie, die sich mit lemurischer Technik messen lassen kann, im Laufe der letzten Jahrtausende erst erschaffen.“

„Warum nennt man sie Götter?“, hakte Henry nach.

„Sie sind Götter. In ihrem Einzugsgebiet gibt es Dutzende primitiver Völker, die entweder an ihre Planeten gebunden sind oder gerade erst den Sprung zur raumfahrenden Art geschafft haben. Die Götter hielten es für richtig, deren Entwicklung entweder abzubremsen, zu beschleunigen oder in eine vollkommen neue Richtung zu lenken. In ihrem eigenen Gebiet sind die Götter absolut. Da sie diesen Wesen technologisch weit überlegen sind und sie zum Teil seit Jahrtausenden beeinflussen, ist es nur natürlich das sie sie als Götter ansehen.“

„Ist uns die Position ihres Reichs bekannt?“

„Nur eine Daima-Fraktion, mit der wir uns zur Zeit im Krieg befinden, kennt die genaue Position des Götter-Staates. Wir wissen lediglich, dass sie ungefähr eintausend Lichtjahre von Lemur entfernt leben. Es können auch mehr sein. Unsere Agenten im Dionischen Imperium konnten es bisher nicht exakt definieren.“

„Haben wir Suchschiffe ausgesandt, um dieses Reich selbst zu finden? Fünfundneunzig Sonnensysteme kann man kaum übersehen, oder?“

„Bis vor kurzem gab es keinerlei Veranlassung, dieses Reich zu suchen und zu finden. Die Götter verhielten sich bis vor kurzem passiv gegenüber den verschiedenen Daima- und Daina-Fraktionen, mit denen sie nicht im Krieg stehen.“

„Aber jetzt greifen die Götter auch unbeteiligte Nationen an“, riet Henry.

„Das ist korrekt. Darüber hinaus verzeichnen wir sogenannte Raids, Robotgesteuerte Kampfschiffe von der Größe einer Fregatte, die im Schwarm in fremde Sonnensysteme eindringen, um diverse Ziele zu vernichten. Zumeist Außenposten, einzelne Schiffe und dergleichen. Aber es hat auch schon Großangriffe gegeben, die bisher jedoch immer abgeschlagen wurden. Es ist aber abzusehen, dass die vom Krieg mit uns geschwächten Daima-Reiche irgendwann Welten an die Götter verlieren werden.“

„Interessant. Wann werden die Götter Lemur erreichen?“

„Nach unseren Schätzungen, unseren Erfahrungsberichten und bestehenden Statistiken: Nie.“

„Nie?“, fragte Henry ungläubig. Das passte nicht ganz in das, was er über die Vergangenheit wusste. Oder zu wissen glaubte.

„Das primäre Problem“, begann Lucus auszuführen, „ist der Krieg zwischen Daima- und Daina-Reichen. Auf beiden Seiten stehen Dai, die aus den verschiedensten Methoden im Krieg involviert sind. Dies bildet eine Macht, die uns wirklich vernichten kann. Nicht unbedingt die Piraterie der Götter. Entschuldigt, dass ich es einem Soldaten, der auf den Krieg mit den Göttern spezialisiert ist, derart unverblümt sage, welchen Stellenwert sein Krieg hat.“

„Ist schon in Ordnung. Wir werden nicht ewig brauchen, um sie zu besiegen“, murmelte Henry vor sich hin. Wie passte das zusammen? Laut seinem Wissen hatten sich Daina und Daima gegenseitig geschwächt und die Götter waren dann über die Reste hergefallen. Die überlebenden Dai hatten sich in Daimon zurückgezogen und die Jahrzehntausende isoliert existiert. Erst viel später hatten sie wieder eingegriffen. In jener Zeit hatten sich längst die Iovar wieder ins All erhoben und ungewollt Kontakt zu den Göttern hergestellt.

Okay, das passte doch irgendwie. Aber es blieben tausende Fragen unbeantwortet. Wann fand der Krieg statt, der die meisten Zivilisationen auslöschen würde? Oder sie zumindest in einen prästellaren Zustand zwang? Im Moment schien es so, als wäre der Dai-Kernstaat mit der Erde als Zentrum nahezu unverwundbar, wenn er sogar einem Daima-Staat mit Truppen aushelfen konnte.

Henry spürte, wie der Historiker in ihm durchzubrechen drohte, wie er versuchte möglichst viel zu lernen, zurecht zu rücken und ein Gesamtbild aus den Mosaiksplittern zu erschaffen. Aber das war nicht ganz seine Aufgabe. Er wollte, er musste mehr über die Götter herausfinden. Woher sie kamen. Wohin sie gingen. Wie sie aufzuhalten waren.

Alle Konflikte der letzten Jahrhunderte, von denen selbst Henry erst nach und nach und nur durch den Kontakt mit dem Fliegerjungen erfahren hatte, waren mehr oder weniger Stellvertreterkriege zwischen Göttern und Dai gewesen. Wenn er ernsthaft drüber nachdachte, erschien es ihm sogar wahrscheinlich, dass Juichiro Tora bewusst ausgesucht worden war, um den mit den Dai verbündeten Naguad das Leben auf der Erde schwer zu machen, nachdem die Kontaktaufnahme nicht hatte verhindert werden können. Und die Expedition, die eine Gruppe Arogad und Fioran zur Erde geführt hatte, was hatte sie sechzig Lichtjahre entfernt gesucht? Wieso hatte sie in dieser Sternenregion nach bewohnten Welten suchen müssen? Hatte jemand im Hintergrund Fäden gezogen? Waren sie in Wirklichkeit auf der Suche nach der Urheimat gewesen?

Danach der Core, der die Kronosier erschaffen hatte. Es hatte Henry immer gewundert, dass sie so leicht in Kontakt mit Tora gekommen waren. Dass die Zusammenarbeit so hervorragend funktioniert hatte. War der Core absichtlich auf die Erde gelenkt worden? Letztendlich war die Core-Technologie von den Göttern infiziert worden, und eine Erde, die von den Kronosiern beherrscht wurde, wäre für die Götter über ihre Verbündeten leicht zu beherrschen gewesen.

Ein erschreckendes Szenario.

„Sean?“

„Ja? Tut mir Leid, ich war in Gedanken.“

„Ich habe nur ausgeführt, dass Ihr soeben eine Einladung zu einer Verabredung bekommen habt. Reyan Oren Mela Arac lädt euch ein, mit ihr den Mittag zu verbringen.“

„Definiere Reyan Oren Meal Arac.“

„Mela Arac, Alter: Dreihunderteinundneunzig. Eins achtzig groß, einundsechzig Kilo schwer. Schwarze Harre, die sie lang und glatt trägt. Tiefgrüne Augen. Wird als hübsch entfunden.“

„Das meinte ich nicht“, murrte Henry. „Reputation, Rang, Verbindung zu mir.“

„Verzeihung. Ich dachte, Ihr wolltet möglichst umfassend über sie informiert werden.

Meal Arac ist Admirälin, trotz ihres geringen Alters. Sie gilt als Verfechterin der Rechte der Daina, wird aber auch als Anwärterin auf den Aufstieg zur Dai gehandelt. Sie kommandiert das Kommandoschiff ADAMAS, das widerum einer Flotte von fünfzehn Kommandoschiffen und dreihundert Begleitschiffen vorsteht. Ihr untersteht die Verteidigung Lemurs. Man sagt ihr auch politische Ambitionen nach. Aber laut ihrer eigenen Aussage wird sie diese erst wahrnehmen, wenn sie davon überrollt wird. Berühmtester Ausspruch: Eher setze ich mich nackt in ein Brennesselfeld, als dass ich in diesen Debattierclub gehe.

Relation zu Sean O´Donnely: Beide haben wiederholte Male Seite an Seite gegen die Götter gekämpft. Laut Aufzeichnungen Sean O´Donnelys verbindet sie eine gewisse Kameradschaft, trotz des Rangunterschiedes.“

„Das genügt. Wann und wo treffe ich sie?“

„Am Strand vor dem Haus in fünf Minuten.“

Henry sah sich um und begann seine Bekleidung auszuwählen. Furchtbar bunt, das alles. Kurz erwägte er eine Uniform zu tragen. Aber da er nicht wusste, wie sie angezogen wurde, ließ er es. Schließlich stand er barfuß in einer legeren weiten Hose und einem quietschbunten Hemd bereit.

„Gib mir ein Bild von ihr“, forderte er nachdrücklich von Lucus.

Vor ihm entstand ein Hologramm einer jungen Frau, die er durchaus als hübsch bezeichnen würde. Aber das interessante an dem Bild war, dass er das Gesicht bereits einmal gesehen hatte. Vor ihm in der Luft schimmerte ein Bild von Dai-Kuzo alias die große Spinne.

***

„Das ist interessant“, sagte Henry anstelle einer Begrüßung, als er die junge Frau erreichte, die unter einem Sonnensegel am Strand saß. Sie trug eine züchtige Uniform und starrte auf das Meer hinaus, aber dennoch hatte der Historiker nicht das Gefühl, ihrer Aufmerksamkeit entgangen zu sein.

„Setz dich, Henry.“

„Henry? Ist mein Name nicht Sean O´Donnely?“

„Hast du den Namen und das damit verbundene Leben nicht abgelegt, als dich der britische Geheimdienst bei den Kronosiern eingeschleust hat? Und danach, warst du nicht zu sehr von dir selbst angeekelt, um Sean O´Donnely wiederzubeleben? Wobei du nicht einmal ein besonders egozentrischer Legat warst.“

„Ich sehe schon, du beantwortest meine Fragen, bevor ich sie stelle. Dies ist also eine Konstruktwelt, oder?“

„Eine Konstruktwelt, erbaut auf deinem kompletten Wissen, dem deiner Mitarbeiter und der Dai, die du im Paradies der Daina entdeckt hast. Dazu kommt ein KI-Splitter meiner selbst, den ich Ai Yamagata implantiert habe.“

„Interessant. Aber ich verstehe es nicht ganz.“

„Oh, ich habe allen meinen Slayern – ehrlich gesagt fand ich es immer sehr bedauerlich, dass Hina ausgerechnet diesen Namen ausgesucht hat – einen solchen Splitter eingepflanzt, damit er ihnen im entscheidenden Moment hilft, ihr potentielles KI-Talent aufzubauen.“

„Du sagst damit, dass Ai-chan auch eine Slayer ist?“

„Ich habe weit mehr Frauen ausgesucht als Hina und ihre Freundinnen, wie du sicherlich bemerkt haben solltest, als ich Megumi Uno und Yohko Otomo erweckt habe. Und bevor du fragst, die nächste die als Slayer erwachen wird, ist Joan Reilley. Ich habe lange Zeit gedacht, sie wäre verloren, aber mein süßer Akira hat sie ja, wenn auch ungewollt, wieder auf den richtigen Weg gebracht.“

„So? Dann kennst du sicherlich Joans richtigen Namen und ihre Familie.“

„Natürlich. Was denkst du denn?“

„Und du hast es ihr nie verraten?“

Kuzo lachte leise. „Denk doch mal nach. Sie ist ein Superstar, der weit über die Grenzen dieses Sonnensystems bekannt ist. Glaubst du wirklich, ihre Familie hätte sie nicht längst wiedererkannt?“

Henry runzelte die Stirn. „Das ist ein Argument.“

„Sie hat keine Familie mehr. Sie alle starben während der Schlacht um New York. Joan selbst wurde in ein Krankenhaus eingeliefert und später aufgrund bestimmter, viel versprechender Blutwerte von kronosischen Agenten entführt. Ich habe es leider zu spät gemerkt und konnte ihr nicht mehr helfen, als ihr Verstand ausgetilgt wurde.“

„Etwas, was ihr öfters zu passieren scheint.“

„Dazu musst du Mako-chan befragen, nicht mich“, erwiderte die Dai mit einem anzüglichen Grinsen, welches den großen Mann überraschte und erröten ließ. „Kö-können wir mal beim Thema bleiben?“

„Meinetwegen. Jedenfalls dachte ich, dass die Familie die sie jetzt hat, genauso gut ist wie ihre alte. Sie und ihre Band sind… Sie waren eine große Familie, aber seit Mako-chan in ihr Leben getreten ist, scheint sie sich langsam von daheim abzunabeln. Etwas in der Art.“

„Und sie erwacht demnächst als Slayer.“

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Die Mädchen entscheiden selbst wann sie als Slayer erwachen.“

„Was ist mit Kitsune? Ist sie auch ein Slayer?“

„Sie ist das Vorbild der Slayer. Hast du dich nie gefragt, warum ich keine Jungen ausgewählt habe, sondern ausschließlich Mädchen?“

„Weil wir Männer bis auf Makoto und Yoshi keine kurzen Röcke tragen können?“

„Sehr witzig. Nein, weil die stärksten Krieger der Dai fast immer Frauen waren. Wenn wir uns die stärksten Krieger der UEMF ansehen, was meinst du, wer führt die Liga an?“

„Megumi?“

„Nein, Akira. Aber Megumi kommt auf der zwei, dicht gefolgt von Yohko auf der drei. Danach kommen erst die Männer. Makoto, Yoshi, Doitsu. Dann folgt schon Hina, aber nur weil sie noch zu unerfahren auf ihrem Hawk ist.“

„Ich verstehe was du sagen willst.“ Henry ließ sich endlich neben ihr nieder. „Aber ich verstehe nicht, was das mit dieser Situation zu tun hat.“

„So? Dann denk mal scharf nach, Henry William Taylor.“

„Kenne deine Stärken und deine Schwächen, und du fürchtest keinen Feind.“

„Keine schlechte Idee, Sun-Tsu zu zitieren, aber leider falsch. Okay, nicht ganz falsch, aber etwas am Ziel vorbei.“

Henry legte kurz den Kopf schräg. „Mal sehen. Ich bin hier in einer Konstruktwelt innerhalb einer Konstruktwelt. Ich suche hier in der Erinnerung von halb vergeistigten Dai nach Hinweisen darauf, wer die Götter sind, woher sie kommen und wie ich sie bekämpfen kann. Und dann treffe ich auf dich, und du hältst mir Vorträge über die Realität. Beides ist verbunden.“

„Natürlich ist beides verbunden. Denn die Zukunft basiert auf der Vergangenheit und den Taten der Gegenwart. Aber das meinte ich nicht.“

„Es ist wichtig, diese Dinge zu wissen?“, riet Henry.

„Guter Junge“, sagte Kuzo zufrieden und klang dabei wie eine schnurrende Katze.

„Und warum ist es wichtig, diese Dinge zu wissen?“

„Das wirst du selbst herausfinden müssen.“

„Okay. Aber du könntest mir dennoch sagen, wohin ich in dieser Konstruktrealität gehen muss, um meine Ziele zu erreichen.“

„Oh, ich denke, das wird nicht funktionieren, Henry. Wie ich schon sagte, dies ist eine Konstruktwelt. Entstanden nach den Erinnerungen der Dai, die du getroffen hast. Genauer gesagt ist diese Welt ein Abdruck ihrer Erinnerungen. Außer mir hast du hier niemanden, der dir Tipps und Hinweise geben kann, denn nachdem dich die Dai hierher verfrachtet haben, haben sie alles weitere dir überlassen. Du kannst diese Welt manipulieren, Ereignisse beschleunigen oder verlangsamen. Du kannst sie sogar wissentlich verlassen oder zurückspulen. Aber du kannst nicht gezielt nach ihnen suchen wie an einem Computer. Du musst dich an die Orte begeben, an denen du Wissen zu erlangen versuchst.“

„Ich muss mich an die Regeln dieser Konstruktwelt halten?“, argwöhnte der ehemalige Legat.

„Im großen und ganzen schon. Dazu kommt leider, dass die Konstruktwelt nicht sehr stabil ist. Sie weist zudem große Lücken auf, die von den Dai mit deiner Erinnerung gefüllt wurden. Es ist eben unendlich lange her, seit wir…“ Die Dai zögerte und verstummte dann ganz. „Eigentlich ist es recht nostalgisch, hier zu sitzen und zu wissen, dass dies wirklich der Pazifik ist, und nicht nur eine zwanzig Kilometer breite Wasserschneise in der Daimon.“

Henry fühlte sich für einen Moment als hätte ihm jemand die Füße unter den Beinen weg gezogen. Hätte er nicht schon gesessen, hätte er das nun nachgeholt. „Du willst damit doch nicht sagen, dass die Daimon, in der ihr euch zurückgezogen habt, aus Atalantia besteht, dem Hauptkontinent von Lemur?“

„Bravo, der Kandidat erhält fünfeinhalb Punkte. Noch einer mehr und du kriegst dein Kommandoschiff“, erwiderte die junge Frau mit einem Lächeln.

„Danke schön. Das würde ich gerne in die Realität mitnehmen, dann ist die ADAMAS nicht so alleine. Bist du auch eine Reparatur der lückenhaften Erinnerung? Abgesehen vom KI-Splitter, meine ich.“

„Nein. Warum sollte ich? Genau zu dieser Zeit, siebentausend n.E., bin ich auf Lemur präsent. In diesem Rang, in dieser Funktion. Ich habe lediglich mein Konstruktweltpendant übernommen. In dieser Welt bin ich noch ein Mensch, Henry, genauer gesagt ein Daina.“ Sie sah ihn sehr ernst an. „Und ich werde dir bei deiner Suche zur Seite stehen.“

„Das freut mich zu hören.“ Langsam ließ er sich in den Sand fallen. „Das sind doch gute Nachrichten. Das bedeutet, dass ich mich nicht an eine bestimmte Rolle halten muss, damit ich die Zeit nicht aus Versehen verändere oder so.“

„Oh, du musst dich an deine Rolle halten, denn die Konstruktwelt interagiert. Wenn du etwas tust, was die Daina dieser Welt in der Realität nicht akzeptiert hätten, dann werden die Daina dieser Welt ebenso reagieren. Aber du hast eine gewisse Kontrolle über die Ereignisse. Und mit mir eine Partnerin, die diese Konstruktwelt bis zu einem gewissen Grad manipulieren kann, weil ein Teil von mir aus dieser Welt stammt.“

„Interessant. Ein Angebot das ich gerne annehme. Aber eine Frage bleibt dennoch: Wo fangen wir an?“

„Am besten bei deinem Termin um zwei Uhr Nachmittags. Dort wirst du auf Dai Mentro Zirkos treffen, dem derzeitigen Herrn der Dai. Und wenn du geschickt bist, bekommst du die Erlaubnis, Dionys aufzusuchen und in diesem Daima-Reich nach Spuren der Götter zu fahnden.“

„Obwohl wir uns im Krieg mit ihnen befinden?“

„Obwohl wir uns im Krieg mit ihnen befinden. Vergiss nicht, dies ist eine Konstruktwelt.“

„Das ist das erste Mal, dass es mir nützlich erscheint“, brummt Henry.
 

3.

Ich hatte schon viel erlebt in meinem kurzen Leben. An einiges erinnerte ich mich nicht mehr, oder ich kannte nur die Aufzeichnungen Dritter über mich und meine Taten. Oft genug erschien mir all das, was vor dem Moment passiert war, an dem mich Dai-Kuzo in einer scheinbaren Phantasiewelt hatte aufwachen lassen, wie die Erinnerung eines Fremden vor, auch wenn alles so vertraut, so richtig wirkte.

Und ich hatte oft genug bis zum Hals im Dreck gesteckt. Wenn ich an die Verteidigung von Kuba dachte, rollten sich mir die Zehennägel auf links. Oder die erste Marsoffensive. Oder die zweite. Oder mein Kampf mit Torum Acati, den man nur mit dem Prädikat legendär belegen konnte.

Oder mein Versuch, Sakura zu widersprechen…

Mir war viel passiert, und ich hatte viel gesehen. Dass sich Probleme von selbst lösten gehörte eher nicht dazu. Aber diesmal war es der Fall, und wie es immer in so einer Situation ist, war und sein wird, brachte die Lösung des Problems das nächste Problem gleich mit.

Als die AURORA mit ihrem Begleitverband in das Sonnensystem Tautor sprang, bot sich genau so eine Situation. Die Flotte der Kaisertreuen bezog gerade mächtig Prügel.

Die Berichte, die mich über meine Standleitung nach Poseidon erreichten, erzählten eine eindeutige Geschichte. Dreißig Schiffe versenkt, weitere siebzig schwer beschädigt. Hunderte Banges-Wracks geortet. Viele Schiffe in haltloser und zielloser Flucht. Etliche von ihnen waren in unsere Richtung unterwegs. Der Äther war auf allen Frequenzen mit Hilferufen erfüllt, die durch die Zeitdilatation leider schon eine gute Minute alt waren. Auch die Bilder die wir sahen, hatten über eine Minute bis zu uns gebraucht, und jene Schiffe, die gerade jetzt explodierten, waren schon lange Wracks.

Ursache dieses kompletten Chaos waren fünf weiße Schiffe. Genauer gesagt fünf Strafer der Götter. Und sie schossen reichlich wahllos um sich. Dabei nahmen sie keinerlei Rücksicht auf kapitulierende Einheiten, Rettungsboote oder fliehende Schiffe. Für sie war alles nur Feind.

Fünf Strafer. Und meine Freunde hatten bereits mit einem mehr als alle Hände voll zu tun gehabt, als sie im Greenwich-System mit ihm zusammengestoßen waren.

Alarm gellte auf. Wir waren schon mit Alarm aus dem Sprung gekommen, immerhin hatten wir in ein Gefecht ziehen wollen. Zudem so nahe wie möglich am Feind, um die Kampfhandlungen so schnell es ging zu eröffnen.

Leider war das Ende unseres Sprunglochs dafür in einem ungünstigen Winkel platziert gewesen, sodass wir nicht hatten sehen können, was uns erwarten würde.

Verhindern hätten wir es sowieso nicht mehr können, nachdem die AURORA in das Wurmloch eingeflogen war. Aber besser vorbereiten wäre möglich gewesen.

Und dann wäre das Signal für Alarmstufe eins, welches die Zivilisten in die Schutzbunker rief, schon viel früher erklungen.

Fünf Strafer, verdammt! Fünf!

„Wir werden die Kampfhandlungen im Abstand von siebzehn Lichtsekunden passieren und ins Systeminnere aufbrechen“, hörte ich Sakuras klare, feste Stimme sagen. „Unsere Verbündeten sind informiert und schicken uns an Hilfe entgegen, was sie aufbringen können. Außerdem haben wir den kaiserlichen Einheiten bereits angeboten, sich in unsere Formation einzugliedern. Während des Passierflugs versuchen wir so viele Wracks wie möglich auf die AURORA zu schaffen und so viele Rettungskapseln und Fähren wie möglich zu bergen. Die Sicherheit der Überlebenden hat Priorität. Die Mecha-Streitkräfte werden das übernehmen.“

„Verstanden“, klang Megumis Stimme als Antwort auf.

„Die Schiffe und die Waffen der AURORA werden die Strafer so gut es geht von uns fern halten. Und sie werden ein wenig mitmischen. Mit drei Hämmern des Hephaistos können wir ein oder zwei der beschädigten Strafer abschießen. Das demoralisiert hoffentlich die anderen.“

„Roger!“ Unverkennbar Keis Stimme.

„Verstanden.“ Das war Tetsu.

„Eine Frage, Ma´am“, klang die Stimme von Shawn Winslow, dem Kapitän der SCHARNHORST, auf. „Wieso sind Kaiserliche und Götter aneinander geraten?“

Sakura atmete hörbar aus. „Was wir bisher dem Funk entnehmen konnten ist folgendes. Die dem Kaiser treuen Truppen haben den Endpunkt unseres Wurmlochs entdeckt und wollten den Kampf mit uns aufnehmen. Dann kamen die Strafer der Götter und beanspruchten den Platz für sich. Was daraus geworden ist, sehen Sie ja, Winslow. Bis jetzt etwa zehntausend Tote und dreißig zerstörte Schiffe. Zweiunddreißig. Dreiunddreißig.“

„Verstehe.“

„Wir schießen zuerst mit den Hämmern“, entschied Sakura. „Danach greifen die Kampfschiffe an. Die AURORA muss durchbrechen, haben Sie das verstanden, Admiral Takahara?“

„Ich habe verstanden. Ich beziehe Posten auf meinem neuen Flaggschiff ADAMAS.“

Die Stimme hatte sehr entschlossen geklungen. Der kleine Kei konnte hart wie Stahl sein, wenn es nötig war. So wie jetzt.“

„Akira. Wir wurden angewiesen ebenfalls zu evakuieren. Wir können nicht ausschließen, dass der Innenraum erschüttert wird und Gesteinsbrocken aus der Decke auf die Stadt fallen.“

Ich sah meine Cousine Sora ernst an. „Du hast Recht, wir müssen evakuieren.“ Ich erhob mich aus dem Bett, ignorierte den nächsten Fieberschub und griff nach meiner Uniformjacke. „Prime Lightning soll auf der Rampe auf mich warten.“

„Akira!“

„Das ist ein Befehl!“, zischte ich laut.

Entsetzt sah Sora mich an. Dann endlich gab sie nach. „Wie ihr wünscht, Meister Arogad.“

Fieber hin, Fieber her, ich wurde gebraucht. Und so schön dieses Gefühl auch war, der Anlass war beschissen, echt beschissen.

***

„Dickkopf – eigensinnige oder starrsinnige Person. Siehe auch: Akira Otomo.“

(Unbekannter Verfasser)
 

Okay, in einem Punkt hatte ich mich mächtig geirrt. Die Beschwerden, die das Fieber mit sich brachte, wichen nicht automatisch in dem Moment, in dem ich mich in Bewegung gesetzt hatte. Nein, sie wurden sogar eher mehr als weniger. Dazu kam, dass Sora mich stützen musste, wenn ich weite Strecken gehen musste. Ihr vorwurfsvoller Blick sagte mir mehr als einmal, wo ich eigentlich hingehörte. Aber zumindest in einer Sache war ich mir sicher: In meinem Prime Lightning würde ich nützlicher sein als in meinem Bett. Deshalb nahm ich die Tortur auf mich, ließ mich von einem Elektrotaxi zur Bahnlinie fahren und nahm den ersten Schnellzug in Richtung des Hangars, in dem Prime eingestellt war.

Nach zweimaligem Umsteigen – wirklich, Hölle wurde von mir neu definiert – fuhr ich endlich, Sora an meiner Seite, im Fahrstuhl in die Höhe.

Auf der richtigen Sohle angekommen erwartete uns bereits ein weiterer Elektrowagen. Diesmal jedoch ein militärisches Modell. Es unterschied sich durch den Anstrich in Tarnfarben. Sehr genial.

Eine kurze Fahrt durch einen Stollen, der mich verdammt an eine klaustrophobische Situation komplett mit einstürzender Decke bei gleichzeitigem Pistolenbeschuss erinnerte, brachte mich schließlich in den Hekatoncheiren-Bereich. Die Piloten der Elite-Truppe waren natürlich bereits aufgebrochen, um ihren Teil bei der Verteidigung der AURORA und ihrer Kampfgruppe zu leisten. Ich hatte vor ihnen bald zu folgen.

„Sir, Sie können doch nicht…“

„Ich bin gesund!“, fuhr ich den besorgten Techniker an. „Meinen Anzug! Bereitet meinen Mecha vor!“

„Aber Sir, Sie…“

„Ich bin KI-Meister! Haben Sie davon schon mal was gehört? Ich heile mich selbst, notfalls während des Flugs!“

Ein unerwarteter Energieschub erfüllte mich. Die kurze Konversation hatte meine Adrenalinproduktion angeregt, und das Stresshormon unterdrückte nun mein körperliches Missbefinden weit genug, dass ich ohne Soras Hilfe in die Umkleideräume gehen konnte.

Tatsächlich lag mein Anzug schon bereit. Überprüft und abgestempelt.

Ich begann mich aus meine Alltagskleidung zu schälen. Als ich dann den kobaltblauen Anzug anlegte – früher war er hellblau gewesen, aber da hatte ich noch nicht so einen stabilen Oberkörper gehabt – erinnerte ich mich an eine Szene, die Szene eigentlich, wenn es um diesen Anzug ging. Ich war mit Megumi im Hubschrauber auf dem Weg zur Titanen-Station, um meinen ersten Einsatz seit langem zu fliegen. Sie hatte mir den Druckanzug gegeben. Er war natürlich deshalb an Bord dieses einen Hubschraubers verstaut gewesen, weil diese Maschine in einem Notfall mich abgeholt hätte. Identische Anzüge hatten in allen acht Maschinen der Flugbereitschaft existiert.

Nachdem ich in den Anzug geschlüpft war, hatte ich Probleme damit gehabt die Verschlüsse zu schließen. Megumi hatte mich umfasst und mir geholfen. „Das kommt alles mit ein wenig Übung.“ So waren ihre Worte gewesen.

Verdammt, so sehr wie meine Hände gerade zitterten, schien ich diese Übung nie erreicht zu haben.

Zwei zarte Frauenhände kamen hinter meinem Rücken hervor und halfen mir beim schließen der Verschlüsse. Für einen Moment hielt ich sie für Megumis Hände, aber sie war mit der Division – ihrer Division – da draußen. „Warte, das geht anders“, hörte ich Sora sagen. Und dankbar überließ ich ihr den Part, meinen Schutzanzug zu versiegeln. Dann drückte sie mir meinen Helm in die Hand und drehte mich um. Sie musterte mich kritisch. „Schaffst du es bis ins Cockpit, Akira? Ab da brauchst du dich kaum noch bewegen, aber bis dahin musst du kommen.“

Ich lächelte matt. „Keine Sorge, ich bin stärker als du denkst.“

„Das weiß ich. Und ich weiß, dass du es auch weißt und dich deshalb immer weiter treibst als du solltest.“ Sie boxte mich burschikos gegen die Schulter. „Komm gefälligst wieder, du Pirat.“

„Wen nennst du hier Pirat?“, fragte ich lachend. Dann beugte ich mich vor und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. „Natürlich komme ich wieder. Sonst hast du ja niemanden zum ärgern.“
 

Als ich den Umkleideraum verließ, den Helm mit den berühmten blauen Blitzen in der Armbeuge, ritt ich auf einer leichten Euphorie-Welle. Noch immer wütete die Krankheit in meinen Adern, aber ich hatte es leidlich im Griff.

„Sir, Admiral Ino meint wirklich, dass…“

„Ist das hier mein verdammtes Schiff oder nicht?“

„Haben Sie schon mal dran gedacht, dass diese ganze Expedition sinnlos ist wenn Sie fallen, Sir?“, blaffte der Techniker zurück.

Konsterniert blieb ich stehen. Ich musterte den Mann eindringlich.

Dann endlich antwortete ich: „Zwei Denkfehler, junger Mann. Erstens kann ich gar nicht fallen, weil ich der beste Pilot des Universums bin. Und zweitens haben wir auf dieser Expedition erst von der eigentlichen Bedrohung erfahren: Jener durch die Götter. Die Erde ist gewarnt, und alle unsere Verbündeten wurden informiert. Bereits jetzt ist sie ein Erfolg sondergleichen und wird uns alle retten.“

„Es wäre mir lieb, wenn Sie diese Rettung miterleben, Sir“, wagte der Techniker noch mal einzuwenden.

„Ihre Sorge ist rührend, aber unbegründet. Ich bin vielleicht nicht unverwundbar, aber ich bin weder unersetzlich, noch kann man mich töten. Okay, das macht jetzt nicht soviel Sinn, aber…“

Ich lachte leise auf. Sich selbst in die Ecke zu drängen war eine Kunst die ich eigentlich nicht beherrschte. Ich schob es auf meine Erkältung. „Helfen Sie mir dabei, mich anzuschnallen?“

„Natürlich, Sir.“
 

„Guten Morgen, Prime.“

„Sir, ich weise Sie darauf hin, dass Sie eine Körpertemperatur von…“

„Geschenkt. Wir gehen raus. Freie Unterstützung. Wir kriegen einen Booster verpasst, stell dich darauf ein.“

„Jawohl, Sir. Soeben wurde die Kampfgruppe von Ihrer Teilnahme an der Schlacht informiert. Der AURORA ist es vorhin mit simultanem Beschuss aller drei Hämmer des Hephaistos gelungen, einen Strafer der Götter anzuschlagen. Er wurde so sehr beschädigt, dass ein Hekatoncheire des First Head, Third Arm mit einem Selbstmordangriff seine Vernichtung auslösen konnte.“

Ich erstarrte, innerlich wie äußerlich. „So schlecht geht es uns noch nicht, dass wir unsere Leute verheizen müssen! Verbindung zu Colonel Futabe!“

„Verbindung steht!“

„Yoshi, was…“

„Ich weiß, was du sagen willst. Aber es war nicht meine Entscheidung. Ensign Jaffrays Eagle war kurz vor der Explosion. Er hat sich selbst dazu entschieden den Strafer zu rammen, als dessen Schutzschild fiel. Normalerweise hätte ich auf solche einen Angriff keinen Pfifferling gesetzt, aber der Strafer muss angeschlagen genug gewesen sein, damit Jaffray Erfolg hatte. Ich bitte um Erlaubnis, ihn posthum zum Second Lieutenant befördern zu dürfen.“

Ich knirschte mit den Zähnen. Was war da draußen los? „Erlaubnis erteilt.“

Ich unterbrach die Verbindung. Der Techniker klopfte mir auf den Helm als Zeichen, dass alle Verbindungen etabliert waren. Ein leichter Ruck informierte mich darüber, dass der Booster angekoppelt war.

„Bring uns aufs Katapult.“

Der riesige Mecha, eigentlich der Mecha, ein legendärer Daishi Beta, dem die Menschheit ihre Freiheit verdankte, wurde von der Boarding Bay auf die Abschussrampe gefahren.

„Akira Otomo auf Prime Lightning, bereit zum Start.“ Ich warf einen Blick auf die Kampflage. Gut, noch beschäftigten sich die Strafer vornehmlich mit den Kaiserlichen, aber bald waren wir nahe genug dran für das Bergungsmanöver, und damit kamen wir in Feuerreichweite. Dann würde der eigentliche Tanz beginnen. Vier Strafer waren immer noch mehr als genug, um uns zu vernichten. Andererseits wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass KI-Meister der Erde einen Schuss aus der Hauptwaffe eines Strafers ablenkten.

„Prime Lightning, Starterlaubnis verweigert.“

Ich runzelte die Stirn. „Hitomi, ich habe jetzt nicht die Zeit, um mit dir zu streiten.“

„Das ist es nicht. Vor dem Abschussrohr ziehen Hekatoncheiren gerade eine beschädigte Korvette heran. Du willst doch nicht hinein krachen? Mit deinem Dickkopf würdest du sie nur noch mehr beschädigen.“

Ich lachte ungewollt. Was für ein passender Vergleich.

„Okay, ich warte.“ Heimlich prüfte ich die Information nach. Okay, Hitomi-senpai hatte mich nicht belogen.

„Blue Lightning, Sie haben Go.“

Ich atmete erleichtert auf. „Blue Lightning auf Prime Lightning, schießt mich raus!“

„Roger. Gute Jagd, Colonel! Ich meine General! Ach, egal, hauen Sie einfach was zu Klump, wir überlegen uns derweil einen coolen Rang für Sie.“

Ich musste bei den Worten des Katapultmeisters lachen. Das war genau die Form rauer Herzlichkeit, die ich liebte. Sekundenbruchteile darauf schoss das Katapult mich und Prime hinaus. Einen Moment wunderte ich mich noch über die plötzliche Stille im Funkverkehr der Hekatoncheiren. Dann maß ich die Energiewellenfront an, die auf die AURORA zurauschte. Und die scheinbar mitten durch mich hindurch wollte. Vor mir explodierten havarierte kaiserliche Schiffe, die zufällig im Beschusskorridor waren. Himmel, was hätte ich jetzt dafür gegeben wenn Akari bei mir gewesen wäre – in ihrer Oni-Form.

Plötzlich spürte ich eine Bewegung an meiner Schulter. Ich sah zur Seite und erkannte einen grinsenden Fuchs. „Überraschung. Oder hast du gedacht, deine Kitsune kennt dich nicht? Schön, dass du mich dabei hast, oder?“

„Du hast dir eine Super Zeit ausgesucht, um aufzutauchen. Wir werden gerade mit der Partikelwaffe eines Strafers beschossen!“

„Kein Problem für Yohko und die Otome. Die kümmern sich darum. Hilf du lieber beim aufräumen.“

Ein Blick auf die Anzeigen offenbarte mir die Wahrheit. Die Otome, oder besser gesagt ihre Mechas manövrierten sich zwischen die AURORA und die näher kommende Energiewelle.

„Werden sie einen Schuss dieser Dimension abwehren können?“

„Nein, das werden sie nicht“, sagte Kitsune. Ihr Gesicht, obwohl es das eines Fuchses war, bekam etwas Lauerndes.

***

Mit seiner überaus charmanten Begleitung begab sich Henry zu seinem Termin bei Mentro Zirkos. Zirkos war ein Dai, ein Wesen also, das sich dazu entschlossen hatte, als reines KI zu leben und dadurch unsterblich zu werden. Darüber hinaus war er der Anführer der Dai auf Lemuria und der Streitkräfte, und damit Sean O´Donnelys Vorgesetzter.

Dai-Kuzo, die in dieser Welt als Reyan Oren unter dem Namen Karit bekannt war, begleitete ihn, wie sie es versprochen hatte. Sie wurden sofort vorgelassen.

Mentro Zirkos war ein kleiner, schmaler Mann mit schütterem braunen Haar, aber intelligent drein blickenden Augen. Er musterte eine Sternenkarte des von Daina und Daima besiedelten Weltraums. Als die beiden eintraten, sah er kurz herüber. „Sean, schön Sie wieder zu sehen. Karit Ohana, es ist beruhigend, Sie ebenfalls hier zu wissen.“

„Ich freue mich, hier zu sein“, antwortete Henry.

„Um es kurz zu machen, ich habe einen extrem wichtigen Auftrag, den ich Ihnen anvertrauen will, Sean. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Existenz unserer Zivilisation.“ Ernst sah der Dai herüber. „Jemand da draußen füttert die Götter mit unserer Technologie, und ich will, dass das aufhört.“

Entsetzt keuchte Dai-Kuzo auf. „Mit unserer Technologie? Aber wem könnte daran gelegen sein, aus einem Ärgernis eine ernsthafte Gefahr zu machen?“

Mentro deutete auf bequeme Sitzgelegenheiten. Dankbar nahmen seine Gäste die Einladung an und ließen sich nieder.

„Haben sie zwei je vom Daimon-Plan gehört?“

„Daimon. So nennt man doch die Schutzsphären, die…“, begann Henry, verstummte aber sofort wieder.

„Es wundert mich nicht, dass mein bester Feldoffizier davon weiß“, gestand Mentro Zirkos mit einem Schmunzeln. „In der Tat. Wir haben eine neuartige Nano-Waffe erfunden. Die Libere ist eine Mikromaschine, die KI assimiliert und in veränderter Form wieder ausstößt. Sie ist dafür vorgesehen, auf bestimmten Planeten große Populationen von Daina, Daima und Dai in eigene Mikrouniversen einzusperren, damit sie ihre Mütchen kühlen können. Großstädte, Kasernen, Schiffswerften, Raumstationen, große Raumschiffspulks, all das verschwindet in einer eigenen Blase der Realität. Wer darin gefangen ist hat keine Chance zu entkommen, solange es jemanden gibt, der KI emissiert. Je mehr KI emissiert wird, desto größer ist die Blase. Natürlich kennen wir Mittel und Wege, die Isolierung aufzuheben oder zu penetrieren. Soweit mitgekommen?“

„Wir sind nicht völlig verblödet“, knurrte Henry. „Der Libere frisst KI und scheißt ein eigenes Universum aus.“

„Vulgär, aber richtig ausgedrückt. Der große Plan sah vor, eine eigene Flotte ins Leben zu rufen, die bestimmte Welten im von uns besiedelten Raum aufsucht und die größten Kriegstreiber und die stärksten Machtkonstellationen versiegelt, bis wir sie wieder raus lassen. So war der Plan.“

„Und ich sollte den Oberbefehl über diese Flotte übernehmen“, riet Henry.

„Über eine der Flotten. Eine andere wollte ich selbst führen und die dritte sollte Karit kommandieren. Es wäre der einfachste und schnellste Weg, um diese von Krieg und Elend zerrissene Region zu befrieden. Ihrer Stärke und ihrer Schiffe beraubt würden die Daima und Daina alleine schon des Überlebens Willen miteinander arbeiten. Aber…“

„Aber dann kam die Fraktion dazwischen, welche die Götter mit Technologie versorgt“, sagte Kuzo ernst.

„Richtig. Und damit beginnt unser eigentliches Problem. Hattet ihr zwei jemals Endzeitvisionen? Ich meine jetzt nicht die Endzeitvision vom Ende der Welt. Das wäre lächerlich, denn wir bräuchten Lemuria nur zu verlassen, um dem zu entgehen. Und ich meine auch nicht das Ende aller Zeiten, denn vom Kollaps des Universums sind wir laut neuesten Berechnungen noch vierundachtzig Milliarden Jahre entfernt. Nein, ich spreche vom Ende unserer Zivilisation.“

„Manchmal. Wenn ich zu schwer gegessen habe“, meldete sich Kuzo zu Wort.

„Ich eigentlich nie“, sagte Henry, während die derzeitige reale Situation in der Galaxis durch seinen Geist ging. Einige wenige Daimon, in denen sich Dai zurückgezogen hatten, jederzeit in Gefahr, von den Strafern der Götter aufgespürt zu werden, und dann vor der Vernichtung zu stehen… Selbst die Daimon auf der Erde, die zweifellos den Kontinent Atalantis in sich aufgenommen und von der Welt isoliert hatte, die mächtigste von allen, hatte die Götter nicht ewig davon abschrecken können, sich an ihrem Schutz zu versuchen, wie der Angriff kurz vor dem Start der AURORA bewiesen hatte. All das was Mentro Zirkos befürchtete, war nahezu wahr geworden. Die Daina und Daima hatten ihren Preis bezahlt, waren zersprengt, vernichtet, ja nahezu ausgerottet worden. Nur wenige Populationen existierten noch und streckten vorsichtig ihre Fühler ins All hinaus, bauten kleine Reiche auf, die aber angesichts des Hologramms, das im Büro schwebte und die Ausmaße DIESES Reiches zeigte, nur bessere Schatten waren. „Eigentlich nie…“

„So, dann will ich euch mal eines Besseren belehren. Es gibt jemanden, der genau das herbeiführen will. Oder vielmehr eine Gruppe. Sie will, dass die Zivilisation, wie wir sie kennen, von den Göttern ausgelöscht wird, deshalb findet der Technologietransfer statt. Ich weiß nicht, ob diese Gruppe vorhat dabei zu zu sehen wie die Götter einen Krieg gegen uns führen um dann der lachende Dritte zu sein oder ob es allesamt Nihilisten sind, die sich ihren Tod von der Hand der Götter herbeisehnen. Vielleicht sind sie irgendetwas dazwischen. Sean, du wirst für mich herausfinden, was sie tun, warum sie es tun und dann wirst du verhindern, dass sie es tun.“

Mentro schnaubte wütend auf. „Andererseits sind einige ihrer Argumente recht schlüssig und dazu angetan, an unserer Reife zu zweifeln, und an unserem Recht, uns über die Sterne auszubreiten. Immerhin haben wir ein halbes Dutzend Völker von Außerirdischen vernichtet. Immerhin führen wir einen Bruderkrieg, der bereits mehr Leben gekostet hat als auf Lemuria existieren. Und immerhin waren es Dai, welche die Götter überhaupt erst an den Rand der Ausrottung getrieben haben. Die toten Götter während der Kämpfe nicht mitgerechnet, Karit.“

Dai-Kuzo lächelte dünn. Sie hatte sich schon früh einen Namen gemacht, weil sie Götter bereits mit bloßen Händen besiegt hatte. Ihre Fähigkeiten gegen die normalerweise körperlich weit überlegenen Gegner waren geradezu legendär.

„Aber ich werde nicht zulassen, dass zwanzig Milliarden Daina und Daima sterben müssen, weil ein paar Tausend schreckliche Verbrechen begangen haben! Ich lasse nicht alle pauschal leiden und untergehen. Und das Argument, dass bei all unserer Friedfertigkeit irgendwann einmal wieder ein aggressiver Eroberer aus unseren Reihen empor steigen könnte, der das ganze Universum terrorisiert und Milliarden fremder Leben vernichtet, lasse ich auch nicht gelten! Sean, halte die Götter auf. Und dann sehen wir weiter, was wir mit all diesen Idioten tun können, die nichts besseres vor haben, als sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen.“

Der Dai sah zu Dai-Kuzo herüber. „Willst du ihn begleiten, Karit Ohana?“

„Ich werde ihn begleiten. Seine Fähigkeiten der Recherche sind meinen weit überlegen, aber er wird vielleicht meine Kampfschiffe brauchen.“

„Dann ist es beschlossen. Geht, Kinder, geht mit meinem Segen. Ach, und Karit, es wird vielleicht langsam Zeit für dich, selbst eine Dai zu werden. Ich werde nicht für immer Herr der Dai und Oberkommandierender zugleich sein. Ich brauche einen exzellenten Nachfolger als Obersten Dai. Ich brauche dich.“

„Ich denke über deine Worte nach, Vater.“ Sie nickte, dann erhoben sich Henry und die Reyan Oren und verließen den Raum.
 

„Wir wissen wie unsere Realität aussieht, oder?“ Henrys Miene war ernst, angespannt, regelrecht geplagt. „Alle Dai haben sich in unserer Zeit in Daimon zurückgezogen. Zumindest in jene paar wenigen Daimon, die noch existieren. Und dort hocken sie und drohen jederzeit von den Strafern entdeckt und vernichtet zu werden. Selbst auf der Erde hockt ihr Dai alle unter eurer Kuppel, in einem eigenen kleinen Universum, vor dem ihr vor den Göttern sicher zu sein glaubt. Sie gehen euch zwar nicht direkt an, aber es gibt Nadelstiche. Viele kleine Nadelstiche. Noch fürchten sie die Depotwelt, von der mir erzählt wurde. Noch fürchten sie die vielen Kommandoschiffe wie die ADAMAS, die dort lagern sollen. Aber wie lange noch? Und die wichtigste Frage ist: Können die Dai diese Kommandoschiffe überhaupt einsetzen?“

„Nein, das können sie nicht. Aber das wissen die Götter nicht.“

„Bis sie es irgendwann einmal ausprobieren. Und was machen wir dann?“

„Bis dahin haben wir eine Lösung“, versprach Dai-Kuzo. „Und um die Zeit bis dahin zu nutzen sollten wir jetzt aufbrechen und uns um die Götter kümmern. Vergiss dabei nicht, dass dies…“

„Schon klar. Dies ist eine fiktive Welt. Ich kann die Geschichte hier nicht umschreiben, aber ich kann sie sehr gut beobachten.“

„Das auch. Aber ich meinte eigentlich, vergiss nicht den Zeitablauf zu beschleunigen. Oder willst du wirklich drei Monate fliegen, um das Einsatzgebiet zu erreichen?“

„Oh“, machte Henry. „Das ist ein Argument.“

***

„VERDAMMT!“ Wütend trat ich die Pedale für den Beinantrieb durch. Dies katapultierte Prime Lightning mit einem Schlag voran, fort von der AURORA und näher an den Abfangkordon, den die Otome gegen den Partikelschlag des Strafers aufgebaut hatten.

„Yohko, Hina, baut mich mit ein! Ich…“ Rasender Kopfschmerz fiel über mich her. Mein Mund war plötzlich wie ausgedörrt und der Blick vor meinen Augen verschwamm.

„Nein, Onii-chan!“, klang Yohkos Stimme protestierend auf. „Wir schaffen das schon! Eine solche KI-Abwehr ist zu schwierig für dich, solange du krank bist!“

Ich hielt meinen Schädel mit der Linken, weil ich befürchtete er würde mir bersten. Am liebsten hätte ich den Helm abgenommen und mir ein paarmal kräftig gegen den Kopf geschlagen, um diesen wahnwitzigen Schmerz zu unterdrücken oder abzulösen. Aber das ging nicht in einer Kampfsituation. Währenddessen schoss ich weiter auf die Phalanx der Otome zu.

„Kitsune-chan.“

„Ich kann dir leider nicht helfen. Tut mir Leid, Akira.“ Sie sah mich bedauernd an, dann verließ sie mein Cockpit. Sekunden darauf tauchte sie wieder auf, durchdrang das stabile Material meines Helms und gab mir einen unerwarteten und ziemlich guten Kuss, von dem ich Megumi besser niemals etwas erzählte. „Als Glücksbringer“, hauchte sie mit einem Lächeln und verschwand vor meinen Augen.

„Glücksbringer? Wofür?“, fragte ich, doch niemand antwortete mir.

„Akira, du hast mitten…!“, hörte ich Doitsu rufen. Irritiert checkte ich meine Umgebung. Ich hatte die Front der Otome hinter mir gelassen und… steuerte in die abgeschossene Partikelwelle hinein.

„AKIRA!“

„Verdammter Mist!“, blaffte ich wütend. Ich war wohl doch angeschlagener als ich gedacht hatte. Ich warf die Maschine herum und ging auf vollen Gegenschub. Aber ich wusste, dass ich es bis zu den Otome und ihren Sperrriegel niemals schaffen würde. Also versuchte ich, zur Seite auszuweichen.

Nun, versuchen traf es. Wäre ich nicht so im Schatten meines Fiebers gewesen, hätte ich längst gemerkt, dass Prime diese Maßnahme bereits selbst ergriffen hatte. Ich hätte bemerkt, wie sich der gigantische Mecha um mich herum zusammenkrümmte, um mich doch noch irgendwie zu beschützen. Ich hätte gemerkt, wie verdammt nahe die Partikelwelle schon war.

Genützt hätte es mir wahrlich nichts.

Aufprall!

***

Ich öffnete die Augen. Unter meinen Füßen spürte ich festen Boden, wenngleich ich ihn nicht sehen konnte. Meine Umgebung war erfüllt mit Schwärze und Dunkelheit, mit einer allumfassenden Finsternis, die nichts preisgab. Nichts, nur mich. Ich stand inmitten dieser Finsternis, als würde mich ein besonders leistungsfähiger Scheinwerfer von oben anstrahlen. Aber das stimmte nicht ganz. Ich leuchtete von selbst, ich strahlte geradezu vor aktivem, für den Kampf produziertem KI.

Ich sah an mir herab und erkannte eine Arogad-Hausuniform. In meinem Leben hatte ich sie bisher zweimal als KI-Rüstung angelegt. Nun erfolgte es zum dritten Mal, und ich hatte nicht einen winzigen Moment Zweifel daran, dass dies kein Traum war. Nein, es war die Realität.

„Das ist er also“, erklang eine tiefe, melodische Stimme. Die Dunkelheit riss auf und entblößte einen klein gewachsenen Insektoiden mit ellyptischem Schädel und zwei Paar Facettenaugen. Er trug eine schwarze Uniform, die nur wenig von dem dunkelgrünen Chitinpanzer enthüllte.

„Ich stimme zu“, klang eine andere, hellere und kratzige Stimme auf. Ein imaginärer Spot entriss einen hoch gewachsenen, silberhäutigen Humanoiden der Finsternis. Soweit ich es erkennen konnte, trug er keinerlei Kleidung. Oder war es eine sie? Ein Neutrum? „Wir sehen hier vor uns einen Reyan Maxus.“

Aufgeregtes Raunen in verschiedenen Stimmlagen, Tonarten und Sprachen erfolgte.

„Ruhe“, klang eine mechanisch klingende Stimme auf. Ein drittes Wesen wurde der Dunkelheit entrissen. Sie entpuppte sich als schwebendes rotes Dreieck, welches auf der Spitze stand und mit einem Auge verziert war. Dieses Auge öffnete sich, um mich direkt anzusehen. „Der Reyan Maxus ist seit neuntausend Zyklen nicht mehr aufgetaucht. Wir wähnten ihn vernichtet, ausgerottet, getilgt“, referierte die mechanische Stimme. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Ding da wirklich ein Roboter oder ein Computer war. „Wir haben die falschen Informationen gehabt. Wenn die Daina dieser Zeit Reyan Oren hervor bringen können, bedeutet dies noch nicht, dass es auch Reyan Maxus gibt. Aber hier haben wir das Gegenteil gesehen. Das fremde Sphärenschiff AURORA hat nicht nur Daina und Daima in friedlicher Eintracht an Bord, verfügt nicht nur über Dai von verschiedenen Welten, einschließlich Lemuria. Nein, es trägt auch Reyan an Bord. Und mit jenem hier verfügen sie über einen Maxus. Ich denke, wir alle kennen die Gefahr, die ein Maxus für uns bedeutet. Ich denke, wir alle wissen, was die Maxus den Göttern angetan haben. Und ich weiß, dass die einzige Lösung die Ausrottung dieser Bedrohung ist.“

„Den Göttern“, raunte jemand ehrfürchtig, und ein anderer begann einen monotonen Singsang, der mir wie ein Gebet erschien.

„Wir können niemals alle vernichten“, sagte der Insektoide ernst. „Das haben wir nicht geschafft und das werden wir auch nicht schaffen. Irgendwo werden sie überleben und von irgendwoher werden sie wiederkehren.“

„Dem stimme ich zu“, meldete sich die Stimme zu Wort, die gebetet hatte. Ein neuer Spot entriss ein Wesen der Finsternis, das ich spontan mit einem Zentauren verglich, einem menschlichen Oberkörper, der auf einem Pferdeleib thronte. Aber es gab Unterschiede, gravierende Unterschiede. „Lasst uns stattdessen damit fort fahren, die Dai zu vernichten. Sie waren es, die den Krieg über uns und die Götter gebracht haben. Und sie sind es, die einen Reyan Maxus erwecken können.

Auch ohne den Core als Scout werden wir weitere Daimon aufspüren und vernichten und damit die Gefahr der Reyan Maxus ein für allemal bannen. Aber zuerst sollten wir auf die nahe liegenste Gefahr reagieren. Vernichten wir diesen Reyan Maxus, und zwar sofort. Danach können wir unsere Truppen aus allen Teilen der Galaxis zusammen ziehen und die Daimon um Lemuria, Aret und Tski vernichten – und damit alles, was sich in ihnen befindet.“

Zustimmendes Gemurmel erklang.

„Dann ist es beschlossen. Wir beginnen mit der Vernichtung des Reyan Maxus.“ Das Auge fixierte mich, und für einen Moment meinte ich, irgendetwas spüren zu müssen. Brennenden Schmerz, unendliche Pein, etwas in der Art.
 

„Hat der Reyan Maxus etwas zu sagen?“

„Ja, hat er. Können wir das nicht friedlich beilegen? Ich meine, Hey, irgendwo gibt es doch sicher einen gemeinsamen Nenner, auf dem wir kommunizieren können, oder? Sind fünfzigtausend Jahre Krieg denn wirklich so schrecklich, dass wir sie nicht mit einem Gespräch unter friedlichen Wesen beiseite schieben können?“

Okay, die Rede war nicht sehr berauschend gewesen. Aber dies war mein erster Kontakt, den ich direkt mit den Göttern hatte, und warum nicht wenigstens den Versuch machen, es einmal besser hinzukriegen?

Der Insektoide sah zu mir herüber. „Schön, dass Sie das ansprechen, Reyan Maxus. Wir Itoferinaer sind ja schon lange der Meinung, dass…“

„Naxos!“, sagte das Dreieck mahnend.

„Aber ich sage ja nur, dass…“

„Naxos!“

„Ich wollte ja auch gar nicht, nur darauf hinweisen, dass…“

„NAXOS!“, riefen nun alle Anwesenden zugleich.

„Darf man hier als Kind der Götter nicht mal mehr die eigene Meinung äußern?“

„Nein“, bestimmte das Dreieck. Die Lichter über den anderen Wesen erloschen, einzig das Dreieck war zu sehen.

„Reyan Maxus. Die Programmierung sieht Verhandlungen oder gar Frieden nicht vor. Die Programmierung handelt einzig und allein davon, dass den Dai nicht gestattet wird, die Galaxis erneut mit Krieg zu übersäen. Zu diesem Zweck führen wir einen Vernichtungsfeldzug gegen sie, sobald sie sich aus ihren Daimon hervorwagen. Du als ihr Handlanger bist davon ebenso betroffen, darüber hinaus alle Bewohner des Sphärenschiffs AURORA. Dies ist der Wille der Götter. Dies ist der Wille der Kinder der Götter.“

„Moment, Moment, reicht es nicht, dass sich Daina und Daima untereinander bekämpfen? Wir haben doch gar keine Zeit, um uns auch noch um die Götter zu kümmern. Könnt ihr euren Vernichtungsfeldzug nicht aufschieben? Vielleicht vernichten wir uns ja auch gegenseitig und die Dai gleich mit, dann habt ihr nicht mal Arbeit an der Geschichte!“

Das Dreieck schwieg. Ich schöpfte Hoffnung, und zwar genau bis zu der Sekunde, in der es wieder zum sprechen ansetzte. „Wir können nicht warten. Im Gegenteil. Wir müssen unsere Arbeit beschleunigen. Die Errichtung dreier gigantischer Daimon im Orbit der Sonne Sol ist ein klares Warnsignal davor, wie sehr die Dai mittlerweile wieder erstarkt sind. Die Programmierung sieht einen Präventivschlag vor.“

„Ändert die Programmierung doch einfach“, wandte ich ein.

„Das können nur die Götter.“

„Rede ich nicht mit den Göttern? Kann ich mit ihnen sprechen? Kann ich sie vielleicht überzeugen, uns allen eine Chance zu geben? Sind ihnen fünfzigtausend Jahre Krieg nicht auch zuviel mittlerweile?“

„Nein.“

„Und warum nicht?“ Frustriert schnaubte ich aus.

„Ihr habt die Götter ausgelöscht, Reyan Maxus.“ Das Licht um das Dreieck begann zu verblassen. „Harre der Auslöschung deiner Existenz, Reyan Maxus.“

Ach, so lief der Hase. Langsam verstand ich. Mehr und mehr. Mosaiksteine erreichten ihren Platz, das Gesamtbild wurde sichtbar. Das Geschehen breitete sich vor mir aus. „Ich habe einen Namen“, sagte ich fest in die Dunkelheit hinaus. „Und ihr werdet diesen Namen noch fürchten, wenn ihr weiterhin auf eurem kleinen Krieg beharrt! Ich bin Akira Otomo, merkt euch das!“

Übergangslos wurde es dunkel um mich herum.

***

„AKIRA!“

„Schrei nicht so, ich bin ja nicht taub! Prime, wie lange war ich verschwunden?“

„Verschwunden, Sir?“

„Schon gut“, brummte ich. Unter was hatte ich das gerade Erlebte also abzubuchen? Nahtoderlebnis? Interstellares Channeling? Inwiefern stand das Erlebte mit dem Stillstand der Zeit in Zusammenhang? Ich runzelte die Stirn. Innerhalb eines Biocomputers konnten Menschen ihren Zeitablauf beschleunigen, oft auf erstaunliche Werte. Kam mir nun etwa meine Gefangenschaft bei den Kronosiern zugute? Ich spürte es, irgendwie war ich auf einem guten Weg zu einer wichtigen Erkenntnis.

Und in welchem Zusammenhang stand nun diese, sagen wir mal Konferenz, zur abgeschossenen Partikelwelle des Strafers?

Abgeschossene Partikelwelle? Richtig, da war ja noch was!

„Prime, konnten wir ausweichen? Dumme Frage, natürlich konnten wir ausweichen! Immerhin existieren wir noch, oder?“

„Nein, Sir, wir konnten nicht ausweichen. Aber darf ich Sie dazu auffordern, sich einmal umzusehen?“

„Was soll der Blödsinn, Prime. Wenn wir nicht ausweichen konnten, dann ging der Strahl einmal durch uns durch und traf die Abwehr der Otome und… Warum soll ich mich umsehen?“

Irritiert öffnete ich die Augen. Ich meine, die ganze Zeit hatte ich gedacht, ich würde in meinem Sessel im Cockpit von Prime Lightning sitzen und auf die Anzeigen sehen. Nun aber erkannte ich, dass ich inmitten einer gläsernen Sphäre schwebte, die vollen Ausblick auf das umgebende All gewährte. Ich trug erstaunlicherweise immer noch – oder schon wieder – die Arogad-Hausuniform. Oder etwas, was ich auf den ersten Blick dafür gehalten hatte.

„Was ist das? Und wo ist der Partikelstrahl geblieben?“

„Sir, wir haben den Partikelbeam aufgespaltet. Einen Teil der Energie haben wir absorbiert. Die Otome hatten dann wenig Probleme, den Schuss abzulenken.

Und dann haben Sie spontan damit begonnen, mich… Nun, aufzublähen trifft es wohl. Ich tippe darauf, dass Sie die Abstände der Moleküle drastisch erhöht haben. Dennoch habe ich nichts von meiner Konsistenz verloren, geschweige denn von meiner Panzerung. Im Gegenteil. Ich verfüge über erstaunliche Energiereserven. Ach, und bevor es Ihnen jemand anderes sagt, Sir, die Strafer ziehen sich zurück. Vorerst, zumindest.“

„Wieso habe ich nur das dämliche Gefühl, dass du mit dieser Beobachtung Recht hast, Prime?“, fragte ich mit Sarkasmus in der Stimme.

„Akira, was hast du gemacht?“

Sakura! Verdammt, sie war auf mich aufmerksam geworden! Ich hatte krank mein Bett verlassen… War gegen ärztlichen Rat in einen Mecha gestiegen… Hatte mich am Kampf beteiligt… Und bin dummerweise mitten in den Partikelstrahl des Strafers hinein geflogen…

Offiziell war ich Eigentümer der AURORA, ja, eigentlich sogar Expeditionsleiter. Ganz davon abgesehen, dass ich beim Core und hier bei den Iovar eine ganz große Nummer war. Aber das bewahrte mich sicherlich nicht vor einer Schelte meiner Cousine. Garantiert nicht.

„Ich bin krank! Reicht das als Ausrede?“, sagte ich hastig.

„Krank? Und deshalb hast du Prime Lightnings Größe verdreifacht?“

„WAS?“
 

4.

Das Phänomen war nicht von der Hand zu weisen. Ich befand mich nicht länger im Cockpit von Prime, ich war… Irgendwo in ihm. Ich konnte ihn steuern, ihm Befehle geben und dergleichen, unsere Verbindung war besser als jemals zuvor. Aber das war doch nicht normal, egal wie RICHTIG es sich anfühlte!

Und dann meine merkwürdige Erfahrung, als ich glaubte, mit den Kindern der Götter verhandelt zu haben… Okay, mittlerweile hatte ich genügend erlebt, um zumindest anzunehmen, dass dieser Part der Geschichte real war.

Waren das also meine Fähigkeiten als Reyan Maxus?

Wo begannen diese Fähigkeiten, wo endeten sie? Und warum verfügte ich über sie? Wieso schob das Schicksal mich mal wieder an der Spitze einer großen Bugwelle vor sich her und warf mich ständig, ständig in unbekanntes Gewässer?

Zuerst die Kronosier, dann die Anelp, später die Naguad, denen flugs die Iovar folgten. Dichtauf der Core und letztendlich die Götter… Hörte das irgendwann einmal auf? War irgendwo ein Ende in Sicht? Ein Ziel? Oder würde wenigstens mal ein anderer die Spitzenposition einnehmen?

Mitte zweiundzwanzig, und ich litt am Managersyndrom, die Welt war ironisch und köstlich – für alle anderen außer mir.

„Akira! Wie hast du das gemacht?“, klang Sakuras Stimme auf.

„Äh… Aus dem Handgelenk?“

„Das ist mir klar, aber ich hätte gerne Informationen über den technischen Ablauf.“

„Wie soll ich dir was erklären, was ich selbst nicht weiß? Frag Kitsune-chan, die weiß wahrscheinlich ganz genau, was hier passiert ist.“

„Ist sie nicht bei dir im Cockpit?“

„Nein, sie ist vorhin abgesprungen. Keine Ahnung, wo sie sich jetzt rumtreibt. Wenigstens können wir bei ihr sicher sein, dass sie auf sich selbst aufpassen kann“, erwiderte ich säuerlich.

„Du schaffst mich, Akira. Komm erstmal wieder rein. Die Götter ziehen ab, die Aufräumarbeiten und Bergungsmanöver liegen im Plan und du stehst eh nicht auf der Flugliste.“

Ach ja, da war ja noch was. „Bin schon unterwegs“, murmelte ich kleinlaut. Na, wenigstens das Fieber war wie weg geblasen.

„Äh, Prime?“

„Sir?“ „Wie bewegen wir uns?“

„Sir, ich schlage vor, dass… Ich habe keine Ahnung. Vielleicht sollten Sie einfach denken, dass wir uns bewegen?“

Ein heftiger Ruck ging durch den auf das dreifache vergrößerten Prime Lightning.

„Keine Sorge, probiere in aller Ruhe herum. Inzwischen schleusen wir dich wieder ein“, klang Megumis fröhliche Stimme neben mir auf. „Unglaublich. Da hole ich gerade als KI-Meisterin zu ihm auf, und schon legt er wieder einen vor.“

„Ja, es ist unglaublich“, antwortete ihr Doitsu. Ein Hologramm, das vor meinen Augen entstand zeigte mir, dass Lady Death meinen Mecha zusammen mit Katana ergriffen hatte und nun zurück zur AURORA zog. „Da denkt man einmal, endlich sieht man ihn, und dann setzt er zu einem Zwischensprint an und zieht wieder davon.“

„Kitsune-chan ist schuld!“, rief ich. „Die hat irgendwas mit mir gemacht und…“

„Ja, irgendwas WIRD sie mit dir gemacht haben, wenn du wieder chan an ihren Namen dran hängst, Akira“, säuselte Megumi. „Wir reden auf der AURORA darüber.“

Relativ schnell fand ich heraus, dass ich das Hologramm vor mir beeinflussen konnte, wenn ich einen klaren Gedanken formte. Es war ähnlich wie die Instinktsteuerung, die beim Hawk und auch beim Daishi Anwendung gefunden hatte. Als das Hologramm fast den gesamten freien Innenraum ausfüllte und ein Teil meines Körpers in ihm verschwand, fügte ich hinzu: Zu gut.

Rund um mich herum arbeiteten die Mecha-Piloten und die Schiffsbesatzungen mit vollem Einsatz, um die havarierten und angeschlagenen Schiffe, Banges und Rettungskapseln der kaiserlichen Truppen einzusammeln. Sakura hatte diese Aktion nicht eine Sekunde unterbrochen, aber das war bei ihr auch nicht anders zu erwarten gewesen.

Währenddessen näherte ich mich mit meinen beiden Begleitern der AURORA, und damit kam ich meiner Cousine immer näher. Und sie war einer von einer Handvoll Menschen, gegen die ich nie aufbegehren konnte, die mich selbst nach acht Jahren als Soldat noch dominieren konnten.

„Das kann doch alles nicht wahr sein“, murmelte ich verzweifelt. Und wohin war Kitsune verschwunden?

***

An Bord der AURORA übernahm meine Professionalität. Ja, auch ich konnte das, professionell sein, Soldat sein, Befehlshaber sein. Ich war eben nicht nur der hitzköpfige Überflieger, das Mega-Ass, welches nur auf seine Abschusszahlen schaute. Ich war auch ein umsichtiger, zwar fordernder, aber lehrbereiter Vorgesetzter mit Maß und Verstand.

Nun, vielleicht nicht immer mit Maß und nicht immer mit Verstand, wenn ich daran dachte, dass ich sowohl einmal die komplette Hekatoncheiren-Division als auch 5. Banges-Division der Arogads herausgefordert und besiegt hatte – mehr oder weniger besiegt.

Aber ich hatte es drauf. Ich war Offizier. Ich war… Tja, im Moment eigentlich gar nichts, aber ich nahm doch mal ganz stark an, dass meine Position als militärischer Oberbefehlshaber des Cores, dass meine Position als Protektor des Intendenten und mein terranischer Rang eines Division Commanders, den ich bis zu meiner Entführung durch Torum Acati inne gehabt hatte, irgendeinen Wert hatten. Okay, Division Commander war nun Megumi, aber von Rechts wegen hätte ich ihr den Job weg nehmen und alle unter ihr einen Rang runter rutschen lassen sollen. Alternativ hätte ich auch die Hekatoncheiren auf Korpsgröße aufblähen können und wäre dann als General mit drei Sternen auf der Schulter deren Anführer geworden… Etwas in der Art halt. Zum Glück ließen mir meine Nebenjobs nicht die Zeit.

Also, wie gesagt, die Professionalität in mir übernahm, und deshalb berief ich eine Konferenz der wichtigsten Offiziere ein, egal ob sie auf der AURORA waren oder draußen im kalten All unterwegs. Außerdem ließ ich mich vernetzen, soweit das überlichtschnelle Funknetz reichte. Im Moment ging es nur bis zur Erde. Dort kam es wegen der Vielzahl der Relais zu einer Zeitverzögerung, wenn ich mit Lorania oder gar Nag Prime sprechen wollte. Dennoch waren beide Welten hinzu geschaltet.

Als ich den Konferenzraum mit Megumi und Doitsu im Schlepp betrat, erwarteten mich also schon eine Reihe gespannter Gesichter, und eines davon gehörte… Juichiro Tora?

„Nein, erklärt es mir nicht“, sagte ich mit einem Kopfschütteln in Richtung Vater, der gerade zum sprechen hatte ansetzen wollen, „ich habe heute wirklich genug erlebt.“

Ich nahm Platz, sah in die Runde und sagte: „Dai-Kuzo-sama, wir müssen uns mal über die Begriffe Reyan, Reyan Oren und Reyan Maxus unterhalten.“

„Maxus? Was ist das denn schon wieder? Ist das deine Neuigkeit, mit der du Prime aufgebläht hast?“, hakte Megumi nach.

„Zumindest solange wie ich an Bord war. Was mir das nützen soll weiß ich zwar nicht, aber es muss was großes sein.“

„Woher hast du diesen Begriff, Akira?“, fragte Dai-Kuzo ernst.

Kurz referierte ich von meiner Begegnung im Partikelstrahl, von der Gerichtsverhandlung und von den Kindern der Götter. Und ich erwähnte den wichtigsten Punkt: Das sie mich fortan jagen würden. „Das habe ich dann wohl Kitsune zu verdanken. Wo steckt sie überhaupt? Und wo ist der Wolf?“

„Ja, es war wohl Kitsunes Entscheidung, dich nun zu wecken, Akira. Und deshalb werde ich wohl auch eine Entscheidung treffen müssen, jetzt, wo die Götter ihre Augen auf dich und die AURORA richten.“ Sie nickte jemandem außerhalb ihres Sichtfeldes zu, und Vater trat entsetzt einen Schritt zurück.

Dai-Kuzo lächelte dünn. „An Bord der AURORA sollte es bald einen Eindringlingsalarm geben.“

„Einen Eindringlingsalarm?“ Ich runzelte die Stirn.

„Du solltest Yohko so schnell es geht an Bord rufen. Sie wird sicher nützlich dabei sein, mein kleines Geschenk für dich einzufangen.“

„Geschenk, ha! Jetzt weiß ich wenigstens, woher der Spruch kommt: Hüte dich vor den Danaern, wenn sie Geschenke bringen. Ursprünglich hieß er bestimmt: Hüte dich vor den Dämonen, wenn sie Geschenke bringen.“ Eikichi sah mich ernst, amüsiert, aber irgendwie auch erleichtert an. „Akira. Dai-Kuzo hat dir Sphinx geschickt. Sie ist eine… Eine ganz besondere Dai mit ungewöhnlich großer Macht, aber extrem kurzer Auffassungsspanne. Sie ist nicht dumm, nur schrecklich schnell gelangweilt. Aber ich denke, du und Yohko werdet sie im Griff haben.“

Ich spürte, wir mir das Blut aus dem Körper in die Beine sackte. „Geschickt? Zusammen mit dem Eindringlingsalarm bedeutet das ja…“

„Richtig. Sie befindet sich jetzt irgendwo an Bord der AURORA. Bevor sie zu viel Chaos anrichtet, solltest du sie einfangen gehen. Und nimm dir Yohko zu Hilfe. Sie reagiert auf Verwandte.“

„Verwandte?“, echote ich. Blut gehörte bestimmt nicht zu den Dingen, die gerade mein Gehirn versorgten.

„Eine Schwester deiner Ur-Ur-Großmutter väterlicherseits, mein lieber Junge. Ja, guck nicht so dumm. Du hast auch Blut der Dai in deinen Adern, wenngleich nur ein paar Tropfen.“

„Und wann wolltest du mir und Yohko das sagen?“

„Eigentlich nie.“ Es klang amüsiert, aber Vater wurde schnell wieder ernst. „Akira, dir und der AURORA steht eine schwere Zeit bevor. Wenn die Götter weitere Schiffe heranziehen, weil du plötzlich das Primärziel bist, dann wird der Weltraum weiß vor Strafern sein. Du musst sofort das System verlassen. Die AURORA muss sofort das System verlassen. Du hast einen Plan?“

„Wir hatten sowieso vor, Katz und Maus mit den Göttern zu spielen“, erwiderte ich, noch immer geschockt von den Ereignissen und von den Informationen. Ich nickte Sakura zu, die zurück nickte und erste Befehle gab. Dann erhob ich mich, um die Suche nach Sphinx zu leiten. Mit halbem Ohr hörte ich mit, wie Sakura Yohko zurück rief.

„Ach, eines noch. Ich weiß nicht ob es wichtig ist. Aber die Stimme, die für die Götter gesprochen hat, hat gesagt, dass die Götter tot sind. Hilft uns das weiter?“

Nun, ich hatte Vater des Öfteren bleich gesehen, nicht aber Dai-Kuzo.

„Hat die Stimme tot gesagt? Nicht nahezu ausgerottet? Oder im Exil? Irgendwas in der Art?“

„Nein, es war definitiv tot.“

„Dann haben wir es nur noch mit der Robotverwaltung zu tun.“

„Aber da sind die Kinder der Götter, die…“, wandte ich ein.

„Nein. Nur mit der Verwaltung. Und das bedeutet, dass sie die Erde angreifen werden. Die AURORA wird Priorität haben, aber nicht für immer. Akira, könnt ihr die Götter für vielleicht ein halbes Jahr beschäftigt halten? Bitte, es ist wichtig.“

„Wir tun es“, sagte ich fest. Allerdings war ich nicht so ganz davon überzeugt, dass ich dieses Versprechen einhalten konnte.

„Das ist alles was ich will“, schloss Dai-Kuzo, und die Verbindung erlosch.

„Na, dann wollen wir doch mal Ur-Großtante suchen gehen“, schmunzelte ich. Davon gehört hatte ich ja schon, dass es auf Planeten Ley-Linien gab, die Erdströme miteinander verbanden, und dass es Lokk-Linien gab, die Planeten verbanden. Und ich wusste, dass besonders starke Dai auf ihnen reisen konnten. Mir war aber absolut neu, dass dies auch auf interstellarer Ebene möglich war. Das ließ mich vor Großtante ein wenig frösteln. Aber das machte die Sache auch interessanter.

„Helft ihr mir suchen?“, fragte ich in Megumis und Doitsus Richtung.

***

Ungefähr sechzig Lichtjahre entfernt fand auch eine Sitzung statt, zudem zur gleichen Zeit. Die Angehörigen dieser illustren Runde waren die Räte der geflohenen Logodoboro, die den Aufstand mit Hilfe des Cores geprobt hatten, zumindest der größte Teil von ihnen. All jene, die auf ZASTUR, der großen Kampfplattform im Orbit von Zast, der Hauptwelt der Logodoboro-Mark anwesend waren.

Girona Logodoboro führten den Vorsitz. Offiziell war er als Herr des Clans abgesetzt worden, ersetzt von Agrial, der verhassten Urahnin, die er für über tausend Jahre in einen Biotank gesperrt hatte. Die hatte sterben sollen, wenn der Turm gewaltsam erobert wurde. Anscheinend hatte er beide unterschätzt. Sowohl Agrial als auch das Militär der Naguad.

„Das war die letzte Flotte“, sagte Kerran Logodoboro sarkastisch und deutete auf den großen Bildschirm an der Wand. „Die letzten tausend Raider haben das Zastar-System verlassen. Damit sind es nur noch wir und unsere Getreuen, die unsere Mark verteidigen.“

Was er damit hatte sagen wollen war klar: Die Idee, das Naguad-Reich mit Hilfe des Cores aufzubrechen und ein eigenes kleines Imperium für ihr Haus zu gründen, war damit gründlich daneben gegangen. Man hatte ihnen einen zünftigen Strich durch die Rechnung gemacht, und man hatte einen Namen: Aris Arogad!

„Was willst du damit sagen? Willst du dir ein Kriegsschiff schnappen, nach Nag zurückfliegen und vor Agrial auf dem Bauch kriechen, damit sie dich wieder ins Haus aufnimmt?“, fauchte Lexin Virat aufgebracht. Die Virat waren schon immer Hitzköpfe gewesen, was sie für den Dienst an der Waffe und dem Banges beinahe ideal machte. Aber Lexin hatte ihre rüde, direkte und aufbrausende Art bis in den Rat gespült.

„Nein, natürlich nicht. Aber bin ich der einzige, der sieht, dass der Plan gescheitert ist? Daness und Arogad haben sich verbrüdert, sind beinahe schon verschmolzen. Fioran und Elwenfelt hängen sich an diese Gigantenhochzeit an wie an Mamas Rockzipfel und die anderen Häuser, voran die reformierten Logodoboro, tanzen nach ihrer Pfeife. Ohne die Hilfe der Raider werden wir nicht mehr lange widerstehen können. Gewiss, alle Welten außerhalb des Nag-Systems sind in unserer Hand, fast siebenundachtzig Prozent unserer Haustruppen sind auf unserem Gebiet und gehorchen uns, aber das ist sehr wenig im Anbetracht der Macht der anderen Häuser oder gar der Flotte des Imperiums. Ohne die Hilfe des Cores werden wir…“

„Du kennst die neuesten Fakten nicht, Kerran“, mahnte Girona ernst. „Es stimmt, der Core wurde zurückgerufen, aus Gründen, die uns nicht mitgeteilt wurden. Das Bündnis wurde aufgekündigt, aus Gründen, die uns nicht mitgeteilt wurden. Unsere hirnlosen Sturmtruppen haben uns verlassen. Das ist schade, aber im Moment nicht zu ändern. Aber es ist nicht ganz der Verlust, für den du ihn hältst, mein Junge.“ Er nickte in Richtung der Tür. Eine Ordonnanz öffnete.

Die jugendlich wirkende Frau mit den langen braunen Haaren sah amüsiert in die Runde und genoss die Aufmerksamkeit, die sie mit ihrem Auftritt erzielte. „Entschuldigt bitte“, sagte Listair Koromando, Herrin des Koromando-Clans, „bin ich hier richtig bei der Konferenz derjenigen Haus-Räte, die sich nicht mehr länger von Arogad und Daness gängeln lassen wollen und dafür zu kämpfen bereit sind?“

„Ein Haus mehr reicht uns auch nicht“, murrte Kerran. „Obwohl die Hilfe mehr als willkommen ist, Meister Koromando.“

„Oh, ich komme nicht allein. Ich bringe schon ein wenig mehr mit. Es ist ja nicht so, als wäre meine Anwesenheit hier eine spontane Entscheidung.“

„Ich weiß“, klang der tiefe Bass eines kräftigen Mannes in der Tür auf, „ich bin nicht Meister meines Hauses, aber erlaubt mir zu sagen, dass auch die Grandanaar sich nicht mehr länger von Daness und Arogad dominieren lassen wollen.“

„Kivven Grandanaar“, stellte Girona fest. „Bist du jetzt zufrieden, Kerran?“

„Es verbessert unsere Chancen erheblich. Aber es kommt darauf an, wie viele Truppen uns zur Verfügung gestellt werden. Wir könnten unsere Mark aus dem Verbund lösen, das Gebiet halten und unser eigenes Imperium gründen.“

„Und die umliegenden Marken und Verwaltungsbezirke erobern und diesem Reich hinzufügen. Gleich nachdem wir die Regionaladmiralität im Kanto-System ausgeschaltet haben“, fügte Kivven Grandanaar hinzu.

„Du und welche Flotte?“

Kivven lächelte dünn. Der breitschultrige Riese sah zu der Koromando herüber.

„Oh, nein, bitte, habe du die Ehre, Kivven.“

„Ich danke dir, Meister Koromando. Bitte, Meister Logodoboro.“

„Sie haben meine Erlaubnis, Kivven.“

Kivven Grandanaar nickte einer Ordonnanz zu, die den Bildschirm umschaltete. Das Bild, das sie nun sahen, war sehr interessant.

„Es sind ja doch noch Raider im System, wie ich sehe.“ Lexin Virat richtete sich interessiert weiter auf. „Auf wen hören sie?“

„Sie hören auf mich und auf Kivven Grandanaar“, stellte Listair fest. „Es sind Grandanaar- und Koromando-Raider. Wir haben vor eintausend Jahren zwanzig Cores hergestellt und in die Weite des Alls geschickt. Nun haben wir die robotischen Schiffe abgerufen. Und dies ist die erste Welle: Fünftausend Raider. Es werden bald zehntausend sein.“

„Das ist… Beeindruckend“, gestand Kerran Logodoboro.

„Und unsere große Chance“, fügte Girona wissend hinzu. „Wir wollen darauf anstoßen. Auf das Ende des Imperiums der Naguad und der Beginn der großen Reiche der Logodoboro, Grandanaar und Koromando.“

„Auf das Ende und den Neubeginn“, sagte Kivven Grandanaar erfreut.

„Auf das Ende der Regionaladmiralität im Kanto-System“, fügte Listair Koromando hinzu. „Und der ewigen Vorherrschaft von Arogad und Daness.“

Diener servierten Getränke, die Anwesenden stießen miteinander an.

„Und wenn wir damit fertig sind“, sagte Girona mehr zu sich selbst, „töten wir Aris Arogad.“

Hatz

Prolog:

Ein Gedanke beschäftigte mich, und zwar derart intensiv, dass meine Hände klamm wurden: Wo um alles in der Welt, wo im gigantischen Innenraum der AURORA, wo in der riesigen Stadt Fushida City, wo, vom Serenity-Meer bis zu den kleinen Ortschaften, steckte diese verdammte Daimon?

Kuzo hatte gesagt, sie hätte mir Sphinx geschickt, eine ihrer Dai... Und seither hatte ich, nicht zuletzt durch ein paar Andeutungen meines Vaters, den Eindruck, dass sie der Sphinx der klassischen griechischen Sage sehr, sehr ähneln würde.

Ich sollte sie suchen gehen, hatte Vater gesagt. Zu Familie hatte sie eine besondere Resonanz, und ich und Yohko waren für sie Familie, denn Sphinx war die Schwester einer Frau, einer Dai, um genau zu sein, die sich vor ein paar Jahrhunderten in die Linie meiner Vorfahren eingeschlichen hatte. Nun, vielleicht war einschleichen ein falsches Wort, und zudem auch noch voreingenommen und fies. Aber es machte mir doch zu schaffen, dass ich nun wusste, das Dai-Blut in meinen Adern floss. Eigentlich waren alle Menschen, ob Daima, ob Daina, Nachfahren der Dai, also hätte dieser Gedanke irrelevant sein müssen. Doch das war er nicht, denn im Gegensatz zur Menschheit, war mein Schuss Dai relativ frisch.

Gewarnt hatte Vater mich. Sie hätte zuviel Energie, verlöre schnell das Interesse an einer Sache und spiele unbedacht wie ein Kind herum. Und das ich sie deshalb so schnell wie möglich einfangen müsste.

Ich fragte mich, wie ich das schaffen sollte. Okay, okay, man hatte mich seit ein paar Stunden zum Reyan Maxus erklärt, was immer das bedeuten sollte, was immer das hieß. Aber war ich deshalb gleich ein alles könnender, omnipotenter Gott? Immerhin war Prime Lighthing wieder auf seine alte Größe geschrumpft, oder?

Und warum eigentlich immer ich? Warum nicht mal Yohko, immerhin hatte sie die gleichen Gene wie... Okay, vielleicht doch nicht Yohko, immerhin war sie meine kleine Schwester, und die hatte ich schon einmal verloren. Ich hatte nicht vor, den Punktestand auf zwei oder sogar einen Hattrick zu bringen. Definitiv nicht. Aber es gab doch noch mehr Leute. Yoshi. Daisuke. Doitsu. Kenji. Alles Freunde von mir... Okay, auch DAS war also keine Option für mich, immerhin wollte ich auch meine Freunde beschützen. Eine Sache in dieser Welt war reichlich ungerecht. Entweder das Universum, das mir seit acht Jahren permanent übel mitspielte, oder meine innere Einstellung, die mich immer wieder zu diesen Wahnsinnstaten trieb.

Ich seufzte lange und schwer, hielt ein in meinem Schritt und starrte auf das Serenity-Meer hinaus, dessen Küste ich gerade absuchte. Warum eigentlich immer ich? Warum konnte ich mein KI benutzen? Warum hatte der Resonanztorpedo mir nichts anhaben können? Warum war mein Ich aus meinem Körper entfernt und entführt worden? Und warum hatte die Rückführung so problemlos geklappt? Warum... Ja, warum wurde ich immer und überall in die Anführerrolle gedrängt? Gut, gut, es war nicht so, als würde ich die Rolle nicht immer wieder ergreifen, weil ich Erfahrung darin hatte, anderen voran zu gehen. Aber warum tat es das ganze übrige Universum auch? Ich befehligte die Streitkräfte des Cores. Ich war Stellvertretender Intendent der Iovar. Ich war eine Zeitlang Executive Commander der Erde gewesen. Und einige bange Tage war ich der direkte Erbe des Hausvorsitzes der Familie Arogad gewesen. Abgesehen davon, dass ich eine beispiellose Allianz zwischen Daness und Arogad aufgebaut hatte. Letzteres übrigens, als ich schon nicht mehr in meinem Körper geweilt hatte und mindestens fünfzig Lichtjahre entfernt gewesen war.

Warum immer ich? War ich so süchtig nach Aufmerksamkeit, Bewunderung, Ruhm, Ehre und meinem Platz in der Geschichte, dass dies sogar die Individuen anderer Völker spürten und sie mich freiwillig beförderten? Oder gab es irgendwo in diesem oder einem anderen Universum einen Irren, einen Verrückten, ja, Wahnsinnigen, der sich mein Leben so ausgedacht hatte wie es jetzt war und ich diesen Gedanken einfach nur folgte? Das hätte doch was. Meine eigene, wahnsinnige, durchgeknallte Gottheit. Andererseits hätte ich sie dann gerne eingetauscht. Vielleicht ein Managerspiel. Gegen den Stress. So ein Ding mit Bällen, bei dem man einen Ball gegen eine Reihe anderer fallen ließ und man zusah, wie der äußerste Ball auf der anderen Seite hoch sprang. Ich seufzte wieder. Tief, lang und ehrlich gesagt etwas frustriert.

Zu diesen Gefühlen kam Irritation, als ich eine schmale Hand auf meinem Kopf fühlte. Ich sah zur Seite. Neben mir stand eine blonde junge Frau, die mich anlächelte und dabei die Augen beinahe ganz zugekniffen hatte. Sie war verdammt hübsch, ziemlich groß, und von der Natur großartig gesegnet worden – alles Hinweise darauf, dass mit ihrer Existenz ein Haken verbunden war.

„Es ist alles in Ordnung, Akira-chan“, sagte sie und lächelte noch ein wenig mehr. „Jeder von uns hat einmal eine Phase des Haderns und Zweifelns. Aber genau deshalb bin ich ja hier. Zugegeben nicht genau deshalb, aber unter anderem.“

Erschrocken sah ich die Frau an und begriff, in etwa auf die gleiche Weise wie das Managerspiel. Die Kugel mit dem Gedanken, der die Erkenntnis über ihre Identität transportierte, traf die anderen Gedanken in meinem Kopf, die im Moment ebenfalls Kugeln waren. Die Schockwelle der Erkenntnis fraß sich einmal durch alle Kugeln, ich meine Gedanken, nur um die gesamte Energie an die letzte Kugel weiterzugeben und sie hoch springen zu lassen. Im Klartext: Ich griff an den Kommunikator und öffnete eine Verbindung zur Poseidon-Station. „Otomo hier. Wir können die Suche einstellen.“

„Haben Sie Dai-Sphinx-sama gefunden, Sir?“

„So in etwa. Otomo Ende.“ Ich fragte mich einen Moment, ob es meinem Ruf sehr geschadet hätte, wenn ich zugegeben hätte, dass sie mich gefunden hatte.

„Hallo, Sphinx“, sagte ich mit dem Anflug eines Lächelns.

„Aber, aber. Begrüßt man so seine Großtante?“ Sie ließ von meinem Kopf ab, aber das war nur eine temporäre Atempause. Kurz darauf steckte ich in einer dicken Umarmung, und mein Gesicht wurde gegen ihren Busen gedrückt, während sie mit verzückter Stimme sagte: „Du bist so niedlich, Akira-chan. Ich könnte dich drücken und drücken und drücken...“

Das war der Beweis. Sie war definitiv Familie. Wenigstens wusste ich jetzt, von wem sich Sakura diese Marotte abgeschaut hatte. Ich würde ein ernstes Wort mit Cousinchen reden müssen. Falls ich diesen Griff überlebte.
 

1.

Mein bisheriges Leben in Worte zu fassen war schon immer schwierig gewesen. Aber im Moment erschien es mir so unmöglich wie lange zuvor nicht mehr. Was war ich? Wohin driftete ich? Warum war ich manchmal so herzerfrischend naiv, und bewegte dann wieder mit einem einzigen Gedanken ganze Welten?

Und warum driftete ich immer in den Mittelpunkt des Geschehens? Wenn ich es mir recht überlegte, gab es nur eine Zeit, in der ich nicht im Zentrum gestanden hatte, und das waren die wenigen Jahre nach meiner Entlassung aus dem medizinischen Biotank, bis zu jenem Moment in meinem Leben, in dem sich Dai-Kuzo, Vater und meine Großeltern dazu entschlossen hatten, mir eine Scharade vorzuspielen. Eine Scharade, die mein Interesse für die Welt wiedererwecken sollte. Die mich heilen sollte.

Ich war damals verletzt gewesen, teilweise meiner Erinnerung beraubt und mehr ein Schatten jenes jungen Burschen, den man damals Blue Lightning genannt hatte. Eine Lernmaschine, die sich grob an das erinnern konnte, was sie einst gewesen war und was sie erreicht hatte. Und die so viel wichtiges vergessen hatte, das es heute schmerzhaft für mich war, überhaupt daran zu denken.

Oh ja, ich hatte meine Opfer vergessen, all jene, die ich namenlos gestellt und getötet hatte, die meiner überlegenen Kriegskunst nicht gewachsen gewesen waren. An sie hatte ich mich später erinnert, und ich hatte die Schuld gespürt, die auf mir lastete, die zu mir zurück gekehrt war.

Aber auch die Erinnerung an meine Schwester war zurückgekommen, und das war ein kostbarer Schatz, der mir mehr wert war als viele andere Dinge in meinem Leben.

Dennoch. Ich hatte getötet. Oft, präzise und ohne jede Gnade. Damals hatte ich nicht verstanden, wieso Vater Tränen in den Augen gehabt hatte, als er mich als Dreizehnjährigen in die vielen Schlachten in der Welt entlassen hatte, hatte nicht verstanden, dass es meine Jugend war, die mich davor bewahrt hatte, angesichts meiner Opfer abzustumpfen oder zu verzweifeln. Damals hatte das alles für mich den Hauch eines Videospiels, in dem ich gut, sehr gut war. Opfer entschuldigte ich stets damit, dass die Kronosier angefangen hatten, dass auch auf unserer Seite tapfere Soldaten und viele Zivilisten starben. Zivilisten und Kameraden, die ich hatte beschützen wollen.

Erst als ich als Siebzehnjähriger wieder in einen Mecha geklettert war, hatte ich mir auch vor Augen geführt, das es nicht nur darum gehen durfte, jene zu retten, die auf „meiner“ Seite standen, das auch die Kronosier und ihrer menschlichen Söldner nicht „das Böse“ an sich waren, das man bedenkenlos auslöschen konnte, ohne Schuld zu empfinden.

Ich hatte erkennen müssen, dass es das Böse an sich nicht gab, dass kein Mensch vollkommen gut oder vollkommen böse war, dass jeder für sich sein Leben interpretierte und nach eigenen Wünschen und Möglichkeiten ausrichtete. Einige pervertierten, berauscht von der Macht, die sie in Händen hielten, oder stumpften einfach nur ab und versuchten zu erreichen was sie sich erträumten, wobei ihnen die Mittel oft genug egal waren.

Wieder andere taten was man ihnen auftrug, mit der tiefschürfenden Gewissheit, dass aufbegehren, dass Widerworte nicht mehr und nicht weniger einbrachten als den eigenen Tod. Alle diese Meinungen waren falsch und doch richtig.

Und ich? Wie passte ich in diese Gleichungen hinein? Das war die große Frage. Wieso war es mir nach einen Anschlag auf mein Leben in den Sinn gekommen, mich zurückzuziehen und vollkommen neu zu ordnen? Die Zeit, die ich auf dem Mond verbracht hatte, unter dem Namen John Takei, war mir kostbar gewesen. Und magisch war mir jener Moment erschienen, als Takei, ein Hawk-Pilot, der seine Gegner nicht tötete, weil er es einfach nicht nötig hatte, dadurch geehrt hatte, dass ihn jemand für besser als Blue Lightning eingestuft hatte. Wenn ich ernsthaft darüber nachdachte, hatte ich seit dem Zweiten Marsangriff kein lebendes Wesen mehr umgebracht. Und selbst in jener kurzen Zeit, als Aris, die Herrin des Paradies der Daina und Daima mich zum Oberkommandierenden gemacht hatte, hatte ich kein Leben eingefordert. Gewiss, indirekt hatte ich getötet. Durch meine untergebenen Hekatoncheiren, die auf meinen Befehl hin agiert hatten, durch meine Anhänger, die dem Prätendenten und mir gefolgt waren. Dadurch, dass ich zugelassen hatte, dass die Strafer der Götter die Dämonenwelt auf Iotan ausgelöscht hatten. Aber an meinen Händen klebte nur das Blut, das ich bis zum Ende der Zweiten Marsmission vergossen hatte. Und dabei zählte ich das Blut all jener unglücklichen Menschen mit, die meinem Aufruf gefolgt waren, um an meiner Seite zu kämpfen. Vor allem jene meiner Oberstufe, der Fushida. Ihnen zu Ehren hatte man auch die große Stadt im Innern der AURORA Fushida genannt, und jeder einzelne Tote lastete auf meiner Seele, so wie es die Verantwortung tat, die ich seither mit mir herum trug.

Was also war ich nun? Hatte ich, wie die Christen sagen, die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchlitten, also eine absolut gegenteilige Position eingenommen als ich zuvor innehatte? Vom Mann, an dessen Händen das Blut ganzer Schiffsbesatzungen klebte zum überlegenen Superkrieger, der töten gar nicht nötig hatte?

Ich wusste, hätten Megumi, Joan oder einer meiner Jungs gewusst, mit welchen schweren Gedanken ich mich plagte, hätten sie sie mir entweder ausgeredet oder mich verprügelt. Oder beides, denn in ihrem Empfinden hatte ich weit mehr Leben gerettet als ausgelöscht. Und das zählte für sie. Dennoch, das war keine Ausrede. Das war keine Entschuldigung. Das war nicht Sinn der Sache gewesen.

War ich der Superkrieger schlechthin, oder folgten mit Tod, Pest, Hunger und Krieg auf dem Fuß, egal wohin ich trat? Und dann war da immer noch die größte meiner Ängste: Ich war ein Arogad, wenn ich mich auf mein Naguad-Erbe besann, ich war einer der Stellvertreter des Prätendenten, was mich in der Iovar-Hierarchie weit oben einordnete. Und ich befehligte die Streitkräfte des Cores. Und all jene Flotten und Armeen hatten ihre Geschichten, ihre Leichen im Keller. Warum fühlte ich mich dafür verantwortlich?

Vielleicht weil es einer musste. Vielleicht musste einer den Schmerz eines Menschen verstehen, dessen Angehöriger vom Core über Lorania getötet worden war, lange bevor ich das Militär übernommen hatte. Vielleicht musste es jemanden geben, über den man sagen konnte: Er ist ein Naguad, für ihn war die Zerstörung des Kaiserpalasts eine legitime Kriegslist. Was die Iovar daran hinderte, sich gegenseitig zu zerfleischen. Vielleicht taten sie es irgendwann mit mir. Falls sie es schafften.

Vielleicht musste es jemanden geben, der gesagt hat: Okay, die Kronosier haben uns übel mitgespielt. Aber wollen wir sie alle töten, bis zum letzten Kind? Lasst uns gute Gewinner sein, ihre Anführer angemessen bestrafen und wieder mit ihnen spielen.

Einer der sagte: Die Anelph haben uns den Core geschickt und uns mächtig Ärger gemacht. Wegen ihnen haben wir eine Fernexpedition ausgerüstet, und dabei sind Menschen gestorben. Aber das war es wert, auch wenn mich jeder Tote schmerzt, tief und ehrlich schmerzt.

Vielleicht weil einer eines Tages würde sagen müssen: Sorry, das war alles meine Schuld. Schreibt es so und nicht anders in den Geschichtsbüchern.

Und zu was machte mich das? Mich, Akira Otomo, den Naguad, den Menschen, den Daina, den Iovar?

Ehrlich gesagt nur zum Schüler. Und das meinte ich durchaus nicht zweideutig.

***

Es gab solche Zeiten. Ehrlich, nicht gelogen. Solche Zeiten, zwei Wörter, die ich mit einem dritten Wort verband: Traumhaft. Denn obwohl ich meine lästigen Pflichten der Divisionsführung durch einen gelungenen Kniff mittels einer Entführung meiner Verlobten aufs Auge hatte drücken können – ohne es geplant zu haben – und nicht zum Expeditionsleiter, sondern zum Eigentümer aufgestiegen war, hätte ich Zeit haben müssen. Aber als Top-Ass der AURORA, eigentlich der ganzen Menschheit war man eigentlich immer Soldat. Und das bedeutete für mich normalen Dienst, entweder in der Taktik-Zentrale Poseidon, die sich aus dem Serenity-Meer erhob, oder in meinem Daishi auf Patrouille.

Solche Zeiten, das war, wenn sich die AURORA im Sprung zwischen zwei Systemen befand. Diese dauerten im Schnitt zwei Wochen, und das bedeutete kein Alarm mehr, ergo keine Alarmbereitschaft. Mit drei Worten: Ein normales Leben. Und für mich die rare Chance, doch noch meinen Abschluss nachzuholen, nachdem mir der Core und seine Verbündeten über ein Jahr gestohlen hatten. Ich weiß nicht, wie viele Augen die Schulleitung zugedrückt hatte, um mich in meiner Klasse zu lassen, die natürlich mittlerweile im letzten Jahr war. Vielleicht hatten sie auch einfach nur Mitleid gehabt mit dem ältesten Abschlussschüler der AURORA. Vielleicht hatten sie Angst oder Respekt vor mir. Vielleicht hatte es ihnen auch jemand befohlen. Ich persönlich hätte mich eiskalt ins zweite Jahr zurückgestuft, Blue Lightning hin, Blue Lightning her.

Nun, es hatte seine Vorteile, dass das Rektorat nicht wie ich dachte. Einer von ihnen war, dass ich mit meinem alten Team Baseball spielen konnte.

Baseball war die beliebteste Sportart auf der AURORA. Danach kam Fußball, kurz hinten an Basketball. Mit letzteren beiden konnte ich nicht so gut, aber Baseball war mein Ding. Kleine, schnelle Dinge treffen und erwischen war genau meine Schiene. Und verdammt flink von A nach B kommen, ohne sich erwischen zu lassen, sowieso.
 

Natürlich war ich nicht mehr Team-Captain. Selbst Akira Otomo wurde so ein wichtiger Platz nicht ein Jahr lang freigehalten. Aber das machte mir nichts. Drittes Base und Cleanup-Hitter reichten mir völlig. Es machte Spaß auf dieser Position, und ich konnte mich endlich mal wieder verausgaben, ohne dass es gleich um Millionen oder Milliarden Leben ging – nur um ein paar AURORA-Mark, und das war vertretbar.

Es tat einfach mal gut, sich zu verausgaben. Das hatte ich lange genug nicht mehr gemacht, ohne tödliche Gefahr im Nacken zu spüren. Das einzige was hier tödlich enden konnte, war ein sehr, sehr, sehr unglücklicher Ball, der mich sehr, sehr, sehr ungewöhnlich traf – aber die Wahrscheinlichkeit dafür war geringer als zwei Sechser im Lotto auf dem selben Schein.

Als ich ans Schlagmal trat, meinetwegen Homebase für die Puristen, erwartete ich halb eine Alarmsirene, eine Lautsprecherdurchsage, die mich in den Hangar oder nach Poseidon rief, halb eine andere ähnlich geartete Unterbrechung, die mich daran hindern wollte, hier im siebten Inning, beim Stand fünf zu drei den Sack zu zu machen und die Parallelklasse gedemütigt heim zu schicken. Mein Leben war halt so. Und Ungewöhnliches war mein Täglich Brot. Aber merkwürdigerweise geschah nichts.
 

Als ich signalisierte, bereit zu sein, konzentrierte ich mich vollkommen auf den Ball. In den letzten Innings hatte der Pitcher mich entweder laufen lassen, indem er vier Ball geworfen hatte, also Bälle, die ich nicht hatte treffen können und als Fehler gewertet wurden, oder er hatte versucht, mich mit Sinkern auszupitchen. Das waren gemeingefährliche Würfe, die kurz vor meiner Strikezone absackten. Das machte es schwierig sie zu treffen. Bisher hatte er nicht versucht, mich mit Strikes auszuhebeln. Ein deutlicheres Anzeichen dafür, dass sie meine Schlagkraft fürchteten, gab es nicht, denn ein Ball, der in meine Trefferzone kam, hatte eine gute Chance, von mir bis in die Unendlichkeit gedroschen zu werden – oder zumindest, wenn es einigermaßen saß, bis ins Outer Field.

Irritiert sah ich einen Moment hinter mich. Dort stand nicht nur der Schiedsrichter hinter dem Catcher, sondern auch noch ein KI-Meister, der der Fairness halber sicherstellte, dass ich den Ball lediglich mit meiner Körperkraft in den Himmel schickte, nicht mit meinem KI, was sicherlich ein Loch in den Himmel gerissen hätte. Wie fies. Als wenn ich so etwas je vorgehabt hätte.

Ich stellte mich also auf Sinker ein, denn die Bande lag zurück, sie würden mir nicht ein Base schenken, geschweige denn riskieren, dass ich einen Homerun schlug und erneut punktete.

Umso mehr überraschte es mich, als der Ball ankam. Fastball! Ein gerader Wurf, verdammt schnell, der schneller im Handschuh des Catchers sein konnte als ich zwinkerte. Dennoch hieb ich danach, bekam den Ball zu fassen, aber nicht mittig genug. Er stieg in die Höhe und landete hinter mir im Fangnetz.

„FOUL!“

Mist. Aber ich hatte Kontakt gehabt. Etwas höher, und ich hätte ihn gut erwischt. Nichts gab einen so schönen Homerun ab wie ein gut getroffener Fastball. Meine Meinung.

Der zweite Pitch war diesmal der Sinker. Ich schlug danach, erwischte ihn aber nicht.

„STRIKE!“

Mist. Nach drei Strikes war ich draußen. Das wäre das zweite Out für meine Mannschaft, und bei drei verlor sie das Angriffsrecht und die Seiten wurden gewechselt.

Pitch drei war ein Ball, knapp außerhalb meiner Strikezone. Die Versuchung, umzugreifen und dennoch danach zu schlagen war übermächtig, aber ich bewegte den Schläger nicht.

„BALL!“

Ich lächelte dünn. Ein Strike, ein Ball. Bei vier Ball durfte ich aufs First Base aufrücken. Oder ich erwischte den Ball doch noch.

Kurz ging mein Blick über den Platz. Auf der Second Base war ein Runner. Unser Catcher hatte sich erst mit einem guten Schlag aufs First gebracht und danach bei meinem Vorgänger das Second Base gestohlen, also er war gelaufen, obwohl der Hitter den Ball nicht getroffen hatte. Das Base war dann erfolgreich gestohlen, wenn der Ball den Verteidiger der Second Base nicht vor ihm erreichte.

Vierter Pitch. Ein schön gerader Ball, der leicht seitlich driftete. Curveball. Verdammt, die wollten mich wirklich nicht zum Schlag kommen lassen. Ich hieb dennoch danach, bekam ihn mit der Spitze des Schlägers knapp zu fassen und drosch ihn nach links. Leider berührte er den Boden hinter der Linie, galt also nicht.

„FOUL!“

Fünfter Pitch. Für den Pitcher wurde es jetzt schon schwierig, immerhin hatte er schon sechs Innings geworfen. Nach einem langen Spiel merkte man es daran, dass die Würfe nicht mehr so akkurat saßen, dass der Fastball zum Slowball wurde. Mein Gegner hielt sich aber noch gut.

Wieder ein Sinker. Ich schlug nicht danach, weil er außerhalb meiner Strikezone war, aber der Schiedsrichter war da anderer Meinung.

„STRIKE!“

Ich runzelte die Stirn. Wo hatte der Mann seine Augen?

Sechster Pitch. Wenn es dem Pitcher gelang, mir noch einen Strike zu verpassen, war ich raus. Dann war es nur noch ein Out bis zum Seitenwechsel. Und mit fünf zu drei war die Führung denkbar knapp.

Wieder der Curveball, und meine Nerven waren blank. Ich hieb danach, drosch ordentlich hinter, aber wieder erwischte ich ihn nicht richtig. Auf der linken Seite ging er im Aus nieder.

Siebter Pitch. Wieder ein Sinker, wieder außerhalb meiner Strikezone, aber konnte ich dem Schiedsrichter noch vertrauen? Ich schlug danach... Und traf ihn nicht.

„STRIKE!“

Damit war ich raus. Frustriert zog ich den Helm vom Kopf und wankte zum Bunker zurück.

Ausgepitcht, weil der Schiedsrichter zu blind war.

Eine kräftige schaufelartige Pranke landete auf meiner Schulter, als ich mich wütend und gefrustet auf die Bank setzte. Kenji sah mich ernst an. „Es war nicht deine Schuld, Akira. Im nächsten Inning kriegst du schon noch deinen Homerun.“

Frustriert wollte ich aufbegehren, aber das hatte wohl wenig Sinn. „Ja, Coach“, sagte ich stattdessen mit resignierter Stimme. Damit gab sich mein Freund und Bataillonskommandeur des Fourth Head der Hekatoncheiren aber nicht zufrieden. Seine Hand ballte sich zur Faust und landete hart auf meiner Schulter. „Arme verschränkt, Blick zu Boden, die Welt und das Leben verfluchend, das ich einen solchen Akira Otomo mal erleben würde hätte ich nie gedacht. Streng dich mal ein wenig an. Vergiss nicht, mit dir steht und fällt das Team. Du bist Akira, verdammt! Du bist der große Held der meisten Schüler dieser Schule.“

„Ja, und das Feindbild der anderen“, knurrte ich wütend.

„Ach, darum geht es dir? Denkst du, nur weil dich eine Schülerbewegung zum Kriegstreiber erklärt und mehr Demokratie fordert, kannst du diese Daten auf die Erde übertragen und dir ein paar hundert Millionen Feinde andichten?"“Kenji Hazegawa sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Oder geht es dir zu glatt? Bist du mal wieder in der Stimmung, dich selbst für all die Toten zu beschuldigen, die wegen dir direkt oder indirekt ihre Leben verloren haben, und die Welt dafür zu verfluchen, dass sie es nicht für dich tut, dich beschuldigen?“

Entsetzt sah ich den Freund an. Dann ließ ich resignierend den Kopf hängen. „Ich vergesse immer wieder, wie gut du mich kennst, alter Junge.“ Ich stand auf und tätschelte ihm die Wange. „Danke, dass du mir ab und an den Kopf gerade rückst. Und danke, dass du Zeit aufgetan hast, um meine Mannschaft zu coachen. Gerade jetzt, wo...“

„Wo ich Emi am liebsten einsperren und anketten würde, damit ihr und dem Ungeborenen nichts passiert? Jeder braucht eine sinnvolle Betätigung. Und wenn ich hier den Baseball-Coach mime, dann steht sie weniger Sorgen um mich aus, als wenn ich eines von Doitsus Bataillonen ins Gefecht führe.“

„Verstehe“, murmelte ich.

Im Hintergrund schlug Ryu Kazama gerade einen Ball ins Rechte Feld, wurde am ersten Base gestoppt und brachte uns damit das dritte Out ein. Nun war Seitenwechsel angesagt. Ich ließ die Luft zischend durch meine Zähne entweichen. „Ryu, verdammt.“

„Er hat den Ball sauber erwischt, aber das Ding hatte einen verhängnisvollen Seitendrall, man könnte sagen ein schwacher Curveball“, kommentierte Kenji. „Deshalb ist er nicht in die Richtung gegangen, in die er sollte und wurde prompt gefangen. Mach ihm also keine Vorwürfe. Er hat es so schon schwer genug, Dai-chans Ansprüche für das Seventh Head-Bataillon zu erfüllen.“

Ich grinste dünn. Daisuke hatte neben seiner Aufgabe als Anführer der Kottos noch etliche Verpflichtungen als „Zivilverwalter“ und „privater Sicherheitsberater“ innerhalb der AURORA wahrzunehmen, deshalb lud er gerne und viel seiner Arbeit den Bataillonskommandeuren auf. Ryu, der mit uns als Kompanieführer bei der Zweiten Marsattacke dabei gewesen war und schon während meiner Auszeit, der unfreiwillig durch partielle Gehirnlöschung erzwungenen wohlgemerkt, als einer der ersten und damals sehr jungen Piloten in den Hekatoncheiren gedient hatte, war dabei sein bevorzugtes Opfer. Eigentlich eine logische Entscheidung, aber mich wunderte, dass der schlanke und intelligente Kazama einerseits den ganzen Ärger mit der Regimentsverwaltung auf sich nahm und andererseits mir nacheiferte, um seinen Abschluss nachzuholen. Wenigstens war ich auf diese Weise nicht der Älteste in der Klasse. Kazama hatte zwei Jahre mehr auf dem Buckel als ich.

Manche Leute, die die UEMF zu fassen bekam, ließ sie einfach nicht mehr los. Es gab einige wenige Ausnahmen wie mich oder Takashi, die ausgeschieden waren, aber wirklich gute Leute wurden immer irgendwann wieder mal involviert. Takashi führte mittlerweile wieder ein Bataillon, das Fifth Head. „Ryu geht seinen Weg. Wie wir alle. Die einen spektakulärer, die anderen stiller.“

„War das ein Seitenhieb in meine Richtung?“, fragte der Freund mit einem Grinsen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war er sich als reiner Stichwortgeber vorgekommen, als Nebenfigur in einem schlechten Roman. Aber seit er in der Romanze Kenji und Emi die männliche Hauptrolle spielte und für das Bühnenstück Familie Hazegawa ausgesucht worden war, hatte sich das gelegt. Der Ruhm, ein Bataillonskommandeur der Hekatoncheiren zu sein, half dabei sicherlich auch.

„Nicht mehr als sonst auch“, erwiderte ich schmunzelnd.

„Raus mit dir, du Stromer“, rief Kenji und tat als würde er nach mir treten. „Wir haben Seitenwechsel!“

Ich schnappte mir meinen Handschuh und folgte meinen Teamkameraden aufs Feld. Aber dort spürte ich schnell... Nun, eine Veränderung. Eine frappierende Veränderung. Diese Veränderung hatte einen Namen und diskutierte gerade energisch mit dem Schiedsrichter: Major zbV Cynthia Andrews, eine der geheimnisumwobensten und am seltesten auftretenden Spezialistinnen der gesamten United Earth Mecha Force. Oder wie man sie in ihrer eigenen Identität nannte: Dai-Sphinx-sama. Ich stöhnte unterdrückt auf, denn ich ahnte, worum es ihr ging.

***

Nach dem Spiel, das wir dankenswerterweise mit sechs zu fünf knapp gewonnen hatten, fing ich sie direkt ab.

Nun, die Zivilkleidung, die sie anstelle der eigentlich sehr schmuckvollen UEMF-Uniform trug, stand ihr hervorragend. Ich meine, wer stand denn nicht auf Minirock und makellose, lange Beine? In diesem Punkt erinnerte sie mich an Kitsune, aber Sphinx provozierte nicht so sehr, das machte schon das ärmellose Oberteil deutlich, das entgegen der Mode den Bauch bedeckte. Ihr kurzes blondes Haar hatte sie hoch gegelt, und ihre Augen waren blau – zumindest für ihre Rolle als Majorin. Mit überkreuzten Armen erwartete sie mich. Doch bevor ich sie zu Rede stellen konnte sagte sie: „Es tut mir Leid, Akira. Aber wenn es um dich geht, bricht einfach der Beschützerinstinkt bei mir durch. Und dieser Schiedsrichter war so verdammt blind, dass es ja schon in den Augen weh tat.“

„Zugegeben“, brummte ich. Ihren Beschützerinstinkt hatte ich schon mehrmals erlebt. Sie war eine ganze Ecke einnehmender als Kitsune – wo immer die Fuchsdämonin gerade das Universum unsicher machte – und extrem Liebesbedürftig. Ich hatte, seit sie über diese merkwürdigen, ominösen Lokk-Linien auf die AURORA gekommen war, bereits mehr als einmal in ihrer Umarmung festgesteckt. Die hatte sie eindeutig besser drauf als Sakura, und das war definitiv eine Leistung. „Und wir haben ja auch gewonnen.“

Ich ging an ihr vorbei, und sofort schloss sie sich mir an. „Ich bin nicht gekommen, um mich als deine Beschützerin aufzuspielen“, sagte sie schließlich. „Eigentlich wollte ich mir nur dein Spiel ansehen. Weißt du, ich darf mich viel zu selten im Universum austoben. Ich bin normalerweise essentiell, um die Daimon auf der Erde zu erhalten. Außerdem behauptet die Große Spinne immer, ich wäre zu ruppig, zu barsch und würde meiner Umgebung zuviel abverlangen.“

Kurz dachte ich an die alte griechische Legende des Monsters Sphinx, welches außerhalb der griechischen Stadt Theben lauerte, mit Löwenkörper, Flügeln und Frauenkopf, um jeden Reisenden, der ihr Rätsel nicht beantworten konnte, zu erwürgen und zu fressen. Das konnte definitiv darunter fallen, der Umgebung zuviel abzuverlangen.

„Ach, du denkst an die Geschichte mit dem Rätsel.“ Sie winkte großspurig ab. „Als wenn ich Menschen fressen würde! Nicht doch. Viel zu viel Fett und zu wenig Vitamine!“

Es kam nicht oft vor, das ich sprachlos, erschrocken oder schlicht und einfach nur entsetzt war – in diesem Moment war ich es.

Sphinx alias Cynthia Andrews brach in schallendes Gelächter aus, das schließlich darin gipfelte, dass sie sich auf meine Schulter stützen musste, um vor lauter Lachen nicht umzufallen. Dabei stammelte sie Worte wie: „Du hast es wirklich geglaubt! Wie kann man nur so naiv sein? Akira, du bist so ein Kind!“

Selbstredend gefiel mir beides nicht besonders. Wenngleich... Ihre Berührung hatte etwas Vertrautes, Beruhigendes.
 

Nachdem sich die mächtige Dai wieder beruhigt hatte, setzten wir unseren Weg fort. „Warum habe ich keine Erinnerung an dich? Sind wir uns nie begegnet?“, fragte ich, um einen Themenwechsel bemüht.

„Oh, wir sind uns begegnet, aber eher selten. Meistens, wenn ich die Daimon verlassen durfte, hatte ich keine Zeit, um dich und Yohko zu besuchen. Und irgendwann wart ihr zwei so alt geworden, dass es keinen Sinn mehr gemacht hätte. Es wären zu viele Fragen entstanden, und das wollten weder ich noch Eikichi. Helen war anderer Meinung, aber ich tendiere prinzipiell immer zu Eikichi.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Zu Eikichi? Haltet ihr Frauen nicht zusammen?“

„Wir lassen uns auch leicht von Macht verführen“, erwiderte sie mit einem verschmitzten Lächeln. „Und Eikichi ist ein in sich gefestigter, sehr mächtiger Mann. Aus dem gleichen Grund bist du auch mit Megumi zusammen, obwohl du ihr so oft und so sehr weh getan hast.“

„Weil ich mächtig bin?“, fragte ich peinlich berührt.

„Natürlich weil du mächtig bist. Oder glaubst du wirklich, Megumi würde dich einem strammen Burschen wie Mamoru Hatake vorziehen, wenn du nur ihr Sandkastenkumpel wärst?“

„Das ist ein Brocken, den ich erst verdauen muss“, gestand ich.

„Wobei Macht nicht bedeutet, dass du Anführer dieser Expedition bist. Ach nein, das bist du ja gar nicht, das ist Sakura. Oder dein Status als Chef der Hekatoncheiren. Stopp, stopp, das ist ja Megumi selber. Direkter Erbe des Hauses Arogad bist du auch nicht mehr...“ Sie sah mich aus großen Augen an. „Wozu bist du eigentlich gut, Akira Otomo?“

„Hey, bitte keine Tiefschläge“, erwiderte ich deprimiert.

„Du bist aber leicht aus der Fassung zu bringen. Bedeutet dir Macht etwa so viel? Hast du solche Angst, nicht mehr wichtig genug zu sein, wenn du keine Macht mehr hast? Sollte dich Kitsune deshalb trainieren? Hast du deshalb den Sprung zum Reyan Maxus gemacht?“ Sie schüttelte streng den Kopf. „Das ist nicht deine Macht, Akira. Das war sie auch nie. Egal was du bist, Eigentümer der Erde, Protektor des Kanto-Systems oder Stellvertreter des Prätendenten, das sind nur Titel, nur Namen. Deine Macht liegt darin, dass du dir diese Titel erarbeitet hast. Du hast sie nicht geschenkt bekommen. Du erreichst phantastische Dinge, weil du du bist. Das ist das Bemerkenswerte an dir. Deine Macht ist nicht die Zahl deiner Flotten als Anführer des Core-Militärs. Es ist dein Ich als Akira Otomo. Ein Ich, das dich immer und überall an die Spitze gebracht hat. Selbst jetzt, hier und heute, hier wo Megumi und Sakura deinen Job tun, hast du trotzdem Wesen um dich geschart, die dir einen Einfluss auf die Geschicke eines Sternenraums verleihen, der weit jenseits all dessen ist, was je existiert hat. Letztendlich ziehst du sie alle an wie das Licht die Motten. All jene die etwas bewahren wollen. Die etwas besser machen wollen. Die etwas bewirken wollen. Das ist deine Macht, und darum liebt Megumi dich.“

Das klang sehr viel besser und aufbauender. Aber anscheinend gönnte mir Sphinx das positive Gefühl nicht, denn sie fügte an: „Allerdings brauchst du noch eine sehr lange Zeit, bis du es mit deinem Vater aufnehmen kannst. Er ist mächtiger als du.“

Ich wollte aufbegehren, darauf hinweisen, dass Vater einst von Resonatortorpedo eingefroren gewesen war. Aber dann erkannte ich die Wahrheit dieser Worte. Konnte ich meinem alten Herrn nicht – hoffentlich noch nicht – das Wasser reichen? Bei all meinen Erfolgen, bei all meinen Erlebnissen, bei allem was rund um mich geschah und geschehen würde, musste ich dem Mann, der es schaffte, das Gewaltreich stabil zu halten, welches ich erschaffen hatte, ewig hinterherlaufen, ohne ihn je zu erreichen?

„Das ist auch der Grund, warum ich bei dir einen übergroßen Beschützerinstinkt entwickle, bei Eikichi aber eher das schutzsuchende Kätzchen bin“, sinnierte sie. „Er war schon immer mein Liebling, aber als er dann mächtiger wurde als ich, da...“ Sie seufzte schwer.

„Mächtiger als du?“, argwöhnte ich.

„Mächtiger als ich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „So ist das Leben halt. Irgendwann habe ich mich ihm instinktiv untergeordnet.“

Als sie meinen irritierten Blick bemerkte lachte sie leise. „Man muss kein Reyan Maxus oder nur Reyan Oren werden, um besser zu sein als ich. Eikichi ist... Wahrscheinlich der Beste seiner Generation. Wenn es für ihn einst an der Zeit ist, wird er sicherlich zum Dai aufsteigen können, ohne den Umweg über den Reyan zu nehmen. Wenn er es überhaupt will.“

„Ich gehe einen Umweg?“, raunte ich misstrauisch.

„Nun ja, man kann es nicht wirklich einen Umweg nennen. Wir werden schon in Zukunft Reyan Oren und sicherlich auch mindestens einen Reyan Maxus brauchen. Aber das müssen wir auf uns zukommen lassen, Kleiner.“ Sie drückte mich seitlich an sich. Dabei legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Ein recht angenehmes und sehr vertrautes Gefühl. Irgendwie schien mein Kopf sich nicht an sie zu erinnern, aber mein Körper reagierte mit einem Schauder der Behaglichkeit und einem Gefühl absoluter Geborgenheit. Außerdem war die Aussicht, dass Vater besser war als ich, dass ich ein Ziel bekam, enorm. Wer wollte nicht seinen eigenen Vater übertreffen? Wer wollte sich nicht an ihm wetzen und beweisen? Und wenn er immer noch besser war als ich – etwas, was ich arroganterweise nicht mehr geglaubt hatte, seit er von Resonatorfeld eingefroren worden war – dann spornte mich das an. Verdammt sogar.

„Ich glaube, ich lasse euch dann mal allein. Außerdem habe ich noch einen Termin mit Sakura und Joan. Wir müssen unsere zukünftigen Kompetenzen besprechen, wenn ich die AURORA effektiv beschützen soll.“

„Euch allein lassen? Was meinst du damit?“ Zu spät, sie war bereits verschwunden.

„Akira, hast du Zeit?“, klang eine bekannte Stimme hinter mir auf.

Ich wandte mich um. „Natürlich, Herrin des Paradies.“
 

„Ich habe die Kriegsflotten aus der Logodoboro-Mark zurückgezogen. Im Moment fliegen sie einen gemeinsamen Treffpunkt an, den wir eine Woche nach der letzten Einheit erreichen werden. Die Schiffe werden für einen erhöhten Schutz der AURORA und damit für den Core sorgen“, referierte ich, während ich neben Aris durch eine belebte Einkaufsstraße schritt.

Seit die Herrin des Paradies der Daina und Daima gelernt hatte, einen KI-Container für ihr Bewusstsein zu erschaffen, wanderte sie oft und gerne durch Fushida City. Dort gab es tausende neuer Erlebnisse für sie, die sie so im Core niemals gehabt hätte. Sie konnte essen und trinken, schlafen und träumen, und allein das war für jemanden, der aus den Bewusstseinssplittern eines jeden Bewohners des Paradieses erschaffen worden war, beinahe schon wie eine Wendung des Schicksals.

„Deshalb bin ich nicht hier, Akira.“ Sie deutete auf ein paar Tische, die vor einem Restaurant auf der Straße aufgebaut waren. „Die servieren italienisch? Das habe ich bisher noch nicht probiert.“

„Ich lade dich ein.“ Hm, ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir von der Schule aus in die Innenstadt gegangen waren. Und ich hatte nicht gemerkt, dass uns unser Weg ausgerechnet zu Ginas Restaurant gebracht hatte. Warum nicht, hier hatte ich noch nie gegessen. Außerdem wurde es sicherlich Zeit, dass ich mich bei der quirligen Argentinierin mit den italienischen Vorfahren für so viele Dinge bedankte. Für sehr viele. Sie hatte viel erleiden, durchmachen, ertragen müssen, aber aufgegeben hatte sie auch nie. Eigentlich war sie Mamorus direkte Freundin, doch war sie nach und nach immer wichtiger für uns alle geworden. Nachdem sie eine Zeitlang die zur Mörderin ausgebildete KI-Agentin Corinne Vaslot in sich getragen hatte, auf mich gehetzt von den Resten dessen, was einmal als Legat den Mars beherrscht hatte, und nachdem sie die Geheimagentin Ai Yamagata auf ungewöhnliche und spektakuläre Weise ebenfalls geradezu absorbiert hatte, war ihr Leben extrem turbulent geworden. Corinne war verschollen, wie ich wusste. Wieder in ihrem eigenen Körper, aber ihr Aufenthaltsort war unbekannt, obwohl der Geheimdienst der UEMF sein Bestes gab, um sie zu finden. Aber auf einer Erde, auf der sich einige mächtige Staaten im offenen Krieg mit der UEMF befanden, gestaltete sich eine effektive Suche als schwierig. Ich konnte nur hoffen, dass es ihr gut ging.

Ach ja, bei dem Gedanken fiel mir ein, dass wir eine Handvoll der KI-Agenten, die auf meinen Tod angesetzt gewesen waren, bis heute nicht entlarvt hatten. Das würde sich für die Zukunft sicher als unvorteilhaft herausstellen.

Ai befand sich auch wieder in ihrem Körper und war gerade mit ihrem Freund und meinem ehemaligen Hassgegner Henry Taylor auf Erkundungsmission im Paradies.

Aber das Wissen der beiden war von Gina vollkommen assimiliert worden. Fit war sie schon immer gewesen, doch mit dem Wissen einer perfekt ausgebildeten Assasinin und einer der besten Personenschützerinnen der UEMF war sie erneut um etliches gewachsen. Als eine von wenigen Menschen an Bord trug ihre Akte den zbV-Hinweis – Zur besonderen Verwendung. Das machte sie zum Mitglied der UEMF, aber sie wurde nur auf besonders heikle oder komplexe Aufträge angesetzt, die ein Geringerer als sie nie bewältigen konnte. Den letzten Berichten zufolge arbeitete sie viel mit Doitsu und seinem „Dienstleistungsgewerbe“ zusammen. Mit durchschlagendem Erfolg. Das alles klang natürlich positiv, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie ein eigenes, erfolgreiches Restaurant betrieb. Aber deshalb hatte trotzdem weit mehr erleben müssen als die meisten anderen Menschen an Bord. Ihre Standhaftigkeit war Vorbild für uns alle. Alleine dafür hätte ich ihr danken müssen.

Und für die Tatsache, dass sie zweimal die Woche Laysan auf einen Eisbecher einlud und mit ihm Hausaufgaben machte.
 

Als wir Platz nahmen, war die Überraschung für die Kellner natürlich groß, es gab keinerlei Zweifel daran, dass sie mich trotz meiner Schuluniform sofort erkannten. Auch wenn ich eitel klang, man hätte meine Bekanntheit nicht einmal mehr damit steigern können, wenn man haushohe Portraits von mir aufgehängt hätte. Es gab eben nur einen Blue Lightning, und zu dessen Rettung war die gesamte Expedition überhaupt erst aufgebrochen. Somit dauerte es nicht lange, bis Gina persönlich am Tisch stand. „Oh, welche große Ehre. Der legendäre Akira Otomo besucht mein Lokal, und in seiner Begleitung befindet sich die Herrin des Paradies der Daima und Daina. Ihr seht mich schwer beeindruckt.“

„Ich sehe mich einem gewissen Spott ausgesetzt, Gina“, tadelte ich.

Die junge Frau winkte burschikos ab und klopfte mir auf die Schulter. „Da stehst du doch drüber, Akira. Außerdem sind alle meine Witzeleien über dich liebevoll, das weißt du doch.“

Ich runzelte die Stirn. „Liebevoll? Dann möchte ich dich nicht erleben, wenn du jemanden hasst.“

Die Herrin des Paradies hustete erschrocken.

Gina hob eine Braue. „Hm? Keine Sorge, Aris vom Core, ich hasse dich nicht. Obwohl wir Menschen ja allen Grund dazu hätten, wenn man einmal unsere Geschichte bedenkt. Wir hatten oft genug Scherereien wegen dem Core, ebenso unsere Verbündeten. Aber jetzt wo ihr großartigerweise ebenfalls Mitglied in der Familie jener seid, die Akira folgen, ist das vergeben und vergessen.“

„Ich folge ihr nicht. Ich bin nur ihr Befehlshaber“, korrigierte ich.

Worauf Aris wieder erschrocken zu husten begann.

„Ha“, meinte Gina und grinste breit. „Wollt ihr die Karten?“

„Die Karten wären nett. Aber zuerst hätte ich gerne was zu trinken. Ich komme frisch vom Sport.“

„Elektrolytische Drinks sind im Eisschrank im Lokal, Akira“, erwiderte Gina und deutete mit den Daumen auf die Eingangstür.

Ich war nie besonders faul oder verwöhnt gewesen, deshalb erhob ich mich und wollte schon selbst gehen, aber zwei kräftige Frauenhände drückten mich wieder in den Sitz.

„Das war doch nur ein Witz! Bleibe schön sitzen. Natürlich hole ich dir deinen Drink, Akira. Wo kommen wir denn da sonst hin, wenn Akira Otomo ins Lokal, ich meine, für ein wenig Flüssigkeit selbst gehen muss?“

„Es macht mir aber nichts aus“, erwiderte ich und machte wieder Anstalten aufzustehen.

„Es wäre aber sehr schlecht für mein Image, wenn sich Akira Otomo selbst bedienen muss! Lass nur sein, Aki-chan, ich bringe dir schon einen!“

„Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du versuchst mich davon abzuhalten, den Laden zu betreten.“ Argwöhnisch musterte ich die junge Frau.

„Himmel, warum sollte ich denn DAS tun wollen, Akira Otomo?“

„Oder jemanden warnen“, murmelte ich, erhob mich und unterlief Ginas Versuch, mich wieder in den Sitz zu drücken. Mit zwei schnellen Schritten war ich im Lokal – und erstarrte.

Es war nicht wirklich überraschend, hier auf Megumi Uno zu treffen, nebenbei meine Verlobte, aber zwei Dinge überraschten mich doch bei diesem Anblick. Erst einmal die gut dreißig Leute beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters, die sie regelrecht belagerten und den Geräuschpegel beachtlich in die Höhe trieben. Und dann war da noch die Tatsache, dass Megumi Autogramme gab. Das alleine war noch nicht spektakulär, allerdings schrieb sie diese Autogramme in gedruckte Exemplare des FMtE-Zyklus, jene Buchreihe, die unsere Erlebnisse während des zweiten Angriffs auf den Mars in prosaischer Form umgesetzt hatte.

FMtE, ausgesprochen auf englisch From Mars to Eternity, erfreute sich einer sehr großen Beliebtheit, und sowohl über FMtE als auch den Nachfolger FMtE:AURORA existierte eine Anime-Serie, die ich teilweise noch gar nicht hatte sehen können, weil mich das Schicksal ins Universum verschlagen hatte.

Es dauerte ein paar Sekunden, ziemlich lange Sekunden, aber dann machte es laut und vernehmlich Klick, und ich wusste wer sich hinter dem Pseudonym Ricarda Sounders verbarg: ausgerechnet meine Megumi.

Eine Sekunde später wurde ich bemerkt und erkannt. Das Ergebnis war erschrockenes Geraune und kurz darauf ein respektvoller Applaus von dreißig Personen.

Das irritierte mich für einen Moment, und verlegen legte ich eine Hand in den Nacken. Eine wirklich schlechte Angewohnheit, aber schließlich hatte jeder seine Macken. Warum also nicht auch Blue Lightning?

Unter dem Applaus ging ich an den Tisch. „Du hast die Dinger geschrieben“, sagte ich. Es war keine Frage, keine Spekulation. So wie ich es gesagt hatte, musste es Realität sein.

Und es wurde Realität, als Megumi betreten nickte.

„Das freut mich. Ich habe die Bücher eigentlich immer ganz gerne gelesen. Aber es wundert mich, dass du nie nach meiner Hilfe gefragt hast.“

„Wie hätte ich dich denn um deine Hilfe bitten können? Du hast dich doch auf dem Mond versteckt“, erwiderte sie vorwurfsvoll.

Autsch, wären die Worte ein Raubtiergebiss und der Tonfall eine Aktion gewesen, hätte ich nun einen Arm weniger.

„Außerdem“, sagte sie verlegen und sah zur Seite, „kann ich dich als Kritiker nicht gebrauchen. Du bist so verdammt hart, wenn du Texte korrigierst. Mein Selbstvertrauen hätte es nicht verkraftet, wenn du Fehler in meiner Arbeit gefunden hättest.“

Ich sah sie erstaunt an. „Bin ich so schlimm?“

„Erinnerst du dich an den Aufsatz, bei dem ich dich um Rat gefragt habe?“ Nervös strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. „Das war glatter Mord.“

Ich schluckte hart, denn an diese Szene konnte ich mich plötzlich sehr gut erinnern. „Gut, gut, vielleicht habe ich da... Etwas harsch reagiert. Aber du hast eine gute Zensur für deinen Aufsatz bekommen.“

„Du hast eine gute Zensur bekommen. Nach deiner Korrektur war von meinem Aufsatz nichts mehr übrig“, erwiderte sie. „Und das sollte mir bei diesem Projekt nicht im Wege stehen, verstehst du?“

„Ich habe mich nicht wirklich beschwert. Außerdem sind die Texte gut geschrieben und lektoriert. Du hast doch nicht selbst lektoriert?“

„Ich...Habe Hilfe.“

„So, so. Wer liest denn für dich Korrektur? Sakura? Akane? Mako?“

„Yoshi.“

Ich riss die Augen auf. „Was, bitte?“

„Du hast schon richtig gehört. Yoshi Futabe ist mein Lektor. Du bist nicht der einzige Mensch in diesem Universum mit überraschenden Fähigkeiten.“

„Und anscheinend ist er darin ziemlich gut. Zumindest besser als ich.“

„Das stimmt leider. Und er ist erheblich nervenschonender als du.“

„Das muss ich wohl so hinnehmen. Immerhin ist es dein Text, und du kannst dir aussuchen, mit wem du arbeiten willst.“

Megumi sah mich erleichtert an. „Schön, dass du es so siehst, Schatz.“

„Aber...“, wandte ich ein.

„Aber?“, fragte sie vorsichtig.

„Aber ich kriege von dir für jedes Buch in meiner Sammlung ein Autogramm. Mit Widmung.“

Sie atmete erleichtert aus. „Darüber lässt sich reden, Akira. Übrigens, wie hast du mich hier entdecken können? Das Treffen ist geheim und nur eine Handvoll Leute wissen überhaupt über das Losverfahren für meine treuesten Leser.“

„Ich bin mit der Herrin des Paradies hier und... Ach, verdammt, Aris! Ich bin draußen. Vergiss die Widmungen nicht!“ Kurz sah ich in die Runde. „Die treuesten Leser, hm? Geschmack habt ihr ja, das muss ich zugeben.“

Gelächter der Gäste antwortete mir.
 

Als ich wieder vor die Tür kam, schmökerte Aris bereits in der Karte. „Was war denn?“

„Nichts besonderes. Megumi gibt nur eine Autogrammstunde.“

„Oh. Kriege ich auch eins?“, fragte sie und sah mich über den Rand der Speisekarte hinweg an.

„Darüber lässt sich reden. Wenn du aufisst“, scherzte ich.

***

„Entschuldigt bitte wenn ihr warten musstet“, sagte Maltran Choaster, mein Stellvertreter und setzte sich zu mir und Aris an den Tisch.

„Es ist schön dich zu sehen, Maltran, aber wie hast du uns gefunden?“

Der Core-Offizier zog irritiert beide Augenbrauen hoch. „Die Herrin hat mich herbeordert. Weißt du nichts davon?“

„Nein, und ich glaube, ab jetzt wird es interessant.“ Auffordernd sah ich Aris, die Nachfolgerin der getöteten Kiali an.

„Ich glaube, ich probiere die Pizza Hawaii“, murmelte die Herrin und versteckte sich hinter ihrer Speisekarte.

„Aris“, mahnte ich. „Irgendetwas großes geht gerade vor. Sich davor verstecken nützt überhaupt nichts.“

„Es ist nichts! Nur...“ Sie legte die Karte beiseite. „Maltran, wie ist die Stimmung in der Flotte?“

„Sie könnte besser sein, Herrin. Viele Offiziere sind der Meinung, dass wir mit der Evakuierung der Zivilisation etwas aufgegeben haben, was noch immer uns gehören könnte. Einige denken auch offen über eine weitere Zusammenarbeit mit den Göttern nach, aber sie sind eine verschwindend kleine Minderheit. Doch die meisten stehen hinter Akira und seinen Erfolgen der letzten Zeit. Vor allem jene, die mittlerweile unter Yuna Lencis´ Kommando dienen, sind von der neuen Strategie überzeugt.“ Maltran sah mich mit deutlichen Anzeichen der Verehrung an. „Du hast einen guten Job gemacht, Akira.“

„Ich habe einfach nur gute Leute“, wiegelte ich ab und dachte dabei an einige exotischere Vertreter meines Stabes. Viele, längst nicht alle jene Offiziere, die mit mir gearbeitet hatten als ich offiziell Lordgeneral des Intendenten gewesen war, waren mir an Bord der AURORA gefolgt und dienten nun wie Maltran Choaster als Verbindungsoffiziere auf POSEIDON, der Insel im Serenity-Meer, unserem Flottenhauptquartier.

„Die du exzellent führst“, fügte Maltran hinzu.

Aris seufzte erleichtert. „Dann ist es ja gut. Ich habe euch beide gerufen, um euch meine Entscheidung mitzuteilen, und eure offenen Worte haben mir gezeigt, dass es gut sein wird.“ Sie sah kurz zu Boden und danach wieder auf. Dabei bekam ihr Blick Feuer. „Kialis Tod ist mir sehr nahe gegangen. Sie hatte doch versprochen, noch länger für uns zu leben. Und nun hat sie sich geopfert. Sie... Sie hat immer nur gedient. Ich meine, sie hat Kriege geführt, unter anderem den Krieg gegen die Erde und die Daimon, die wir dort immer vermutet haben. Sie hat damit ihre Pflicht erfüllt, nach bestem Wissen und Gewissen, denn sonst wären wir vermutlich von den Göttern ausgelöscht worden. Aber sie hat sich nie wirklich selbst gefunden.“ Verzweifelt sah sie uns beide an, bevor ihr Blick wieder zu Boden ging. „Ich habe mich dazu entschlossen, den Namen, den du mir gegeben hast, Akira, fortan als Nachnamen zu betrachten. Und ich habe mir selbstständig einen eigenen Vornamen ausgesucht.“

„Das ist ein beachtlicher Schritt“, sagte ich beeindruckt.

„Sag es doch richtig. Das ist ein beachtlicher Schritt für jemanden, der nur aus den unzähligen AO-Splittern aller Bewohner des Paradies besteht“, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal etwas anderes kennenlernen würde als das Paradies, und jetzt wo ich es doch gesehen habe, die Welt draußen, da... Da will ich nicht zurück. Nicht sofort zumindest.“ Sie sah mich an, und wieder war da dieses Feuer. „Akira Otomo. Mit sofortiger Wirkung ernenne ich dich zum Regenten der Core-Zivilisation. Du wirst ab jetzt ihr kommissarischer Führer sein. Maltran, du wirst an seiner Stelle den Oberbefehl über die Streitkräfte übernehmen.“

„Aris, Moment mal, ich bitte dich, ich...“

„Ich denke wirklich, dass es das richtige Zeichen für unsere Verbündeten ist, wenn ich dem Lordgeneral die Exekutivgewalt über all das gebe, was die Core-Zivilisation ausmacht. Und es ist nur recht und billig, immerhin hast du uns zu Flüchtlingen gemacht. Nun bring die Sache auch zu Ende. Ich für meinen Teil..."

„Lass mich raten. Du hast so viel Spaß an deinem KI-Container, dass du dich entschlossen hast, fortan ein normales Leben in der Realität zu führen“, brummte ich sarkastisch.

„Ja. Nein. Doch. Eigentlich... Ich will schon mehr Zeit in der Realität verbringen. Und ich will zur Schule gehen und viele weitere Menschen kennenlernen. Ich will mehr schmecken, mehr riechen, mehr sehen und mehr fühlen, vom hören ganz zu schweigen. Ich will selbstständiger werden. Ich will das was ich hier kennen gelernt habe auskosten, weil ich denke, dass es genau das ist, was Kiali gefehlt hat. Was dem Core gefehlt hat. Ich werde auf deine Schule gehen, Akira. Und ich werde dieses Universum, in dem wir existieren besser verstehen lernen. Außerdem, je weniger ich mich in den nächsten Wochen zeige, desto weniger kann ich gezwungen werden, deine Politik zu sabotieren. Ob gewollt oder nicht. Ich lege den ganzen Core vertrauensvoll in deine Hände. Ich wünschte nur, Kiali wäre schon vor mir auf diese Erkenntnis gekommen und hätte sie früher angewendet.“

Die Herrin des Paradies erhob sich. „Das wollte ich dir sagen. Ich habe jetzt einen Termin für den Eignungstest, und danach besichtige ich eine freie Wohnung in der Nähe der Schule. Es tut mir Leid, dass ich damit so über euch herfalle, aber ich bin der festen Meinung, dass ich das für den Core genauso tue wie für mich. Aber ich werde mich nicht völlig isolieren, Akira.“

Ich nickte ihr zu. „Ich hatte erwartet, dass du, als körperlos entstandenes Wesen, an der Körperlichkeit Gefallen finden würdest. Aber... Ich habe nicht geglaubt, dass du einen so radikalen Schritt vollziehen würdest. Du wirst immer für mich erreichbar sein müssen.“

Der jungen Frau standen Tränen in den Augen. „Danke, Akira.“

„Und du musst uns noch den Vornamen verraten, den du dir ausgesucht hast“, sagte ich mit einem Lächeln.

„Chausiku“, sagte sie leise, fast flüsternd. Dann neigte sie das Haupt vor uns und ging. So einfach konnte es sein, die ganze Verantwortung auf dich abzuwälzen.

„Sei froh“, murmelte Maltran. „Einer weniger, der den Vornamen Aris trägt. Das macht die Geschichte wieder überschaubarer.“

„Spötter“, erwiderte ich und klopfte ihm auf den Oberarm.

„Ach ja, bevor ich es vergesse: Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung, Regent.“

„Ich bin nicht so sicher, ob man mir dazu gratulieren sollte“, erwiderte ich mit einem bärbeißigen Lächeln. „Bleibst du auf ne Pizza? Ich bezahle.“

Eifrig griff Maltran Choaster nach der Karte. „Du lädst mich ein? Na, da sage ich doch danke.“
 

2.

In einer Daimon eingeschlossen... Nachdenklich rieb sich Eikichi Otomo seinen Kinnbart. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in dieser Hülle gefangen zu sein, die den ganzen Planeten umspannte. Die Daimon versprach absolute Sicherheit, wobei das absolut mit einigen beträchtlichen Einschränkungen verbunden war. Es war die größte Daimon, die jemals erschaffen worden war, und sechs Milliarden Menschen sorgten mit ihren KI dafür, dass sie stand hielt. Und der Countdown, wann diese KI-Entnahme den ersten Menschen schaden würde, stand auch schon fest. Nur acht Monate, und sie würden Tote zu beklagen haben. Einen Monat darauf begann das große Sterben. Aber das galt nur, wenn die Daimon tatsächlich so lange hielt. Sie hatten vorher immer noch die Möglichkeit, von Götterschiffen vernichtet zu werden oder das Dai-Kuzo-sama die Daimon willentlich auflöste.

Zwei ähnliche, aber wesentlich kleinere Daimon umhüllten Mars und Mond, und zwischen den Daimons bestanden Verbindungstunnel, dem Sprungwurmlöchern ihrer Schiffe nicht unähnlich. Darüberhinaus existierten Tore in den Freien Weltraum, schwer bewachte Portale für die Schiffe, die „draußen“ operierten und jederzeit geschlossen werden konnten. All dies geschah, um die Urheimat aller Dai zu beschützen und damit sechs Millionen Daina am Leben zu erhalten.

Eikichi fragte sich für einen Moment verzweifelt, was wohl die bessere Wahl war: Die Menschen in den Daimon auszehren zu lassen oder die Barriere abzuschalten und den schnellen Tod durch die Waffen der Strafer zu suchen? Vielleicht gelang ein paar Zehntausenden auch die Flucht an Bord der Schiffe. Zumindest auf jenen, die nicht von den Strafern abgeschossen wurden. Aber das galt, den Dai sei es gedankt, nur für den schlimmsten Fall. Der Plan, der große Plan sah vor, die Daimon so lange zu erhalten, bis die AURORA über Terra eintraf. Mit ihr, den neu hinzugekommenen Core-Schiffen – falls es gelang, sie permanent auf terranische Seite zu ziehen - und den Naguad-Schiffen, die vom Mars, der neuen Sektoren-Admiralität unter Torum Acati kommandiert wurden, hatten sie dann zusammen mit den Erdstreitkräften genügend Feuerkraft, um gegen fünfzig Strafer zu bestehen. Sie würden die Entscheidungsschlacht suchen, hier, im Sol-System, wo die Strafer weit entfernt waren von Verstärkung und Nachschub. Hier, wo die beschädigten und vernichteten Schiffe der Menschheit repariert und ersetzt werden konnten. Hier, in einer gewaltigen gemeinsamen Anstrengung aller Menschen, um ihr Überleben zu sichern.

Aller Menschen? Schön wäre es gewesen. Aber selbst nachdem die Opportunistischen Staaten wie die U.S.A. vom Legat erobert worden waren, gab es genügend Stimmen auf der Erde, die offene Sabotage betrieben. Vor allem die Eroberung der wichtigsten Staaten der Erde durch das kronosische Legat und ihr anschließender Schulterschluss mit der UEMF fand nicht viele Anhänger. Im Gegenteil, der UEMF wurde vorgeworfen, es genau so geplant zu haben.

Eikichi schmunzelte bei diesem Gedanken. Es war nicht von ihm geplant gewesen. Aber von Michael, seinem Schwiegervater. Es war seine Idee gewesen, seine Eroberung. In seinen Händen ballte sich nun die Macht des Legats, aber ebenso drohte über ihm stets das Damokles-Schwert des Aufstands, der erneuten Machtübernahme durch die Legaten, und, und, und... Michael Fioran war in diesen Tagen der meist gefährdetste Mann auf der Erde. Aber er tat seinen Job, um all den anderen hier auf dieser wunderschönen Welt das Zuhause zu erhalten.
 

Die Opportunisten interessierte das natürlich nicht. Sie sahen nur die Macht, die sich in den Händen weniger ballten und wollten sie selbst haben. Ohne Sinn und Verstand, einfach nur weil sie da war. Und das machte Eikichi wütend. Er hatte nie nach Macht verlangt. Er hätte sich auch mit einem langen und friedlichen Leben an Helens Seite zufrieden gegeben, seinen Kindern dabei zugesehen wie sie erwachsen wurden und sich verliebten und eines Tages selbst Kinder in die Welt setzten... Aber das Schicksal hatte ihn in eine vollkommen andere Rolle gedrängt. Wie ironisch mutete es ihm da an, dass dieses Schicksal mit einem banalen und doch so schrecklichen Ereignis eingeläutet worden war: Seine Frau Helen war an den Folgen eines Autounfalls beinahe gestorben und in einem Biotank nach Nag Prime geschafft worden. Nichts hatte sie wieder aufwecken können, und daher war sie mehr tot als lebendig gewesen. Damals war es Eikichi logisch erschienen, den Kindern keine Hoffnung zu machen, die Mutter in absehbarer Zeit wieder zu sehen.

Und so hatte sich das Schicksalsrad weiter gedreht, hatte sich fortgesetzt bis zu jenem schicksalshaften Tag, an dem die Kronosier ihren ersten Großangriff starteten und ausgerechnet er, er, Eikichi Otomo, wegen seiner Fähigkeiten als Ingenieur und seiner Vergangenheit als hoch dekorierter Soldat herangezogen worden war, um die gegnerischen Wracks zu untersuchen... Es war die Grundlage von über dreißig Firmen gewesen, die er nach und nach zur Erforschung und zum Nachbau der Technologie der Kronosier aufgebaut hatte.

Und dann war der wirklich schicksalshafte Tag gekommen: Sein Sohn Akira war in einen Daishi Beta gestiegen, der ihm regelrecht vor die Füße gefallen war. Er war eingestiegen und hatte ein Talent auf dieser Maschine offenbart, das weder sein Vater noch seine Mutter besaßen. Der Umstand, dass Primus nur ihn als Piloten akzeptierte hatte es nicht gerade leichter gemacht. Als sie dann endlich in der Lage gewesen waren, eigene Mechas zu bauen, nicht nur ihre konventionellen Streitkräfte für den Anti-Mecha-Kampf hochzurüsten, da hatten die Künstlichen Intelligenzen nur mit jungen Gehirnen arbeiten können. Später hatten die UEMF-Ingenieure die K.I.s ausgetrickst, indem sie schon in der Vorauswahl Wert auf bestimmte Strukturen in den Gehirnen ihrer Probanden Wert gelegt hatten. Später endlich war die Verbindung zwischen K.I. und Pilot so weit verbessert worden, dass quasi jeder einen Mecha fliegen konnte, nur hatte nicht wirklich jeder Talent dafür. Man sagte, auf einen Mecha-Pilot kamen fünf konventionelle Kampfpiloten. Das galt heutzutage. Vor fünf Jahren waren es einer auf hundert gewesen. Vom heutigen Standpunkt eine unglaubliche Zahl.

Leider war es da schon zu spät gewesen. Vier Kinder hatten sie da insgesamt in die Schlacht um die Erde geschickt, vier Kinder hatten für sie den Mars angegriffen, und nur drei waren wiedergekehrt. Bei all der Macht, die sich in seinen Händen bündelte, bei allem was er erreicht hatte, bei all seinem Können, seinem Wissen und seiner Erfahrung, es hatte ihm nichts genützt. Er hatte seine Kinder dennoch zum Mars geschickt, und wenn er ehrlich war hatte er nicht damit gerechnet, auch nur eines von ihnen jemals lebend wiederzusehen. Aber deshalb war er nicht erleichtert gewesen, als ihm nur ein Verlust gemeldet worden war. Nur... Er hatte ein Kind verloren, noch schlimmer, sein eigenes Kind. Das lastete auf seiner Seele und tat es noch immer. Seither setzte er seine Macht ein, um die Verluste so niedrig wie möglich zu halten, auf beiden Seiten. Wobei sich letzteres immer als schwierig herausgestellt hatte. Aber DAS war Macht, und DAS war der Weg, sie zu benutzen: Zum Wohle aller.

Und nun, auf dem Höhepunkt, hatten sie etwas geweckt, was sie alle vernichten konnte. Sie hatten gedacht, die Kronosier waren schlimm... Dann waren die Anelph gekommen... Ihnen folgten die Naguad, und auch die waren nur Platzhalter für die Iovar und den Core. Schlussendlich stand selbst hinter denen noch ein Feind. Ein wesentlich größerer und gefährlicherer Feind. Die Götter. Und nun musste er seine Macht nutzen, um gegen sie zu bestehen und diese Welt zu retten. Und er hoffte, dass es ihm gelingen würde. Griffen die Götter mit mehr als fünfzig Strafern auf einen Schlag an, würden alle Schiffsneubauprogramme des Systems ihnen nichts mehr nützen. Und davor hatte er am meisten Angst.
 

„Executive Commander“, erklang die Stimme vom Commander Steiner aus dem Kommunikator auf Eikichis Schreibtisch.

„Ich höre, Commander.“

„Die MOSKAU sendet uns Live-Bilder von Wurmloch Eta.“

„Bitte stellen Sie sie mir durch, Frank.“

Das Bild auf seinem Schirm wechselte und zeigte nun ein Wurmloch, welches in ihr Sonnensystem reichte. Jemand sprang hierher, und er tat es aus einer Richtung, in der die Terraner lediglich ein paar Patrouillen entsandt hatten, denn sie war beinahe genau gegenübergesetzt der Richtung, die zu den Naguad und zu den Anelph führte.

Der Haken an der Geschichte war, dass sie keine Patrouille aus dieser Richtung zurück erwarteten. Terranische Schiffe hätten sich ohnehin längst über die Wurmlochkommunikation angemeldet. Was immer da durch dieses Loch kam, wollte oder konnte das nicht.

Zudem ließ die Größe des Wurmlochs Rückschlüsse über Sprungentfernung und Größe der transportierten Masse zu. Die Maximalreichweite eines normalen Sprungs, also der Fähigkeit, den Einsteinraum zwischen zwei Punkten soweit zu verbiegen um eine Jahrhundertreise auf wenige Wochen zu reduzieren, betrug gut dreißig Lichtjahre. Somit konnte man durchaus sagen, dass da etwas ankommen würde, was in etwa einem Kreuzer der Bismarck-Klasse entsprach.
 

Die MOSKAU, ein Zerstörer, den die UEMF von den Kronosiern nach dem Zweiten Marsfeldzug übernommen hatten, stand nun in der Nähe auf Beobachtungsposten, um zu verifizieren, welche Schiffe dort eintrafen, und vor allem wie viele. Es konnten immer noch mehrere Fregatten sein, die zusammen eine ähnliche Transitmasse aufbrachten.

Und es war die Pflicht des Zerstörers, dieses Schiff zu begrüßen. Entweder freundlich über Funk, oder militärisch.

Und in diesem Moment war es so weit. Ein Schiff kam aus dem Wurmloch hervor. Die Bauart war ähnlich der naguadschen Profile, auf die letztendlich sowohl die anelphsche, die kronosianische und auch die terranische Bauart fußte. Man konnte also in einem ersten Gedanken durchaus annehmen, dass gerade ein Schiff mit Daina oder Daima ins System gesprungen war.
 

„Reagiert das Schiff auf Kontaktversuche der MOSKAU?“

„Wir haben soeben eine Antwort auf unsere Rufe bekommen“, meldete Kapitän Redhawk, der Kommandeur der MOSKAU. „Sie besteht aus einer Frage, die in Nag Alev abgehalten ist. Sie lautet: Wo ist die Erde hin?“

„Das verspricht interessant zu werden. Setzen Sie die Kontaktaufnahme fort. Bleiben Sie wachsam, aber werden Sie nicht unbedingt misstrauisch. Mit ein bisschen Glück sind die Neuankömmlinge nicht als Feinde hier.“

„Aye, Sir.“

***

Neun Tage später kam es zu einem historischen Moment. Der Kreuzer mit Eigennamen BATARIK flog in die Daimon des Mondes ein. Von dort übernahm ein Shuttle den Transport einer Delegation über ein Wurmloch in die Erd-Daimon und damit in Reichweite des OLYMP. Die Delegation der BATARIK bestand aus zwei Leuten, eindeutig Dai-Abkömmlinge. Ob sie Daina oder Daima waren, hatten sie noch nicht enthüllt. Aber der sie begleitende KI-Inspektor, ein relativ schwacher und noch unerfahrener KI-Meister, hatte bereits angedeutet, dass beide, sowohl der Mann als auch die Frau, in der Lage waren, KI zu schmieden.

Vom Shuttletransport bis in sein Büro waren es nur wenige Minuten, trotzdem konnte Eikichi die Aufregung kaum im Griff halten. Die beiden waren etwas Besonderes, sie waren Wesen, denen er im Weltraum noch nie begegnet war. Banal ausgedrückt hatte er nicht erwartet, diese Spezies woanders als auf der Erde zu begegnen, und das machte sie womöglich zu Daina. Sie waren schwarz. Nun, nicht vollkommen schwarz, aber sie hatten einen sehr dunklen, natürlichen Teint. Ihre Augen waren leicht geschlitzt und die Nasen nordeuropäisch klein. Die Lippen durfte man als Japaner durchaus als groß bezeichnen. Oder wie es eine seiner Mitarbeiterinnen nach einem Blick auf ein Bild des Mannes gesagt hatte: Sinnlich.

Bisher war Eikichi wirklich davon ausgegangen, Schwarze nur auf der Erde zu finden. Weder die Iovar noch die Naguad hatten schwarz- oder dunkelhäutige Daima in ihren Reihen, nicht einmal die vielfältigen genetischen Häuser der Naguad selbst. Und diese dunkle Hautfarbe war definitiv eine natürliche Mutation, die auf der Erde entstanden war und sich in Afrika als beherrschende Hautfarbe durchgesetzt hatte. Sie war erfolgreicher gewesen als die anderen Hauttypen jener Region in jener Epoche, deshalb hatte Eikichi sie immer für Erd-exklusiv gehalten. Waren dies aber Daina, dann konnte es eine Erklärung für sie geben.

Abgesehen davon bewies es ihm, dass sie mit dieser Spezies noch nie in Kontakt gestanden hatten.
 

Als die beiden in sein Büro geführt wurden, erhob sich Eikichi. „Willkommen, Commodore Rossit und Kapitän Chantter. Bitte nehmen sie beide Platz und fühlen sie sich ganz wie Zuhause.“

Elas Rossit, der Mann, zögerte einen Moment, dann trat er vor und streckte ihm die Rechte entgegen. „Das Willkommensritual, das ich Ihnen anbiete, wird von einem Großteil der Erdbevölkerung praktiziert. Ich hoffe, es richtig zu tun und Sie nicht zu verärgern, Executive Commander Otomo.“

Eikichi ergriff die Hand und drückte sie fest. „Sie haben das Ritual richtig ausgeführt, Commodore.“

Das schien den Mann zu erleichtern. Auch Kapitän Chantter trat nun vor und reichte Otomo die Hand. Zusätzlich aber führte sie seine Hand noch zu ihrer Stirn und sprach einen kurzen Gruß, der nach einem Segen klang. „Glück und Wohlstand über dich und deine Nachkommen, König.“

Eikichi räusperte sich verlegen, nachdem die Frau seine Hand wieder freigegeben hatte.

„Seri, halte dich bitte an das Protokoll“, sagte der Commodore ernst.

Die Frau nickte und trat einen halben Schritt hinter Elas Rossit zurück.

„Bitte entschuldigen Sie Kapitän Chantter. Sie ist eine ziemlich altmodische Frau. Wir haben das Ritual vor dem Verlassen ihrer BATARIK geübt, aber dann ist eben doch wieder die traditionelle Iilak in ihr durchgebrochen. Wir wollten Sie nicht irritieren, Executive Commander.“

„Sie haben mich nicht mit der Geste irritiert“, widersprach Eikichi. „Nur mit dem Segen. Ich bin kein König.“ Er deutete auf die beiden bequemen Sessel vor seinem Schreibtisch, und die Gäste nahmen Platz.

„Es ist eine Floskel“, sagte Chantter. „Ich habe Sie damit als Ranghöher anerkannt. Als weit ranghöher als mich. Ich bin nur eine kleine Kreuzerkommandeurin, und Commodore Rossit ist nur ein kleiner Anführer einer Schwadron Baghits. Keiner von uns verfügt über annähernd so viel Macht wie Sie. Die Anrede König erschien mir angemessen.“

„Genug Zeit der Kultur gewidmet, Seri“, sagte der Commodore ernst.

Er sah zu Eikichi herüber. „Wir kommen in direktem Auftrag der Iilak-Föderation. Bevor Sie fragen, unsere spärlichen Aufzeichnungen aus der altvorderen Zeit berichten davon, dass unsere Vorfahren Daina waren, die kurz vor der Katastrophe evakuiert und weit im Hinterland des Reiches angesiedelt wurden, fern der Daina-Daima-Kriege, fern der Bedrohung durch die Götter. Aber wir besinnen uns nun auf diese Wurzeln, wenngleich nur aus Eigennutz. Denn die Götter bedrohen nicht nur die Erde, sie bedrohen auch uns als Nachfahren der Daina. Wir sind hergekommen, um Ihnen ein Bündnis anzubieten. Ein Bündnis von Daina zu Daina, um den Göttern erfolgreich die Stirn zu bieten.“

„Interessant. Aber bevor wir auf Ihr Angebot näher eingehen würde mich zuerst eines interessieren, Commodore Rossit: Warum wissen Sie so viel über uns?“

Die beiden Iilak wechselten einen amüsierten Blick.

„Das All ist nicht statisch“, sagte Seri Channter. „Ich will damit sagen, dass unsere Zivilisation nicht nur Handel mit anderen Nationen treibt, sondern auch stets darauf bestrebt ist, soviel wie möglich über die Umgebung zu wissen. Um exakt zu sein ist dies eine für das Überleben essentielle Eigenschaft. Unsere Handelsschiffe sind oftmals hunderte von Lichtjahren von der Föderation entfernt, nur um einen noch besseren Profit zu machen und um noch mehr über das Universum zu lernen. Und dabei erfahren wir einiges.“

„Auf die Erde sind wir eher durch Zufall gestoßen“, sagte der Commodore an ihrer Stelle. „Zuerst waren es Berichte der Naguad, die bis zu uns drangen, in denen dieser Planet und sein System erstmalig erwähnt wurden. Dann aber begannen terranische Schiffe, die umliegenden, unbewohnten Systeme zu okkupieren, und spätestens an dieser Stelle war uns klar, dass wir an den Menschen von Terra nicht mehr vorbei kommen würden. Vor allem nicht im Angesicht der ungeheuren Bedrohung durch die Götter. Dies nur in aller Kürze.“

„Verstehe. Und wie stellt sich die Iilak-Föderation unser Bündnis vor?“

„Bevor wir näher darauf eingehen, sollten wir eventuell etwas warten“, meinte der Commodore ernst.

„Warten auf was?“

„Warten auf den Eigentümer der Erde. Er ist doch sicherlich bereits auf dem Weg, um zu uns zu stoßen.“

„Oder anders ausgedrückt, wir sind schon sehr gespannt auf Akira Otomo“, bekräftigte Chantter.

„Sehr gespannt auf Akira?“

Die beiden Iilak wechselten einen erstaunten Blick. „Ist... Akira Otomo nicht der Besitzer der Erde? Sind Sie, Executive Commander, nicht sein Vater? Und ist er etwa nicht ein legendärer Mecha-Pilot?“

Eikichi hielt den Atem an – und gab ihn mit einem Seufzer wieder frei. „Die Erde gehört nicht Akira.“

Wieder wechselten die beiden Daina einen Blick.

„Er hat sie als Brautpreis an seine Verlobte verschenkt, Megumi Uno.“

„Oh“, machte Seri Chantter. „Megumi Uno ist uns natürlich auch bekannt. Und das nenne ich mal ein wirklich exklusives Geschenk.“

„Wo befindet sich Akira Otomo in diesem Moment?“, hakte der Commodore nach.

„Er ist an Bord der AURORA und befindet sich in diesem Moment auf der Flucht vor den Göttern.“

Ein amüsiertes Lächeln huschte über das Gesicht Rossits. „Das klingt nach ihm, oder, Seri?“

„Ja, das tut es. Ich bin so wahnsinnig gespannt darauf ihn kennen zu lernen“, fügte Chantter hinzu. „Wann erwarten wir ihn zurück, Executive Commander?“

„Drei bis fünf Monate wird es wohl dauern.“

Rossit nickte. „Gut. Gut. Das gibt uns Zeit für ein paar Vorbereitungen. Ich nehme an, der Direktor der UEMF ist nun unser primärer Ansprechpartner.“

„Das sehen Sie richtig“, erwiderte Eikichi.

„Dann sollten wir beginnen, ein paar Karten auf den Tisch zu legen, wie ihr Terraner sagt.“
 

Ein Summton unterbrach den Commodore. „Executive Commander, wir haben eine eingehende Nachricht aus naguadscher Quelle. Eine gemischte Flotte macht sich bereit für den Sprung von Alpha Centauri in unser Sonnensystem.“

„Das wird die avisierte Hausflotte aus Arogad, Fioran und Daness unter Eridia Arogad sein, die wir erwarten. Halten Sie mich auf dem Laufenden, Commander Steiner.“

„Ich sollte vielleicht noch hinzufügen“, klang die Stimme des Deutschen erneut auf, „dass Ihre Frau die Flotte begleitet.“

Wie elektrisiert war Eikichi aufgesprungen. Endlich. Endlich! ENDLICH! Dreizehn Jahre waren plötzlich nur noch ein einziger Tag für ihn. Es war, als wäre diese Zeit nie vergangen. Helen kam nach Hause. Nach so langer Zeit. Langsam sackte er wieder in seinen Sessel zurück und seufzte tief und schwer und lang. „Endlich“, murmelte er. „Danke für die Information.“ Er beendete den Kontakt und sah auf. Die Welt sah auf einmal längst nicht mehr so schlecht und schlimm aus wie noch vor wenigen Minuten.

„Gute Nachrichten?“, fragte der Commodore.

„Die besten“, erwiderte Eikichi. „Also gut, reden wir über das Bündnis. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“

***

In New York war man einiges gewohnt. Man wusste, dass die Dinge in der Welt nicht immer so liefen, wie die Bürger dieser Stadt erwarteten, beileibe nicht. Und während des Kronosier-Kriegs hatte diese Stadt aus erster Hand erfahren, wie fragil Gebäude und die Menschen, die sie bewohnten, sein konnten. Es schien, als würde sich dieses Erlebnis wiederholen. Denn über der Stadt, genauer gesagt über dem Stadtteil Brooklyn, stießen in diesem Moment zwei Stars and Stripes und zwei Hawks zusammen.

Die vier Mechas bekämpften sich nach allen Regeln der Kunst, aber es war sehr schnell abzusehen, dass die Hawk-Piloten schneller reagierten und damit den Waffenvorteil der größeren amerikanischen Mechas aushebelten. Zuerst stürzte der eine Stars and Stripes in Brooklyn ab, dann stürzte der zweite in den Hudson und explodierte dort, was eine kleine Flutwelle auslöste, die teilweise Manhattan überflutete.

Danach landeten die beiden Hawks in Brooklyn.

Einer öffnete seine Außenlautsprecher. „Wir sind der amerikanische Widerstand. Unser Land wird vom Legat beherrscht, und die UEMF tut nichts, um diesen unseligen Zustand zu ändern. Aber wir werden etwas tun! Wir geben nicht auf! Amerikanische Bürger, verliert nicht den Mut! Wir vernichten die computergesteuerten Stars and Stripes, die sich gegen ihre Herren gewandt haben, und wir vertreiben die Kronosier wieder von unserem Heimatland! Wir geben nicht auf, wir werden kämpfen, und wir werden siegen!“

Nach dieser Ansprache, die vielleicht nicht ganz nach dem Geschmack des liberalen New Yorks war, blieben die beiden Wracks der amerikanischen Mechas zurück, während die Hawks durchstarten und nahezu unversehrt abfliegen konnten.

Damit stand es zwei zu null für den Widerstand.

Zuerst hörte man es in den Straßen von Brooklyn, aber das Geräusch pflanzte sich fort, erreichte Kings, Manhattan, Queens und schließlich sogar die Bronx. Von dort sprang es nach New Jersey über; Richmond, Hudson und Bergen schlossen sich an.

Es war Jubel, der durch die Straßen hallte. Lauter, nicht enden wollender Jubel. Zumindest New York schien bereit für die Freiheit zu kämpfen.

***

Langsam fragte sich Henry, was er hier eigentlich machte. Nach seinem Termin im Büro von Dai Zirkos hatte er seinen Termin beim Fernsehsender Attala Live wahrgenommen, anstatt die Zeit zu beschleunigen oder gleich sein Kampfschiff, die STELLAR zu besteigen.

Aber er hatte sich eben neue Informationen erhofft. Mehr Informationen, die das Gesamtbild festigten. Denn erst wenn er genügend über die Zeit wusste, in die er von dem Alten im Paradies der Daima und Daina katapultiert worden war, konnte er herangehen und in dieser Welt entscheidende Hinweise auf die Götter suchen gehen, ohne sie durch eine Unbedachtheit kollabieren zu lassen. Oh, die Möglichkeit bestand. Künstliche Welten waren fragiler als man dachte. Akira Otomo hatte es vorgeführt, als er während seiner Gefangenschaft in einem Supercomputer die virtuelle Welt, in der er und die anderen Insassen eines Supercomputers gelebt hatten mehrfach zum Neustart gezwungen hatte. Henry hatte das dringende Bedürfnis, mitzuspielen.

Im Publikum wartete Admiral Meal Arac auf das Ende der Gesprächsrunde. Genauer gesagt Dai-Kuzo-samas Bewusstseinssplitter, der sich mit ihrem Abbild aus dieser Zeit verbunden hatte. Denn dies war die Zeit, in der sie noch körperlich existiert hatte. Henry hielt es für möglich, dass sie damit die älteste Dai des Universums war.

Das Frage- und Antwortspiel war dahingehend geradezu banal. Sie wärmten nur Fakten auf, die ihm bereits bekannt waren, und er wurde, als einer von fünf Diskussionsteilnehmern immer wieder in eine bestimmte, die Daina unterstützende Richtung gedrückt. Seine Versuche, die Götter in die Diskussion einzubringen, wurden immer niedergemacht. Man sah in dieser Runde keine Gefahr, die von den Göttern ausging. Im Gegenteil, der größte Feind des Menschen blieb der Mensch.

Nun, Henry wusste es besser. Aber das konnte er der Runde und damit den Zuschauern nicht vermitteln.
 

„Na, hattest du deinen Spaß?“, fragte Kuzo nach der Show.

„Ich habe mich vielleicht etwas absorbieren lassen. Aber ehrlich gesagt wusste ich nicht, welchen Standpunkt ich vertreten sollte, immerhin existierte ein Sean O´Donnely definitiv nicht in dieser Zeit. Das machte es etwas komplex.“

„Du hast dir zu viele Gedanken gemacht“, schloss die junge Daina.

„Ich habe mir zu viele Gedanken gemacht“, bestätigte Henry. „Ich will diese Welt nicht kollabieren lassen und neu anfangen müssen.“

„Oh, in dem Punkt kann ich dich beruhigen. Du wirst nicht neu anfangen müssen. Wenn diese Welt zusammenbricht, bevor du deine Informationen gefunden hast, werden die alten Dai sich dagegen sperren, sie neu entstehen zu lassen“, erwiderte die Daina nonchalant. „Sie wird kollabieren und du wirst deine Chance verlieren, mehr über die Götter zu erfahren.“

„Verdammt! Ich habe so etwas befürchtet!“ Henry hängte einen derben Fluch an, der einige Damen in direkter Nachbarschaft erröten ließ.

„Was du für Wörter kennst“, tadelte die Daina. „Aber verrate mir eins: Warum bist du so versessen darauf, die Geheimnisse der Götter aus der Erinnerung der vergeistigten Dai heraus zu suchen?“

Henrys deprimierte Miene machte einem verschmitzen Lächeln Platz. „Akira. Er hat mich zwar umgebracht, damals auf dem Mars, aber schon in der Situation hat es sich so... Richtig angefühlt. Ich kann mich seiner Existenz nicht entziehen, so einfach ist das.

Aber es gibt noch einen anderen Grund. Die Götter reizen mich bis aufs Mark. Ich will so viel wie möglich über sie wissen. Die Geschichte der Naguad war bereits so weitläufig, so faszinierend. Jetzt will ich mehr über die Dai-Zivilisation und über die Götter zusammentragen.“

Der Historiker, der früher Legat gewesen war, senkte den Kopf. „Es geht immerhin um die Menschheit, und die habe ich nie wirklich verlassen und verraten. Selbst als ich meinen letzten Rest Macht benutzt habe um nach Naguad Prime zu gehen, tat ich dies um die Erde und ihre Bewohner zu beschützen.“

„Weil ein kleiner Junge von damals nicht ganz zwanzig Jahren es dir vorgemacht hat?“, riet Meal Arac.

Als sie seine betretene, ertappte und irgendwie auch erleichterte Miene sah, meinte sie mit einem Lächeln: „Erwischt, mein lieber Henry.“

Taylor schnaubte und brach dann in Gelächter aus. „Lass uns hier verschwinden. Es gibt da ein Daina-Reich, in dem noch mehr Informationen auf uns warten.“

„Dem ist nichts hinzu zu fügen, Henry William Taylor“, sagte die Daina und folgte dem ehemaligen Legaten.

***

Als ich am Tag nach der schicksalhaften Begegnung mit Aris, der Herrin des Paradies der Daina und Daima – oder vielmehr Chausiku Aris, wie sie sich nun selbst nannte – das erste Mal in die Flottenzentrale Poseidon kam, war ich mir sofort der merkwürdigen Atmosphäre bewusst. Es war nicht gerade so als würde sie brodeln, und kalt war sie gerade nicht. Aber es lag eine Spannung in der Luft, eine merkwürdige, alles umfassende, schwer auf mir lastende Spannung.

„Sorge bis um zwei dafür. Ich will auch die Mahlstrom-Panzer in dieser Übung sehen, Mamoru.“

Ich wandte mich beim Klang dieser Stimme um, und tatsächlich, gerade kam Joan Reilley, der unumstrittene Nummer eins-Star der AURORA und mittlerweile verschiedener Welten, aus einem Seitengang, der zur Einsatzzentrale Bodentruppen führte, hervor. Neben ihr ging unser Nummer eins-Geheimdienstmann und Nummer zwei der Bodentruppen, Mamoru Hatake.

„Hallo, Joan-chan“, sagte ich ehrlich erfreut, denn im Trubel der letzten Tage und Wochen hatte ich nicht viel mit ihr reden können. Oder mit Mamoru. „Hey, Kumpel.“

Als die beiden mich sahen, stockten sie im Schritt. Mamoru räusperte sich eindringlich, während Joan mich misstrauisch beäugte.

„Ich weiß nicht, ob Kumpel eine angemessene Bezeichnung ist, Regent“, sagte Mamoru in einem todernsten Tonfall.

Regent... Spielte er auf mein neues Amt für den Core an?

Joan trat ganz nahe an mich heran und musterte mich von unten so eindringlich, dass man es beinahe hören konnte. „Der Core, eh? Was holst du dir als nächstes? Und wann müssen wir die erste Widerstandsgruppe gründen, du alles verschlingender Moloch? Erbe der Arogads, Eigentümer von Lorania, Mars und Mond, Lordgeneral des Intendenten, Oberster Befehlshaber des Core, und jetzt auch noch sein Regent... Wo soll das alles noch enden? Pass auf, als nächstes unterwirft er die Götter.“

Mamoru tauschte mit ihr einen schelmischen Seitenblick aus. „Wenn nicht er, wer dann?“

Abwehrend hob ich die Hände. „Leute, Leute. Ich bitte euch! Übertreibt doch nicht so maßlos. Gut, gut, die Herrin hat mich gebeten die Exekutivgewalt auszuüben, aber das ist auch schon alles.“

Wieder starrte mich Joan aus nächster Nähe an. „Du bist im Moment die höchste Instanz des Core, oder?“

„D-das ist im Prinzip richtig.“ Für einen Augenblick jagte ein unschöner Gedanke wie ein Stück Eis durch meinen Körper. „Joan, du hast damit doch nicht hoffentlich ein Problem? Ich meine, die Cyborg-Technologie, mit der die Kronosier dich damals hatten verbessern wollen, stammt ja eigentlich vom Core, und...“

„Was sollte ich gegen einen Pore haben, der unter deiner Kontrolle steht?“ Übergangslos lächelte sie mich strahlend an. „Darf ich während der Inthronisierung singen, Aki-chan?“

„Inthronisierung? Singen?“

„Ich finde schon, dass es eine angemessene Feierlichkeit geben sollte, wenn wir dich in den Imperatorenrang erheben. Und was spricht dagegen, wenn der populärste Superstar aus vier Reichen dabei auftritt? Es wäre nur angemessen.“

„Imperator?“ Indigniert sah ich die beiden nun breit grinsenden Freunde an. „Entschuldigt, aber was soll der Quatsch?“

„Komm, Joan, er hat Recht. Und das weißt du auch“, half mir Mamoru aus.

„Danke, Kumpel.“ Ich war erleichtert. Und hoffentlich war Joan nun für Argumente zugänglich.

In Mamorus Augen blitzte der Schalk, und ich ahnte, dass nun eine Riposte folgen würde, die sich gewaschen hatte. „Warten wir, bis er auch die Götter unterworfen hat.“

„Eine sehr gute Idee. Die Regentschaft von Akira dem Ersten sollte mit einem Knall beginnen, Mamoru.“

Die beiden, ausnahmsweise ein Herz und eine Seele, nickten sich verschmitzt lächelnd zu.

„Bevor ihr Akiras Krönung plant“, klang nun Makos Stimme auf, und Augenblicke darauf schob der kleine Blondschopf die Sängerin und den Geheimdienstmann vor sich her, „solltet ihr die Infanterie-Übung planen, über die wir gerade gesprochen haben. Erst kommt die Pflicht, und dann das Vergnügen. Das ist übrigens ein Spruch von Sakura.“

„Du verstehst auch überhaupt keinen Spaß“, meckerte Mamoru, ließ sich aber gehorsam durch den Flur schieben.

„Bist du denn Zuhause, wenn wir mit der Übung fertig sind, Mako?“ Joan Reilley sah mit einem herzzerreißenden Blick hinter sich. „Ich werde sehr, sehr müde sein, wenn ich endlich zurückkomme. Jemand wird bei mir sein müssen, damit ich nicht in der Wanne einschlafe und ertrinke.“

Ich hatte erwartet, dass Makoto errötete oder verlegen wurde. Stattdessen zuckte lediglich die linke Braue für einen Moment. „Du kannst dich natürlich auf mich verlassen. Ich werde dich bestimmt nicht einschlafen lassen.“

„Ich hoffe, das war ein Versprechen“, hakte Joan mit einer plötzlich sehr rauhen Stimme nach, die ich selbst schon... bei bestimmten Gelegenheiten gehört hatte.

„Natürlich. Ein Mann, ein Wort. Und jetzt los, je eher ihr weg kommt, desto eher ist die Übung zu ende.“

„Und desto eher kommt Joan zu ihrem Bad, hm? Ich sollte Akane anrufen und sie fragen, ob sie mir auch ein Bad einlässt und...“

Hinter den beiden schloss sich die Fahrstuhltür. Zufrieden wischte sich Makoto die Hände ab und kam zu mir zurück. „So, vor den beiden hast du erst einmal Ruhe, Akira.“

„Danke, Lieblingscousin. Ich weiß nicht, wer ihnen diesen unsinnigen Floh ins Ohr gesetzt hat, aber... Schwamm drüber. Hauptsache sie reiten nicht darauf herum. Immerhin hat sich meine Arbeit vermehrt, nicht unbedingt meine Macht.“

„Sicherlich“, murmelte Makoto und verschränkte beide Arme vor der Brust ineinander. „Ich werde doch sicherlich Minister für Verteidigung.“

„Was, bitte?“

„Na, nach deiner Krönung! Du wirst einen guten Verteidigungsminister für dein Imperium brauchen, und ich bin der Beste.“ Mako strahlte mich an, hatte die Augen zusammen gekniffen und Zeigefinger und Mittelfinger der Rechten zum legendären Victory-Zeichen erhoben. Für einen Moment wirkte er... Niedlich. Nicht auf die „Ich treibe alle Frauen in den Wahnsinn weil ich weiblicher als sie aussehe“-niedlich, sondern „Ich bin ein hübscher Bursche und weiß das auch und ihr könnt nichts dagegen tun“-niedlich.

Hart griff ich zu und zog ihn in meinen Schwitzkasten. Dabei malträtierte ich seinen Kopf, indem ich meine Faust auf seiner Schädeldecke drehte. „Wie war das?“

„L-lass m-mich l-los, A-akiraaaaaa, es tu-ut mir l-lei-id.“

Ich gab meinen Cousin wieder frei.

Er rieb sich den schmerzenden Kopf und musterte mich böse. „Sag doch gleich, dass Yoshi den Job schon in der Tasche hat.“

Für einen Moment war ich sprachlos, atemlos, geradezu entsetzt. „Makoootoooooo...“

„Außenminister?“, fragte er mit Schalk im Blick.

Ich gebe zu, es hat für die meisten Mitarbeiter der Poseidon-Station sicherlich merkwürdig ausgesehen, dass daraufhin ein lauthals lachender Makoto Ino von einem wütende Wortfetzen ausstoßenden Akira Otomo durch das halbe Gebäude verfolgt wurde. Aber wir hatten unseren Spaß. In irgendeiner Form.
 

Eine halbe Stunde später saßen wir in Sakuras Büro in Poseidon. Wobei „saßen“ das falsche Wort war. „Folter“ traf es eher, denn Sakura hatte uns gezwungen, uns im Kiza hinzusetzen. Unser Gewicht ruhte also komplett auf den Knien, weil wir uns wegen der aufgestellten Füße nicht wie beim Seiza auf die Fersen setzen konnten. Kiza war eine alte traditionelle Sitzhaltung der japanischen Samurai, die es ihm jederzeit ermöglicht hatte, aufzuspringen und das Schwert zu ziehen, deshalb war ich einigermaßen in dieser Kunst trainiert. Makoto als KI-Meister und Bluthund der Taral war dadurch auch nicht besonders zu beeindrucken, und sicherlich wusste Sakura das auch. Andererseits saßen wir in ihrem Büro und nahmen nun schon seit über fünfundzwanzig Minuten diese Sitzhaltung ein, nur um sie zufrieden zu stellen. Neben ihr stand Megumi und sah auf uns herab. Nicht besonders wohlwollend. Dabei schüttelte sie beinahe pünktlich zu jeder Sekunde den Kopf und murmelte Sätze wie: Ich glaube es nicht. Die sind doch erwachsen, oder nicht? Was haben sie sich dabei nur gedacht?

„Sechsundzwanzig Minuten“, stellte Sakura fest. „Aufstehen.“

Gehorsam erhoben wir uns. Sakura musterte uns dabei aufmerksam.

„Hör mal, Sakura-chan, ich...“, begann ich, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.

„Akira! Auf diesem fliegenden Felsen und in der Begleitflotte befinden sich etwas mehr als dreißigtausend Soldaten aller Rassen und Staaten, die aufgebrochen sind, um dich zu retten! Einige haben dafür alles aufgegeben, alle Brücken in ihre Vergangenheit, zu ihren Familien abgebrochen, um dir zurückzugeben, was die Welt ihrer Meinung nach dir schuldet. Wir sind durch unglaubliche Gefahren gegangen, haben das Chaos des Bürgerkriegs erlebt, wären mehrfach beinahe vernichtet worden...“

„Haben drei Systeme okkupiert...“, murmelte Makoto leise und entlockte mir damit ein Grinsen.

„Der Punkt ist“, rief sie laut, ohne auf Makos Tiefschlag einzugehen, „dass diese Soldaten und die uns begleitenden Zivilisten bereit waren, dieses Risiko einzugehen. Sie haben alles riskiert um Blue Lightning zu retten!“ Ihr ernster Blick fixierte mich und ließ mich ein wenig schrumpfen.

„Dabei haben sie ihrem militärischen Oberbefehlshaber vertraut!“ Ihr Blick schwenkte zu Makoto herüber, der sich merklich wand.

„Und DANN laufen der legendäre Akira Otomo und der nicht minder bekannte und beliebte Makoto Ino durch das Allerheiligste der AURORA, nämlich diese Flottenzentrale, und spielen fangen! IHR KINDSKÖPFE!“

„Makoto hat angefangen“, murrte ich. „Er wollte Verteidigungsminister werden.“

„Alte Petze. Was spricht gegen mich als Verteidigungsminister? Ich mach doch einen guten Job hier, oder?“

„Das ist nicht der Punkt, Mako! Ich meine...“

„RUHE!“, rief Sakura dazwischen. Wir verstummten abrupt und ohne Klage.

„Abgesehen davon, dass du nicht diplomatisch genug für den Verteidigungsminister wärst und besser als General der Armee oder als Außenminister besetzt werden solltest.“

„Sakura!“, begehrte ich auf.

„Ja, das ist mein Name. Und ich würde natürlich eine viel bessere Verteidigungsministerin abgeben als mein kleiner Bruder."

Ich legte die Rechte an meine Stirn und seufzte tief. „Megumi...“

„Was? Ich finde die Idee großartig. Sakura wäre eine gute Verteidigungsministerin. Und Makoto könnte als Außenminister mit seiner Niedlichkeit sämtliche Daina- und Daima-Völker über den Tisch ziehen.“

Ich nahm die Hand herab. „Bis eben habe ich es für einen Scherz gehalten, als Joan und Mamoru mich zum Imperator krönen wollte, aber jetzt kriege ich Angst vor euch, Leute. Und du machst auch noch mit, Megumi.“

„Der Gedanke, Imperatrix zu werden hat doch was Verlockendes, oder?“, erklärte sie nonchalant. „Und mehr Arbeit als ich ohnehin schon habe kann auch nicht dazu kommen.“

„Hast du eine Ahnung“, seufzte ich. Mein altes Kommando gehörte nun jemand anderem – nämlich Megumi. Und mein derzeitiges Amt konnte man mit der Arbeit des Iovar-Kaisers durchaus gleich setzen. Und das bedeutete, dass es erheblich mehr Arbeit war. Sehr viel mehr Arbeit.

„Aber zurück zum Thema. Ich habe hier eine Petition der Offiziere und Mannschaften der Poseidon-Station, eure wilde Jagd betreffend. Die Leute zeigen sich betroffen und bestürzt darüber...“

Gut, an diesem Punkt musste ich wohl einsehen, dass ich es zu weit getrieben hatte. Mein Blick zu meinem Cousin bewies mir, dass er es genauso sah. Wir waren zu weit gegangen.

„...darüber, dass ihnen durch das fehlen der Vorankündigung die Möglichkeit genommen wurde, Wetten auf den Sieger abzuschließen. Das war nicht sehr kollegial von euch beiden.“

Wieder legte ich eine Hand vor die Stirn. „Sakuraaaaa...“

„Aber wenigstens haben wir jetzt einen Sieger ermittelt“, sagte sie schelmisch.

Misstrauisch äugte ich durch meine Finger. „Megumi-chan, bist du so nett und verkündest, dass Akira als erster aus dem Kiza aufgestanden ist?“

„Natürlich, Admiral Ino“, sagte sie mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, das natürlich mir galt.

„Megumi-chan“, sagte ich in flehendem Ton.

„Was denn? Ich habe auf dich gewettet. Zwanzig Mäuse sind jetzt weg, Akira.“

„Das war ja wohl auch kein richtiger Wettkampf!“, erwiderte ich. „Hätten wir gewusst, dass das hier ein Ersatzwettkampf für eine Wette wird, dann... Makoto, sag doch was dazu.“

„Warum sollte ich? Ich habe doch gewonnen“, erwiderte mein Cousin schelmisch.

Oh Gott. Und das waren die Menschen, die ich neben meinen Schwestern am meisten liebte.

Andererseits... Die Zeit mit ihnen konnte mir gar nicht lang genug sein. Und ich hatte den Verdacht, dass sie tatsächlich noch sehr, sehr lang werden würde.
 

Epilog:

An einem anderen Ort, zur gleichen Zeit erstattete eine Frau einer anderen Bericht.

„Dies ist die Lage. Nach der Zerstörung der Daimon hat Aris Ohana Lencis offiziell die Staatsgewalt als Intendent übernommen. Unser Geheimdienst hat mittlerweile ermittelt, dass der alte Intendent Jonn Arogad war, ihr Stiefsohn. Aber den Core eingebracht hat ihr eigener Enkel, ein Mann, der sich bereits bei den Naguads äußerst unbeliebt gemacht hat. Sein Name ist Aris Arogad, und er stammt von einer Hinterwäldlerwelt namens Erde. Die Erdenmenschen betreiben interplanetare Raumfahrt erst seit kurzem. Interstellare seit gerade mal zwei Jahren.“

„Und dieser Aris Arogad war bei diesen Aktionen stets dabei, nehme ich an. Wie haben sie es angestellt? Haben sie Naguad-Schiffe gestohlen? Und was macht ein Prinz der Arogad auf solch einer Welt?“

Die berichterstattende Frau straffte sich. „Es gibt Hinweise darauf, dass die Erde eine Welt der ALTEN ist. Welche können wir jetzt noch nicht sagen, aber diverse Hinweise sprechen von Mu oder Shahangril. Vielleicht, aber da will ich nicht zu weit vorgreifen, haben wir es sogar mit Lemur zu tun.“

„Unwahrscheinlich. Mit den Machtmitteln, die dieser Welt selbst nach dem Großen Krieg geblieben sind, hätten sie mittlerweile das Naguad-Reich erobert.“

„In gewisser Weise haben sie das – hat er das, wenngleich nicht mit Waffengewalt. Uns ist bekannt, dass er einen Bürgerkrieg, der zwischen Arogad und Daness auszubrechen drohte, mit einer politisch geschickten Verlobung in eine Vereinigung wenden konnte. Seither gibt es keine Naguad-Macht, die diese Koalition gefährden könnte. Lediglich die Logodoboro, die sich als Verbündete des Core entpuppt haben, stellen sich dagegen. Aber ihr Bündnispartner hat sie in Stich gelassen. Wir haben Funksprüche dechiffriert und festgestellt, dass...“

„Lass mich raten. Aris Arogad befehligt nun die Core-Truppen.“

Die Berichterstatterin wurde bleich. „Woher wisst ihr...?“

Nun war es auch an der anderen Frau zu erbleichen. „Das war eigentlich ein Witz.“

Sie beugte sich vor, betrachtete das Spiel ihrer Hände. „Aris Arogad, also? Und die Logodoboro sind seine Feinde? Was wissen wir über ihren Widerstand?“

„Sie halten eine Mark, die sie enorm befestigt haben. Von dort werden sie agieren.“

„Sie werden nicht genügend Macht haben. Man wird sie fort fegen.“

„Die Erde ist im Mittelpunkt des Interesses der Götter gerückt. Diese Hilfe steht den Naguad nicht zur Verfügung. Wenn man ihre Streitkräfte verstärken könnte, dann...“

„Dann wären die Logodoboro sicherlich dankbar. Und diese Dankbarkeit könnte man irgendwann einfordern.“

Die Frau, der Bericht erstattet wurde, erhob sich. „Wir fliegen die Mark der Logodoboro an.“

Die Berichterstatterin verbeugte sich tief. „Euer Wunsch ist mir Befehl, Imperatrix Arac von Iovar.“

„Wir fliegen mit allen dreitausend Schiffen und dem kompletten Versorgungstross, Admiralin.“

„Natürlich, Majestät.“

„Aris Arogad, hm? Ist er also Schuld daran, dass mein Palast und meine Daimon vernichtet wurden? Es wird mir eine Freude sein, ihn zu zerbrechen. Auch wenn ich dafür mit schleimigen Naguad paktieren muss!“
 

Kurz darauf verließ eine riesige Flotte den Deckschatten einer planetenlosen roten Riesensonne und machte sich auf dem Weg, die Kaiserin der Iovar in das selbstgewählte Exil zu bringen. Aber nicht für lange.



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Kommentare zu dieser Fanfic (39)
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Von:  BLACKKING
2015-01-27T21:34:40+00:00 27.01.2015 22:34
Super 4 staffel ace , ich kann nur sagen das die story genauso gut ist wie die anderen Vorgänger , natürlich waren da wieder ab und zu Rechtschreibfehler drin aber alles kaum die rede wert ^-^ .
Also du kannst mal wieder stolz auf dich sein .* Daum hoch geb*
Antwort von:  Ace_Kaiser
28.01.2015 13:36
Hi, Black-O.
Danke für den Hinweis auf die Tippfehler. Wenn ich mir je die Zeit nehme, dieses Mammutprojekt zu überarbeiten, werde ich da speziell drauf achten. ^^°
Aber es freut mich sehr, dass Du so viel Spaß mit meiner Geschichte gehabt hast. Das motiviert den Schreiber in mir. ;)
Von:  Kadiri
2008-08-12T21:25:11+00:00 12.08.2008 23:25
alsou mir fehlen die Worte!!!
Sag mir bitte wie ich dich loben soll????
Nur eins weiß ich...
ICH WILL NEN ANIME ÜBER DIESE GESCHICHTE SEHEN!!!!!!

Hast du schon mal darüber nachgedacht und es einer dieser Firmen zu zeigen?
Wäre sicher sau geil!!!!!

Ich bin mitlerweil schon dabei deine Geschicht schon (und jetzt halt dich fest) zum 2ten mal zu lesen!!!
Ich bin süchtig!!!
Und zwar nach deinen Geschichten!!!
Ich will mehr!!!! Viel mehr!!!!!!!!*sich hecktisch umseh*

bussi Sakura_san
Von:  Subtra
2008-02-26T18:02:47+00:00 26.02.2008 19:02
Wie immer ein whansinnig gutes Kapitel ^^ Schreib schnell und effektiv weiter guter Ace, ich brauch was zum verschlingen ^^
Von: abgemeldet
2008-01-29T16:33:50+00:00 29.01.2008 17:33
So, nun hab ich auch die beiden vorerst letzten Kapitel gelesen.
Es war wie immer witzig und gut geschrieben. Gut hat mir die Erklärung gefallen, was es jetzt nun mit der - jetzt vermeintlichen - Welt auf sich hatte, aus der Akira und "Ralf" angeblich stammen.
Genauso wie die Unterhaltung zwischen Michael und Legate Scott. Am lustigsten war wohl der Marshmallowmann. ^^
Ich habe zwar ein paar Fehler gesehen, irgendwo waren Augen klein geschrieben, die Gänsefüßchen waren an einer Stelle falsch gesetzt und der Marshmallowmann wird so geschrieben, aber das tut der Sache ja keinen Abbruch. ^^
Es ist beruhigend zu wissen, dass auch du nicht vor Fehlern gefeit bist. :P
Gespannt bin ich darauf, was es jetzt mit Prime auf sich hat, was er für Leitungen bringt, was Akira nun für neue Überraschungen hat, weil er ja jetzt zu einem Reyan Maxus aufgestiegen ist, usw.

Ansonsten kann ich mich nur Subtra anschließen: Mach weiter so! ^^
Von:  Subtra
2008-01-16T09:33:07+00:00 16.01.2008 10:33
Die letzten 2 seiten waren die lustigsten, schreib weiter so ^^
Von: abgemeldet
2007-12-12T16:18:41+00:00 12.12.2007 17:18
So, da ich dir ja versprochen hatte dir eine Review zu hinterlassen, ich nun Zeit habe und Lust verspüre dies zu tun, einen GB-Eintrag von Subtra gekriegt hatte, mache ich dies auch gleich mal.
*Subtrapat* Guter Junge. Hier hast Du ein Leckerli.

Leider bin ich noch nicht weiter als bis zu diesem Kapitel gekommen, da ich aus bekannten Gründen ja nicht wirklich viel zum Lesen komme. Besonders heute nicht. *hüstel*
Naja, was gibt es da schon groß zusagen, ich würde alle meine Kommentare wiederholen. Du schreibst super, hast einen exellenten Stil und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du ein Gott wärst. Das übliche Eben. :)
Wirklich bewegt hatte mich der Epilog. Ich habe keine Träne vergoßen, aber mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich es las. Was mir wieder Zeigt, dass du die Gedanken und Gefühle der Protagonisten super an den Leser weiter leitest. Außerdem war es wohl auch ein Meilenstein für dich, du hast einen deiner Charaktere sterben lassen, was dir ja nach eigener Aussage absolut gegen den Strich geht.

Najo, man liest sich. ^^

Ryu
Von: abgemeldet
2007-12-11T09:50:24+00:00 11.12.2007 10:50
Wie immer cool! hatte ich hier auch vergessen, ein Kommi zu hinterlasen?? Ich bin wirklich dämlich!!
Von: abgemeldet
2007-12-11T09:44:09+00:00 11.12.2007 10:44
Ja, ja, Subtra... Ich hab den Wink verstanden. XDDD

Im Großen und Ganzen: Wieder einmal Hammer!! Am besten fand ich den die letzten Sätze des Epilogs. *sniff*
Mußte mal wieder weiterlesen! Zulange hab ichs schleifen lassen!

Von:  Subtra
2007-12-07T15:47:57+00:00 07.12.2007 16:47
Sehr gute Fortsetzung ich hoffe es geht schnell weiter wobei ich jetzt nicht weiß was ich lieber fortgesetzt haben will Nami oder Crossover ^^
Von:  Subtra
2007-11-20T02:22:11+00:00 20.11.2007 03:22
Eigentlich reicht es wenn du die mail ohne anhang schickst, ich les diesbezüglich nur auf animexx das neu kapitelchen um auch kommis zu schreiben. Das Kapitel war super schreib bitte schnell weiter ^^, übrigens ERSTER XD


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