Was ist ein Saurier? – Ein Rückblick auf Stenokranio boldi
Im Januar 2024 wurde Stenokranio boldi erstmals wissenschaftlich beschrieben, fast ein Jahrzehnt nachdem er ausgegraben wurde. Bei dem Tier handelt es sich um einen urzeitlichen Lurch, der in Rheinland-Pfalz, im Landkreis Kusel während des Endes des Steinkohlezeitalters lebte. Das Steinkohlezeitalter ist bekannt, als das Zeitalter der Rieseninsekten wie Meganeura. Darauf folgte das Perm, welches an Land dominiert wurde von Tieren, die früher „säugetierähnliche Reptilien“ genannt wurden, die Stammsäuger oder Synapsiden, welche keine Reptilien sind, sondern die Vorfahren von uns Säugetieren, wie das Dimetrodon. Erst 65 Millionen Jahre nach Stenokranio tauchten die ersten Dinosaurier auf. Das ist so viel Zeit, wie zwischen uns Menschen und dem Massensterben am Ende der Kreidezeit steht, mit dem gesamten Säugetierzeitalter dazwischen. Für den ersten Dinosaurier wäre es so unmöglich auf einen Stenokranio zu treffen, wie für uns auf einen lebenden T. rex.
Stenokranio war eine Amphibie, wie ein Frosch oder Molch von heute, und kein Reptil. Auch sein Aussehen erinnert stark an einen Frosch aus unserer Zeit. Riesenlurche aus diesem Zeitalter wurden früher auch „Panzerlurche“ genannt und einige von ihnen, wie das bekannte Eryops aus Texas und New Mexico verbrachten sogar viel Zeit an Land im Vergleich zu anderen Amphibien, lauerten jedoch im Wasser auf ihre Beute, wodurch sie die Rolle im Ökosystem hatten, die später Krokodile einnehmen würden. Stenokranio ist ein Deutscher Cousin des Eryops und hatte vermutlich eine ähnliche Lebensweise als Lauerjäger der von Tümpel zu Tümpel watscheln konnte.
Wenn Stenokranio aber kein Dinosaurier ist, und so lange vor ihnen lebte, warum wird er dann als Ursaurier bezeichnet?
Eryops, ein amerikanischer Verwandter von Stenokranio.
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst mal betrachten, was das Wort Saurier überhaupt bedeutet. Wikipedia definiert (am 18.07.2024) den Begriff wie folgt:
„Die Bezeichnung Saurier (altgriechisch σαῦρος sauros, deutsch ‚Eidechse‘, ‚Salamander‘) steht allgemein für die größeren fossilen Amphibien (z. B. Stegocephalia) und Reptilien der Erdgeschichte, im engeren Sinne für die teils riesigen Reptilien des Mesozoikums, insbesondere Dinosaurier, Ichthyosaurier, Sauropterygia und Flugsaurier.“
Also fast alle ausgestorbenen Vierbeiner, die keine Säugetiere sind. Laut der Wikipedia-Definition würden Tiere wie Dimetrodon wegfallen, da diese keine Reptilien sind, aber Vögel wären mit inbegriffen. Das macht aber normalerweise niemand so. Was ein Saurier ist, und was nicht, ist eigentlich eher davon festgelegt, welche „Vibe“ das Tier ausstrahlt, ähnlich wie das Wort „Biest“. Ich würde zum Beispiel die meisten Säugetiere als Biest bezeichnen, und viele andere Vierbeiner auch, aber nicht Vögel oder Fische mit einigen Ausnahmen. Zu einem Adler würde ich noch Biest sagen. Zu einem bissigen Wellensittich auch. Aber letzten Endes hat die Definition „Saurier“ nicht viel mit tatsächlicher Taxonomie (der Forschung der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Arten) zu tun. Man könnte sagen, dass der Saurier mehr eine Bezeichnung für einen Körperbau ist als für eine Tiergruppe im Verwandtschaftssinn. Daumenregel ist, wenn Großvater es „Saurier“ nennt, ist es ein Saurier, auch einfach deswegen, weil der Begriff im letzten Jahrhundert verbreiteter war. Heutzutage sagen Leute eher „Dino“, statt „Saurier“ und das bringt mich zum nächsten Punkt.
Eine Ansammlung an Schlagzeilen, die von Stenokranio als Ursaurier sprachen. „Ursaurier“ mit dem Präfix „Ur-“ bedeutet hierbei auch einfach, dass er besonders alt, älter als ein Dinosaurier ist. Auffallend ist der Instagrampost, der Stenokranio auch als Dino bezeichnet. Dies war kein Einzelfall.
Die eigentliche Bedeutung des Wortes „Saurier“ scheint bei den Generationen Y, Z und Alpha verloren gegangen zu sein. Stattdessen kennt man es nur noch als Synonym für „Dino“, der Abkürzung von „Dinosaurier“. Dinosaurier sind jedoch kein schwammiger Sammelbegriff wie Saurier, sondern eine taxonomisch begründete Gruppe. Die momentane offizielle Definition von „Dinosaurier“ ist alles, was sich entwickelt hat aus dem gemeinsamen Vorfahren von Diplodocus carnegii, Triceratops horridus und Passer domesticus. Der letzte dieser drei Dinosaurier ist etwas bekannter unter seinem Deutschen Namen, der Spatz.
Verschiedene Dinosaurier. Bild von Wikipedia.
Die Dino-Nuggets vom REWE heißen nicht nur Dino-Nuggets, weil sie geformt sind, wie Tyrannosaurus, Apatosaurus und Stegosaurus, sondern auch weil sie aus echten Dinos gemacht sind, dem Haushuhn. Außer natürlich bei den veganen Dino-Nuggets, bei denen ist es nur die Form.
Man kann sagen, die Dinosaurier sind die Dinos unter den Sauriern. Auf jeden Fall sollte man sich merken, dass Dinosaurier nur eine bestimmte Gruppe von Tieren sind. Ein Nymphensittich ist ein Dinosaurier. Ein Stenokranio ist es nicht.
Saurier hingegen sind ein Sammelbegriff für alles Mögliche an urzeitlichen Reptilien und Amphibien. Hier mal eine Auswahl, an was alles als Saurier durchgeht:
Velociraptor, ein Dinosaurier.
Quetzalcoatlus, ein Flugsaurier.
Ophthalmosaurus, ein Fischsaurier, eine Gruppe von Meeresreptilien.
Stenokranio, ein Ursaurier, genauer ein Panzerlurch.
Viele der Zeitungen und Webseiten, die über Stenokranio berichtet haben, haben echt nicht die beste Wissenschaftskommunikation geleistet und den Lurch oft als „Dino“ bezeichnet, in manchen Fällen sogar als „Vorfahren der Krokodile“. Am Ende hat die Viralität nicht viel gebracht, wenn durch die Bekanntheit eines lokalen Fundes Fehlinformation rasend schnell verbreitet wird. Das Internet ist wie so oft ein zweischneidiges Schwert. Dennoch war es schön zu sehen, wie viele Leute sich für einen Fund aus Rheinland-Pfalz begeistern konnten. Man würde denken, dass die Erforschung der Urzeit nicht relevant ist für die Jetztzeit, und bloß ein Zeitvertreib wäre, um coole Filmmonster auszubuddeln, aber die Paläontologie spielt eine wichtige Rolle für die Klimaforschung, und an der Vergangenheit können wir ermitteln, wie die Zukunft aussieht.
Als die ganzen Stenokranio-Memes aus den Böden der sozialen Netzwerke sprossen, hatte ich einen Post von Fridays for Future Germany gesehen, mit der Stenokranio-Rekonstruktion von Frederik Spindler aus der Pressemitteilung und einer Sprechblase mit dem Inhalt „Wir Dinos dachten auch wir hätten noch Zeit.“
Stenokranio ist kein Dino, und gerade diese Tatsache ist wichtig zu wissen. Wenn Leute an Aussterbeereignisse in der Erdgeschichte denken, denken sie nur an das Massensterben am Ende der Kreidezeit, das bis auf die Vögel alle Dinosaurier ausgelöscht hat, aber auch viele andere Tiergruppen, wie Flugsaurier und Meeressaurier vernichtete und selbst uns Säugetiere betraf, wenn auch ein paar von uns es geschafft haben, sich zu der heutigen Vielfalt zu entwickeln.
Stenokranio war von den ersten Dinosauriern so weit entfernt, wie wir vom Aussterben der Dinosaurier. Und zwischen diesem Massenaussterben und den ersten Dinosauriern liegen noch weitere 180 Millionen Jahre.
Stenokranio kann froh sein, das nicht miterlebt zu haben. Für den Urlurch war der Einschlag Zukunftsmusik wie für uns Pünktlichkeit bei der Deutschen Bahn. Grafik von der Uni Hamburg.
Der Zeitraum zwischen dem Ursaurier und dem Einschlag war so ewig lang, dass dazwischen einfach ganze zwei weitere der fünf großem Massensterben Platz hatten. Ganz recht, fast die Hälfte von Fünf. Zwei! Und eines davon war sogar das größte Massensterben aller Zeiten, weitaus schlimmer als das, was die Dinosaurier dahingerafft hat.
Das Massensterben am Ende des Permzeitalters, kurz vor dem Dinosaurierzeitalter, war so extrem, dass es auch als „das große Sterben“ bezeichnet wird. Ganze 90% aller Tiere UND Pflanzen sind zu dieser Zeit ausgestorben. Hätten wir etwas mehr Pech gehabt, würde die Erde jetzt aussehen wie der Mars.
Ein Blick auf die Erde während des großen Sterbens. Sieht aus, wie ein Musikvideo von Deichkind. Warum das so ist, erkläre ich gleich. Illustration von Victor Leshyk, verwendet von der University of Connecticut.
Wie konnte es dazu kommen? Etwa auch ein Meteorit? Nein, schlimmer, es waren Treibhausgase. In diesem Fall komplett natürlich, durch vulkanische Aktivitäten, die Unmengen an CO₂ in die Atmosphäre geschleudert haben. Die Treibhausgase haben an Land die Pflanzen und Tiere dezimiert. Das CO₂ ist durch sauren Regen in das Meer gelangt und hat dort alles übersäuert, was zu einem Korallensterben geführt hat und auch viele andere Meereslebewesen tötete, schlimmer als an Land. Im Meer starben ganze 96% aller Arten. Im Moment durchleben wir eine ähnliche Situation, bloß diesmal künstlich erzeugt. Die meisten Massensterben waren nicht ein plötzlicher Zufall wie ein Meteorit aus dem Nichts, sondern ein langsamer Prozess, wo durch Wechselwirkungen zwischen den planetaren Belastbarkeitsgrenzen sich alles weiter hochgeschaukelt hat, so wie jetzt gerade. Und selbst dieses Massensterben ist nicht der Grund, weshalb Stenokranio ausgestorben ist.
Kommt einem jetzt irgendwie bekannt vor: Ein Wald, der von saurem Regen zerstört wurde. Foto aus einem Artikel von Spektrum der Wissenschaft, von Adobe Stock. Ironischerweise hat Adobe Stock neben solchen echten Fotos auch inzwischen Unmengen von K.I.-Bildern die schlecht für die Umwelt sind.
Der Ursaurier lebte an der Schwelle zwischen zwei Zeitaltern, dem Steinkohlezeitalter und dem Perm. Die Steinkohlewälder begannen zu schwinden und es wurde trockener. Zwar war es nicht vergleichbar mit den fünf großen Massensterben, aber es hat gereicht, um die Rieseninsekten verschwinden zu lassen, und die Bedingungen hätten vermutlich auch Stenokranio zu schaffen gemacht. Es ist eine Erinnerung daran, wie fragil Ökosysteme sind. Keine Art lebt ewig, und es muss nicht mal ein gigantisches Massensterben sein, das reicht, um eine Art aussterben zu lassen.
Man erkennt ihn kaum wieder, seit er zum Influencer wurde.
Der Moment des Internetruhms von Stenokranio war eine kurze Erfolgsgeschichte der Wissenschaftskommunikation, aber auch ein warnendes Beispiel, wie man es besser machen kann. Die Kritik ist hierbei jedoch nicht an das Team der Forschenden selbst gerichtet, sondern an die Pressearbeit, und wie Leute die Information aufgenommen haben, wodurch es zu einer Runde stille Post wurde.
Besonderes Lob gebührt Dr. Frederik Spindler, einer der besten auf urzeitliche Tiere spezialisierten wissenschaftlichen Illustratoren in Deutschland.
Der Mann bei der Arbeit. Frederik Spindler ist nicht nur unglaublich beeindruckender Künstler, sondern auch Paläontologe und wissenschaftlicher Leiter des Dinoparks Altmühltal. Foto von der TU Bergakademie Freiberg.
Frederik Spindlers Rekonstruktion von Stenokranio, die überall im deutschsprachigen Internet zu sehen war, von Instagram bis Fediverse. Bild hier entnommen von der Pressemitteilung des Museums für Naturkunde Berlin.
Die besten Rekonstruktionen sind effektive Rekonstruktionen. Bei seiner Rekonstruktion hat Dr. Spindler die Niedlichkeit des Tieres hervorgehoben und im Nu ging es Viral wie ein Katzenvideo. Im Interview mit Zeit Wissen hat er dazu gesagt „Schon beim Zeichnen habe ich geahnt, dass Stenokranio etwas albern dargestellt gut ankommt“, und es hat funktioniert. Bei dem Artnamen Stenokranio boldi, eigentlich benannt nach Rudolf Bold, mussten viele auch an einen gewissen Fußballer denken, der gerade in NRW den Döner gentrifiziert. Hinzu kommt natürlich, dass Stenokranio ein Lurch ist und dadurch an Froschmemes wie „It is Wednesday, my dudes“ erinnert. Es war einfach das perfekte Rezept, um viral zu gehen. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass sich daraus tatsächliches Interesse entwickelt.
Den kleinen Racker kann man im Urweltmuseum Geoskop bei Thallichtenberg besuchen. Foto vom SWR.