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1000 Ways to Die in the West

Die Memoiren eines Flohgeistes
von

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Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie

Erich Kästner

 
 

Es war ein wunderschöner Tag. Die Weibchen trugen meist zu zweit oder sogar zu dritt die sorgfältig zusammengewobenen Ei-Nester zu unserem heiligen Baum, wo alle Männer, auch wir, die gerade Herangewachsenen, warteten. Wir durften freilich nicht auf den Baum klettern, aber doch die für uns riesigen, wenngleich leichten, Pakete empor reichen, stemmen.

 

Danach wurden Lagerfeuer angezündet und Mikoto als Dorfvorsteher gab das Signal Fässer zu holen, die ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal sah. Sie bestanden aus Holz und waren mit Blut gefüllt, dass in den letzten Tagen nur für diesen Zweck eingesammelt worden war. Trommeln begannen zu schlagen, als wir uns um die Feuer niederließen und das Blut in Becher gegossen wurde. Mit Rücksicht auf uns Kleine gab es auch Blut von Säugetieren, die Erwachsenen nahmen Oni oder Yōkai zu sich. Dennoch fiel mir auf, dass trotz aller amüsanten Stimmung immer wieder Erwachsene fortgingen, andere zurückkamen und sich setzten, sichtlich erleichtert. Holten sie etwa immer noch Blut von draußen? Ich guckte genauer hin.

Nein, sie sprangen die steile, rote Felswand über dem Dorf empor, wo sie verschwanden. Nun ja, sie waren von hier unten nicht mehr zu sehen.

„Du bist in der Tat aufmerksam, Myōga,“ lobte Mikoto.

Ich sah zu ihm, da er sich neben mir niederließ und sich etwas entspannte, als er den Becher hob. „Trink nur. Der Ernst deines Lebens wird in wenigen Tagen beginnen.“

Ach, wie recht er hatte, ahnten wir zu diesem Zeitpunkt noch alle nicht. Ich hob ebenfalls meinen Becher. „Sagtet Ihr nicht, sensei, es sei für einen Flohgeist wichtig aufmerksam zu sein?“

„In der Tat. Aufmerksam, wie ein jeder, der sich über das schmelzende Eis eines Flusses begibt. Nun, das wirst du vielleicht eines Tages erleben. Für heute mag genug sein, dass immer vier Erwachsene oben stehen um Wache zu halten. Unser heiliger Baum schützt, aber leider wissen selbst die Vögel um unseren Jahrestag und sie werden wohl kommen. Du weißt, was dann zu tun ist.“

Ich war erschrocken, nickte jedoch. Vögel, also Tiere? Und wagten es uns während des höchsten Feiertages anzugreifen? Aber umso mehr verstand ich nun die Mahnungen meiner Eltern und auch Mikotos. Oberhalb des Dorfes, im Felsen lagen nicht nur die Schulgrotte und die Schlupfhöhle, sondern auch Höhlungen mit geradezu selbst für Flohgeister winzigen Eingängen, die tief in die Wand reichten. Bei Gefahr, so war uns immer eingeschärft worden, sollten wir dorthin fliehen. Ja, kein Vogel konnte so tief hinein in den Felsen, auch, wenn ich durchaus schon gesehen hatte, dass sie über scharfe Schnäbel verfügten, spitz und scharf, wie man bemerken konnte. Ich verspürte wenig Lust von so etwas gepackt zu werden und dort mein Ende zu finden. Dennoch schien mir etwas eigenartig. „Darf ich noch eine Frage stellen, Meister Mikoto?“

„Natürlich.“

„Vögel sind doch Tiere, sie leben bei Weitem nicht so lange wie wir. Wieso wissen sie dann, dass wir alle fünfzig Jahre dieses Fest feiern? Werden manche doch so alt?“

„Das ist eine ausgezeichnete Frage, Myōga. Du bist wirklich ein kluger junger Floh. Ich vermute, wissen tue ich es nicht, dass sie es sich irgendwie erzählen, den Jungen beibringen. Auch, wenn wir kein Fest haben, fliegen ja immer wieder Vögel über unseren Baum und unser Dorf. Jemand in unserer Größe sollte niemals auch nur Tiere unterschätzen.“

„Deswegen auch die regelmäßigen Übungen?“ Mindestens ein Mal im Jahr wurde geübt und angewiesen, wer in welcher Reihenfolge in die Fluchthöhlen gelangte. Ich konnte das durchaus verstehen, so entstand kein Wirrwarr und die sieben Eingänge wurden gleichzeitig genutzt.

„Ja, auch. Ich schmeichele mir der Erfinder der Übungen zu sein. Als ich jung war, gab es einmal einen Überfall von Yōkai. Vögeln, riesig an Gestalt und mit einem riesigen Maul. Sie fingen und fraßen viele von uns, während sie sich alle in Panik zu den Löchern drängten. Es war schrecklich. Als ich später bei Meister Nekohiko war, fragte ich, wie man solche Katastrophen verhindern könne, und er meinte mit Vorausschau. Natürlich hatte er recht. Wir werden nie ganz sicher sein, aber es ist wichtig auf alles vorbereitet zu sein.“

„Ihr werdet nicht mit mir das Dorf verlassen und auf die erste Jagd gehen?“ erkundigte ich mich zögernd, da ich schon ahnte, dass das nicht passieren würde.

„Nein. Ich mag dein Lehrer sein, euer Lehrer, aber das ist eindeutig eine Sache der Eltern. Sie wissen ja auch, welches Blut ihr bislang erhieltet, was ihr vertragt. Du bist klug, Myōga, aber denke nicht zu viel nach. Das Leben kann auch sehr schön sein. Und, du wirst sehen, bald hast du auch andere Gedanken, wenn du erst einmal einem Weibchen versprochen bist, eine Partnerin hast, Junge aufziehst.“

„Ja, sensei,“ murmelte ich, nur zu sicher, dass das genau das war, was ich nicht wollte. Immerhin war Meister Mikoto auch ohne Partnerin angesehen im Dorf. Und ich wollte ein Leben wie das seine führen. Allein, aber anerkannt, gewiss mit Verpflichtungen, aber in der relativen Sicherheit des Dorfes. Aber, was sollte ich schon tun?

 

Die Schatten wurden immer länger, da sich die Sonne senkte, nun, außerhalb des Bereiches unseres Heiligen Baumes, als plötzlich ein scharfer Pfiff zu hören war. Erschreckt blickte ich auf und erkannte die vier Wachhabenden buchstäblich von der Höhe des Felsens hinabstürzen. Alle Erwachsenen und dann auch wir Heranwachsenden sprangen auf.

„Vögel!“ rief Mikoto. „In die Höhlen, rasch!“

Aber die Meisten liefen schon los, zu dem jeweils ihnen zugeteilten Eingang. Zuerst die Weibchen, ja, das war so. warum eigentlich? Ich nahm mir vor das meinen Meister einmal zu fragen, wenn das hier vorbei war und stellte mich an, immer wieder einen besorgten Blick nach oben werfend. Ja, Stare. Sie kamen, soweit ich das von meiner Position aus sehen konnte, angeflogen und schossen förmlich in unseren Heiligen Baum, sichtlich auf der Suche nach den Eiern. Einige, wie ich sehen konnte, bezahlten das mit Blut. Der Baum und seine Stacheln schützten in der Tat. Allerdings wurden wohl auch einige fündig. Vierzig Überlebende von viertausend, dachte ich nur.

„Myōga!“ zischte Enoro hinter mir und ich sah, dass ich direkt schon vor dem Zugang war und legte mich rasch hin. Nur kriechend kam selbst ein Flohgeist durch den engen Eingang. Erst nach fast drei Metern öffnete sich die Höhle etwas, nach einer zweiten Passage sogar zu einer größeren Grotte, in der schon jemand die stets dort bereit stehenden Lampen angezündet hatte. Dies war eine der größeren Fluchthöhlen und zwanzig von uns fanden hier Platz und hoffentlich Schutz.

„Sind alle hier?“ Meister Mikoto sah sich um. „Dann setzt euch und wartet ab. Etwas anderes bleibt uns nicht, bis sie wieder weg sind.“

Ich gehorchte und ließ mich an einem feuchten Felsen nieder, ein Stalaktit oder Stalagmit, den Unterschied kenne ich bis heute nicht. Ich bin kein Freund von Höhlen, auch, wenn ich deren gewissen Nutzen durchaus schätze.

 

Eine Weile herrschte Schweigen, aber man konnte von draußen allerdings ab und an die Rufe der Vögel vernehmen. Noch waren wir nicht sicher genug um die Schutzräume wieder zu verlassen. Dann, plötzlich und vollkommen unerwartet, ertönte aus dem Dorf ein schreckliches Geschrei. Unser Dorfvorsteher stand auf.

„Ich gehe vorsichtig nachsehen“, meinte er.

Ich weiß bis heute nicht, was mich da ritt. Ich denke, ich wollte einfach beweisen, dass ich auch, wie er, zum Dorfvorsteher taugen würde. „Meister Mikoto, darf ich gehen?“

Er sah mich ein wenig zweifelnd an. „Myōga, das ist gut gemeint, aber es mag gefährlich werden. Dort sind nicht mehr nur Stare, denn das war kein Ruf eines solchen Vogels.“

„Ich bin jünger als ihr, Meister Mikoto, und wendiger.“ Nun ja, dachte ich mir noch, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war, als er nickte und sich wieder niederließ. Jetzt half alles nichts mehr, wollte ich meine Chance Dorfvorsteher zu werden nicht ruinieren, so, wie mich alle anderen hier ansahen. Daher schlich ich behutsam, ja nicht springend, um keinen noch so leisen Laut hervorzurufen, durch die Passage zu der ersten Grotte und guckte wohlüberlegt um die Ecke.

Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl einen Herzinfarkt zu bekommen, denn ETWAS sah zurück. Ich weiß es noch wie heute, oh, dieses schreckliche, rote, Auge, das mich anstarrte und den gesamten Eingang blockierte. Mit einem gewissen Aufschrei, jetzt unbekümmert wegen der Lautstärke, sprang ich zurück, Kleidung und Haare jäh schweißgebadet.

„Was ist, Myōga?“ erkundigte sich Mikoto prompt. „Ist ein Star am Ausgang?“

„Ich denke nicht, Meister,“ brachte ich irgendwie hervor. „Es war nur ein Auge, rot, und es starrte mich an.“

Sichtbarer Schrecken durchfuhr alle Flohgeister in diesem Raum und unser Dorfvorsteher nahm sich merklich zusammen. „Rot, sagst du. Nur ein Auge, und das war so groß wie der Eingang.“

„Ja. Es … es starrte mich an.“

„Yōkai.“ Mikoto deutete neben sich. „Setz dich. Das ist ungewöhnlich, aber verheißt nichts Gutes. Vögel, Stare, bereiten uns genug Ärger und kosten uns viel Nachwuchs. Yōkaivögel haben uns schon lange in Ruhe gelassen, seit …“ Er brach ab. „Wir warten.“

Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er nicht alles gesagt hatte.

 

Nach einigen Stunden unternahm es Meister Mikoto selbst nachzusehen, was draußen geschehen war. Ich begriff, dass das durchaus eine seiner Aufgaben als Dorfvorsteher war.

Als er zurückkehrte, nickte er. „Ich glaube, wir können hinaus. Es ist Nacht geworden, so dass die Tiere weg sind. Und was den Yōkai betrifft, so konnte ich auch keine solche Energie mehr wahrnehmen. Entweder er ist weiter gezogen oder den Vögeln gefolgt.“ Er strich über seinen Schnurrbart. Er war nervös.

Nervös, weil er allein nachsehen gegangen war? Oh, er hatte mir doch erzählt, dass es eine Katastrophe gegeben habe, bei der Yōkaivögel das Dorf angegriffen hatten, wohl schon vor langer Zeit, als er jung war. Fürchtete er, dass sie uns wieder entdeckt hatten? Das wäre bestimmt noch gefährlicher für die Eier, die nun Monate lang im Heiligen Baum hängen würden, bis die Larven schlüpften. Diese wurden dann in die Bruthöhle gebracht und gefüttert, bis sie sich verpuppten und als Flohkinder schlüpften. Schon wegen dieser Entwicklung und dem Verlust so viele Eier war es recht unwahrscheinlich, dass ein Flohgeist bei den Eltern aufwuchs, die für sein Ei verantwortlich gewesen waren.

Als wir die Schutzhöhle verließen sah ich mich rasch um und entdeckte erleichtert meine Eltern und Geschwister. Soweit ich sagen konnte, fehlte niemand. Die tierischen Vögel waren nur auf die Eier aus gewesen und so sahen alle besorgt in den Baum empor. Aber es war dunkel geworden und so nichts zu erkennen.

„Setzen wir uns wieder,“ meinte Mikoto. „Feiern wir, dass doch so einige Nester unberührt geblieben sind, wie ich denke und unsere Jugendlichen, die schon beim nächsten Vollmond ausziehen dürfen um ihre erste Jagd zu erleben. Wenn alle ihr erstes Blut gejagt haben, werden wir die neuen Paare zusammenstellen.“

Alle bis auf mich, wenn ich das so richtig sah, aber das war wohl ein kleiner Preis dafür, dass ich der Schüler des Dorfvorsteher im engeren Sinn war, mich hoffentlich als sein Nachfolger beweisen konnte. Dazu musste ich freilich noch viel lernen, das war mir klar. Ob ich auch einmal zu seinem Lehrer reisen konnte, in diesen Zauberwald? Aber dazu müsste ich auch das Dorf verlassen. Wobei, dieser Überfall der Vögel und der fremde Yōkai hatten nur zu gut bewiesen, dass es auch hier nicht vollkommen sicher war. Ach, wir armen Flohgeister waren wohl nirgends auf der Welt sicher. Moment mal. Was hatte mein sensei gesagt? Wenn alle die erste Jagd hinter sich hatten ….heiraten? Ohje. Das wollte ich doch eigentlich auch nicht. Hier im Dorf sitzen, Eier bewachen, Kinder bekommen und hüten, immer wieder auf die Jagd gehen … ja, das mochte das Leben eines Flohs sein, aber das war eben auch höchst gefährlich. Ich musste Zeit gewinnen und noch viel mehr lernen. So meinte ich leise, wieder einen Becher mit Säugetierblut in der Hand: „Gilt das mit der Braut auch für mich?“

„Natürlich.“

Da der Dorfvorsteher überaus verständnislos klang, versuchte ich zu erklären: „Ich hatte gehofft, ich könne noch zum Hekashin….“

„Oh, eher weniger. Du siehst ja selbst, wie dringend hier der Nachwuchs benötigt wird. Ich werde dir schon alles beibringen, was ich weiß, keine Sorge.“

Also war auch das keine Lösung. Nun ja, dachte ich, warum sollte das Dorf auch für mich eine Ausnahme machen. Es mochte durchaus auch andere geben, die nicht begeistert waren, aber so war das Leben eben und man musste sich damit abfinden. So fragte ich nur: „Haben alle Yōkai rote Augen?“

„Die gewöhnlichen ja. Diejenigen, die Menschenform annehmen können, also so aussehen wie ein Flohgeist nur mit zwei Armen, verändern ihre Augenfarbe auch mit ihrer Form. Nur in ihrer wahren Gestalt zeigen sich die Augen in rot, sonst sind sie unterschiedlich.“

„Dann war das ein gewöhnlicher Yōkai.“

„Hm, vermutlich. Theoretisch könnte es auch ein schwertragender Yōkai in seiner wahren Form gewesen sein, aber sie sind dann zumeist sehr groß und der Eingang doch sehr nahe am Boden.“ Er senkte die Stimme. „Das könnte ein Vogel gewesen sein.“

„Sie sind nicht so groß?“

„Unterschiedlich. Ich hoffe nur ...nun, gleich.“

Ich nahm an, dass er hoffte, dass das ein einzelner Vogel gewesen war und nicht, wie die Stare, mit einem ganzen Schwarm zurück käme. Das wäre vermutlich das Ende für alle restlichen Nester, einer ganze Generation Flohgeister. Traurig, aber wahr.

 

Nachdem mein Vater Yamoto ja offensichtlich nur eingesprungen war und nicht viel älter als ich selbst, wandte ich mich, als wir zuhause waren, leise an meine Mutter Nene. Leise, denn das hätte mir noch gefehlt, dass mich Akari oder Ayumi auslachten. Sie waren sowieso ein wenig neidisch, dass ich so viel bei dem Dorfvorsteher sein durfte. Mein Bruder allerdings hatte sich beruhigt, als er sah, wie schwer es auch mir fiel die Schrift zu erlernen. Er selbst übte lieber das Springen, weit und zielgerichtet.

„Kannst du mir sagen, wie oft die Vögel kommen? Jedes Mal?“

„Jedes Mal, wenn wir die Eier aufhängen, ja. Deswegen ist es ja auch so wichtig, aber das wird dir Mikoto sicher gesagt haben, dass ihr bald heiratet und Nachwuchs bekommt.“ Sie strich sich ein wenig über die grauen Haare, die sie mit Spangen empor gesteckt hatte. „Übrigens, Myōga, ich hörte, du hast einen Yōkai vor eurer Höhle gesehen?“

„Nicht wirklich, Mutter. Nur sein rotes Auge, das mir entgegen starrte. Aber Meister Mikoto meinte, es könnte sich nur um einen Yōkai gehandelt haben.“

Sie atmete durch. „Immerhin etwas.“

„Äh, was meinst du?“

„Vor vielen Jahren überfielen uns einmal Yōkai, Vögel. Es gab viele Todesopfer. Aber ein Vogel dieser Art würde sich kaum so bücken können, dass sein Auge am Boden ist. Es handelte sich wohl um eine andere Sorte. Womöglich haben die Stare es oder ihn angelockt. Yōkai fressen ja, wie Oni, auch Tiere und Menschen, falls sie die erwischen.“

„Ich denke, Meister Mikoto wird schon wissen, was er tut.“

„Ja, natürlich. Er kam soweit herum in ganz Japan. Als er zurückkehrte wusste und konnte er so viel mehr als wir alle.“

„Warum ging er denn?“

„Da frage ihn nur selbst.“ Aber dann meinte sie: „Es war nach dem Überfall der Vögel. Er verlor dabei seine Eltern und seine Verlobte und schwor, dass er solche Dinge zukünftig nie wieder zulassen würde. Als er zurückkehrte begann er mit den Fluchthöhlen, sie auszubauen und den regelmäßigen Übungen. Es war alles sehr vernünftig und als er auch die Ausbildung der Kinder übernahm, machten wir ihn zu unserem neuen Dorfvorsteher.“

Das hatte ich mir selbst schon zusammen gereimt. „Aber die Wachen oben bei unserem heutigen Fest gab es früher schon?“

„Ja, aber nicht zu viert und die bestimmten Rufe, besser, Pfiffe, was da kommt. Jetzt leg dich hin, Kleiner. Ich bin sicher, morgen wartet wieder viel zu studieren auf dich.“ Sie klang ein wenig stolz.

Ich gehorchte. Mein Meister hatte so viel gelernt, so viel Gutes für das Dorf bewirkt, das würde ich auch schaffen. Ich würde allen helfen und von allen anerkannt werden. Auch, wenn das wohl zunächst bedeutete, dass ich doch früher oder später einmal das Dorf verlassen musste. Müsste ich ja sowieso, wurde mir klar. Ich musste auf die Jagd nach Blut gehen. Und mich um den Nachwuchs kümmern. Also blieb mir erst einmal nur alles von Meister Mikoto zu lernen. Und das war wohl noch eine ganze Menge.

 

Mit neu erwachtem Eifer stürzte ich mich auf die Schriftzeichen, wobei in den folgenden Tagen auch Pflanzen- und Tierkunde auf dem Programm standen. Da wir schon in kurzer Zeit das Dorf für die erste Jagd verlassen sollten, wollte Meister Mikoto sicher gehen, dass wir möglichst viele Gefahren kannten. Und was gab es da nicht alles an Lebewesen, geradezu Unsummen von Reptilien und Insekten, zumeist auch in Yōkaiform, Säugetiere, Oni, die zum einen wie Würmer aussahen, zum anderen wie ein ganzer Berg aussehen konnten. Diese empfahl er uns als erste Oni anzuspringen. Sie waren so groß und ihre Hülle so dick, dass sie erst reagierten, wenn man sich schon satt getrunken hatte. Und unser Lehrer warnte noch einmal dringend vor schwerttragenden Yōkai.

Allerdings sah er sehr wohl, dass mein Bruder den Mund verzog. „Akari, du solltest mir glauben.“

„Ja, natürlich, sensei. Aber ich kann mir nicht vorstellen … ich meine, wir sind klein und schnell.“

„Das genau ist dein Problem. Und vermutlich auch des Einen oder Anderen hier. Ihr könnt es euch nicht vorstellen, weil ihr es nie erlebt habt. Und so habt ihr zum falschen Zeitpunkt vermutlich zu viel Mut.“

„Ich bin nicht feige,“ fuhr Akari prompt auf.

„Weil du dir nichts vorstellen kannst.“ Unser Dorfvorsteher klang scharf. „Angst zu haben ist für einen Flohgeist überlebenswichtig. Lieber einen Sprung zu viel als zu wenig. Nur ein Dummkopf hat keine Angst!“ Er stand auf. „Wir gehen jetzt und üben draußen ab heute jeden Tag den wichtigsten Sprung eures Lebens. Ihr werdet damit weit kommen, sehr weit, aber ihr werdet die Richtung nicht genau bestimmen können. Gleich, wenn ihr einer gefährlichen Lage entkommen wollt.“
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es mag gut sein einen Sprung zu kennen, der einen weit führt, aber, wenn man die Richtung nicht bestimmen kann...? Das nächste Kapitel bietet Myouga allein zuhause, zu ja, mit Meister Mikoto, sowie ein bis zwei Kathastrophen (von Verlobungen mal abgesehen....)


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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Morgi
2022-11-25T07:32:24+00:00 25.11.2022 08:32
Hallo!

Ich sitze auf glühenden Kohlen, ob sich Myouga doch noch der väterlichen Aufgabe widmet (nicht, weil er muss, sondern weil ihn eine hübsche Flohdame aus den verstaubten Studien lockt; immerhin scheint er für nichts anderes Augen zu haben) und gestehe, dass ich die Vorstellung des einzelnen, rotglühenden Auges beunruhigend fand. Man konnte es so schlecht einordnen, die Befürchtungen überschlagen sich, wer und wie viele ... und ja, auch wenn klar war, dass es kein ruhiges (obwohl sehr schön geschildertes) Fest bliebe, ist gerade das Abbrechen von Mama Nene und Mikoto ein weiterer Grund, sich an den Nägeln zu knabbern. Sie verbergen etwas. Mikoto verlor Eltern und Verlobte, dabei ist bei Flöhen nicht viel Futtermasse zu erwarten. Insgesamt fängt es fantastisch das harte Leben ein, das Festbeißen an der Hauptaufgabe "Nachwuchs" und das Bewusstsein, wie wenig man über die Fremde weiß.
Schön übrigens zu sehen, dass Myouga schrittweise den Wert der Feigheit zu schätzen lernt und sich um des Dorfvorsteherposten Willens im Mut bewies. Das fiele dem später ja nur unter Drohungen ein, behaupte ich. Jaja, die Weisheit ...

Viele Grüße, Morgi


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