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Vogelfrei

von

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Die Narben

Es war die denkbar schlimmste Situation, die Toshinori einfiel, als sich Shirakumo zu erkennen gab. Zweifelsohne erkannte dieser, dass sie mit einem Dämon zusammenarbeiteten. Wie sollten sie sich da herausreden? Es gab keine Lüge, die so etwas rechtfertigen würde – und Hawks auszuliefern, war keine Option. Dieser hatte ihnen im Kampf gegen die blutsaugenden Dämonen erneut zur Seite gestanden, war ihnen ein verlässlicher Kamerad gewesen. Nein, sie konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen – und zu seiner Überraschung schien Enji das ebenso zu sehen, denn er trat vor den Dämon. Auch Aizawas verbissener Gesichtsausdruck zeugte davon, dass er nicht vorhatte, vor seinem Freund zu weichen. Und Hawks? Dieser schien wie erstarrt zu sein, sah merklich nervös von einem zum anderen, offenbar nicht wissend, wie er sich verhalten sollte. Sein erster Impuls war es vermutlich, die Flucht zu ergreifen, doch gleichwohl schien er sie nicht verlassen zu wollen.

Shirakumo musterte sie vier mit einem nachdenklichen Ausdruck, den Toshinori nicht zu deuten vermochte, dann atmete er hörbar aus.

„Die Hautkrankheit kam mir gleich komisch vor, aber nun…ich habe Shouta vertraut. Ich dachte mir schon, dass es einen guten Grund für solch eine Lüge geben muss – nur habe ich nicht unbedingt erwartet, dass Ihr mit einem Dämon im Bunde seid.“

Enji neben ihm trat vor, auch wenn er keinen sonderlich festen Stand hatte – die Wunden mussten ihm zu schaffen machen.

„Glaubt uns, das haben wir ebenso wenig erwartet…oder gewollt, aber dieser Dämon…ich stehe in seiner Schuld.“

Toshinori nickte zustimmend, sah Shirakumo fest an.

„Ihr habt gut daran getan, Eurem Freund zu vertrauen. Hawks ist unser Kamerad. Ohne ihn wäre einer von uns jetzt vielleicht tot. Doch Ihr müsst verstehen, dass wir Euch nicht die Wahrheit sagen konnten.“

Shirakumo hörte ihnen ruhig zu, die Brauen zusammengezogen. Es hing von dessen Entscheidung ab, was nun passieren würde. Wenn sie fliehen mussten, würde das einen Rattenschwanz mit sich ziehen und bald würden sie sich bestimmt nirgendwo mehr blicken lassen können.

„Willst du nichts sagen, Shouta?“, fragte Shirakumo plötzlich und schaute seinen Freund an.

Dieser schnaubte leise.

„Es wurde alles gesagt. Ob du uns glaubst oder hilfst, ist deine Entscheidung.“

Seine Stimme klang heiser, was vermutlich auch an seinem gequetschten Hals lag. Toshinori war froh, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Shirakumo blickte Aizawa an, verzog in den ersten paar Sekunden keine Miene.

„…du hast dich wirklich kein Stück verändert. Nun gut.“

Dann wandte er sich Hawks zu.

„Du solltest ungesehen zurück zum Schloss fliegen. Ich möchte einen Aufruhr vermeiden, wie du sicherlich verstehst. Bleib auf dem Zimmer, bis Ihr erneut loszieht, und halte dich weiterhin bedeckt. Die drei haben nämlich Recht. Wenn du ihnen im Alleingang folgst, töten sie dich noch…und damit hätten wir unsere Geheimwaffe verloren.“

Hawks starrte den Blauhaarigen an, als erwarte er einen Hinterhalt. Tatsächlich zögerte er, flog nicht sofort los, sondern sah hilfesuchend zu ihnen, was ungewöhnlich genug war.

„…Ihr stellt uns eine Falle?“, kam es von Enji, der dies ebenso wenig glauben konnte wie Toshinori.

„Eine Falle? Nein. Glaubt nicht, dass es mir gefällt, einen Dämon so nahe an meine Frau und mein ungeborenes Kind heranzulassen – aber wenn ich die Wahl zwischen einem Freund von Euch und den Mördern meiner Leute habe, fällt mir die Entscheidung leicht. Außerdem vertraue ich Shouta nach wie vor.“

Ein Lächeln zuckte um Shirakumos Lippen, als er seinen Freund ansah, welcher seinen Blick erwiderte.

„Für einen Fürsten bist du viel zu leichtgläubig“, brummte er, woraufhin Shirakumo lachte.

„Meiner Meinung nach ist man kein guter Fürst, wenn man sich auf Vorurteile verlässt und seine Augen verschließt. Nun flieg schon, Dämon…ehe ich es mir noch mal überlege.“

Hawks haderte erneut mit sich, doch dann spreizte er seine Flügel und verschwand in der Dunkelheit. Shirakumo sah ihm kurz nach, ehe er ihnen bedeutete, ihm zu folgen.

„Nun kommt schon, schließlich seid Ihr verwundet. Jemand sollte Euch zusammenflicken, bevor Ihr noch Euren Wunden erliegt und ich mir neue Krieger suchen muss.“

Dem hatte niemand etwas entgegenzusetzen, sodass sie der Aufforderung ohne Widerspruch Folge leisteten.
 

Toshinori fiel es immer noch schwer, zu glauben, dass Shirakumo ihre Verbindung mit Hawks einfach so hinnahm, weil er und Aizawa Freunde waren. Andererseits waren Enji und er zudem ehrbare Männer, deren Hilfe er benötigte, zumal er der Szene von zuvor zumindest teilweise beigewohnt hatte. Dennoch…selbst Enji und er hatten ihr Misstrauen gegenüber Hawks zunächst nicht ablegen können. Dass Shirakumo so schnell dazu in der Lage war, war für Toshinori nicht nachvollziehbar. Doch eine Falle wollte zu dem bisher freundlichen Mann nicht passen.

Ob Aizawa der Sache traute? Er würde später mit diesem unter vier Augen reden, denn dieser kannte Shirakumo am besten.

„Dich ohne deine Wachen rauszuschleichen, war töricht“, bemerkte Aizawa trocken, während sie den Weg zum Schloss passierten.

Der Blauhaarige schmunzelte und warf ihm einen amüsierten Blick zu.

„Vermutlich war es das. Doch ich hatte so ein Gefühl, dass es besser sein würde, allein zu gehen. Du solltest froh darüber sein.“

„…du bist derselbe Narr wie früher“, kam es leise zurück, doch Shirakumo schien sich nicht beleidigt zu fühlen.

„Nun, da ich bisher noch recht lebendig bin, scheint meine Art, die Dinge zu regeln, gar nicht so verkehrt zu sein. Natürlich könnte ich Euch auch alle drei aufgrund des Verbrechens, mit einem Dämon gemeinsame Sache zu machen, einkerkern und hinrichten lassen, ebenso wie besagten Dämon selbst. Doch was würde mir dies bringen? Diese anderen Dämonen wären weiterhin frei, Menschen würden weiterhin sterben…“

„Ehm, wir sind Euch schon sehr dankbar, dass Ihr dies nicht tut“, meinte Toshinori mit einem schiefen Lächeln. „Und wie Ihr sagt, es würde auch nichts im Positiven bewirken.“

„Ja. Hört einfach nicht auf Aizawa. Anscheinend legt er es darauf an, dass Ihr Eure Entscheidung überdenkt…“, fügte Enji hinzu.

Aizawa warf ihnen beiden einen finsteren Blick zu, erwiderte aber nichts darauf, während Shirakumo bloß lachte. Scheinbar kannten sie sich wirklich gut, so gelassen, wie der Fürst auf die Worte reagierte, die doch recht beleidigend waren. Shirakumo musste trotz dessen abweisender Art eine hohe Meinung von ihm haben. Das war wohl ihr Glück.
 

Nachdem sie ins Schloss zurückgekehrt waren, hatte Shirakumo Heiler zu ihnen beordert und sie versorgen lassen. Toshinori entging nicht, dass Enji währenddessen stiller wurde, sich wohl Gedanken über die Sache mit dem Blut machte. Wer konnte es ihm verübeln? Sie hatten es ihm zwar aus guten Gründen verheimlicht und auch nicht gewusst, dass dadurch eine Verbindung entstehen würde, trotzdem war das sicher ein Schlag in den Magen für seinen Freund. Hoffentlich würde Enji verstehen, dass es keine böse Absicht gewesen war, doch ihn jetzt darauf anzusprechen, war vermutlich zu früh. Zumal es fraglich war, ob dieser fremde Dämon die Wahrheit gesagt hatte. Hawks hatte es zwar nicht abgestritten, aber die genaue Bedeutung war nicht eindeutig. Gefährten hatte er Enji und Hawks genannt. War das der Grund dafür, dass Hawks seinem Freund das Leben gerettet hatte? Lag es an der Verbindung durch das Blut? Und änderte das etwas an seinen Taten?

Als Enjis Wunden gereinigt und versorgt waren, wandte sich dieser direkt ab.

„Enji“, ließ Toshinori ihn noch mal innehalten. „Es war…keine böse Absicht. Wir wussten nicht-“

„Ehrlich gesagt, will ich gerade nichts davon hören“, erwiderte sein Freund und klang eher erschöpft als wütend. „Wir reden morgen. Eventuell.“

Und damit verließ er den Raum, verschwand, um auf sein Zimmer zu gehen. Ob er wohl Hawks aufsuchen würde, um die Angelegenheit zu klären? Er würde sich besser erstmal nicht einmischen.

Vor allem, da er noch mit Aizawa, welcher bereits gegangen war, sprechen wollte.
 

Als Toshinori die steinernen Treppen hochstieg und gerade um die Ecke zu ihren Zimmern abbiegen wollte, hörte er leise Stimmen und hielt reflexartig inne.

„…mir sagen können.“

„Ich wusste nicht-“

„Du kennst mich lange genug, um zu wissen, dass du mir vertrauen kannst.“

„…“

„Und wie damals biete ich dir erneut an, hier zu bleiben. Du musst nicht unter Menschen leben, die dich nicht wertschätzen…oder dich in Gefahr bringen, indem du weiter mit den Kriegern reist. Wenn die Arbeit getan ist, steht es dir frei, weiterzuziehen oder an meiner Seite zu bleiben.“

„…“

Die darauffolgende Stille verursachte ebenso wie die Worte ein unangenehmes Gefühl bei Toshinori. So als hätte man ihn mit einem Schwall kalten Wassers übergossen.

„Überlege es dir. Mehr verlange ich nicht, Shouta. Du wärst meine rechte Hand. So, wie ich es schon damals wollte. Du weißt nicht, wie schwer es ist, ehrliche Männer zu finden, die mir den Rücken stärken, mit was sie auch bestochen werden.“

„Oboro…“

„Wie gesagt, ich würde es mir wünschen, aber die Entscheidung liegt allein bei dir.“

„Ich…denke darüber nach.“

„Das freut mich. Dann ruh dich jetzt besser aus und hab eine gute Nacht.“

„Hm…“

Um nicht den Eindruck zu erwecken, gelauscht zu haben, trat Toshinori auf den Gang, wo Shirakumo noch mit Aizawa stand, die Hände auf dessen Schultern gelegt. Etwas daran missfiel ihm, vermutlich die Vorstellung, dass der Einsiedler tatsächlich hier bleiben könnte. Es war ein großzügiges Angebot, das die meisten sofort angenommen hätten. Dennoch…Toshinori hatte sich an Aizawa gewöhnt, sah ihn als einen Teil ihrer Gruppe. Es war lächerlich, doch es fühlte sich an, als würde Shirakumo ihn ihnen wegnehmen. Dabei waren ihm solche Empfindungen eigentlich fremd, denn jeder Mensch sollte das tun, was am besten für ihn war – und sollte er Aizawa solch eine Position nicht gönnen?

„Oh Yagi, Ihr seid es“, wandte sich Shirakumo lächelnd an ihn und löste sich von Aizawa, der plötzlich wieder blass wirkte. „Auch Euch eine geruhsame Nacht. Wir besprechen uns morgen wegen dieser Dämonen.“

„Ja. Natürlich. Habt Dank für Eure Großzügigkeit“, erwiderte Toshinori und versuchte zu lächeln.

„Jederzeit.“

Shirakumo zwinkerte, ging dann an ihm vorbei, woraufhin sich Aizawa abwandte, die Tür zu seinem Zimmer öffnete.
 

„Aizawa-san, wartet.“

Der Angesprochene hielt inne, warf ihm einen monotonen Blick über die Schulter zu. Sein Hals war bandagiert worden, um die verletzte Haut dort zu schützen. So gesehen ging es Toshinori noch am besten, schließlich hatte er bloß einen verstauchten Arm.

„Können wir uns kurz unterhalten?“

Man sah dem anderen Mann an, dass es ihm widerstrebte, dennoch wies er ihn nicht sofort ab, wie die Male zuvor.

„Ihr habt uns belauscht.“

Toshinori räusperte sich auf die Feststellung hin.

„Nun…was soll ich sagen…ja. Aber…ich möchte nicht deswegen mit Euch sprechen. Also nicht nur deswegen.“

Aizawa verengte leicht die dunklen Augen, maß ihn mit einem prüfenden Blick, ehe er schnaubte und ins Zimmer ging. Die Tür ließ er dabei offen, was Toshinori als Einladung verstand, ihm zu folgen. Er schloss die Tür hinter sich, sah sich kurz im Raum um, der ebenso ausgestattet war wie sein eigener. Dann glitt sein Blick zu Aizawa, der sich mit dem Rücken zu ihm ans offene Fenster gestellt hatte und hinaussah.

„Dann redet“, brummte er, ohne sich umzudrehen.

Innerlich seufzte der Blonde, blieb für einige Sekunden unschlüssig im Raum stehen, ehe er sich neben den anderen Mann stellte. Draußen war es immer noch dunkel, doch in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Vermutlich waren die Dämonen nachtaktiv. Jedenfalls blieb zu hoffen, dass dies eine potenzielle Schwachstelle sein könnte.

„Aizawa-san, seit wir hierhergekommen sind, benehmt Ihr Euch eigenartig“, begann er, ehe er mit seinen Gedanken noch weiter zu ihrem Dämonenproblem abschweifte. „Ihr habt alles versucht, um diesen Ort nicht betreten…oder Shirakumo-sama nicht begegnen zu müssen. Es wundert mich, denn anscheinend ist er ein gerechter und freundlicher Mann. Er schätzt Euch, das ist kaum von der Hand zu weisen.“

Er bemerkte, wie Aizawa die Lippen aufeinanderpresste und seine Haltung angespannter wurde.

„Was also ist der Grund dafür, dass Ihr ihn wie einen Feind behandelt?“, sprach Toshinori aus, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging. „Was hat er Euch angetan?“

Vielleicht wagte er sich zu weit vor, aber er konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten. Wenn Shirakumo nicht der war, für den sie ihn hielten, war es gut, das zu wissen. Wenn da noch eine andere Seite war, die ihnen allen gefährlich werden konnte.

Aizawa reagierte zunächst nicht, dann atmete er hörbar aus und fuhr sich über das Gesicht. Toshinori zweifelte daran, dass er eine Antwort erhalten würde, rechnete viel eher mit einer erneuten Abfuhr – wurde jedoch überrascht.

„Er hat mir nichts…angetan“, erwiderte er missmutig. „Er ist…wie Ihr gesagt habt. Ein gerechter und freundlicher Mann. Er ist…“

An diesem Punkt schüttelte Aizawa den Kopf und ging zum Tisch, auf dem Wein stand, von dem er sich einen Becher füllte und ihn herunterkippte, als handele es sich dabei um Wasser.

„Uhm…“

„Na schön. Damit Ihr endlich Ruhe gebt, werde ich Euch davon erzählen. Danach will ich kein Wort mehr darüber hören, ansonsten lernt Ihr mich kennen. Verstanden?“

Bei dem wütenden Funkeln in Aizawas Augen konnte Toshinori nicht anders, als zu nicken. Der andere schien sich damit zufrieden zu geben und setzte sich in einen der Sessel, während er sich gleich noch einmal nachfüllte. Toshinori setzte sich in den anderen Sessel, spürte das weiche Leder unter seinen Fingern.
 

„Es ist weit weniger...spektakulär, als Ihr denkt, also erwartet keine spannende Geschichte“, brummte Aizawa mit bitterem Unterton, während er in seinen Becher schaute. „Und verschont mich mit jeglichem Geschwätz über Moral.“

Toshinori nickte nur, während er den anderen abwartend ansah; scheinbar fiel es diesem wirklich nicht leicht, wenn er so viel Wein trinken musste. Aizawa nahm einen erneuten Schluck, ehe er zum Sprechen ansetzte.

„Shirakumo und ich haben uns kennengelernt, wie er es erzählt hat. Ich habe das Waisenhaus damals schnellstmöglich verlassen und bin ohne festes Ziel umhergezogen, bis ich ihn traf. Er war…anders als die Menschen, die ich bis dahin kannte. Ich meine, Ihr habt ihn kennengelernt. So war er auch damals. Nur noch schlimmer. Er hat mich in den Wahnsinn getrieben mit seinem kopflosen Verhalten und seiner positiven Art. In gewisser Weise ist er wie Ihr.“

Toshinori blinzelte, wusste nicht, ob das nun eine Beleidigung oder ein Kompliment sein sollte. Sie waren sich ähnlich? Nun, das war wohl nicht von der Hand zu weisen, weswegen er bloß verunsichert lächelte und weiter zuhörte.

„Titel und Rang haben ihn nie interessiert. Wir wurden Freunde und verbrachten Zeit miteinander. Viel Zeit und auch, wenn ich im Schloss nicht gern gesehen war, hat er immer einen Weg gefunden, sich mit mir zu treffen. Er hat schon damals immer davon geredet, dass ich seine rechte Hand sein werde, wenn er Fürst wird. Wir haben viel herumgesponnen.“

Toshinori nickte verstehend.

„Es scheint, als hätte sich seine Meinung nicht geändert. Es ist eine…ehrbare Aufgabe“, gab er zurück, obwohl es ihn gleichermaßen schmerzte. „Ihr könnt Euch sehr glücklich schätzen.“

Definitiv die falschen Worte, auch wenn er es nur gut gemeint hatte. Aizawas Blick sagte ihm, dass er sich kein bisschen glücklich schätzte.

„Meint Ihr, ja?“, murrte er und nahm noch einen Schluck Wein. „Wie gesagt, wir wurden Freunde. Wir wurden älter. Wir trafen uns heimlich, gegen den Willen seiner Eltern. Wir trainierten zusammen, badeten zusammen im See…schliefen zusammen in der verlassenen Scheune, die unser Treffpunkt war.“

Aizawas Blick bohrte sich regelrecht in den seinen.

„Und wir probierten zusammen Dinge aus, die eigentlich verpönt waren.“

Toshinori legte die Stirn in Falten, denn er verstand nicht sofort, was dieser meinte.

„Erst nur ein Kuss. Eine Berührung. Am Anfang war es reine Neugierde, aber dann hat es sich so gut angefühlt, dass wir es häufiger gemacht haben.“

Toshinori schaute ihn an, brauchte einen Moment – dann weitete er seine Augen und spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Oh. Oh! Ein seltsames Gefühl, das er nicht deuten konnte, machte sich in seinem Magen breit. Scham möglicherweise?

„Ihr könnt das vielleicht nicht verstehen oder findet es verwerflich, aber für mich war es die schönste Zeit meines Lebens. Irgendwohin zu gehören. Zu jemandem.“

Fand er es verwerflich? Toshinori war sich nicht sicher, denn so, wie Aizawa davon redete, ließ es nur einen Schluss zu.
 

„Ihr habt ihn geliebt“, sprach er seine Gedanken aus und spürte, wie sein Herz raste.

Für jemanden wie ihn selbst, der noch nie so tiefe Gefühle für jemanden empfunden hatte, war das eine recht intime Angelegenheit. Vor allem mit demselben Geschlecht, was als unangemessen galt und lieber hinter verschlossenen Türen abgehalten wurde. Doch war das Geschlecht hierbei wirklich von Belang? Liebe war doch sicherlich nicht daran gebunden – jedenfalls fiel es ihm schwer, dies zu glauben.

Aizawa schnaubte leise.

„Ja. Ich war so dumm“, entgegnete er und griff wieder zum Wein. „Wie Ihr unschwer erkennen konntet, beruhte unsere Zuneigung nicht in diesem Maße auf Gegenseitigkeit. Bloß war mir das damals nicht bewusst. Von daher war es ein recht heftiger Schlag ins Gesicht, als er meinte, dass unsere Treffen nicht mehr auf diese Weise stattfinden könnten. Dass es da ein Mädchen gibt, dem er den Hof machen und das er ehelichen will.“

Toshinori wusste nicht, was er dazu sagen sollte; offensichtlich hatte Shirakumo Aizawa damals das Herz gebrochen. Das musste schmerzhaft gewesen sein. Und prägend.

„Ich denke nicht, dass er es aus Boshaftigkeit getan hat oder dergleichen“, hörte er den anderen murmeln. „Ich bin nicht mal sicher, ob er erkannt hat, dass ich…jedenfalls habe ich versucht, darüber hinwegzukommen. Was nicht funktioniert hat. Also bin ich fortgegangen. Aber na ja, es war nirgends dasselbe. Ihr mögt es aufgrund Eurer positiven und etwas naiven Einstellung zu Euren Mitmenschen verdrängen, doch diese Welt ist ein Haufen Scheiße.“

Mit dieser sehr direkten Feststellung langten Aizawas vernarbte Finger zum wiederholten Male nach der Karaffe mit Wein, doch Toshinori war schneller, schnappte sie sich vor ihm.

„Ich denke, Ihr hattet genügend Wein, Aizawa-san“, meinte er vorsichtig, woraufhin der andere ihn böse anfunkelte.

Wenigstens bestand er nicht auf den Alkohol, sodass Toshinori die Karaffe wieder auf dem Tisch absetzte.

„Jedenfalls, wie ich soeben sagte, sind die Menschen widerlich. Ehebrecher, Vergewaltiger, Mörder, Lügner…um nur einige davon aufzuzählen. Also falls Ihr Euch, wie Euer Freund, fragt, weswegen ich die Gesellschaft von Katzen und das abgeschiedene Leben im Wald vorziehe – sucht Euch etwas davon aus.“

Ja, definitiv genug Wein für heute. Die Reaktion war sogar für einen verletzten Aizawa unerwartet heftig, trotzdem da sicher die Wahrheit drin steckte.

Es tat ihm leid, dass Aizawa in seinem jungen Alter solch eine schlechte Erfahrung gemacht hatte. Anscheinend waren darauf noch viele weitere gefolgt, weswegen es wohl kein Wunder war, dass der Einsiedler oft so negativ eingestellt war.
 

Einem inneren Impuls folgend, räusperte er sich, ehe er sich über die Lehne seines Sessels und den kleinen Tisch beugte, um nach Aizawas Hand zu greifen und diese in seine beiden Pranken zu nehmen. Ein verdutzter Blick traf erst ihre Hände und dann Toshinori, doch wenigstens zog er die seine nicht weg – was vielleicht auch der Menge an Wein zu verdanken war.

„Was Euch widerfahren ist, tut mir Leid, Aizawa-san. Niemand sollte auf solch schmerzhafte Weise zurückgewiesen werden. Egal, ob von einem Mann oder einer Frau. Ich mag nicht viel davon verstehen, aber ich würde niemals jemanden für meinen…Spaß…benutzen und ihn dann fallen lassen.“

Aizawa starrte ihn einfach nur an, was dafür sorgte, dass Toshinori das Blut in die Wangen schoss.

„Also, ich…ich wollte nicht…ich meine, ich wollte…also, Ihr wisst ja, wie ich dazu stehe. Zum Beischlaf und der Ehe und ich…also…was ich meinte, war, dass ich Euch…dass ich niemanden dafür ausnutzen würde. Weil das für mich etwas sehr…Intimes ist, das ich nur mit der Person, die ich liebe, teilen will.“

Hoffentlich klang es nicht so schrecklich peinlich, wie es sich anfühlte. Toshinori bemerkte, dass er immer noch Aizawas Hand in den seinen hielt und er schluckte hart, war spätestens jetzt knallrot. Der andere Mann maß ihn mit einem langen, sehr stechenden Blick.

„Ja. Ihr habt Euren Standpunkt deutlich gemacht. Keine Sorge“, kam es von diesem, ehe er versuchte, seine Hand zu lösen.

Toshinori wusste selbst nicht genau, warum er sie festhielt. Aber er tat es. Tief holte er Luft, sammelte sich kurz.

„Ich will Euch noch sagen, dass ich Eure Gegenwart schätze…und ich es schön fände, wenn Ihr uns weiterhin begleitet. Auch nachdem wir die Dämonen hier unschädlich gemacht haben. Unsere anregenden Diskussionen würden mir fehlen.“

Er grinste schief, hoffend, dass Aizawa verstand, dass er es bloß neckend meinte. Eben dieser wusste im ersten Moment wohl nicht, wie er reagieren sollte.

„Euer Freund würde es wohl eher begrüßen, würden sich unsere Wege trennen.“

Daraufhin musste Toshinori lachen.

„Ach was. Enji würde es nicht zugeben, aber ich denke, Ihr würdet ihm ebenso fehlen. Vorausgesetzt, er verzeiht uns die Sache mit Hawks‘ Blut.“

„Eher nicht.“

Toshinori lächelte daraufhin, ließ nun aber Aizawas Hand los, welcher sie langsam zurückzog.

„Danke, dass Ihr Euch mir anvertraut habt. Das bedeutet mir wirklich viel“, fügte er noch mal nachdrücklich an.

„Nun, Eure Aufdringlichkeit ließ keine andere Lösung zu.“

„Da habt Ihr wohl Recht“, gab er zurück. „Verzeiht, wenn ich Euch vom Ruhen abgehalten habe. Ich werde mich nun zurückziehen und Euch nicht weiter stören. Wir sollten unsere Kräfte schonen, damit wir so schnell wie möglich unsere Pflicht erfüllen können.“

Aizawa schien etwas sagen zu wollen, doch letztendlich nickte er bloß, wich seinem Blick aus.
 

Toshinori drückte dessen Schulter kurz und lächelte den anderen warm an.

„Habt eine angenehme Nacht.“

„Ja…Ihr auch…“

Er spürte Aizawas Blick in seinem Nacken, kaum dass er diesem den Rücken zugewandt hatte, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Wenige Sekunden blieb er vor der Tür stehen, ließ die Geschichte noch einmal Revue passieren. Zumindest musste er nicht mehr befürchten, dass Aizawa hier bleiben würde, und es hatte auch nicht danach geklungen, als würde er ihre Gruppe verlassen.

Bei dem bloßen Gedanken zog sich sein Inneres wieder zusammen. Ja, der andere war ihm wichtig geworden…und es irritierte ihn wie sehr. Waren das wirklich nur freundschaftliche Gefühle, die er für den Einsiedler hegte? Vielleicht verwechselte er da etwas. Er würde sich damit befassen und sich darüber klar werden müssen, was er wollte, wenn sie diese Dämonen unschädlich gemacht hatten. Und was Aizawa wollte. Toshinori war immer noch nicht sicher, ob es gut war, dass er Shirakumo laut Aizawa so ähnlich war. Nicht, wenn Shirakumo solche Narben bei dem Einsiedler hinterlassen hatte.

Innerlich seufzte er, ging dann zu seinem Zimmer. Was für eine schwierige Situation…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Huhu!
Da bin ich wieder!
Mit einem recht EraserMight-lastigem Kapitel, aber was will man machen - ich liebe sie halt. :D
Plus ein paar mehr Informationen zu Aizawas Vergangenheit.
Gebetat und unterstützt wie immer von der lieben Lichtregen. <3
Hoffe, ihr hattet Freude an dem Kapitel. :)

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: Lichtregen
2021-06-20T11:38:22+00:00 20.06.2021 13:38
Huhu!
Sorry, dass ich erst heute schreibe. Wollte eigentlich schon gestern, aber beim Saubermachen hatte ich Langeweile und bin (das ist hier zu kompliziert zu erklären warum) bei den ersten Folgen von Wedding Peach hängen geblieben. Bis ich dann zur Hochzeit musste… Oh Mann, waren das schlimme Zeiten damals… aber genug davon, auf zum eigentlichen Kapitel!
Shirakumo hat mich an Anfang echt gekillt. XD Ich dachte echt, weil der Cliffy auch so fies war, dass jetzt irgendwelche Konsequenzen für die Truppe kommen. Aber Pustekuchen! Als Shirakumo meinte, er vertraue Aizawa, dachte ich genau das, was dieser dann ausgesprochen hat: „Für einen Fürsten bist du viel zu leichtgläubig.“ XD
Enjis Kommentar, Aizawa würde Shirakumo mit seinen Kommentaren noch umstimmen, hat mich auch sehr belustigt. :)
Jaja, und dann der lauschende Toshi. Hätte ich ihm als so ein Ehrenmann gar nicht zugetraut. Aber er ist entschuldigt, immerhin geht es ja um Aizawa und ob dieser vielleicht ihre Gruppe verlassen wird. Das trifft Toshi natürlich besonders hart. ;)
Das Kapitel an sich war ja eher eins von den Kürzeren und Ruhigeren, aber nach der ganzen Action müssen die Protagonisten auch erst mal Zeit haben, sich über alles Gedanken zu machen.
Und so erfahren wir endlich, was es mit Aizawa und Shirakumo auf sich hat. Wobei Aizawa sich dazu erst einmal Mut antrinken muss. Toshis Reaktion darauf „Uhm…“ kam echt gut. XD
Dass Aizawa gegenüber Toshi anspricht, dass dieser und Shirakumo sich ähneln, und gleichzeitig sagt, dass er Gefühle für Shirakumo hegte, sie aber nicht erwidert wurden, lässt Toshi ja hoffentlich doch ein wenig hoffen, dass sein Interesse an Aizawa (er selbst hat es ja auch noch nicht als mehr verstanden) auf fruchtbaren Boden stoßen kann. :) Toshis Reaktionen waren auch so süß und… unschuldig, haha. So typisch er. Finde ich gut, dass es nur eine Sache unter Jugendlichen war, sich auszuprobieren, wobei halt Aizawa die Arschkarte gezogen und Gefühle entwickelt hat.
Toshis Feststellung „Ihr habt ihn geliebt.“ fand ich sehr rührend.
Aizawas Worte, die zeigen, wie verbittert ihn diese Erfahrung gemacht hat und er daher die Gesellschaft von Menschen meidet, haben mir sehr leidgetan. :( Hinter der harten Schale steckt halt doch ein weicher Kern. Und umso schöner ist es, dass sich Aizawa Toshi öffnen und ihm das alles erzählen konnte. Bin daher gespannt, wie es zwischen den beiden weitergeht.
Toshis Worte, er würde niemanden so hintergehen, waren irgendwie total unangenehm, ein wenig Fremdschämen, aber er ist in dieser Sache so unbeholfen, dass es, denke ich, genau das war, was du erreichen wolltest. :) Ich hoffe jedenfalls, dass Aizawa ihm das glaubt.
Wobei die Ähnlichkeit zwischen Toshi und Shirakumo tatsächlich auch zum Problem für Aizawa werden könnte. Allerdings gibt es ja den entscheidenden Unterschied, dass Toshi von Aizawas Erfahrungen weiß und er daher hoffentlich nicht so blind sein wird, sollte es zwischen den beiden zu mehr kommen.
Ich bin gespannt, wie du das löst. Und natürlich noch mehr auf das, was zwischen EndHawks besprochen wird. :)
Ld Ali :-*
Von:  27mika-chan
2021-06-14T21:42:59+00:00 14.06.2021 23:42
Hiii, ich bin über deine Story gestolpert und habe sie erst einmal verschlungen. Ich liebe deine Story und kann das nächste Kapitel gar nicht abwarten. Ich hoffe du schreibst schnell weiter.
Liebe Grüße
Mika


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