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Ai no Scenario

von

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Sehr geehrter Herr Jirokichi Suzuki,

Gerne nehme ich Ihre Herausforderung an. Am 31. Jänner um 21 Uhr werde ich, dem Ruf des blauen Prismas gerecht über das Wasser spazieren und mir den Stein aneignen.

Gezeichnet: Kaitou KID

 

PS.: Ich freue mich auf unser Wiedersehen!

 

Shinichi ließ die Karte sinken und verzog das Gesicht. Er spürte die gespannten Augenpaare auf sich ruhen, die erwartungsvollen Blicke, doch er wusste nicht, was er sagen sollte, was er sagen konnte. Die Warnung war eindeutig, das Datum, die Uhrzeit, alles war da.

Aber da war mehr.

Da war ein Code.

Ein Code, den er niemandem mitteilen konnte. Niemandem mitteilen würde. Sie würden es nicht verstehen. Am aller wenigsten Jirokichi selbst.

Die Worte waren immerhin nicht für ihn bestimmt.

„Und?“, erklang die Stimme des alten Mannes neben ihm, „Was sagst du dazu? Was könnte er mit dem PS meinen?“

„Ich denke nicht“, begann Shinichi langsam, „dass das PS irgendeine Bedeutung hat. Ich denke, er hat von Ihrer Abwesenheit gehört, von Ihrer langen Reise und freut sich jetzt einfach wieder auf eine weitere Herausforderung. Dass er ankündigt ‚über das Wasser spazierend‘ zu kommen bedeutet wohl, dass wir uns auf eine weitere Meisterleistung seinerseits gefasst machen können, so wie der Diebstahl des Blue Wonders oder dem Teleportation-Trick.“

Shinichi erhob sich langsam von seinem Platz hinter Jirokichi’s Schreibtisch und schritt zu dem großen Fenster. Er starrte hinaus, in die nebelverhangene Stadt und drehte die Karte in seiner Hand.

„Also können wir das PS besten Gewissens ignorieren. Was ich aber dennoch nicht verstehe ist, warum KID die Ankündigung auf einem Kreuz-Ass geschickt hat? Und das PS auch noch, statt zum restlichen Text am Kartenrücken einfach mitten in die Spielkarte selbst reingeschrieben hat“, murmelte Nakamori vor sich her.

Shinichi betrachtete die Karte in seiner Hand.

Weil er mich damit erreichen wollte, schoss ihm durch den Kopf, aber er schwieg. Er hatte es gewusst als er das PS zum ersten Mal gesehen hatte. In eleganter Handschrift, direkt unter dem Kreuz-Symbol.

Das Kreuz, welches ein Kleeblatt repräsentierte.

Ein Kleeblatt, dass man auf Englisch auch Clover nannte. In Katakana: クローバー

Kuroba.

Und dann noch das Ass. Die an sich höchste Karte im Deck, und dennoch steht sie stellvertretend für die Nummer 1. Die erste Karte im Deck.

Der erste Sohn der Wahrheit. Shinichi.

Der Oberschülerdetektiv schloss die Augen. Kaito war nachlässig geworden, der Code viel zu leicht zu entziffern. Er hatte sich anscheinend kaum Mühe gegeben sich etwas auszudenken. Warum? Und warum hatte er ihm nicht einfach eine Textnachricht geschrieben? Stattdessen verpackte er seine Nachricht in KID’s Warnung, riskierte so, dass er andere Leute auf sich aufmerksam machte. Wenn Hakuba nicht beschäftigt gewesen wäre, wenn er sich dem Fall angenommen hätte, dann hätte vermutlich längst einen Haftbefehl für den Magier ausgesprochen.

Shinichi wandte sich vom Fenster ab und schritt zurück zu Jirokichi. Er reichte ihm die Karte und meinte dann, betont lässig: „Ich denke nicht, dass das PS eine tiefere Bedeutung hat. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was er mit ‚über das Wasser spazieren‘ meint.“

Dann wandte er sich ab und Schritt auf die Tür zu, wurde jedoch von Jirokichi’s Hand an seinem Arm abgehalten weiterzugehen. „Du wirst uns doch helfen, oder, Junge?“, fragte er, mit Hoffnung in der Stimme. Shinichi seufzte: „Ich sagte doch schon, dass mich der Fall nichts angeht. Ich habe kein Interesse darin KID zu schnappen, tut mir leid.“

Dann verließ er das Büro des alten Suzuki und machte sich auf den Weg nach Hause.

 

„Und du bist sicher, dass das okay ist?“, fragte Ran unsicher nur einen Tag später. Es war halb Acht am Abend und sie stand gemeinsam mit Shinichi an der Kinokassa. Fragend hob der Detektiv eine Augenbraue an.

„Willst du den Film doch nicht sehen? Nachdem du mir tagelang damit in den Ohren gelegen hast?“

„D-Doch, ich möchte ihn sehen! Unbedingt! Aber…“, Ran’s Blick wanderte zur Seite. Sie beobachtete ein paar Menschen, die auf ihren Telefonen Livestreams vom Museum verfolgten, in welchem KID in etwas mehr als einer Stunde zuschlagen würde. Shinichi’s Blick folgte Ran’s und für einen Augenblick herrschte Stille.

Dann wandte er sich dem Typen an der Kassa zu und kaufte zwei Tickets für Schüler. Überrascht riss Ran ihren Kopf herum und starrte Shinichi an, welcher grinsend mit den beiden Tickets neben ihr stand.

„Wenn ich beim Überfall sein wollte hätte ich nicht angeboten dich hierher zu begleiten, oder? Also komm, wenn du noch Popcorn willst müssen wir uns beeilen.“

Ran’s Miene hellte sich bei Shinichi’s Worten auf. Sie strahlte, von einem Ohr zum anderen und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Popcorn. Shinichi selbst bestellte sich nur ein kleines Getränk, das könnte er problemlos stehen lassen und nur so tun als würde er was trinken. Für Ran kaufte er zum Getränk noch Popcorn. Sie wollten sich gerade auf den Weg zu ihrem Kinosaal machen, als ein junger Mann ihren Weg kreuzte, den er selbst nur allzu gut kannte: „Hakuba-kun? Was machst du denn hier?“

Der junge Brite, der gerade noch mit seiner Begleitung gesprochen hatte sah überrascht auf: „Kudo-kun? Nun, dasselbe könnte ich dich fragen.“

Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu Ran ehe er wieder Shinichi fokussierte: „Warum bist du nicht bei KID’s Raubzug?“

Shinichi verzog leicht das Gesicht: „Die Zeiten, wo ich einem Möchtegern-Dieb nachgerannt bin sind vorbei. Und was ist mit dir? Inspektor Nakamori hat mich darüber informiert, dass du schon frühzeitig eine Beteiligung an dem Fall abgelehnt hast. Warum?“

Hakuba zuckte leicht mit den Schultern und legte einen Arm um das Mädchen an seiner Seite. Shinichi sah sie das erste Mal wirklich an und erkannte sie sofort. Sie war das Mädchen, welches zusammen mit Kaito Weihnachten verbracht hatte. Das Mädchen, von dem er annahm, dass sie seine Freundin wäre.

„Aoko-san und ich hatten den Termin für unser Date schon vor Suzuki’s Herausforderung festgelegt und ich würde niemals eine Dame vertrösten, nur, weil ein dummer Dieb meint Ärger zu machen.“

„Hakuba-kun…“, Shinichi sah wie das Mädchen errötete, sah das sanfte Lächeln auf ihren Lippen, die Freude in ihren Augen.

Das Mädchen war verliebt, soviel war klar. Aber anscheinend war Shinichi einem Irrtum erlegen. Es war nicht Kaito, den sie liebte.

Es war Hakuba.

Er spürte, wie sein Herz schwer wurde, doch Hakuba’s eindringlicher Blick holte ihn sofort zurück in die Realität: „Wie es scheint hat der Kerl heute leichtes Spiel, hm?“

„Vermutlich“, Shinichi wandte sich Ran zu und schenkte ihr ein Lächeln. „Wir müssen los, unser Film fängt bald an.“

Ran nickte leicht. Sie verabschiedete sich mit einer kleinen Verbeugung und wandte sich ab. Shinichi sah noch einmal zu Hakuba: „Er gehört dir. Wenn du ihn schnappen willst, tut dir keinen Zwang an. Für mich ist die Sache erledigt.“

Dann folgte er Ran in den Kinosaal.

Einen Moment lang fragte sich der Detektiv, in welchen Film wohl Hakuba und das Mädchen – Aoko? – gehen würden. Wenn sie ihnen jetzt folgen würden, weil sie durch Zufall in denselben Kinosaal mussten wäre sein cooler Abgang komplett ruiniert und peinlich für alle Beteiligten. Doch das Pärchen entschwand in eine andere Richtung und Shinichi gestattete es sich erleichtert aufzuatmen.

„Sie war süß“, stellte Ran fest und verwirrte den Oberschüler einen Moment lang, bis ihm klar wurde, dass sie von Aoko gesprochen hatte. Shinichi zuckte mit den Schultern: „Kann sein. Ich hab nicht so genau hingesehen.“

Die beiden betraten den Saal, welcher noch nicht komplett abgedunkelt war und Shinichi führte sie zu ihren Plätzen. Er wartete, bis das Mädchen sich gesetzt hatte ehe er neben ihr Platz nahm und ihr Popcorn und Getränk, welches er für sie gehalten hatte, zurückgab. Es dauerte nicht lange bis die Lichter im Saal ausgingen und der Film auf der Leinwand zu spielen begann.

Doch Shinichi’s Gedanken trifteten ab. Er starrte auf die Leinwand, die bewegten Bilder, doch er fragte sich wie es KID wohl ging, ob er nervös war, ob er hoffte Shinichi zu sehen. Was würde er tun, wenn er Shinichi nicht beim Museum antraf? Würde er davon ausgehen, dass der Detektiv den Code nicht erkannt hatte? Nein, dafür war er zu auffällig und viel zu einfach.

Würde er ihn anderweitig kontaktieren? Würde er ihm schreiben? Oder ihn vielleicht sogar Zuhause besuchen? Würde er, so wie nach dem letzten Überfall, in seinem Schlafzimmer auf ihn warten? Ohne Maske, ohne Anzug, nur er selbst? Als Kaito?

Und wenn das der Fall sein sollte, wenn Kaito sich tatsächlich bei ihm melden würde, was sollte er tun? Sollte er mit ihm reden? Ihm erklären, dass er nicht kommen wollte? Dass er Kaito nicht sehen wollte?

Nein, das wäre gelogen. Er wollte ihn sehen, wollte mit ihm reden, aber was hätte das für einen Sinn? In einem knappen Monat hatten sie ihre Abschlussprüfungen und dann würde Shinichi das Land verlassen. Er würde nicht warten, würde keine Abschiedsparty schmeißen, sich nicht verabschieden. Er würde in der Woche nachdem sie das Abschlusszeugnis erhalten hatten in den Flieger steigen und Japan verlassen, für eine sehr, sehr lange Zeit.

Und wenn er eines Tages wieder kam würde Kaito alt und grau sein. Er würde nicht mehr in der Lage sein als Kaitou KID zu agieren, er würde eine Familie haben, Kinder, Enkelkinder. Und dann, wenn die Jahrzehnte ins Land gezogen waren und die schönen, blauen Augen alt und schwach waren, dann würde Shinichi zu ihm gehen und mit ihm reden und er würde ihm all das sagen, was ihm am Herzen lag. All die Gefühle, all die Sehnsüchte, all die Dinge, die er so gern sagen wollte aber nicht konnte, nicht durfte.

Es würde die Sache nur unnötig kompliziert machen. Für die beiden gab es keine Zukunft, das wusste der Schülerdetektiv. Und er hatte sich auch damit abgefunden.

Er versuchte sich wieder auf den Film zu konzentrieren und die Gedanken über den Magier von sich zu schieben. Er war hier mit Ran um etwas Zeit zusammen zu verbringen und er sollte versuchen es zu genießen.

Aber es gelang ihm nicht. Sein Blick wanderte immer wieder auf das Display seines Telefons, er kontrollierte immer wieder wie spät es war. Als es 21 Uhr wurde schluckte Shinichi schwer, wissend, dass Kaitou KID gerade drauf und dran war das blaue Prisma zu stehlen.

Als es 21:15 wurde wunderte er sich, ob der Magier bereits auf der Flucht war und ob die Polizei es wohl schaffen würde ihn aufzuhalten.

Als es 21:45 Uhr wurde kam auch der Film schließlich zu einem Ende und Shinichi ließ das Telefon schnell wieder in die Tasche seiner Hose gleiten ehe die Lichter im Saal wieder angingen. Ran schenkte ihm ein breites Lächeln und Shinichi erwiderte es natürlich sofort. Dann erhoben sich die beiden und verließen gemeinsam den Kinosaal, machten sich auf den Weg nach Hause.

„Wie hat er dir gefallen?“, wollte Ran natürlich sofort wissen doch Shinichi zuckte lediglich mit den Schultern: „Klassischer Liebesfilm. Sie kennen sich seit Jahren, verlieren sich aus den Augen, ein neuer Liebhaber taucht auf, der sie aber nicht wirklich glücklich macht, sie trifft ihren alten Freund und Jugendliebe wieder und, welch Überraschung, die alten Gefühle flammen wieder auf und er rettet sie aus einer Beziehung, in der sie nicht wirklich glücklich wird. Es ist ein gerne angewandtes Klischee bei Liebesfilmen, nichts sonderlich Aufregendes, aber… er war nicht so schlecht, das muss ich zugeben.“

Shinichi verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte gen Himmel. „Es war ein schönes Happy End. Dass alte Gefühle so lange Bestand haben können ist ein tröstlicher Gedanke.“

„Ich fand das Ende schrecklich.“

Überrascht sah Shinichi Ran an. Sie hielt ihre Handtasche mit beiden Händen vor der Brust und starrte ebenfalls, wie Shinichi, in die Ferne.

„Wieso?“, fragte er verwirrt, „Ich dachte du magst diese Klischees. Alte Gefühle, die wieder aufflammen, Kindheitsfreunde, die sich verlieben, Fernbeziehungen die funktionieren. All diese problematischen Beziehungen, die dann doch zu einem guten Ende finden. Ist das nicht genau deins?“

„Früher ja“, erwiderte Ran und lächelte Shinichi an. Es war bereits dunkel, die Sonne komplett verschwunden und lediglich das Licht der Straßenlaternen machte es möglich einander zu sehen. Shinichi hatte es einfacher, dank seiner vampirischen Sinne. Er sah trotz der Finsternis das Rot auf Ran’s Wangen und die kleinen Wölkchen vor ihren Lippen, wenn sie ausatmete. Es war kalt. Auch wenn er es selbst kaum spürte, so konnte er es doch sehen.

„Ihr Freund tut mir leid“, erklärte Ran schließlich und zuckte leicht mit den Schultern, „Er war so lange für sie da, hat sie durch eine schwierige Phase ihres Lebens begleitet, als der andere nicht helfen konnte, hat sie gestützt, sie aufgebaut, ist sogar mit ihr in eine neue Stadt gezogen und was macht sie? Sie rennt zu ihrer Jugendliebe. Wahrscheinlich hat sie das nicht mal aus Liebe getan, sondern einfach, weil es die sichere Wahl war.“

Shinichi blieb stehen.

„Aber die sichere Wahl ist nicht immer die richtige“, setzte Ran fort und blieb erst einige Meter später ebenfalls stehen. Sie drehte sich zu Shinichi um und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Manchmal macht es mehr Sinn ein Risiko einzugehen, weißt du? Sich auf was Neues einzulassen.“

„Ran…“

Der Oberschüler spürte das schlechte Gewissen seinen Körper raufkriechen. Er ballte die Hände zu Fäusten und senkte den Blick etwas, sah seine beste Freundin dennoch weiterhin an. Ihr Lächeln war so liebevoll, so warm, es tat weh. Das Licht der Straßenlaterne, unter der sie stand gab ihr etwas Edles, etwas Heiliges und Shinichi fühlte sich mit einem Mal wie ein Monster, welches am besten für immer in der Dunkelheit blieb, in welcher er jetzt stand.

„Warum sagst du sowas?“, seine Stimme klang angestrengt und er fuhr sich mit einer Hand fahrig durch die Haare. Er versuchte unbekümmert zu klingen, aber es war unmöglich. „So kenn ich dich gar nicht.“

„Shinichi“, sie ging auf ihn zu und hob ihre Hände. Behutsam umfasste sie sein Gesicht und schenkte ihm ein weiteres, sanftes Lächeln. Es zerriss ihm fast das Herz.

„Es war… wirklich nicht einfach, als du mich zurückgewiesen hast. Ich habe so lange auf dich gewartet und gehofft, dass wir, wenn du zurückkommst endlich mehr als nur Freunde sein können. Deine Abfuhr war… schwer zu akzeptieren.“

Er spürte die Last des schlechten Gewissens auf seinen Schultern. Oh Ran, süße Ran, wenn sie nur wüsste, dass seine Abfuhr eine Lüge war, dass er sie nur schützen wollte.

„Aber ich habe es akzeptiert.“

Sie war so stark und so schön, so mutig, so furchtlos. Er könnte ihr hier und jetzt alles sagen, er könnte sie einfach in seine dunklen Geheimnisse einweihen, in Conan, in sein Dasein als Vampir und sie mit sich nach England nehmen.

„Und ich habe akzeptiert, dass es jemand anderen gibt, den du magst.“

Shinichi’s Augen weiteten sich leicht. „Was redest du da?!“

Ran lachte, aber sie ließ den Oberschüler nicht los. „Der große Meisterdetektiv des Ostens, und dann versteht er seine eigenen Gefühle nicht? Du bist unverbesserlich.“

Langsam ließ das Mädchen ihre Hände sinken und wandte sich von ihrem besten Freund ab. „Ich freue mich“, sie sprach mit sanfter, aber eindringlicher Stimme, „dass du so viel Zeit mit mir verbringen willst, Shinichi. Aber wenn du das machst, weil du vor deinen Gefühlen davonlaufen willst, dann lass es. Du hast nur noch ein paar Monate, bevor du Japan verlässt und nach England gehst und ich werde immer deine beste Freundin sein, versprochen. Aber wenn du unerledigte Angelegenheiten hast, vor allem wenn es um Liebe geht, dann solltest du die Sachen noch klären bevor du gehst. Alles andere wäre gegenüber dem Mädchen nicht fair.“

Shinichi verzog das Gesicht. Er berichtigte Ran nicht, dass es nicht um ein Mädchen ging. Aber er wusste, dass sie recht hatte.

Das hieß, wenn er ein normaler Mensch wäre. Aber seine Situation war anders. Kompliziert. Er würde nicht einfach nur zum Studieren nach England gehen. Er würde nicht nach ein paar Jahren zurückkommen und da weitermachen wo er jetzt aufhörte.

Aber das wusste Ran nicht.

Er steckte die Hände in die Tasche seiner Jacke und schloss zu dem Mädchen auf. „Du hast recht“, murmelte er und zog sich den Schal etwas über seine Nase. „Ich werde sichergehen, dass alles geklärt ist bevor ich nach England gehe. Versprochen.“

Ran nickte zufrieden. Dann setzten die beiden ihren Heimweg fort.

 

Nachdem er Ran sicher Zuhause abgeliefert und sich von ihr verabschiedet hatte machte Shinichi sich ebenfalls auf den Heimweg. Er überlegte einen Moment lang ob er einfach nach Hause gehen sollte, entschloss sich dann jedoch dagegen. Er wollte nicht alleine in seinem Haus sitzen, in der Stille und der Dunkelheit und seinen Gedanken nachhängen. Er brauchte Gesellschaft, brauchte jemanden mit dem er Reden konnte, brauchte die Nähe einer vertrauten Person.

Also machte er sich, nachdem er einen kurzen Zwischenstopp Zuhause eingelegt hatte um seine Schulsachen aufzugabeln, auf den Weg zu Akihito’s Wohnung, in dem Wissen, dass der Anführer seines Clans immer ein freies Bett für den jungen Vampir haben würde.

Der Weg von Ran’s Wohnung zu Akihito’s dauerte eine halbe Stunde aber Shinichi wusste, dass es bei Vampiren kein Problem war, wenn er mitten in der Nacht auftauchte. Vermutlich würde Akihito Arbeiten während Miyoko in einem ihrer vielen Medizinbüchern las. Als nachtaktive Wesen hatten die beiden natürlich auch ihre Lebensumstände daran angepasst.

Es war bereits kurz vor elf als er die Wohnung seines Anführers erreichte. Er betätigte die Klingel neben der Eingangstür und wartete ein paar Minuten, ehe sich die Tür öffnete und Miyoko ihn mit einem breiten Lächeln ansah.

„Hallo, mon chéri. Wie kann ich dir helfen?“

Sie machte einen Schritt zur Seite und ließ den Jungen ein. Shinichi bedankte sich mit einem kurzen Nicken ehe er die Wohnung betrat. Schnell zog er sich die Schuhe und die Jacke aus ehe er, zusammen mit der Vampirin ins Wohnzimmer ging.

„Ich wollte nicht allein daheim schlafen“, gestand der Oberschüler und lächelte leicht, „Darum dachte ich, ich komm vorbei und niste mich in Akihito’s Gästezimmer ein.“

„Kein Problem“, erklang die Stimme des Anführers von der Couch her, „Ist noch alles so wie nach deinem letzten Besuch. Mach’s dir bequem.“

Shinichi nickte leicht. Er wollte gerade seine Habseligkeiten ins Gästezimmer bringen als er auf das Fernsehprogramm aufmerksam wurde. Er hielt inne und starrte auf den Bildschirm.

Es liefen Nachrichten. Anscheinend war es ein Nachbericht von Kaitou KID’s letzten Überfall. Er hatte es natürlich geschafft das blaue Prisma zu stehlen und weder die Polizei noch die KID Task Force hatte ihn aufhalten können.

„Ein bisschen tut mir Inspektor Nakamori ja schon leid“, seufzte Miyoko und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er ist ein sehr netter Mann und sorgt sich väterlich um Kaito. Wenn er wüsste, dass er sich ausgerechnet von seinem Ziehsohn auf der Nase rumtanzen lässt… eine Schande.“

„Er hat es sich selbst ausgesucht“, erwiderte Akihito und zeigte dabei sehr wenig Mitleid, „Er kann den Fall auch einfach abgeben und jemand anderen KID jagen lassen. Aber der Typ scheint ja eine richtige Besessenheit von KID zu haben… was mich mehr überrascht ist, dass du nicht dort warst.“

Shinichi bemerkte überrascht, dass Akihito ihn über die Schulter hinweg ansah. Ihm wurde bewusst, dass der letzte Satz an ihn gerichtet war, doch Shinichi schüttelte nur den Kopf: „Ich hab doch gesagt, ich respektiere seinen Wunsch.“

„Dass du ihm Abstand gibst, ja“, erwiderte Akihito und zog fragend eine Augenbraue hoch. „Aber das du nicht mal hingehst um ihn, im Notfall, beschützen zu können überrascht mich. Gut, dass ich nicht mit Shigure gewettet habe, ich hätte haushoch verloren.“

„Hat er sich immer noch nicht bei dir gemeldet?“, fragte Miyoko behutsam und berührte zart die Schulter des Oberschülers. Shinichi zögerte. Er ließ den Blick von Akihito zu Miyoko wandern, seine Miene unergründlich. Vermutlich wog er gerade die Sinnhaftigkeit einer Lüge ab, aber mit Miyoko’s Fähigkeiten wäre das komplett unnötig.

„Doch… sozusagen“, erwiderte er schließlich. Langsam trat er näher zur Couch und ließ sich in Akihito’s Fernsehstuhl sinken, die Schultasche neben sich auf dem Boden. Seufzend rieb er sich die Stirn und wartete, bis Miyoko neben ihrem Gefährten Platz genommen hatte. Dann begann er zu erzählen: „Er hat in seine Ankündigung eine Nachricht für mich reingeschrieben. Er freut sich mich wieder zu sehen. Ich… ich hab den Code zwar verstanden, er war nicht wirklich schwer zu entziffern, aber ich habe ihn ignoriert. Ich möchte Kaito nicht sehen. Das… das wäre nicht gut.“

Die beiden Vampire tauschten einen kurzen Blick aus. Dann beugte sich Miyoko etwas näher zu dem Jungen und legte ihm behutsam eine Hand auf das Knie: „Warum möchtest du ihn nicht sehen, Shinichi? Warum denkst du, es wäre nicht gut?“

Der Schülerdetektiv atmete tief durch. Es brachte nichts mehr sich noch länger dagegen zu wehren. Er hatte schon länger den Verdacht, dass Kaito mehr für ihn war als nur ein Rivale, als nur ein Freund, als nur Beute. Schon vor der Vampirhochzeit hatte er sich stärker zu dem Jungen hingezogen gefühlt als zuvor, hatte ihn noch mehr bewundert, war noch faszinierter von ihm. Akihito hatte ihm gesagt, dass Vampire intensiver empfanden als Menschen, dass ihre Gefühle durch die Instinkte noch überwältigender waren.

Selbst Ran hatte bemerkt, dass etwas nicht mit ihm stimmte, dass sein Kopf und sein Herz woanders waren.

„Ich liebe ihn“, wisperte Shinichi und verzog das Gesicht, eine Maske des Schmerzes. Er ließ den Kopf und die Schultern hängen und legte die Fingerkuppen seiner Hände aneinander, welche er anstarrte als er weitersprach: „Ich liebe Kaito. Und das macht die ganze Situation noch schwerer. Es ist nicht so, dass ich Angst vor einer Abfuhr habe. Im Gegenteil, ich habe Angst, dass er meine Gefühle erwidert. Dass er uns eine Chance geben will. Das… das kann ich nicht zulassen.“

„Weil du nach England gehst?“, fragte Akihito vorsichtig. „Weil du ein Vampir bist und er ein Mensch ist?“

Shinichi nickte. Dann hob er langsam den Kopf und sah Akihito mit einem erschöpften Lächeln an.

„Ich möchte ihm dieses Leben nicht zumuten. Er hat noch so viel zu tun, als Kaitou KID, als Kaito Kuroba. Er hat Ziele und Plänen und Träume, so wie ich sie auch hatte. Mir wurde meine Zukunft zerstört, ich will seine nicht auch zerstören, nur, weil er meine Gefühle erwidert, nur, weil er dasselbe für mich empfindet wie ich für ihn.“

„Aber wer sagt, dass er das tut?“, erwiderte Akihito und zuckte leicht mit den Schultern. „Was, wenn er dir eröffnet, dass er nichts für dich empfindet und ihr nur Freunde bleiben sollt?“

„Das wäre… wünschenswert“, erwiderte Shinichi und schloss seine Augen. „Ich… ich bin zwar ein Detektiv, aber ich kann ihn nicht lesen, kann seine Handlungen nicht verstehen. Es ist schwer das Herz derer zu ergründen, die man liebt. Aber ich frage mich, wenn alles okay wäre, wenn wir nur Freunde wären und die Sache einfach ein Ausrutscher war, dann hätte er mir doch geschrieben, oder? Dann hätte er nicht das Risiko als KID auf sich genommen mir einen Code zukommen zu lassen. Das Risiko ist zu groß, ich kann ihm nicht gegenübertreten. Nicht, solange die Möglichkeit besteht, dass er meine Gefühle erwidert.“

„Darum hast du seine Nachricht an dich ignoriert?“, schlussfolgerte Miyoko und der Schülerdetektiv nickte.

„Und darum willst du heute hier schlafen? Falls er bei dir Zuhause auftaucht um dich zur Rede zu stellen?“, setzte Akihito fort und Shinichi nickte erneut. Der Vampir seufzte tief auf, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. „Nun gut, wie könnte ich meinem Jüngsten die Bitte um Zuflucht auch abschlagen? Trotzdem solltest du mit Kaito reden, bevor du das Land verlässt, sonst wirst du es früher oder später bereuen. Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung.“

Shinichi nickte erneut, als Zeichen, dass er verstanden hatte doch mit dem Ende der Nachrichten war auch unter den Vampiren das Thema beendet.

 

Als der neue Morgen heranbrach wurde Shinichi durch ein sanftes Klopfen an der Zimmertüre geweckt. Er rieb sich verschlafen die Augen und rappelte sich mühsam hoch als er auch schon Miyoko’s Stimme hörte, die sanft seinen Namen rief: „Shinichi, mon chéri, du musst aufstehen.“

Es war schön nicht von dem lauten Piepsen seines Telefons oder den Strahlen der Sonne in seinem Gesicht geweckt zu werden, sondern von der sanften Stimme einer Frau, die wie eine zweite Mutter für ihn war.

Er beobachtete, wie die Tür sich einen Spalt breit öffnete und die rothaarige Schönheit ihren Kopf durch die Tür steckte. Er schenkte ihr ein leichtes Grinsen woraufhin sie schmunzelnd meinte: „Du hast noch 30 Minuten, dann musst du los.“

Shinichi nickte leicht und wartete, bis die Tür wieder geschlossen war. Dann schälte er sich langsam aus dem Bett und streckte sich ausgiebig, ehe sein Blick auf sein Mobiltelefon fiel. Es blinkte, ein Zeichen dafür, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Zögerlich griff Shinichi nach dem Telefon und öffnete die Nachricht um sie zu lesen.

 

Ich habe dich gestern Abend vermisst.

 

Es war Kaito.

Der Schülerdetektiv verzog leicht das Gesicht. Er war verleitet zurück zu schreiben, verleitet zu antworten, dass es ihm leidtat, dass ihm was dazwischengekommen war, aber das durfte er nicht und das wusste er. Also legte er das Telefon wortlos zur Seite und begann sich seine Schuluniform anzuziehen.

Vampire brauchten morgens nicht sehr lange, was wohl daran lag, dass das Frühstück überaus wenig Zeit in Anspruch nahm. Dennoch, als er die Küche betrat saßen Akihito und Miyoko beim Küchentisch. Miyoko war gerade dabei sich die Fingernägel zu lackieren während der Anführer des Clans in die Morgenausgabe der Tageszeitung vertieft war, ein Gähnen nach dem anderen über seine Lippen kommend.

„Ich schätze es wirklich, dass du jeden Morgen wach bleibst bis ich aus der Haustür raus bin“, meinte Shinichi mit amüsierter Stimme, „aber du siehst aus, als würdest du gleich im Sitzen einschlafen. Möchtest du dich nicht hinlegen?“

Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. „Dafür war ich hierauf viel zu neugierig“, erwiderte er grinsend und drehte die Zeitung um. Kaitou KID’s Überfall nahm eine Doppelseite im Innenteil ein. Der Schülerdetektiv reagierte darauf nicht. Er ging zum Kühlschrank und nahm sich eine der Blutkonserven daraus, welche er dann auch wortlos zu trinken begann.

Akihito ignorierte die Tatsache, dass Shinichi ihn ignorierte und drehte die Zeitung wieder zu sich um seinen Blick über den Artikel gleiten zu lassen. „Anscheinend war es ziemlich knapp gestern“, seine Stimme klang amüsiert, „KID wäre ihnen wohl tatsächlich fast in die Falle gegangen. Dieser Suzuki hat es faustdick hinter den Ohren, er hat einfach eine Falltür im Boden angebracht und KID ist hineingestürzt.“

„Haben sie ihn geschnappt?“, fragte Miyoko erschrocken doch Akihito schüttelte den Kopf.

„Als sie den Inhalt der Fallgrube kontrollieren wollten war sie leer, also haben sie sie aufgemacht und da dürfte er verschwunden sein. Zusammen mit dem blauen Prisma. Er ist wirklich nicht zu unterschätzen, dieser Meisterdieb.“

Shinichi sah die beiden nicht an. Er trank schweigend seine Blutkonserve leer und beförderte das Plastik schließlich in den Mülleimer. Dann schnappte er sich seine Schultasche, welche neben der Couch stand und warf sie sich über die Schulter.

„Ich mach mich dann mal auf den Weg“, er grinste die beiden Vampire an. „Bis dann.“

Dann verließ er die Wohnung. Akihito seufzte auf und legte die Zeitung beiseite.

„Dräng ihn nicht, Aki“, Miyoko’s Stimme war sanft, obwohl ihre Miene konzentriert war. Sie achtete genau darauf, dass der Nagellack perfekt aufgetragen war. Akihito schien über ihre Worte nicht amüsiert zu sein.

„Du hast gut reden. Du warst ja auch bei Kaito und hast ihm den Kopf gewaschen.“

„Habe ich“, sie richtete sich auf und betrachtete eingehend die Farbe an den Nägeln ihrer linken Hand, „Und du solltest mir vertrauen. Kaito fühlt sich unglaublich schlecht, dass er Shinichi so lange hat warten lassen. Er wird mit ihm sprechen, da bin ich mir sicher. So einfach lässt sich dieser Dieb unseren Schatz nicht entgehen.“

„Ich hoffe, dass du recht hast“, seufzte Akihito und verschwand wieder hinter seiner Zeitung.

 

Kaito starrte das Telefon in seiner Hand an, so als könne er mit bloßer Willenskraft ein Loch in das Gerät brennen. Es war bereits ein halber Tag vergangen und Shinichi hatte auf keine seiner beiden Nachrichten reagiert. Schlimmer noch, sein Anruf war schlichtweg ins Leere gegangen. Er hatte fast fünf Minuten gewartet, dass der andere abnahm, aber am Ende hatte er aufgegeben und war zurück ins Klassenzimmer getrottet, wo Aoko mit einem Bento auf ihn gewartet hatte.

Er hatte nicht wirklich Appetit und stocherte deswegen ein wenig Lustlos in seinem Essen herum, aber er aß. Er wollte nicht, dass Aoko’s Mühen umsonst gewesen waren.

„Hat sie nicht abgehoben?“, fragte Aoko leise. Kaito nickte. Er hatte sich nie die Mühe gemacht Aoko zu korrigieren. Dass er sich nicht in ein Mädchen verliebt hatte, sondern einen Jungen. Die ganze Sache war ohnehin schon kompliziert genug, er musste nicht noch Öl in die Flammen gießen.

Aoko seufzte auf: „Ich hoffe du weißt, dass du daran ganz alleine schuld bist?“

Erschrocken sah Kaito auf: „Wieso bin ich denn Schuld daran?!“

„Na, wer hat sie denn über einen Monat warten lassen, bis er sich bei ihr meldet?!“, Aoko’s Stimme klang vorwurfsvoll und er fühlte sich sofort an Miyoko’s Besuch zurückerinnert.

Wie lange willst du ihn noch leiden lassen? hatte sie ihn gefragt. Kaito senkte den Blick und starrte den Reis in seiner Bento-Box an. „Ich weiß“, murmelte er leise und schob das Essen von sich. Er legte die Stäbchen weg und vergrub seine Hände in seinen Haaren. „Ich weiß, ich hab scheiße gebaut. Mann… wenn ich das nur irgendwie wieder gutmachen könnte.“

„Das kannst du“, Aoko’s Stimme war plötzlich ganz sanft und liebevoll. Überrascht sah der Magier auf, starrte seine beste Freundin an. Wie?! riefen seine Augen, sein ganzer Gesichtsausdruck, Wie kann ich meinen Fehler wiedergutmachen?!

„Lass ihr Zeit“, sie wandte ihren Blick von Kaito ab und begann damit ihre eigene, bereits geleerte Bento-Box wegzuräumen. „Du hast sie so lange warten lassen, es ist nur fair, wenn sie jetzt auch etwas Bedenkzeit bekommt, meinst du nicht?“

Kaito dachte über die Worte nach. Es war wirklich nicht nett gewesen Shinichi über einen Monat lang nicht zu kontaktieren. Er hatte ihm ja nicht mal zu Weihnachten geschrieben, oder ihm ein schönes, neues Jahr gewünscht. Aoko hatte recht, es war nur fair, wenn er ihm jetzt ebenfalls Zeit gab.

„Also soll ich einfach warten, bis eine Antwort kommt?“

„Nein!“

Aoko’s entsetzter Ausruf ließ Kaito vor Schreck so hart zusammenzucken, dass er beinahe vom Stuhl gekippt wäre. Entsetzt starrte er das Mädchen an. „Nein?“

„Nein, du sollst auf keinen Fall einfach nur warten! Du musst ihr weiterschreiben, ihr zeigen, dass du mit ihr reden willst, sie sehen willst! Sie soll wissen, dass du an sie denkst, aber du darfs sie nicht zwingen, okay? Lass sie selbst entscheiden wann sie dir antwortet. Zeig ihr einfach… dass du an sie denkst, okay?“

Der Magier dachte über die Worte des Mädchens nach. Sollte er Shinichi einfach weiterhin schreiben, in der Hoffnung, dass er ihm irgendwann antworten würde? Verdient hätte er es.

Sein Blick glitt zu den immer noch tristen Bäumen neben der Schule. Der Frühling würde bald anbrechen, er konnte bereits spüren wie es wärmer wurde. Aber Shinichi’s Abreise würde noch dauern. Ein bisschen Zeit konnte er ihm geben, konnte warten, dass der Vampir auf eine seiner Textnachrichten reagierte.

Kaito verzog leicht das Gesicht. Er war nicht sonderlich geduldig, aber er würde es nun wohl oder übel lernen müssen. Er wandte den Blick vom Fenster ab und zog die Bento-Box wieder näher um den restlichen Inhalt schnell runter zu schlingen, ehe der Unterricht weiterging.

 

Kaito versuchte sein bestes dabei geduldig zu sein. Er schrieb Shinichi morgens, mittags und abends eine kurze Textnachricht, unrelevantes, belangloses. Er versuchte keinen Druck aufzubauen, den Jungen nicht in eine Ecke zu drängen aus der er nicht entkam.

Aber Kaito begann sich Sorgen zu machen. Er hatte gedacht, dass Shinichi ihm antworten würde, sobald er ihm schrieb. Dass der Vampir gar nicht reagierte machte den Magier nervös. Vielleicht war wieder ein Vampirjäger aufgetaucht und hatte den Clan attackiert? Vielleicht hatte Shinichi die Abschlussprüfungen ausfallen lassen und war sofort nach England gegangen? Vielleicht war er aber auch gefangen genommen worden, eingesperrt? Oder hatte ihn diese seltsame Organisation, diese Männer in Schwarz, gefasst?

Mit jedem Tag der verging wurde der Magier unruhiger. Also beschloss er nach nicht ganz einer Woche erneut an der Teitan Oberschule vorbeizuschauen. Er würde nur einen kurzen Blick auf den Detektiv werfen, nur kurz kontrollieren, ob es ihm gut ging, ob ihm auch nichts passiert war. Und dann würde er wieder verschwinden.

Das bedeutete natürlich auch, dass Kaito nicht auffallen durfte. In seiner dunklen Schuluniform und getarnt mit einer einfachen Mütze, die er sich ins Gesicht zog wartete der junge Meisterdieb am Tor der Teitan Oberschule. Er beobachtete aus den Augenwinkeln die Mädchen und Jungen, welche das Tor passierten und versuchte dabei auszumachen ob er jemanden kannte. Doch die Gesichter waren alle fremd.

Der Strom an Schülern nahm mit jeder Minute, die Kaito wartete, mehr ab und er hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, die Angst seine Kehle zuschnürend, als er zwei ihm bekannte Gesichter sah.

Ran Mori und Sonoko Suzuki.

Ohne lange nachzudenken hechtete er den beiden Mädchen nach und versuchte sie aufzuhalten: „Hey! Entschuldigung, hey! Ihr beiden!“

Die Mädchen blieben, zu seiner großen Erleichterung, stehen und drehten sich um. Sie wirkten verwirrt und Kaito blieb mit respektvollem Abstand zu den beiden stehen.

„Ich muss euch was fragen“, begann er und zog sich die Mütze vom Kopf, was Sonoko einen Aufschrei entlockte: „HA! Ich kenne dich!“

Kaito erstarrte. Er sah das Mädchen an, pures Entsetzen erfasste von seinem Körper Besitz. Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte Sonoko Suzuki, Kaitou KID’s größter Fan, ihn etwa erkannt? Hatte er ein zu großes Risiko auf sich genommen und bezahlte jetzt den Preis?

„Du bist der Typ, der hier vor der Schule Zaubertricks gemacht hat! Der Freund von Shinichi!“

Erleichterung durchströmte seinen Körper und auf seinen Lippen begann sich ein Lächeln zu formen. Sie hatte ihn nicht erkannt.

Schnell verbeugte sich der Magier vor den Mädchen: „Mein Name ist Kuroba Kaito. Freut mich euch kennen zu lernen.“

„Es freut uns auch, Kuroba-kun. Mein Name ist Ran Mori, und das ist Sonoko Suzuki.“

„Also?“, Kaito richtete sich wieder auf und sah wie Sonoko die Arme vor der Brust verschenkt hatte, ihre Stimme misstrauisch, „Was willst du uns fragen, Kuroba-kun?“

„Es ist wegen Kudo-kun… ich versuche ihn schon seit einer Weile zu erreichen, aber er ignoriert meine Anrufe und schreibt auch nicht auf meine Textnachrichten zurück. Ich dachte, es ist ihm vielleicht etwas passiert und, na ja… nachdem ich euch drei letztens zusammen gesehen habe dachte ich ihr wisst vielleicht etwas über seinen Verbleib?“

Ran und Sonoko wirkten beide überrascht. Sie tauschten einen kurzen Blick aus ehe Sonoko feststellte: „Du bist derjenige, dessen Anrufe er nicht beantwortet? Huh. Ich dachte, es wäre ein Mädchen.“

„Shinichi geht es gut, soweit ich weiß“, beantwortete Ran die Frage, „Er geht normal zur Schule. Er wollte eigentlich mit uns zusammen nachhause gehen, aber auf halben Weg zum Tor ist ihm eingefallen, dass er noch was erledigen muss und hat beschlossen den anderen Ausgang zu nehmen.“

„Ich wusste gar nicht, dass die Schule einen anderen Ausgang hat“, stellte Sonoko überrascht fest. Kaito senkte den Blick.

Nein, Shinichi war nicht eingefallen, dass er etwas anderes zu erledigen hatte. Dass der andere Ausgang Vorteilhafter war.

Shinichi hatte ihn bemerkt, hatte seine Fährte wahrgenommen und war einfach abgehauen.

„Tut mir leid, Kuroba-kun…“, entschuldigte sich Ran bei ihm und natürlich würde sie das, denn sie war ein nettes und gütiges Mädchen. Er hob den Blick etwas und grinste die beiden Mädchen an.

„Schon okay“, erwiderte er mit amüsierter Stimme, „Immerhin weiß ich jetzt, dass es ihm gut geht und meine Sorge unbegründet war. Danke dafür.“

Und mit einer schnellen Bewegung seiner Hände hatte er für die Mädchen jeweils eine Blume hervorgezaubert, welche er ihnen überreichte. Sonoko quietschte begeistert, doch Ran nahm sie lediglich mit einer leichten Verbeugung und einem leisen Danke entgegen.

Kaito setzte sich die Kappe wieder auf und nickte den Mädchen kurz zu, ehe er sich abwandte und seinen Rückzug antrat.

Er hätte nach Hause gehen sollen, hätte nach dem Zusammentreffen mit den beiden Mädchen und der Bestätigung, dass es ihm gut geht auf Aoko’s Rat hören und ihm Zeit geben sollen. Aber Kaito wäre nicht Kaito, wenn er nicht manchmal überstürzt und unüberlegt handeln würde.

Also schlug er, anstatt sich auf dem Weg nach Ekoda zu machen den Weg zu Shinichi’s Haus ein. Vermutlich würde der Vampir ihm nicht die Tür öffnen, würde, wenn er ihn schon vor der Schule ignoriert hatte auch diesmal versuchen aus dem Weg zu gehen. Aber Kaito war nicht irgendjemand, er war der Magier des Mondscheins, der Meister der Illusion. Er hatte sich schon einmal Zutritt zu Shinichi’s Haus ohne dessen Wissen verschafft und er würde es wieder schaffen. Aber er wird dich wieder riechen, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. Er kennt deine Fährte, du kannst ihn nicht austricksen.

Aber das wollte Kaito auch gar nicht. Der Detektiv sollte ruhig wissen, dass er da war. Wenn er Kaito loswerden und aus seinem Haus rauswerfen wollte würde er wohl oder übel mit ihm reden müssen. Und das war genau das worauf Kaito spekulierte.

Der Weg von der Teitan Oberschule zu Shinichi’s Haus war kein langer. Er hatte gerade seinen Entschluss gefasst sich im Zweifelsfall gewaltsam Zugang zum Haus zu verschaffen, da stand er auch schon vor der Haustür. Sein Mut, den er sich unterwegs selbst zugesprochen hatte begann langsam aber sicher zu wanken und er begann sich zu fragen, ob es wirklich so schlau war den Oberschüler zu verärgern. Immerhin war Shinichi trotz allem immer noch ein Vampir und dementsprechend um einiges stärker als es Kaito war.

Der Magier atmete tief durch. Natürlich würde Shinichi Kudo seine Kraft niemals gegen jemand anderen einsetzen. Nicht, wenn es nicht darum ging sein Leben zu retten und Kaito hegte keinerlei Intention den anderen anzugreifen.

Alles, was er wollte, war reden.

Also nahm Kaito all seinen Mut zusammen und betätigte die Klingel neben der Tür. Er wandte sich sicherheitshalber einen Schritt zur Seite, sodass Shinichi ihn durch den Türspion nicht sehen konnte. Auch, wenn das komplett unnötig war, da der Vampir ihn garantiert in dem Moment wittern konnte, indem er an die Haustür herantrat.

Der Meisterdieb stand regungslos vor der Tür und lauerte auf Geräusche aus dem Inneren. Schritte, Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, vielleicht sogar das erschrockene Aufkeuchen des Vampirs, als er seine Fährte aufnahm und realisierte, wer da vor der Tür stand. Doch das Innere des Hauses lag in vollkommener Stille.

Also klingelte Kaito erneut und versuchte ein weiteres Mal auf Geräusche aus dem Inneren zu achten, doch entweder war der Detektiv tatsächlich nicht zu Hause oder er hatte die Kunst des Stillhaltens gemeistert.

Der Magier warf einen kurzen Blick zur Seite, doch die Nachbarschaft lag vollkommen ruhig und ungerührt neben ihm. Es war wirklich eine schöne, stille Gegend, aber das kam ihm nur gerade recht. Er fischte aus dem Inneren seines Blazers seine kleine Zange und ein Metallstäbchen und begann sich durch die Verriegelung des Schlosses zu arbeiten. Eine Tür aufzubrechen war für den Magier des Mondscheins die leichteste Übung und er wusste, dass es nur ein paar geschickte Griffe brauchte um sich Zugang zu verschaffen.

Als ein leises Klicken aus dem Inneren der Tür erklang hielt Kaito inne. Er packte seine Werkzeuge wieder ein und richtete sich auf, die Hand am Türknauf.

Er zögerte.

Was, wenn Shinichi seine Einbruchsversuche gehört hatte? Was, wenn er hinter der Tür lauerte, bereit jeden Einbrecher anzugreifen, der es wagte sich ungefragt Zutritt zu seinem Zuhause zu schaffen?

Der Magier wappnete sich gegen einen möglichen Angriff und stieß die Tür auf, doch vor ihm erstreckte sich Stille und Leere.

Erleichtert atmete Kaito auf. Er trat in das Gebäude ein und schloss die Tür hinter sich. Dann ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. Es wirkte trist, verlassen, so als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen. Aber Kaito wusste, dass der Schein trügen konnte. Shinichi lebte hier, zwar alleine, aber es war sein Heim, sein Haus. Fast schon automatisch wanderte der Eindringling in die Küche und warf einen Blick in den Kühlschrank.

Leer, bist auf ein paar Blutkonserven. Also war er noch nicht ausgezogen. Kaito schloss den Kühlschrank wieder und verließ die Küche. Stattdessen machte er sich auf den Weg zu Shinichi’s Schlafzimmer. Natürlich war auch dieses leer, keine Spuren, die auf den Vampir hindeuteten. Also hatte er tatsächlich noch etwas vorgehabt.

Kaito ließ sich auf der Bettkante nieder und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte seine Entscheidung getroffen zu warten bis Shinichi nach Hause kam. Natürlich konnte der Schuss komplett nach hinten losgehen, wie schon an Shinichi’s Schule. Sobald der Vampir das Haus betrat würde er Kaito’s Fährte wittern. Und dann konnte er sich immer noch auf und davon machen, wenn er das wirklich wollte.

„Aber was bleibt mir denn anderes übrig?“, murmelte der Magier, mehr zu sich selbst als zu jemanden anderen, und zog sich die Mütze vom Kopf. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Hosentaschen und öffnete den Chatverlauf mit dem Meisterdetektiv, doch auch diesmal, keine Antwort, keine Reaktion.

Kaito seufzte auf und ließ sich nach hinten sinken. Er starrte eine Weile an die Decke, bis er schließlich beschloss, dass er sich die Zeit auch anderweitig vertreiben konnte und begann damit seine Hausaufgaben zu machen.

 

Der Tag verstrich ereignislos und Kaito begann sich zu wundern, wann der Detektiv nach Hause kommen würde. Oder war er etwa längst da gewesen und hatte sich, unbemerkt von Kaito, wieder davongestohlen? Natürlich war das eine Möglichkeit, aber es war eine die Kaito nicht in Betracht ziehen wollte. Er spielte auch mit dem Gedanken selbst wieder nach Hause zu gehen und es an einem anderen Tag erneut bei Shinichi’s Schule zu versuchen, doch obwohl es ihm die logischere Entscheidung zu sein schien reagierte sein Körper nicht. Regungslos blieb er auf der Bettkante sitzen, rührte sich auch nicht als die Sonne bereits untergegangen war und sich Dunkelheit über das Haus legte.

Selbst als seine Augen begannen zu brennen und die Lider immer schwerer wurden rührte der Magier des Mondlichts sich kein Stück, bis er schließlich zur Seite kippte und in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Es war die aufgehende Sonne in seinem Gesicht, welche ihn am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss. Murrend rollte der Meisterdieb sich zur Seite, den Rücke dem Fenster zugewandt und zog sich die Decke, in welche er eingewickelt war über den Kopf.

Er lag für ein paar Minuten regungslos da. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Stein am Kopf und mit einem Mal saß er aufrecht im Bett.

Er sah sich um. Seine Kleidung lag, fein säuberlich zusammengefaltet auf einem Stuhl mitten im Raum. Die Decke war behutsam über seinen Körper ausgebreitet und sein Telefon lag neben ihm auf dem Nachtkästchen.

„Shinichi“, wisperte Kaito und spürte, dass sein Hals trocken war. Eilig schälte er sich aus dem Bett und warf sich seine Kleidung über. Er schnappte sich sein Telefon und rannte mit großen Schritten in die Küche.

Shinichi war da gewesen. Shinichi hatte ihn in seinem Schlafzimmer gesehen. Er hatte ihn ausgezogen und ins Bett gelegt, hatte die Decke über ihm ausgebreitet.

Kaito spürte einen Kloß in seinem Hals und schob die Gedanken eilig zur Seite. Er steuerte direkt den Kühlschrank an und riss die Tür auf.

Der Kloß wuchs. Er hatte am Vortag gezählt, es waren fünf Konserven gewesen. Jetzt waren es nur noch zwei.

Also war er tatsächlich da gewesen.

Kaito schloss den Kühlschrank wieder und senkte den Blick. Shinichi Kudo war in seinem Haus gewesen und hatte ihn in seinem Bett gefunden. Und er hatte ihn nicht geweckt.

Nicht mal eine Nachricht hatte er ihm hinterlassen. Keine Notiz, auch keine Textnachricht.

Kaito spürte eine kalte Wut in ihm hochsteigen. Er wusste, dass es unfair war jetzt wütend zu werden. Er war derjenige gewesen, der in das Haus des Detektivs eingebrochen war, er war derjenige gewesen, der ihn wochenlang hatte auf eine Nachricht warten lassen, er war derjenige gewesen, der es nicht geschafft hatte sich Shinichi direkt zu stellen.

Dass Shinichi ihn jetzt mied war eigentlich nur fair und Kaito sollte es akzeptieren.

Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Scheiß auf ‚sollte‘.

Wenn Shinichi die Nacht nicht in seinem eigenen Haus verbracht hatte – und danach sah es nicht aus – dann gab es eigentlich nur einen Ort, an den es ihn hätte verschlagen können.

Und diesen Ort würde Kaito aufsuchen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Snowprinces
2020-12-08T10:21:16+00:00 08.12.2020 11:21
Hi

super Kapitel ich freue mich auf das nächste

liebe grüße da lass
Von:  Yuna_musume_satan
2020-12-01T11:42:09+00:00 01.12.2020 12:42
Ok langsam aber sicher gehe ich hier an die Decke!!!!! War ziehrt sich Kaito und meldet sich über Ben Monat nicht und jetzt ziehrt sich schinich und rennt sozusagen vor der Aussprache weg, grrrrr, wenn Aki und Miko da jetzt nicht eingreifen explodiere ich.

Hach zwei wirklich hervorragende Kapitel ich bin so neugierig wie es weitergehen wird und ob die beiden es schaffen sich endlich auszusprechen


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