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Ai no Scenario

von

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Shinichi öffnete langsam die Augen. Das Licht, welches bereits hinter seinen geschlossenen Lidern geflackert hatte ergoss sich über seine müden Augen und ein protestierender Laut verließ seine Lippen. Er wandte den Kopf zur Seite, weg vom Fenster, weg vom Licht und schloss sie wieder. Sein Kopf pulsierte und in seiner Brust war ein seltsames Gefühl der Leere, so als würde etwas fehlen, dass eigentlich da sein sollte. Er hörte aus weiter Entfernung ein gleichmäßiges Piepen und fragte sich, wie weit das Gerät, welches das Geräusch von sich gab wohl entfernt stehen musste um so dumpf zu klingen. Trotz der scharfen Sinne, die er doch besaß.

Es war sein Geruchssinn, der ihm klar machte, dass etwas nicht stimmte. Nicht, weil er etwas Seltsames gerochen hatte, doch die Tatsache, dass er gar nichts roch irritierte ihn. Langsam öffnete der Vampir die Augen erneut und versuchte seinen Blick auf einem Punkt an der Wand zu fokussieren. Nachdem sein Kopf sich beruhigt hatte und das stete Drehen seines Sichtfeldes aufgehört hatte wagte er es sich langsam in eine sitzende Position zu bringen.

Und da geschah es. Es war dasselbe Gefühl, wie wenn man zu schnell zu tief im Meer hinab tauchte und der Druck um einen herum alle Sinne abtötete. Als hätte jemand mit ihm einen Druckausgleich gemacht prasselten plötzlich alle Sinne gleichzeitig auf ihn ein: das grelle Licht brannte in seinen Augen, die Geräusche, das Piepen, die Autos, die Stimmen waren so laut in seinem Kopf das er sich die Ohren zuhalten musste, verleitet dazu zu schreien, der Welt zu befehlen die Schnauze zu halten doch als er den Mund öffnete und atmete war da ein Geruch, eine Fährte, die ihm wie eine Ohrfeige ins Gesicht schlug.

Shinichi erstarrte in seiner Bewegung und drehte den Kopf zur Seite. Neben ihm, in einem Bett am anderen Ende des kleinen Schlafzimmers, lag Kaito. Seine Haut war blass und an seinem Arm hing eine Infusion aber er atmete. Shinichi stellte mit Erleichterung fest, dass die Brust des Jungen sich in einem regelmäßigen Takt hob und senkte.

Erleichterung durchströmte den Körper des Vampirs und er sank erneut zurück in die Kissen. Erschöpft schloss er die Augen und fasste sich an die Stirn.

Was, zum Teufel, war in der Lagerhalle passiert?

Er erinnerte sich wie er in einer Kurzschlussreaktion Bram attackiert hatte. Und wie dieser ihn daraufhin als Geisel genommen hatte. Er erinnerte sich das Kaito die Pistole in der Hand gehabt hatte und…

Er verzog das Gesicht. Kaito hatte Akihito erschossen.

Langsam drehte er den Kopf um erneut zu dem schlafenden Magier zu schauen. Er wirkte so entspannt, so friedlich. Auf seinen Lippen ruhte ein Lächeln. Was er wohl träumte? Vermutlich irgendetwas Schönes.

Eine Zeit lang blieb er regungslos liegen, starrte den Jungen einfach nur an, bis es ihm zu viel wurde. Er hielt es nicht mehr aus und schälte sich aus seinem Bett. Sein Körper zitterte, fast so als würde er sich überanstrengen. Der Detektiv steuerte geradewegs auf die Tür zu, hielt dann jedoch noch mal inne und sah zu dem Bett mit dem schlafenden Kaito. Langsam wandte sich Shinichi von der Tür ab und schritt näher, lautlos, um den Jungen nicht zu wecken, ehe er auf die Bettkante sank.

„Was hast du nur getan?“, flüsterte er leise und strich behutsam ein paar Haare aus Kaito’s Gesicht. Der Junge reagierte nicht, sein Schlaf zu tief um die sanfte Berührung zu spüren. Langsam beugte Shinichi sich nach vorne und presste einen zarten Kuss auf die Stirn des Magiers.

Dann erhob er sich erneut und verließ das Schlafzimmer, hinaus in den vertrauten Gang und Shinichi begann zu verstehen wo er war. Das Zimmer war Akihito’s Gästezimmer gewesen. Sie hatten es wohl nur etwas um modelliert, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Vermutlich hatte Miyoko die medizinischen Geräte, an die Kaito angeschlossen war aus dem Krankenhaus gestohlen. Na wenn das mal keine Probleme gab…

Langsam und behutsam, da er immer noch das Gefühl hatte seine Beine würden jeden Moment nachgeben schritt er durch den schmalen Flur, geradewegs Richtung Wohnzimmer, wo er garantiert den Rest des Clans finden würde.

Als Shinichi das Wohnzimmer betrat erstarrte er. Auf der Couch saß, so wie er es erwartet hatte, Miyoko und las in einem ihrer vielen Medizinbücher. Und neben ihr, bequem in einen Couchsessel gebettet und den Blick auf den laufenden Fernseher gerichtet saß „Akihito?!“

Überrascht hoben die zwei Vampire den Kopf zu Shinichi. Miyoko legte er Buch zur Seite und eilte mit schnellen Schritten zu dem Jungen um ihm Halt zu geben. „Was machst du denn da?!“, rügte sie ihn mit sanfter Stimme und führte Shinichi zur Couch, wo er sich hinsetzen konnte. „Du solltest dich doch noch ausruhen.“

„A-Aber wie kann das sein?!“, stotterte der Detektiv, sein Blick immer noch auf Akihito gerichtet. Der Weißhaarige hatte den Fernseher inzwischen ausgemacht und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Oberschüler. „Ich hab es doch gesehen“, wisperte er leise, „Ich hab gesehen wie Kaito dich erschossen hat.“

„Hast du das?“, Akihito hob fragend eine Augenbraue an, überrascht, doch der Schlag auf den Hinterkopf, den er sich von Miyoko einfing wischte ihm die ernste Fassade vom Gesicht: „Aua! Das tut weh, Miyo!“

„Ja? Das soll es auch!“, schimpfte sie den Älteren. „Hör auf mit dem Jungen irgendwelche Witze zu reißen, du siehst doch das er noch nicht fit ist.“

„Jaja, du hast ja recht“, murrte Akihito und rieb sich den Hinterkopf. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Shinichi zu und auf seinen Lippen erschien ein verschmitztes Grinsen: „Du willst wissen, was du gesehen hast, nicht wahr? Nun, ich würde sagen, was du gesehen hast war Magie.“

„Magie?“, Shinichi hob fragend eine Augenbraue an und Akihito nickte zustimmend. „Magie. Oder, wie andere es nennen würden – ein Trick. Dein kleiner Freund hat Bram ausgetrickst um dafür zu sorgen, dass er unachtsam wird.“

„Aber… wie?!“, fragte der Detektiv bestürzt und in seinem Kopf drehten sich die Zahnräder, doch er war zu müde, zu erschöpft, das Gefühl der Leere in seiner Brust zu übermächtig um eine Lösung auf die Frage zu finden.

„Wie hat er es gemacht?“

„Ich muss zugeben“, begann Akihito seine Erklärung und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „dass ich den Jungen unterschätzt habe. Nicht nur seine Fingerfertigkeit beim Öffnen der Handschellen war bemerkenswert, auch seine geistigen Fähigkeiten und sein schnelles Auffassungsvermögen der Situation waren bewundernswert. Er wäre sicher ein großartiger Detektiv, wenn er nicht als Dieb tätig wäre.“

Akihito wartete einen Augenblick lang ob Shinichi etwas sagen würde, doch der Vampir schwieg. Ihm war nicht nach Reden, nach Fragen stellen, er wollte einfach nur wissen was passiert war, was er gesehen hatte.

„Das was du vermutlich gesehen hast war, wie Kaito die Pistole aufhob, auf mich zu Schritt und den Lauf an meinen Kopf setzte und abdrückte, nicht wahr?“

Shinichi nickte.

„Nun, was du vermutlich nicht gesehen hast war Folgendes: Als Kaito euch den Rücke zuwandte ließ er die Waffe von Bram im Inneren seiner Schulunform verschwinden und zog stattdessen eine andere heraus. Es war ein Risiko, weil seine Waffe tatsächlich um einiges größer war als Bram’s, aber ich nehmen das Kaito auf die schlechten Augen des alten Mannes spekuliert hatte.“

„Er zog eine andere Waffe aus der Jacke?“, wieder holte Shinichi verwirrt. „Aber woher hat er-“ Seine Augen weiteten sich leicht als es ihm klar wurde. Natürlich. Die Kartenpistole, welche er auch als Kaitou KID wieder und wieder verwendete. Es wäre nur logisch, dass er die Waffe auch in seinem zivilen Leben bei sich tragen würde, als Schutz gegen diverse Angreifer. Als Schutz gegen Bram.

„Aber das Loch in deinem Kopf“, Shinichi runzelte die Stirn, „Ich hab es doch gesehen. Wie…“

„Hast du es wirklich gesehen? Oder hast du vielleicht schwarze Farbe gesehen, die in runder Form an meiner Stirn angebracht war.“

Shinichi starrte Akihito ungläubig an. Natürlich. Es war so klar, so einfach, und dennoch so genial. Kaito hatte schwarze Farbe an der Öffnung der Waffe angebracht und als er den Lauf gegen die Stirn des Vampirs presste übertrug sich die Farbe auf Akihito’s Kopf. Da er ein Vampir war und kein Blut mehr im Körper trug haben weder er noch Bram hinterfragt warum er nicht blutete.

„Aber der Schuss?“

„Eine Aufnahme“, antwortete Akihito achselzuckend. „Wie gesagt, ich habe den Jungen unterschätzt. Nachdem Bram den ersten Schuss abgegeben hatte und Kaito realisierte, dass er neben der Armbrust noch eine Pistole besaß hat er den zweiten Schuss einfach mit seinem Telefon aufgenommen. Nachdem er ihn, versteckt vor euch beiden abgespielt hat war es nur noch an mir den Erschossenen zu spielen und der falsche Mord war perfekt. Um Bram in Sicherheit zu wiegen hat er seine Pistole nahe an meinem Körper fallen lassen, sodass der Alte nicht sehen würde, dass es sich um unterschiedliche Waffen handelte, aber Kaito’s Sorge diesbezüglich war unbegründet. Bram war zu euphorisch über seinen Sieg um das wahre Attentat auf sein Leben zu erkennen.“

Shinichi saß da und starrte Akihito an. Der Plan war gut gewesen und es war definitiv ein Plan den nur ein Kaitou KID so überraschend aus seinem Ärmel schütteln konnte. Doch die letzten Worte des Vampirs hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund.

„Was meinst du mit… das wahre Attentat auf sein Leben?“

Akihito’s erheiterter Blick wurde ernst und auch Miyoko, die während der Erzählung eine Hand auf Shinichi’s gelegt hatte verkrampfte sich leicht. Er spürte die plötzliche Anspannung im Raum und sah auch, wie die zwei einen kurzen Blick austauschten.

„Akihito, was war das für ein Plan?“, knurrte Shinichi leise. Seine Schultern spannten sich an und er wurde unruhig. Seine Erinnerung an alles, was nach Akihito’s vermeintlichen Tod passiert war, war unvollständig und wirr, voller Farben und Geräusche. Egal wie sehr er sich versuchte zu konzentrieren, sich auf einen der Reize zu fokussieren, es gelang ihm nicht herauszufinden was passiert war. Lediglich Kaito’s Stimme klang so klar und deutlich in seinem Kopf als würde er ihm die Worte ins Ohr flüstern.

Aber trotzdem… ich hoffe, du verzeihst mir… Shinichi...

„Kaito’s Plan war es, nahe genug an euch ran zu kommen um Bram durch deinen Körper durch zu erschießen“, antwortete der Vampir geradewegs heraus und es war, als würde er den Damm, der die Erinnerungen zurückgehalten hatte brechen und eine Flut an Szenen ergoss sich in Shinichi’s Kopf. Kaito, der ihn betroffen ansah nachdem er Akihito erschossen hatte, Kaito, der auf Shinichi zugelaufen kam, Kaito, der sich an ihn schmiegte, der sich von Shinichi umarmen ließ, Kaito, der sich bei ihm entschuldigte, der ihm die Pistole an die Brust setzte, Kaito, der den Abzug betätigte und ihn erschoss.

Ein eiskalter Schauer lief über seinen Rücken doch er rührte sich nicht. Er spürte, wie Miyoko’s Griff fester wurde, wie sie Shinichi’s Hand festhielt so als hätte sie Angst, dass er weglaufen würde.

„KID hat noch nie danebengeschossen“, erklärte Shinichi plötzlich mit ruhiger Stimme, sein Blick immer noch auf Akihito geheftet, „Er trifft immer sein Ziel. Es ist fast schon beängstigend wie genau er ist.“

Akihito nickte. „Es ist auch beängstigend wie genau er wusste wo er dich treffen muss, dass die Kugel problemlos durch deine Brust eindringt, deinen Rücken wieder ausdringt und Bram’s Herz trifft, ohne dir einen bleibenden Schaden zu verursachen.“

Shinichi senkte den Kopf und sein Blick fiel auf Miyoko’s Hand auf der Seinen. Er drehte seine Handfläche und hatte so die Möglichkeit seine Finger mit den ihren zu verflechten, fast so, als würde er nach Halt suchen. Dann hob er erneut den Kopf und sah Akihito an.

Und Akihito sah Shinichi an mit einem Blick, der ihm verriet, dass der Vampir noch nicht fertig war mit seiner Erzählung. Und so wartete Shinichi auf die Worte, die noch folgen würden, die das Puzzle vervollständigen würden.

Akihito’s Stimme war ruhig als er sprach, besänftigend: „Als Kaito mit der Waffe in der Hand auf mich zuschritt hat er mich gefragt, ob du es überleben wirst, wenn eine Silberkugel durch deinen Körper tritt. Ihm war bewusst, dass es dir Schmerzen bereiten wird, weil es Silber ist, aber ich habe ihm gesagt, wenn die Kugel nichts trifft außer Fleisch und Muskeln und wir dich schnell Notversorgen wirst du es ziemlich sicher überleben. Er hat bereits geahnt, dass wir Mitglieder des Clans draußen stationiert haben und auch, dass ein Vorrat von Blutkonserven in unmittelbarer Nähe warten wird. Nachdem Kaito dich erschossen hat, hat er dich zu Boden gelegt und mit einem kleinen Messer eine Wunde in seinen Arm geritzt. Er hat dir Blut auf die Lippen getropft und du hast sofort zugebissen, hast gierig von ihm getrunken bis er das Bewusstsein verloren hat. Shigure und Jun haben dich von ihm losgerissen und wir haben euch in meine Wohnung gebracht, wo Miyoko dem Jungen eine Bluttransfusion verabreicht hat.“

Das hübsche Mädchen mit dem feuerroten Haar beugte sich etwas näher, ein sanftes Lächeln auf den Lippen: „B negativ, nicht wahr?“

Shinichi nickte, gedanklich abwesend, und ließ sich Akihito’s Worte durch den Kopf gehen. Bram hätte ihn niemals freigelassen, hätte ihm niemals erlaubt zu gehen und weder Kaito noch Akihito hätten es geschafft nahe genug heran zu kommen mit Shinichi im Weg. Die Kugel durch seinen Körper zu jagen war klug gewesen, riskant natürlich, aber Shinichi wusste wie gut Kaito’s Ziel war.

Er erinnerte sich an Kaito’s Stimme. An seine Worte. Und als er sich von Kaito gelöst hatte, an dessen Blick. Der Schmerz und die Schuld in seinen Augen. Das Flehen nach Vergebung. Die Angst. Kaito hatte es keinen Spaß gemacht Shinichi zu erschießen. Es war der blanke Horror für ihn gewesen.

„Kaito hat Alpträume“, sprach Miyoko plötzlich sanft und riss den Detektiv so aus seinen Gedanken. Fragend sah er sie an: „Alpträume?“

Miyoko nickte. „Ich denke, es ist der Moment, als er dich erschossen hat. Er durchlebt ihn im Schlaf wieder und wieder. Obwohl sein Körper die Transfusion gut aufgenommen hat ist er nicht zur Ruhe gekommen, darum habe ich ihm ein Schlafmittel verabreicht, damit er in Ruhe schläft und sein Körper sich erholen kann.“

Shinichi nickte leicht. Er lehnte sich nach hinten und spürte, wie die Anspannung seinen Körper verließ. Langsam hob er seine freie Hand zu seiner Brust und betastete die Stelle, durch die Kaito die Kugel gejagt hatte, aber natürlich hatte seine Selbstheilung längst dafür gesorgt, dass die Wunde spurlos verschwunden war.

Dann fiel ihm etwas anderes ein und er wandte sich noch einmal an Akihito: „Was ist mit Bram?“

„Tot. Kaito’s Schuss ging genau ins Herz.“

„Also hat er ihn getötet…“, murmelte Shinichi leise und verzog leicht das Gesicht. Wie würde Kaito diese Information aufnehmen? Er, der stets darauf bedacht war niemanden zu verletzten. Er, dessen Raubzüge immer gut durchgeplant und ohne Risiko für Polizei und Augenzeugen von statten gingen?

Shinichi spürte, wie ihn die Müdigkeit übermannte und er schloss langsam die Augen. „Du solltest dich noch mal hinlegen, mon chéri“, ertönte Miyoko’s sanfte Stimme an seinem Ohr und der Detektiv nickte. Er öffnete seine Augen einen Spalt und ließ sich mit Hilfe der beiden Älteren zurück ins Gästezimmer und dort in sein Bett verfrachten. Sein Blick fiel noch einmal auf den schlafenden Kaito zu seiner Linken ehe er sich selbst zur Seite drehte, die Augen schloss und in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

 

Als Shinichi die Augen das nächste Mal öffnete war es dunkel im Zimmer. Seine Kopfschmerzen waren fast vollständig verschwunden und auch seine Sinne schienen sich wieder beruhigt zu haben. Er konnte die Geräusche im Apartment hören, konnte die Gerüche aus der Küche und von außerhalb wahrnehmen, konnte die Präsenz der anwesenden Vampire spüren. Behutsam rappelte der Detektiv sich auf und sah sich um. Sein Blick fiel auf das leere Bett zu seiner Linken. Der Infusionsständer und auch das Gerät, welches zuvor ein regelmäßiges Piepsen von sich gegeben hatte waren noch da, doch sie waren stumm und der Magier verschwunden.

Langsam erhob Shinichi sich aus seinem Bett und verließ das Gästezimmer. Er schlug erneut den Weg ins Wohnzimmer ein, wo er Akihito hinter seinem Schreibtisch sitzend und arbeitend vorfand. Als er den Jungen eintreten hörte hob der Weißhaarige seinen Kopf und klappte den Laptop zu. Auf seinen Lippen ruhte ein sanftes Lächeln.

„Na? Ausgeschlafen?“

Shinichi nickte leicht. „Aber hungrig.“

„Bedien‘ dich“, Akihito deutete in Richtung Küche und Shinichi schritt zu dem großen Kühlschrank und öffnete ihn. Natürlich befanden sich im Inneren keine Lebensmittel, der gesamte Kühlschrank war voller Blutkonserven. Er ließ seinen Blick über die Plastikbeutel wandern und zog schließlich eine Konserve der Blutgruppe B heraus. Er schloss den Kühlschrank und schritt zurück ins Wohnzimmer, genüsslich an der Verpackung saugend. Sein Blick wanderte nachdenklich durch das Zimmer, doch er konnte weder Kaito noch Miyoko finden.

„Miyoko hat den Jungen ins Krankenhaus gebracht“, erklärte Akihito als er sah wie Shinichi’s Blick durch das Apartment wanderte. Erschrocken riss Shinichi den Kopf herum und ließ beinahe seine Konserve fallen: „Ins Krankenhaus?!“

Akihito nickte: „Ja, aber mach dir keine Sorge, es ist nichts Schlimmes. Miyoko ist der Meinung, dass es besser ist, wenn der Junge in den Händen von menschlichen Ärzten ist. Sie hat ihn in das Krankenhaus gebracht, in dem sie arbeitet. Sie hat angegeben, dass er bei der letzten Blutspende gelogen hat und darum Hilfe braucht.“

„Also ist alles in Ordnung mit ihm?“, wisperte Shinichi besorgt. Akihito lachte: „Wenn du mir nicht glaubst, sieh auf dein Telefon. Er hat dir geschrieben.“ Shinichi fand sein Telefon auf dem Couchtisch wieder. Er erinnerte sich nicht es dort hingelegt zu haben, aber vermutlich hatte Miyoko es dort platziert, nachdem sie ihn ins Schlafzimmer verfrachtet und behandelt hatte. Der Detektiv leerte seine Konserve und entsorgte das Plastik ehe er mit ein paar schnellen Schritte zum Couchtisch schritt und sein Telefon schnappte. Er öffnete es und untersuchte es auf neue Nachrichten, und tatsächlich, unter der Drohung von Bram, welche mit Kaito’s Telefon geschickt worden war befand sich eine neue Nachricht die er noch nicht gelesen hatte.

Ich bin im Beika City Hospital. Die Ärzte meinen, ich werde wohl noch zwei Tage hierbleiben müssen. Aber immerhin scheint sonst alles okay mit mir zu sein, also mach dir keine Sorgen.

Erleichtert atmete Shinichi auf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Es ging ihm gut, alles war in Ordnung.

„Und?“, fragte Akihito und erhob sich von seinem Platz um näher an seinen Gast heran zu treten, „Was hast du jetzt vor?“

„Nach Hause gehen, denke ich“, murmelte Shinichi und ließ das Telefon in seine Hosentasche gleiten. „Immerhin sollte ich morgen wieder in der Schule auftauchen, wenn ich nicht will, dass Ran noch misstrauisch wird und anfängt Nachforschungen anzustellen.“

„Dann werde ich dir Fumiko mit ein paar Vorräten vorbei schicken, damit du genug zu Hause hast. Und sieh zu, dass du es die nächsten Tage ruhig angehst. Bram ist Tod und soweit wir wissen sind momentan keine anderen Vampirjäger in Tokyo unterwegs.“

Shinichi nickte leicht und lächelte. Dann sammelte er seine Habseligkeiten zusammen und schlüpfte in seine Lederjacke die, an derselben Stelle wie auch sein Shirt, ein Loch aufwiesen. Der Oberschüler runzelte leicht die Stirn, sagte jedoch nichts dazu, sondern verabschiedete sich von Akihito und verließ dessen Apartment.

 

Shinichi beschloss Kaito nicht im Krankenhaus zu besuchen. Er wusste, dass das Band zwischen ihnen stärker werden würde, je öfter sie sich sahen und das wollte er, wenn möglich, vermeiden. Außerdem hatte er immer noch ein seltsames Gefühl der Leere in seiner Brust, nahe jener Stelle, an der Kaito ihn erschossen hatte. Er machte dem Jungen natürlich keine Vorwürfe, es war die einzig vernünftige Entscheidung in diesem Moment, aber er hatte Angst vor der Konfrontation mit dem Dieb.

Also beschloss Shinichi es dabei mit Kaito via Textnachrichten in Kontakt zu bleiben. Er wollte dem Jungen nicht das Gefühl geben ihn zu ignorieren, sonst würde es nur wieder außer Kontrolle geraten wie bereits zuvor. Stattdessen wollte Shinichi schlichtweg warten, bis Kaito wieder genesen war, damit sie mit Akihito’s Hilfe diese Vampirhochzeit rückgängig machen und wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehren konnten.

Er war froh, dass sein Leben endlich wieder geregelte Züge annahm, dass er nicht mehr in ständiger Angst leben musste gejagt zu werden, dass er endlich Sicherheit hatte, dass niemand Kaito verletzen würde. Und trotzdem schien es, als würde Ran, als seine beste Freundin merken, dass etwas nicht stimmte, als sie ihn ein paar Tage nach dem Zwischenfall mit Bram in der Mittagspause darauf ansprach: „Ist alles in Ordnung bei dir, Shinichi? Du wirkst, als würde dich etwas Belasten.“

Der Detektiv hörte auf damit mit den Stäbchen im Bento rumzustochern und hob den Kopf. Fragend sah er die Oberschülerin an, schüttelte dann jedoch leicht den Kopf: „Nein, alles in Ordnung.“

„Bist du sicher?“, hakte nun auch Sonoko nach und beugte sich etwas näher um Shinichi’s Gesicht genauer in Augenschein zu nehmen. Shinichi lehnte sich instinktiv ein Stück zurück, er wollte Sonoko nicht zu nahekommen, sonst würde ihr erst auffallen wie unnatürlich seine blasse Haut tatsächlich war. Doch Sonoko schien sich nicht auf die Haut zu konzentrieren. Sie hob überrascht eine Augenbraue an: „Huh, Kudo-kun, hast du etwa Liebeskummer?“

Shinichi’s Augen weiteten sich und er ließ vor Schreck fast das Bento fallen. Auch Ran drehte sich erschrocken zu ihrer besten Freundin um: „Sonoko!“

„Was denn?“, die junge Erbin hob abwehrend die Hände. „Ich frag doch nur, ist das denn verboten?“

„Nein“, Shinichi fasste sich wieder und seufzte auf, „Nein, natürlich ist es nicht verboten. Aber wie kommst du auf die Idee?“

„Dein Blick“, antwortete Sonoko und ließ ihre immer noch erhobenen Hände sinken. Überrascht sah Shinichi auf. Sein Blick?

„Du hast dieselben Augen wie Ran sie hatte, damals, als sie auf dich gewartet hat.“

Shinichi verzog das Gesicht und warf einen kurzen Blick auf seine beste Freundin. Ran vermied es ihn anzusehen, stattdessen hatte sie den Blick gesenkt und starrte auf ihre Hände. Die Schuldgefühle prasselten über ihn herein wie eine Sintflut und er senkte ebenfalls den Blick, starrte den weißen Reis in seiner Bento-Box an.

Er hatte Ran so lange warten lassen, hatte sie belogen, sie hingehalten in der Zeit als er Conan gewesen war, obwohl er genau gewusst hatte, sie sehr sie ihn vermisste, wieviel er ihr bedeutete. Und dann hatte Haibara das Gegengift entwickelt, hatte ihm die Chance gegeben wieder zu Shinichi zu werden, wieder sein altes Leben zu leben und er hatte es getan.

Und er hatte Ran einen Korb gegeben.

Er hatte sich selbst geschworen, dass er erst die Organisation ausschalten würde, dass er erst das Risiko von Gin und Wodka und deren ganzer Bande aus der Welt schaffen würde bevor er Ran fragen würde seine feste Freundin zu werden. Bevor das nicht erledigt war, würde er keine Beziehung mit ihr eingehen.

Doch das hatte sich geändert als er zum Vampir wurde. Er wusste, dass er die Chance ein Leben mit Ran zu verbringen verloren hatte und er war froh gewesen, dass er die Sache mit dem Korb schon erledigt hatte als er noch ein Mensch gewesen war.

Dennoch, Sonoko’s Worte lösten etwas in ihm aus. Unbehagen, Angst, aber auch… Hoffnung? Sehnsucht?

Es muss das Band sein, redete sich der Schülerdetektiv selbst zu. Es ist vermutlich, weil ich ihn seit Tagen nicht gesehen habe. Das wäre die einzige, logische Erklärung.

„Ihr solltet euch beeilen, wenn ihr noch aufessen wollt, die Mittagspause ist fast um“, Sonoko’s Versuch die unangenehme Stille zu unterbrechen erreichte ihr Ziel. Ran und Shinichi warfen erschrocken einen Blick auf die Uhr und begannen eilig die Reste ihres Bentos runter zu schlingen um rechtzeitig vor Unterrichtbeginn fertig zu sein.

Der Nachmittagsunterricht war nicht sonderlich spannend, aber Shinichi nutzte den Home Room, in welchem sie ihre Zukunftspläne und Wunschuniversitäten besprachen dazu anzukündigen, dass er vor hatte nach England zu gehen. Ran und Sonoko waren beide gleichermaßen überrascht, was den Detektiv nicht wunderte. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen.

Seine Lehrerin war weniger überrascht. Sie sagte, dass sie immer schon der Meinung war, dass es Shinichi früher oder später nach England verschlagen würde. Sie hatte ihm das angesehen. Shinichi glaubte ihr zwar nicht, aber was brachte es schon mit ihr zu diskutieren?

Sein Blick wanderte zum Fenster, rauf zur Sonne. Er fragte sich, ob es in London angenehmer sein würde zu leben. Die Stadt kannte kaum Sonne, sie war gestraft mit Nebel und trüben, wolkenverhangenen Tagen. Für einen Vampir wie er es war, war es definitiv ein besseres Wetter als das sonnige Tokyo.

Dennoch würde er es vermissen. Er würde die blühenden Kirschbäume vermissen, die Frühlings- und Sommerfeste in bunten Kimonos und Yutakas, er würde die Singzikaden vermissen, würde das geschäftige Treiben und die laute Werbung vermissen.

Aber es würde für das Beste sein. Wenn erst alle, die er kannte, auf ihn vergessen hatte, wenn er aus ihrem Leben verschwunden war und sie alt geworden waren, dann konnte er zurückkommen, zurück ins eine Heimat, zurück zu seiner neuen Familie, zurück zu seinem Clan.

Shinichi drehte den Kopf und sah zu Sonoko und Ran. Er fragte sich, wie alt die beiden wohl sein würden, wenn er zurückkam. 60? 70? Sonoko würde garantiert mit Makoto verheiratet sein, vermutlich mit einem Kind und Enkelkinder. Und Ran? Sie würde auf jeden Fall verheiratet sein, mindestens zwei Kinder. Ein Sohn und eine Tochter.

Und Enkelkinder. Sie würde sie alle mit Liebe überschütten und gewissenhaft großziehen.

Er lächelte schwach. Würde sie eines der Kinder nach ihm benennen? Oder würde sie dem Jungen vielleicht sogar den Namen Conan geben? Ran hatte sein geschrumpftes Ich geliebt und ihn umsorgt, nicht nur wie eine große Schwester, sondern, wenn notwendig, auch wie eine Mutter. Er hatte es nicht übers Herz gebracht ihr die Wahrheit zu sagen, hatte sie in dem Glauben gelassen, dass Conan zu seiner Familie nach Amerika gegangen war. Kogoro wäre längst nicht mehr auf dieser Welt. Genauso wenig wie Professor Agasa.

Die Detective Boys wären vermutlich selbst bereits erwachsen und verheiratet, mit eigenen Kindern. Vielleicht auch schon mit Enkelkinder? Sie würden garantiert dafür sorgen, dass die Kinder miteinander befreundet waren.

Würde Ayumi Genta oder Mitsuhiko heiraten? Oder würde Mitsuhiko sich beweisen und Ai heiraten? Würde Ai das überhaupt zulassen?

Und Kaito…

Shinichi’s Herz zog sich schmerzlich zusammen. Wenn er zurückkommen würde, zu einer Zeit, wo seine Eltern tot und seine Freunde bereits selbst Enkelkinder hatten, was würde dann mit Kaito sein? Hätte er sein Ziel bis dahin erreicht und Pandora gefunden? Oder hatte er diese Aufgabe an seine Kinder übertragen?

Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.

Kaito, der sich in eine schöne Frau verliebt, Kaito, der ihr ganz spektakulär und mit einem großartigen Zaubertrick einen Heiratsantrag macht, Kaito, der wegen einem Überfall fast zu spät zur Entbindung seines ersten Kindes kommt, Kaito, dem das Glück seines Lebens ins Gesicht geschrieben steht.

Shinichi sank in sich zusammen und vergrub beide Hände in den Haaren. Er zwang sich nicht daran zu denken. Daran zu denken, wie er Kaito nach seiner Rückkehr aufsuchte und einen alten Mann vorfand, die wunderschönen, tiefblauen Augen trüb vor grauen Star, die eleganten, geschickten Hände alt und knorrig, sein Körper, den er doch so geschmeidig wie eine Katze bewegte ans Bett gefesselt.

Warum quälst du dich selbst so sehr?, wisperte eine Stimme in seinem Kopf und er schloss die Augen, versuchte sich auf die Stimme des Lehrers zu konzentrieren, nicht an Kaito zu denken, nicht an die Zukunft, nur an das hier und jetzt und nachdem der Lehrer schließlich seinen Namen aufrief und ihn bat das Beispiel an der Tafel zu lösen schaffte es Shinichi endlich wieder zurück in die Realität zu kommen.

 

„Ich hatte eigentlich erwartet, dass du dich komplett blamieren würdest, als er dich an die Tafel gerufen hat“, murmelte Sonoko, als die drei das Schulgebäude verließen, „Ich meine so, wie du die Hände über den Kopf zusammengeschlagen hast. Aber das du das Beispiel dann trotzdem ohne Probleme gelöst hast hat mich enttäuscht.“

Shinichi hob fragend eine Augenbraue an. Natürlich würde Sonoko Genugtuung darin empfinden ihn versagen zu sehen. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass er Dinge besser wusste als sie. Er fragte sich auch gar nicht, wie sie darauf kam, dass er die Lösung zum Problem nicht gekannt hätte. Vermutlich hatte sie ihn gesehen, als er die Hände in seinen Haaren vergraben hatte, verzweifelt versuchend nicht an seine Zukunft zu denken, an die Zukunft derer, die er liebte. Schnell schob Shinichi die aufkeimenden, schlechten Gedanken zur Seite und antwortete stattdessen der jungen Erbin: „Es stimmt, ich dachte anfangs ich habe keine Ahnung wie das Problem zu lösen ist. Aber weißt du, als ich dann an der Tafel stand und das Problem aus einem anderen Blickwinkel betrachtet habe, da war die Lösung ganz offensichtlich.“

Sonoko rollte genervt mit den Augen und wollte schon eine freche Antwort geben, als eine Klassenkameradin, die eigentlich schon bei Schultor gewesen war zurück gelaufen kam.

„Sonoko! Sonoko, hast du ihn schon gesehen?!“

„Habe ich wen schon gesehen?“, fragte Sonoko und wirkte dabei nicht weniger verwirrt, als es Shinichi oder Ran waren. Gab es etwa schon wieder Gerüchte, von denen der Detektiv nichts mitbekommen hatte?

„Na, der süße Typ am Schultor! Alle Mädchen scharren sich um ihn und versuchen ihn zu einem Date zu überreden, aber er meint er wartet auf jemand ganz speziellen! Sonoko, du musst ihn dir ansehen, er ist bezaubernd! Oh, und Ran, du auch! Der Junge ist genau dein Typ!“

Dann lief die Klassenkameradin auch schon wieder eilig davon, in die Richtung, aus der sie eben gekommen war. Die beiden Mädchen tauschten einen kurzen, verwirrten Blick aus ehe sie in Richtung des Schultors liefen.

Shinichi hingegen seufzte nur auf und folgte den beiden, in gemütlichem Tempo. Warum sollte er sich wegen irgendeinem Typen am Schultor Gedanken machen?

Als er sich dem Tor näherte sah er den Auflauf von Mädchen und, ganz am Rand stehend, auch Ran und Sonoko, die miteinander tuschelten. Er versuchte den Auflauf zu vermeiden und steuerte direkt auf seine beiden Freundinnen zu, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen: „Was denn? Zu viele Konkurrentinnen um sich an das Objekt der Begierde ranzuschmeißen, Sonoko?“

Die junge Erbin bedachte den Detektiv mit einem bösen Blick, ehe sie sich wieder dem Geschehen zuwandte: „Nein, du Neunmalklug. Aber wies scheint ist er wirklich nicht interessiert. Sieh doch, er blockt alle Avancen ab.“

Shinichi wandte den Kopf um sich den Besucher anzusehen, was schwerer war als gedacht. Durch die Menge an Mädchen – seit wann waren so viele Mädchen an der Teitan Oberschule? – blitzte schwarze Stoff auf. Vermutlich die Schuluniform?

Ein Schopf dunkler Haare war auch zu sehen, aber wenn der Detektiv ehrlich war interessierte es ihn nicht. Shinichi wandte sich ab: „Das ist mir zu dumm, ich geh nach Hause.“

Ran und Sonoko sahen ihm noch nach, wie er sich langsam vom Schulgebäude entfernte als es plötzlich einmal laut Plopp machte und eine Schar weißer Tauben in die Luft stieg. Die Mädchen machten andächtige Laute und quietschten amüsiert, doch Shinichi erstarrte in seiner Bewegung. Erneut riss er den Kopf herum, zu der Gestalt, die immer noch umringt von Mädchen war und mit einem Mal hatte er sich seinen Weg durch die kreischenden Fans gebahnt und stand ihm Aug in Aug gegenüber. Das braune Haar wirkte durch die schwarze Schuluniform noch dunkler und seine tiefblauen Augen strahlten voller Leben.

„Was machst du denn hier?“

Kaito’s Miene erhellte sich noch mehr als er Shinichi sah: „Da bist du ja, Kudo! Ich hab auf dich gewartet, was sonst?“

Einige der Mädchen gaben einen enttäuschten Laut von sich, andere begannen zu tuscheln. Shinichi spürte mit einem Mal duzende Augenpaare auf sich gerichtet. Es war kein schönes Gefühl.

„Komm mit“, murrte er und packte Kaito am Handgelenk um ihn aus der Menge zu ziehen. Der Magier wehrte sich nicht. Er winkte den Mädchen kurz zu und folgte dem Detektiv dann, weg von den Fans, weg von Ran und Sonoko, weg von der Schule, weg von allem, dass zu unnötigen, dummen Gerüchten führen konnte.

Shinichi ließ Kaito erst wieder los, als sie sicher schon 10 Minuten unterwegs gewesen waren und sich weit genug entfernt hatten um nicht mehr auffällig zu wirken. Doch auch, als Shinichi ihn losließ, der Detektiv blieb nicht stehen, hielt seinen schnellen Schritt bei. Kaito schloss auf zu ihm und rieb sich das Handgelenk: „Was ist los, Kudo? Warum so überrascht?“

„Du wärst ja wohl auch überrascht, wenn ich plötzlich an deiner Schule auftauche“, murrte der Detektiv und erinnerte sich einen Augenblick später daran, dass er das ja sogar schon getan hatte. Und es hatte im Chaos geendet.

Shinichi verlangsamte seinen Schritt und sah Kaito an: „Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du bist noch im Krankenhaus.“

„War ich auch“, erwiderte Kaito und hob fragend eine Augenbraue an, „Liest du eigentlich deine Nachrichten? Ich hab dir doch geschrieben, dass meine letzte Visite gut war und ich entlassen wurde. Und, dass ich vorbeikomme und dich abhole.“

Shinichi hob ebenfalls seine Augenbraue an. „So eine Nachricht hab ich nie bekommen?“

„Blödsinn“, murrte der Magier und fischte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. „Ich hab doch heute Mittag erst die- oh.“

„Oh?“, wiederholte der Schülerdetektiv des Ostens und klang dabei ein klein wenig sarkastisch.

„Uhm“, Kaito hob den Blick und grinste leicht verlegen, „Kann sein das ich vergessen hab auf Senden zu drücken. Sorry.“

Shinichi rollte leicht mit den Augen, kommentierte aber nichts weiter dazu. Stattdessen richtete er seinen Blick nach vorne und beobachtete die Menschen um sich herum als er fragte: „Und was genau hat dich jetzt zu meiner Schule geführt? Und komm mir nicht mit ‚Die Schule lag genau am Heimweg vom Krankenhaus, darum dachte ich, ich besuche dich‘. Das wäre eine Lüge.“

„Heh, bringt wohl nichts dich anzuschwindeln, wenn du weißt, wo mein Haus ist, was?“, erwiderte der Magier amüsiert und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie schlenderten die Straße entlang, gemütlich und für eine Weile auch schweigend. Shinichi drängte Kaito nicht zu sprechen, er wusste, dass der andere Reden würde sobald er sich sicher war, welche Worte er dafür verwenden wollte.

„Eigentlich“, begann Kaito schließlich und zog so Shinichi’s Aufmerksamkeit wieder auf sich, „wollte ich mit dir darüber reden, was passiert ist. Dort, in der Lagerhalle.“

Shinichi verzog leicht das Gesicht. Er wollte nicht darüber sprechen, wollte nicht darüber nachdenken. Seine Brust begann zu kribbeln, an der Stelle, wo ihn die Kugel durchbohrt hatte und er strich gedankenverloren mit seinen Fingern darüber.

Er hatte erfolgreich verdrängt, dass eine Silberkugel seinen Körper durchquert hatte, hatte erfolgreich verdrängt, dass es Kaito’s schöne, langen Finger gewesen waren, die den Abzug getätigt hatten. Er hatte verdrängt wie panisch der Magier ihn angesehen hatte, die Schuld in seinen Augen, und Shinichi wollte es dabei belassen. Er war ein Vampir und er war mit traumlosen Schlaf gesegnet, warum also musste Kaito diese grausamen Erinnerungen wieder hervorholen?

Kaito blieb stehen und Shinichi tat es ihm ein paar Schritte später gleich.

Er erinnerte sich, was Miyoko gesagt hatte. Dass Kaito Alpträume hatte. Dass sie ihn deswegen mit Beruhigungsmittel ruhiggestellt hatte.

Kaito war kein Vampir. Er war ein Mensch und hatte als solcher natürlich Träume.

Shinichi wandte sich um und sah Kaito an. Der Blick des Jungen war gen Boden gerichtet und er wirkte im Großen und Ganzen gefasst, doch das war nur sein Pokerface. Shinichi sah die kleine Falte an Kaito’s Mund, wo er sich auf die Lippe biss, er sah die weißen Knöchel hervorstehen, die daher rührten, dass er die Hände beinahe krampfhaft zu Fäusten geballt hatte, er sah die Spannung in den Schultern des Jungen.

Kaito war ein Mensch und hatte Träume. Und wenn sein Verdacht richtig war, dann durchlebte er den Moment, als er Shinichi erschossen hatte wieder und wieder, jedes Mal, wenn er die Augen schloss.

Shinichi seufzte auf. Er packte erneut Kaito’s Handgelenk und zog ihn hinter sich her, weg von der lauten Hauptstraße in eine dunkle Seitengasse. Der Vampir begann zu atmen, etwas, dass er in letzter Zeit immer seltener tat wie ihm bewusst wurde. Er führte den Magier durch verschiedene Gassen und Straßen, bis er sicher war, dass sie komplett alleine waren. Dann ließ er Kaito los und wandte sich ihm zu.

„Wenn es nach mir ginge müssten wir nicht darüber sprechen“, begann der Detektiv langsam, „Weil es meiner Meinung nach nichts zu besprechen gibt. Was du getan hast war mutig. Du hast nicht nur Bram meisterhaft reingelegt, du hast auch noch eine große Bedrohung für mich und meinen Clan aus der Welt geschafft, ohne etwas dafür zu verlangen.“

„Aber ich habe dich erschossen.“

Shinichi war überrascht zu sehen, wie Kaito’s Fassade zu bröckeln begann. Wie die strahlendes Maske Risse bekame und von Schuld überschwemmt wurden, wie die hochgezogenen Mundwinkeln nach unten wanderten, seine ganze, aufrechte Haltung zusammensacken schien.

Shinichi war bei ihm, mit nur zwei Schritten und schlag seine Arme um ihn, so wie er es in der Lagerhalle auch getan hatte, fest, beschützend.

„Hör auf sowas zu sagen“, flüsterte er sanft in das Ohr des Magiers. Er spürte, wie der Körper in seinen Armen zu zittern begann und festigte seinen Griff, wollte ihm den Halt geben den er so dringend brauchte.

„Das, was du getan hast war großartig. Ich bin froh, dass du es getan hast. Ich bin froh, dass du uns alle gerettet hast, Kaito.“

Shinichi spürte, wie der Junge die Arme um ihn schlang und seine Finger sich in Shinichi’s Schuluniform vergruben. Er war sich nicht sicher, ob Kaito weinte, aber er würde ihn halten, so lange, bis er seine Fassung wiedergefunden hatte.

„Bitte verzeih mir, Shinichi…“, flüsterte der Magier erstickt und Shinichi nickte, hielt ihn weiterhin fest. Er würde ihn nicht gehen lassen. Er würde ihn nicht allein lassen, würde dafür sorgen, dass sie für immer zusammenbleiben würden.

Er wusste, dass das ein dummer Wunsch war. Er wusste, dass er diesen Wunsch nur hegte, weil das Band, dass sie aneinander knüpfte ihn näher zu Kaito zog. Behutsam schob Shinichi den Jungen von sich, nur ein Stück, und sah ihn an.

Kaito wirkte so zerbrechlich in jenem Moment, dass der Drang ihn unsterblich zu machen, übermächtiger war als je zuvor.

Doch anstatt ihn zu beißen, ihn zu verwandeln und zu einem der ihren zu machen zog Shinichi ihn wieder näher und versiegelte die bebenden Lippen mit einem innigen, gefühlvollen Kuss.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Kazuki_Honjou
2020-09-25T14:13:58+00:00 25.09.2020 16:13
Wow, nach all der langen Zeit endlich ein neues Kapitel. =D

Ich bin so froh, dass Shinichi doch noch lebt, obwohl er durchschossen wurde... Krasser Plan von Kaito, muss ich sagen. Kein Wunder, dass der Arme Schuldgefühle hat. Der letzte Absatz gefällt mir besonders gut. Die beiden gehören einfach zusammen. <3
Antwort von:  vampiergirl-94
27.09.2020 17:55
Ich kann mich deiner Meinung nur anschließen. BD Ich dachte schon diese geniale Werk würde nicht mehr weiter gehen.
Antwort von:  Listle
28.09.2020 20:24
I am so sorry das ich einfach über ein Jahr nicht hochgeladen habe! Aber diesmal beende ich das ganze, versprochen :D Fertig geschrieben ist die Story ja schon, es geht nur um diverse Korrekturen und hochladen. Aber diesmal zieh ichs bis zum Ende durch!
Antwort von:  Kazuki_Honjou
29.09.2020 16:08
Juhu, das freut mich. :)
Antwort von:  vampiergirl-94
29.09.2020 16:11
Super <3


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