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Himitsu no Mahou

von

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Der Flötenspieler

Wie verabredet wartete Grey nach dem Essen auf Green in der Bibliothek: eigentlich hätten sie zusammen gehen wollen – sie hatten ja auch zusammen gegessen – aber Green hatte Pink erst ins Bett gebracht. Sie war irgendwie komisch müde gewesen; an der Müdigkeit an sich war nichts komisch gewesen, aber die Uhrzeit und die Art, wie sie die ganze Zeit verkündet hatte, dass sie erschlagen und müde war… das war schon irgendwie eigenartig gewesen. Aber bei Pink wunderte sich Green eigentlich über gar nichts mehr – wer sie während einer Klassenreise 26 Mal anrief und danach vergaß was es so Dringendes gegeben hatte… ja, der konnte auch mal zu komischen Zeiten auf seine Müdigkeit bestehen – und natürlich darauf, dass Green sie ins Bett brachte als wäre sie wirklich noch ein kleines Kind. Eigentlich hatte Pink ein eigenes Zimmer bekommen, gleich in der Nähe von Green, aber sie hatte von Anfang an darauf bestanden bei Green zu schlafen, was sie ihr dann auch mit einem aufgebenden Kopfschütteln erlaubt hatte.  

Grey war schon völlig vertieft in seine Arbeiten als Green in der Bibliothek ankam und sah nur kurz auf, als seine Schwester herein kam. Sie warf kurz einem Blick zum Springbrunnen, als erwartete sie, der Geheimgang würde sich plötzlich öffnen und das schwarze Wasser heraussprudeln… aber dann gesellte sie sich zu Grey. Sie hatte Pink zu viel zugehört, das musste es sein. Es war Green nämlich so vorgekommen, als hätte Pink plötzlich wieder Angst vor dem Ort gehabt…  

Green legte ihre eigenen Bücher auf den Tisch, zusammen mit einem Teller mit Knabbereien, was ihren Bruder sofort dazu brachte aufzusehen.   

„Du weißt schon, Green, dass das Verzehren von Speisen in der Bibliothek nicht erlaubt ist, oder?“  

„Ja, aber du hast gerade eben ja kaum was gegessen! Du musst doch Hunger haben, also drück ein Auge zu – dir selbst willen, ja?“ Grey sah gleich wieder runter, denn er wollte es vermeiden Green zu lange anzuschauen. Schon bei diesen eigentlich so harmlosen Worten, hatte er gespürt, dass er rot geworden war… und das Geschehen von heute Mittag hatte er immer noch nicht ganz verdaut. Seine Augen waren zwar nicht mehr rot, aber sie brannten. 

„Ich habe keinen Hunger. Trotzdem, danke, Green.“ Sie seufzte und nahm sich selbst einen Keks. 

„Bist du dir sicher?“ 

„Ja. Lass uns lieber gleich mit den Fragen anfangen.“ Green stöhnte und gab nur widerstrebend ihre Einwilligung. Kurz erlaubte Grey sich, seine Arbeit zu pausieren – er war ohnehin schon weiter gekommen, als er gedacht hatte – und legte die Bücher beiseite, nahm sein Schneidzeug hervor und begann damit, Rüschen an einen Rock zu nähen, während Green seine Fragen beantwortete. Doch da Green nicht gerade von sich selbst behaupten konnte, dass sie besonders viel geübt hatte – oder sie sich gemerkt hätte, was sie gelesen hatte – ging es eher schleppend voran, denn natürlich bemerkte ihr Bruder jeden noch so kleinen Fehler. Es war daher schon 22 Uhr, als Grey zufrieden war und Green erlaubte – sie verzog das Gesicht – sich in ihre eigenen Bücher zu vertiefen.  

Natürlich war auch dieses Mal ihre Konzentration nicht dort, wo sie eigentlich sein sollte und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie Greys Schneiderarbeit interessanter fand – oder wie ihre Augen ab und zu wieder zum Springbrunnen huschten. 

Bis sie es dann nicht mehr aushielt. 

„Sagmal, Grey, weißt du, was der Sinn hinter dem Geheimgang da ist?“ Grey, völlig vertieft in seine Gedanken, schreckte auf und sah Green zuerst verwirrt an, ehe er dem Wink ihrer Feder folgte, die auf etwas hinter ihm zeigte. Er schien es allerdings immer noch nicht zu verstehen, weshalb Green ausfuhr: 

„Ich rede von dem Geheimgang unter dem Springbrunnen.“ 

„Da… da ist ein Geheimgang?“ Okay, offensichtlich war Grey nicht der richtige Ansprechpartner dafür – aber gut, wenn Ryô es nicht wusste und er ja nun einmal „Wächter des Tempels“ war… 

„Da ist so ein Gang drunter der zu einem Kanal führt. Ziemlich unheimlich, aber Pink findet ihn interessant und… nunja, ich auch. Ich dachte nur du würdest vielleicht wissen was für ein Sinn dahinter steckt.“ Grey blinzelte noch einmal verwirrt und Green sah das Gespräch eigentlich für beendet, aber dann sah sie, dass ihr Bruder nachdachte und als er sich zu ihr herum wandte war es Green, die die Augen weitete: 

„Wenn mich nicht alles täuscht ist das der Ort, wo unsere Mutter gestorben ist.“  

„W-Was? Unsere Mutter…?! Da unten?!“ Sofort wurde Green mulmig zumute und wieder huschten ihre Augen zu dem Engel, dessen weises Antlitz vom Mond erhellt wurde und plötzlich überaus unheimlich und drohend auf Green wirkte – da unten starb ihre Mutter?! Und sie hatte da einfach gestanden und hatte sich… umgeguckt. Lecker.  

„Ich war nie da unten.“ Green wünschte plötzlich sie wäre auch nie dort gewesen. 

„Ich habe Mutters… toten Körper erst gesehen, als er schon gesäubert und für die Ewigkeit hergerichtet worden war.“ Green schluckte, während Grey sich wieder seiner Schneiderarbeit zuwandte und zwischen ihnen geschwiegen wurde. Sie allerdings konnte sich nicht wieder ihren Büchern zuwenden, zu sehr war sie nun mit dem Ort und mit dem Tod ihrer Mutter beschäftigt.  

Sie war da unten, in dieser kleinen Kammer gestorben?! Wie hatte sie denn dort gekämpft? Sie hatte doch gekämpft, doch – doch, das hatte Green gehört und auch von gelesen. Sie war in einem Kampf gestorben, in einem Zweikampf… Green sah wieder zum Engel, betrachtete seine Flügel und dachte an das gigantische Kunstwerk ihrer Mutter, dass in der Nähe von Greys Zimmer hing… dort hatte sie ebenfalls Flügel gehabt… ihre Mutter war unter diesem Steinengel gestorben. Dort unten hatte sie ein Dämon getötet. Ein Dämon, der genauso stark und mächtig gewesen war, wie sie. Was das wohl für ein Dämon gewesen war?   

Aus diesen düsteren Gedanken weckte Grey sie, als er plötzlich aufstöhnte: ihr Bruder hatte sich in den Finger gestochen und ein paar Tropfen Blut kamen zum Vorschein. Green grinste angesichts von Greys verzogenen Gesichtes:  

„Steck dir den Finger doch einfach in den Mund.“  

„Nein?! Dann würde ich mir ja vorkommen wie ein Dämon!“ 

„Grey ernsthaft: Jeder halb normale Mensch würde das tun und das hat nichts mit dämonisch sein zu tun.“ Aber natürlich tat Grey es nicht: er steckte stattdessen den blutenden Finger in sein Wasserglas, das er natürlich danach nicht wieder anrühren würde. Green musste ein Lachen unterdrücken. 

„Das ist wirklich typisch du, Onii-chan!“  

„Ich finde das nicht so witzig! Stell dir vor, wenn ein Blutflecken auf dein neues Kleid gekommen wäre!“, rief Grey zwar leicht gereizt, doch als Green ihn entschuldigend anlächelte, musste auch er unwillkürlich schmunzeln, während er seinen Finger wieder aus dem Glas holte und es beiseite stellte – und tatsächlich kontrollierte er dabei, ob auch ja kein Fleck auf den teuren Stoff des noch teureren Kleides gekommen war.  

Green dagegen war eine Idee gekommen und während Grey mit dem neuen Kleid beschäftigt war, richtete sie sich auf und verschwand für einen kurzen Moment zwischen den Regalen. Als sie wieder zurückkam, hob Grey verwundert den Kopf, denn sie legte einen großen, alt und in die Jahre gekommenen Ordner oben auf ihre anderen Bücher. Grey musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte was das für ein Ordner war oder warum Green ihn ausgerechnet jetzt hervorholte. Green bemerkte anscheinend seinen Blick: 

„Hierüber bin ich gestolpert, als ich mal wieder auf der Suche nach neuen ach so tragischen Tagebüchern war! Es ist eine Art Ansammlung von gefährlichen Dämonen.“ 

„Und was willst du darin jetzt finden?“, fragte Grey, als er bemerkte, dass Green eindeutig etwas suchte; ihr Finger glitt über das Inhaltsverzeichnis. 

„Green, du weißt schon, wenn du einen bestimmten Dämon suchst, dann kannst du das auch am Computer tun. Alle Dämonen, ab der Klasse E, haben eine Akte. Du musst nur die Nummer oder den Namen kennen…“  

„Ach, ich habe schon das gefunden was ich gesucht habe! Näääämlich einen Eintrag den unsere Mutter gemacht hat – und zwar nur einen einzigen!“ Triumphierend zeigte Green auf das Inhaltsverzeichnis, wo in einer Tabelle der Name des Dämons stand, zusammen mit einer Nummer, einer Seitenanzahl und der Wächter, der ihn eingetragen hatte – und ganz am Ende, der aktuellste Eintrag, war von ihrer Mutter geschrieben.  

Das war alles was sie interessierte – das war der einzige Dämon, der für sie von Interesse war also musste das jawohl der Dämon sein, mit dem White gekämpft hatte. Haha! Und sie hatte es ganz alleine herausgefunden! Die vielen Stunden in der Bibliothek hatten sich ja doch irgendwie ausgezahlt gemacht, das war doch…gut, dachte Green grinsend, während sie zu blättern anfing.    

„Was findest du daran jetzt so interessant, Green?“ Die Angesprochene sah nicht auf. 

„Mutter hat einen Dämon eingetragen – und der interessiert mich!“ 

„Warum?“ Seine Schwester überhörte seine Frage.  

„N… Seite 311… Noc….ah hier!“ Green schlug gerade den Ordner ganz auf, womit sie einiges an Staub verbreitete, aber die Akte konnte sie sich nicht näher anschauen – denn genau in dem Moment, als sie sich der Akte widmen konnte, schlug Grey ihr den Ordner vor der Nase zu und klemmte Green dabei fast die Hände ein. 

„Hey! Was soll denn das?! Ich wollte das gerade lesen!“ 

„Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen. Morgen musst du wieder früh raus.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er den Ordner und stellte ihn zurück ins Regal und innerhalb von Sekunden wie es Green schien hatte er seine Sachen zusammengepackt, ohne auf ihren verwunderten Blick zu achten.  

„Was soll das?“ 

„Das habe ich dir doch gerade gesagt. Kommst du?“ Schon stand er an der Tür und dämmte die zwei Lichter runter die sie gerade gebraucht hatten. Green blieb stehen. Sie verstand sein Verhalten nicht – aber eins verstand sie ganz gewiss: Wenn Grey glaubte, dass er sie so davon abbringen konnte, diese Akte zu lesen, dann kannte er sie eindeutig noch nicht gut genug.  

 

 

Grey hätte sich von zehn Fingern abzählen können, dass sein Verhalten Green erst Recht neugierig machen würde. Sobald er in sein Zimmer verschwunden war, schlich Green daher zurück in die Bibliothek und vergaß dabei auch jeden Gedanken an irgendeine bedrückende Stille oder allgemein ihre Unlust nachts im Tempel umherzustreifen. Wenn ihre Neugierde erst einmal geweckt war, dann musste sie auch gestillt werden. 

In der Bibliothek angekommen, achtete sie nicht ein einziges Mal auf den unheilschwangeren Springbrunnen, sondern klemmte sich einfach den Ordner unter den Arm und lief zurück in ihr Zimmer, leise natürlich, denn sie wollte Pink nicht wecken. Das Licht ihres Schreibtisches dämmte sie auch so weit herunter, dass es gerade ausreichte um lesen zu können – und schon schlug sie neugierig auf Seite 311 auf.  

Das Bild des Dämons war ein etwas verschwommen, aber er schien bemerkt zu haben, dass er aufgenommen wurde, denn er starrte direkt in die Kamera, auch wenn das Bild in der Bewegung gemacht worden war. Die Augen, die sich direkt auf sie gerichtet hatten, waren die schrecklichsten Augen die Green jemals gesehen hatte. Die Augen waren stechend rot, die schwarze Pupille dünn und um sie herum war das rot heller, was die Pupille sehr deutlich hervor brachte - und was für eine Mordgier sie ausstrahlten... Unbewusst bekam sie eine Gänsehaut. Das war wirklich der Inbegriff für „dämonisch“.  

Obwohl das Bild unscharf war, glaubte Green, dass sie unter seinem linken Auge ein schwarzes, gerades Zeichen… oder Mal oder Tattoo erkennen konnte. Schwarzes, langes Haar, das leicht rötlich wirkte… aber was war das, was er da auf dem Rücken trug? Green konnte es nicht wirklich erkennen… 

Kurz schüttelte Green den Kopf und wandte sich auch kurz von dem Bild ab, denn es schien sie förmlich anzustarren und löste ein ungutes Gefühl in ihr aus. Aber Green riss sich zusammen; es war nur ein Foto, weiter, da war immerhin noch Text: 

 

Name: Nocturn Le Noires 

Nummer: 13-24-7893  

Rasse: Unbekannt    

Position: Keinen 

Geburtsdatum: 19.07.1965  

Größe: 186cm   

 

Favorisierte Techniken: Meister der Körper-, Seelen- und Gedankenkontrolle, allgemein Verbotene Techniken (Achtung!) 

 

Besonderes: Trägt immer eine Querflöte bei sich; besitzt keine spitzen Eckzähne; ein Zeichen unter dem linken Auge; besitzt keine Aura (Achtung!); hält sich meistens in Paris, Frankreich auf  

 

Green war geschockt. Nicht von den Daten an sich, sondern… woher zur Hölle wusste ihre Mutter denn das alles?! Green blätterte ein bisschen durch den Ordner und bemerkte, dass neben den Namen – der manchmal sogar auch fehlte – und der Nummer, höchstens die Position bekannt war. Alles andere war unbekannt… Woher wusste White das alles? Sein genaues Geburtsdatum?! Und – was zur Hölle – Paris?!  

Green sah zögernd auf die nächste Seite, wo der nächste Schock dann auch schon auf sie wartete: Die Liste von seinen Opfern war riesig und ganz oben stand: 

Eien Kaze Kanori.  

Greys Vater.  

Dieser Dämon hatte ihn also umgebracht…?  

Als Green die Liste weiter überflog, bemerkte sie geschockt, dass alle Elementarwächter der letzten Generation auf seiner Liste standen, inklusive aller Offiziere. Am Ende der Liste stand mit Whites schöner Handschrift geschrieben: 

Wird auf weitere 1.000 geschätzt; tötet willkürlich.   

Green atmete tief durch und schloss den Ordner. Mehr wollte sie dann doch nicht wissen.  

Was war denn das für ein Monster?! Zum Glück war dieser Kerl tot. Green schüttelte sich.  Der Typ war tot, Geschichte.  

Die Hikari schaltete das Licht am Schreibtisch aus und stattdessen ein kleines Leselicht am Bett. Sie konnte jetzt nicht einschlafen, vorher musste sie sich noch mit irgendetwas ablenken und für diese Ablenkung musste ein Buch herhalten, irgendeines, dass sie vom nächst besten Stapel herunter riss.   

„Die zugleich heilende und destruktive Lichtmagie“ Ja, das war genau das, was sie brauchte. Es klang zum Einschlafen, genau das richtige. Green legte sich unter die Decke und fing an zu lesen.  

Nach einer Stunde kam sie zu dem Schluss, dass das absolut das falsche Buch gewesen war. Sie hatte sich eigentlich ablenken wollen, aber nun war sie abermals schockiert. In diesem verdammten Buch stand bis ins kleinste Detail beschrieben wie ein Lichtwächter am effektivsten einen Dämon tötete! Wo die Schwachstellen waren, mit welcher Technik, haargenau welche Wirkung sie auf den Dämon hatte, wie sein Körper auf das Licht reagierte… was das Licht mit dem Körper eines Dämons tat… und das alles noch mit Bildern unterlegt. Egal wie angewidert Green von der ersten Seite an gewesen war, sie hatte das Buch einfach nicht aus der Hand legen können. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Magie so… so… schrecklich war. Wenn Green sie einsetzte, fühlte sie sich eigentlich immer so warm und wohl. Es war so ein angenehmes Gefühl.  

Doch… jetzt…? Jetzt wollte sie ihre Magie am liebsten nie wieder beschwören, der Effekt war einfach abscheulich! Bei jeden Wesen wirkte Lichtmagie heilend, man konnte niemanden verletzen – außer Dämonen. Das hatte sie natürlich gewusst, das war für sie absolut nichts Neues. Aber was für sie neu war, war, wie genau das Licht bei den Dämonen wirkte. Denn bei ihnen wirkte es anders, ganz anders. Die Magie verletzte nicht von außen, so wie Green immer angenommen hatte, sondern drang ins Innerste ein und zerstörte den Körper von Innen. Das Licht war ätzend wie Säure, die den Körper langsam von ihnen auffraß und zersetzte. Je nachdem wie stark oder schwach der Dämon, beziehungsweise der Hikari war, umso schneller oder langsamer ging dieser Prozess von statten. Sogar noch nach dem eigentlichen Kampf, konnten Dämonen noch an dem Lichtintus verenden. Langsam und qualvoll.  

Oh nein… oh nein, was wenn Siberu und Gary, wegen ihr, schon Lichtintus hatten…?! Was war, wenn Greens Magie schon stark genug war? Stark genug um sie zu töten, ohne das Green es überhaupt beabsichtigte?! Gary hatte sie noch nie angegriffen, dafür aber Siberu… was war, wenn er das verdammte Licht schon in sich hatte und es ihn langsam tötete…?!  

Aber… das würden sie doch wissen? Und ihre beiden Freunde hatten auf sie nie irgendwie geschwächt gewirkt… nein, nein, sie machte sich umsonst Sorgen. In dem Buch stand ja, dass die Dauer der Wirksamkeit des Lichtes davon abhängig war, wie stark der Hikari war – und Greens Licht war klein, unbedeutend. Sie konnte nicht einmal einen dunklen Raum erhellen – und plötzlich fand sie das auch sehr gut so. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Green momentan von ihnen getrennt war. Sie ertrug den Gedanken einfach nicht, dass sie am Ende daran schuld war, wenn ihnen etwas zustieße…  

Green schloss kurz fest die Augen. Dann ließ sie das Buch auf den Boden fallen, schaltete das Licht aus und zog die Decke über den Kopf.  

Wie sollte sie jetzt jemals wieder einschlafen…?! 

 

 

………….Es war eine wunderschöne Melodie, die Green aus ihrem Schlaf weckte. Ihre Augen waren noch geschlossen, als sie den Kopf hob, sich aufsetzte und die Hände an ihre Ohren legte um der Melodie besser lauschen zu können. Es war eine schwere Melodie. Dunkel. Die Dunkelheit selbst, aber anziehend, schön – schön und traurig.  

Was war das für ein Instrument?  

Voller drängender Neugierde diese Frage beantwortet zu erhalten, öffnete Green ihre Augen und erblickte ein paar Meter von ihr entfernt einen Mann. Ein unbekannter, schwarzhaariger Mann, der ihr den Rückenzugekehrt hatte. Sie kannte ihn nicht – sollte sie nervös sein? Vielleicht, aber sie war es nicht. Aus irgendeinen, ihr unbekannten Grund, war sie es nicht. Sie blieb einfach weiter sitzen und lauschte fasziniert, dem Spiel des Mannes, dessen Konturen im Licht des blutroten Mondes leicht rötlich wirkten. Er war derjenige der spielte, der diese faszinierende, verzaubernde Musik erschuf: sie stammte aus seinen Fingern, die sich auf seiner Querflöte hoben und senkten.  

Völlige Ruhe hatte von Green Besitz ergriffen. Irgendetwas… kleines in ihr sagte ihr, dass sie es nicht sein sollte, aber die Stimme war zu klein, zu unbedeutend, um irgendeinen Effekt zu haben – bis er aufhörte zu spielen und die Flöte senkte. Ohne den Grund dafür kennen, fühlte Green Wut in sich aufsteigen.   

„Warum hörst du auf zu spielen?!“ Er antwortete nicht. Das machte sie noch wütender. Sie wollte, dass er weiter spielte. Alles andere war unwichtig, von keiner Bedeutung.  

„Spiel weiter!“  

„Wenn du mir dein Blut schenkst, spiele ich weiter.“ Was für eine Stimme… was war das für eine eigenartige Stimme? Sie war ihr ein pures Rätsel, denn sie war ohne jegliche Betonung, ohne jeglichen Tiefgrund, ohne jeglichen Charakter – sie war einfach… vorhanden und formte Worte. Worte, die sie nicht verstand.   

„Mein Blut? Wozu?“ Warum sollte sie das tun? Was sollte das bringen? Sie wollte niemand  ihr Blut schenken.  

„Du willst mir also dein Blut nicht schenken?“ 

„Das habe ich nicht gesagt!“ 

„Soll ich das Blut von Anderen nehmen? Wäre dir das lieber?“ Von Welchen anderen? Sie waren ganz alleine, nur der blutrote Mond war da. 

„Siehst du sie nicht?“ Green hatte plötzlich ihren Stab in der Hand und richtete ihn auf den Rücken Flötenspieler. 

„Hör sofort auf meine Gedanken zu lesen!“ Er drehte sich immer noch nicht um. Er sah nicht einmal über die Schulter, nur unablässig drehte er seine Flöte um die Hand. Dann horchte er auf, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt – was es war, dass wusste Green nicht, denn plötzlich, von irgendetwas gestoßen, stürzte Green zu Boden. Als sie sich wieder aufrappeln wollte, lag etwas in ihrem Blickfeld. Zuerst konnte Green es, wegen der alles umfassenden Dunkelheit, nicht erkennen, doch dann sah sie, mit aufgerissenen Augen, dass es eine blutüberströmte Hand war und ihre Augen weiteten sich noch weiter, das Entsetzen in ihnen wurde noch größer, als sie erkannte wem die Hand gehörte: 

„Sibi!“ Panisch kroch sie zu ihm und nahm den völlig regungslosen, völlig erkalteten Halbdämon in ihre Arme. Er konnte doch nicht… er durfte nicht… er war doch… 

„Der erbärmliche Halbdämon ist tot.“ 

„Nein! NEIN! Das glaube ich dir nicht! Er ist nicht… er kann nicht… Sibi!“ Hasserfüllt und mit tränenden Augen sah sie zu ihm empor: 

„Du hast Sibi getötet! Warum?!“ 

„Ich? Du behauptest, ich hätte ihn umgebracht, obwohl du noch die Mordwaffe in deinen Händen hältst?“ Ein stoß ging zu Green – kurz erstarrte sie, doch wie von Fäden geführt wandte sie dann ihren Kopf etwas ruckartig zu ihrer rechten Hand, die Hand, in der sie den Stab hielt: Die Flügel waren zerbrochen und der Stab sah aus… sah aus… als wäre er in Blut getaucht worden.  

„..Aber… ich würde doch… nie… niemals… Das… kann doch nicht… Wieso… Sibi… Sibi!“ 

„Green, du hast Silver umgebracht.“ Das war nicht die tonlose Stimme des Flötenspielers…  

Zitternd drehte Green sich herum und erblickte, genau wie von ihr befürchtet, Gary – doch nicht so aussehend, wie sie ihn kannte, sondern mit den roten Augen eines Dämons. 

„Aber Gary! Du weißt doch, dass ich Sibi niemals würde verletzen wollen…! Ich habe ihn nicht umgebracht…bitte glaub mir! Ich habe es nicht getan!“  

„Er hört dich nicht. Er wird dich töten, so wie du seinen Bruder getötet hast.“ Siberus Körper hatte sich aufgelöst. Funken umkreisten Green, als sie aufstand. Mit Müh und Not konnte Green Garys Angriff ausweichen, obwohl er ohne jegliche Vorwarnung geschehen war. Aber ihr Stab fing den Angriff ab – der Stab, der auch schon Siberu… Siberu…  

„Du musst ihn angreifen. Sonst stirbst du - wäre doch schade.“      

„Ich kann nicht...! Ich will nicht! Gary, bitte hör auf!“  

„Wieso? Du hast die Macht ihn umzubringen.“  

„Nein, habe ich nicht! Ich will ihn nicht verletzen! Ich will ihn nicht auch noch verlieren! Gary!“  

„Du bist eine Hikari. Mach deine Mutter stolz. Oder willst du ewig „Yogosu“ bleiben? Er ist nur ein Halbdämon. Töte ihn. Das geht einfach… Siehe… Ich werde dir dabei helfen.“ Green wusste nicht wie ihr geschah. Ihr Körper bewegte sich von allein, ohne, dass sie überhaupt etwas tat. Aber diese Bewegungen… noch nie in ihren Leben hatte Green solche Angriffspositionen benutzt, sie hatte sie gar nicht erlernt – und was waren das für Techniken?! Von denen hatte sie noch nie etwas gehört, diese hatte sie noch nie gelernt! Aber es waren die Techniken und die Beschwörungen der Lichtwächter! Es war ihre Sprache die sie da benutzte!  

„Guck? Siehst du das Blut? Siehst du wie einfach das geht? Wie einfach es ist, ihn umzubringen?“ 

„Hör auf! HÖR AUF! BITTE!“ Green konnte absolut nichts tun. Ihre Gedanken waren das einzige was sie noch hatte, was noch ihr selbst gehörte. Sie konnte nichts sagen, nichts unternehmen. Ihr Körper gehorchte ihr absolut nicht. Sie war nicht Herr über ihren Körper – sie konnte ihn nicht aufhalten, ihn nicht davon abbringen das zu tun. Nicht einmal die Augen konnte sie schließen um nicht zu sehen, wie der Stab immer wieder auf Gary einschlug.   

„Aufhören? Wieso? Er ist doch noch nicht tot.“ Green flossen die Tränen aus den Augen, während sie Gary immer mehr zusetze. Es ging… alles so schnell und doch dauerte dieser Moment ewig. Der Moment in dem Gary zu Boden fiel. Tot. 

„Jetzt ist er tot. Jetzt darfst du aufhören.“  

Sofort gehörte Greens Körper wieder ihr und sie fiel vor ihm auf die Knie. Den blutgetränkten Stab ließ sie fallen. Green nahm seine Hand, drückte seinen leblosen Körper an sich wie zu vor Siberus. Tränen liefen Green über die Wangen, genau wie das Blut zwischen ihren Fingern lief und auf den Boden tropfte. Das Blut breitete sich aus, vermehrte sich… wurde zu einem kleinen See um sie herum. 

„Das war schön. Das war genug Blut. Das hat genügt. Ich werde weiterspielen.“   

Green merkte nicht, dass der Flötenspieler näher heran gekommen war. Er stand jetzt genau vor ihr, aber da sie den Kopf immer noch gesenkt hielt, dicht an Garys sich nicht mehr bewegender Brust, bereits im Begriff sich aufzulösen, konnte Green nicht mehr als seine schwarzen Stiefel sehen, dessen metallene Riemen im roten Mondlicht leuchteten. 

„…warum…“ 

„Weil du es wolltest. Es war dein Wunsch.“ 

„…Nein… ich wollte es nicht…Ich würde niemals… Das kann doch alles nicht wahr sein… mach die Augen wieder auf, Gary…!“  

„Hör auf zu jammern. Du wolltest Beide umbringen. Ich habe dir lediglich dabei geholfen. Dabei geholfen dein Schicksal zu erfüllen. Du bist eine Hikari - sei stolz drauf.“ Green hielt sich die Ohren zu und schüttelte verbissen den Kopf. 

„NEIN! NEIN! NEIN! DU LÜGST!“ Er hob den Arm und zeigte nach links. 

„Schau doch hin. Dann siehst du dein wahres Ich und dann weißt du, dass meine Worte der Wahrheit entsprechen.“ Zögernd, ganz langsam wandte Green den Kopf und sah in einen Spiegel. Dort sah sie nicht, das, was sie erwartet hatte zu sehen. Stecknadelgroße Augen blickten ihr entgegen, ein kleines, zitterndes Mädchen, mit einem fast schon aufgelösten Körper im Schoss – ein Mädchen, mit hellen, weißen Haaren…und ihre Augen. Sie waren nicht mehr dunkelblau.  

Sie waren weiß. 

Dieselben Augen wie auch alle anderen in ihrer Familie. 

Die Augen einer Hikari. 

 

 

Pink wurde unsanft aus ihren süßen Träumen gerissen, als ein spitzer Schrei neben ihr ertönte. Erschrocken wandte sie sich herum und sah, dass Green kerzengerade im Bett saß, mit weit aufgerissenen Augen und bebenden, offenem Mund, aus welchem immer noch erstickte Schreie drangen. 

„Green-chan?!“  

Doch ehe Pink etwas tun konnte, wurde die Zimmertür aufgestoßen und Grey kam herein gelaufen. Er hatte wohl Greens Schrei gehört… nein, gespürt. Ohne auf irgendetwas anderes zu achten packte er Greens Schultern, versuchte sie zu beruhigen, aber Green schien ihn gar nicht zu hören. Ihre Augen waren immer noch so klein, so klein und ihre Brust hob und senkte sich in einem viel zu schnellen, unregelmäßigen Rhythmus. Kreidebleich war sie und die Tränen rannten wie Wasserfälle an ihren weißen Wangen herunter. Aufgeregt und hilflos blickte Grey sich im Zimmer herum, traf jedoch nur Pinks ebenfalls bestürzten und hilflosen Blick – sah aber dann den Ordner auf Greens Schreibtisch.   

„Green… hattest du einen Alptraum von…?“ 

„…Sibi…!“ Sie sah erschüttert ihre bebenden Hände an ohne auf Greys Frage zu reagieren.   

„…Gary…!“ Das Tempelwächter-Zwillingspaar kam hinzu und kurz blickte Grey Ryô hilfesuchend an, als hätte dieser per se eine Lösung parat, doch auch er sah geschockt aus, angesichts von Greens Zustand, genau wie Itzumi.  

„Ryô, ich brauche ein Beruhigungsmittel!“ Ryô schreckte auf, nickte und umgehend lief er aus dem Zimmer. Pink war bis zum Ende des Bettes gekrochen und hatte die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen: sie ertrug es nicht Green in so einer Verfassung zu sehen und vergrub ihr Gesicht schutzsuchend in ihre Decke. Grey konnte es ihr nicht verübeln: er würde sich am liebsten auch unter einer Bettdecke verkriechen, doch er unterdrückte diesen Wunsch. Er musste dafür sorgen, dass Green wieder klar denken konnte, dass sie verstand, dass es nur ein Alptraum war – und dass sie aufgewacht war, nicht länger darin gefangen. 

Dann – plötzlich – warf Green sich ihm in die Arme und überrumpelte ihren besorgten Bruder damit völlig.  

„Gary…! Es tut mir Leid…! Es tut mir Leid! Ich wollte das nicht! Ich wollte dir nicht wehtun…! Ich wollte auch Sibi nicht wehtun…! Ich wollte ihn nicht töten! Sag ihm das! Sag ihm, dass ich ihn nicht verletzen wollte…! Ich habe es nicht mit Absicht getan… Ich wollte das nicht!“ Jetzt verstand Grey: sie dachte wohl… sie nahm wohl an, er wäre der Ältere der beiden Halblinge. Wahrscheinlich weil sie in etwa die gleiche Größe hatten… und in Greens jetziger Verfassung… Was sollte Grey tun? 

„Itzumi! Hol Wasser, kaltes! Schnell!“ Dann wandte er sich wieder Green zu, die sich jetzt krampfhaft an ihn fest klammerte und immer wieder dasselbe wiederholte… Flehte ihn um Vergebung an, beteuerte, dass sie ihn niemals verletzen wollte, dass… 

Grey legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Es war doch egal, für wen sie ihn hielt. Hauptsache sie kehrte wieder zu Bewusstsein zurück. Hauptsache, diese Berührung tat ihr gut.  Doch egal was er auch sagte, welche Worte er auch wählte, sie hörte es nicht, sie ging nicht darauf ein – sie erreichten sie nicht, egal wie fest Grey sie an sich drückte.    

Dann endlich kehrten die Zwillinge wieder zurück. Itzumi gab Grey das kalte Wasser und ohne zu zögern schüttete er es über seine Schwester aus. Sie schrie kurz auf, da dass Wasser ziemlich kalt war, doch dann blinzelte sie, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und sah sich dann verwundert um. Sie war… aufgewacht. Er sah es an ihren größer werdenden Augen, die aus einem Grey unverständlichen Grund zuerst zum Spiegel huschten. Erst als sie ihr eigenes Spiegelbild sah seufzte sie erleichtert auf. 

„…Es war ein Alptraum… nur ein Alptraum! Gary und Sibi… sind am Leben…“ Voller Erleichterung sackte Greens nasser Kopf auf ihre Brust und ohne, dass Grey sich von dem Wasser stören ließ, legte er abermals die Arme um sie – und obwohl seine Schwester erwacht war und ganz gleich ob sie kurz zusammenzuckte, sie nahm die Umarmung dankend an, legte ebenfalls die Arme um ihn.  

 „Green… kam in seinem Traum ein Flötenspieler vor?“ Grey spürte, dass Green langsam nickte.  

„Es tut mir Leid, Green… so Leid. Ich wollte nicht, dass dieser Dämon auch für dich zum Alptraum wird.“ 

„Hat er… hat er… war er es, der deinen Vater…?“ 

„Ja.“  

„Er ist…“ 

„Ja, er ist tot. Dein Traum wird nie in Erfüllung gehen. Es war nur ein Alptraum…“ 

„Mutter hat ihn getötet…? Ist das… sicher…?“ Grey nickte und als Green zögernd, leicht ängstlich aufsah, lächelte er sie aufmunternd an: 

„Ja, Mutter hat es getan. Er wird nie wieder zurückkehren. Egal was du geträumt hast, es bleibt ein Traum.“ Green nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Erst da traute sich auch Pink wiederhervor, die die Arme um Greens Hüfte schlang und den Kopf in ihrem nassen Nachtkleid vergrub, ohne etwas zu sagen. Verwundert sah Green Pink an, doch nur kurz, ehe sie lächelnd eine Hand auf ihren Kopf legte und diesen beruhigend streichelte.  

Dieses vertraute Bild, dieses familiäre Bild… brachte Grey ebenfalls zu einem Lächeln, aber es wurde schnell beunruhigt, als er zum Ordner sah.  

Er hätte es wissen müssen – und wie schrecklich er sich nicht dafür schämte, dass genau das eingetroffen war, was er sich nicht gewünscht hatte. 

Reichte es diesem Nachtmahr denn nicht, nur Grey zu plagen? 

 

 

Am nächsten Morgen war Green wieder absolut wohlauf. Sie hatte beschlossen, den Traum einen Traum bleiben zu lassen. Grey hatte immerhin recht: Nocturn war seit 16 Jahren tot und das würde ja auch so bleiben. Sie würde niemals in eine Lage kommen wie die in aus ihrem Traum.  

Siberu und Gary würden niemals durch ihre Hand sterben. Eher brachte Green sich selbst um.  

Etwas ziellos streifte Green alleine durch den Tempel. Es war noch sehr früh am Tag; es hatte nicht einmal Frühstück gegeben: Pink schlief noch, Grey war schon im Jenseits, obwohl er eigentlich hatte bei Green bleiben wollen, doch sie hatte ihm beteuert, dass es ihr wieder 100% gut ginge und er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Natürlich wollte sie im Moment lieber mit Grey zusammen sein, anstatt alleine durch den Tempel zu streifen, aber sie wollte auch nicht so wirken, als würde so ein Alptraum sie komplett aus der Bahn werfen. 

Etwas verwirrt blickte Green sich herum. Dieser Gang kam ihr irgendwie nicht bekannt vor. War sie hier noch nicht gewesen? Das war gut möglich, obwohl sie eigentlich das Gefühl hatte, dass sie alles vom Tempel kannte – manchmal entdeckte sie immer noch einen ihr unbekannten Winkel. Der Tempel war einfach so… enorm. 

Aber dieser Gang schien nicht sonderlich spannend zu sein, außer, dass Green ihn nicht kannte, denn er endete in einer Sackgasse, führte nur zu einer einzigen Tür, am Ende des Ganges. Was wohl dahinter lag? Ob es einer der Türme war, fragte Green sich selbst, während sie hinaus in den hellen und klaren Morgenhimmel sah, der zwischen den Säulen sichtbar war.   

Die Tür war nicht abgeschlossen und Green hatte keine Skrupel einfach hinein zu gehen. Ein unbenutztes Zimmer lag leergeräumt vor ihr. Der Schreibtisch war unbenutzt und poliert, die Regale leer und die Vasen wurden nicht geziert von Blumen. Die Balkontür stand offen und der Wind spielte mit den hauchzarten weißen Vorhängen. Neugierig ging Green weiter ins Zimmer hinein, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und begutachtete ein langes Gemälde welches über dem Schreibtisch hing. Auf Grund seiner dunklen Farben stach es hervor, denn es zeigte einen Abendhimmel, auf dem die Sonne gerade untergegangen war und die ersten Sterne am Himmel blinkten. Ein ungewöhnliches Motiv für ein Kunstwerk, das im Tempel hing, aber Green gefiel es. Es hatte etwas Ruhiges an sich. 

Green wandte sich vom Bild ab und bemerkte stutzend, dass auf dem Schreibtisch kein einziger Staubkrümel zu finden war; Itzumi musste dieses Zimmer regelmäßig putzen – warum nur?  

Aber ein hübsches Zimmer war es wirklich und wie perfekt es lag, überlegte Green, mit den Händen auf den Rücken, als sie sich zur offenen Balkontür herumwandte und hinaus in den Himmel blickte. Nichts als Himmel konnte man von hier aus sehen. Das Zimmer lag vielleicht etwas zu abgelegen vom Rest des Tempels, aber es war wirklich ein sehr schönes Zimmer.    

Sie schritt wieder auf die Tür zu, doch gerade als sie die Hand über den Türknauf hatte, hörte sie etwas… Die zarten Töne einer Spieluhr. Es war eine sanfte Melodie, aber dennoch ging ein Stoß durch ihren Körper und mit dem schrecklichen Bild des Alptraumflötenspielers wandte sie sich etwas nervös herum – aber es war niemand zu sehen. Natürlich war niemand zu sehen, Green!   

Die einzigen die mit ihr dort waren, waren ein paar Vögel, die auf dem Balkongeländer saßen und ihre Lieder zwitscherten. Green lief ein Schauer über den Rücken, sie fühlte sich nicht wohl - als wäre sie nicht allein. Die Töne der Spieluhr waren langsam und ein wenig schleppend… und weckten in Green ein Gefühl von Traurigkeit. Sie schaute sich um, doch nirgends konnte sie eine Spieluhr entdecken. Doch in der Ecke des Zimmers führte eine Wendeltreppe nach oben, in eine zweite Etage, in eine Art Atelier. Mit etwas unsicheren Schritten ging Green auf die Wendeltreppe zu und rief leise nach oben: 

„…Ist da jemand?“ Doch nur die Melodie antwortete ihr. Greens Hand lag schon auf dem Geländer, aber sie zögerte nach oben zu gehen. Sie sah noch zur Balustrade der zweiten Etage, als erwartete sie, dass irgendjemand dort oben auftauchen und zu ihr herunter schauen würde.  

Es geschah nichts. Natürlich geschah nichts, nur die Melodie spielte weiter und ein sanfter Windhauch kräuselte ihre Haare. Green schluckte, sah die Wendeltreppe an, die sie unwillkürlich wieder an die erinnerte, die sie vorgestern nach unten geführt hatte… dort wo ihre Mutter mit diesem Monstrum gestorben war… ah, nicht daran denken. Einfach hochgehen.     

Oben angekommen war natürlich auch niemand – dennoch atmete Green erleichtert auf, ehe sie sich in dem recht kleinen zweiten Teil des Zimmers umsah. Warum war sie eigentlich so nervös? Es wirkte doch alles so freundlich, so hell und luftig. Auch der obere Teil des Zimmers wurde hell von einem großen Fenster erleuchtet, das gegenüber von einem großen, weißen Himmelbett stand, das zur Wand gewendet war. Daneben ein Kerzenleuchter und am Fenster stand eine Harfe, von der Greens geschultes Auge sofort wusste, dass es sich um eine Harfe aus puren Gold handelte. Mein Gott! Wer hatte denn hier gelebt – und vor allen Dingen, warum stand so ein teures Stück hier noch herum?  

Und dort – auf dem Nachtschrank, stand die Spieluhr, die nicht aufhören wollte zu spielen. Die Gänsehaut Greens nahm zu, sie spürte sie jetzt am gesamten Körper, denn die Feder, die man brauchen würde, um die Spieluhr aufzudrehen lag neben der Spieluhr und nichts deutete darauf hin, dass sie benutzt worden war.  

Wie war sie angefangen zu Spielen? Der Wind hatte sie wohl kaum zum Spielen gebracht… war hier jemand gewesen, ohne, dass sie es bemerkt hatte…? Green schüttelte den Kopf und nahm, wie aus Protest, die Spieluhr in die Hand, die sofort verstummte.  

Die Spieluhr bestand zum größten Teil aus blauen Tönen: blau Töne, die sich vom hellen Himmelblau, bis hin zu den dunklen Nachthimmel hinstreckten. Eine kleine Figur eines Engels war an der Spitze angebracht, allerdings sah der Engel ein wenig mitgenommen aus, denn er hatte nur einen einzigen Flügel. Aber wenigstens hatte er noch beide Arme – haha… - die beide weit ausgestreckt waren, als würde der Engel nach etwas greifen wollen. Vielleicht nach dem im Hintergrund, im Deckel der Spieluhr, aufgemalten, schwarzem Adler? Es sah jedenfalls fast so aus als würde der Engel versuchen den Adler zu erreichen… ohne es jemals tun zu können, sich immer nur im Kreis drehte zu dieser traurigen Melodie.   

Die Spieluhr war kaputt. Überall hatte sie Risse. Als wäre sie gegen die Wand geworfen worden und dann wieder notdürftig, aber mit großer Mühe, zusammengeflickt.   

Erst da sah Green dass die Spieluhr kaputt war. Sie hatte überall Risse, als hätte man sie gegen die Wand geworfen und danach wieder mit großer Mühe zusammengesetzt.  

Untersuchend drehte Green die Spieluhr auf den Kopf und sah, dass auf dem Boden etwas eingraviert worden war: 

„An H.A.T.S.W in ewiger Treue E.K.K.“  

Zuerst wusste Green nicht was die zweiten Initialen bedeuten sollten, aber dafür wusste sie sofort, wofür die ersten standen: Hikari Akarui Tenshi Shinsetsu White. Na großartig! Bedeutete das, dass Green in dem ehemaligen Zimmer ihrer Mutter eingedrungen war? Das war sicherlich nicht unbedingt gut, dachte Green mit einem unsicheren Lächeln und stellte daher auch die Spieluhr zurück. Sie wollte eigentlich sofort gehen, aber dieser Entschluss bröckelte, sobald sie sich herumdrehte. Einmal wollte sie die Melodie noch einmal hören. Und dagegen hatte ihre Mutter garantiert nichts.  

Green nahm also die Feder in die Hand und steckte sie ins passende Loch, doch es klemmte. 

„Verdammtes Mistding! Gerade hast du noch freiwillig gespielt, hallo?!“ Während Green hartnäckig versuchte die Feder umzudrehen, baumelte ihr Glöckchen aus ihrem Oberteil heraus und berührte den Engel – doch das bemerkte Green nicht, denn in diesem Moment gelang es ihr mit einem siegreichen Ausruf, die Feder zu drehen.  

Allerdings verblasste ihre Freude schnell, denn das Glöckchen hatte zu Strahlen angefangen, zusammen mit dem Klang der Spieluhr – die ebenfalls aufstrahlte und das gesamte Zimmer, inklusive Green, in ein helles, blaues Licht einhüllte---  

„Was zum Teufel…?!“ Mehr konnte Green nicht ausrufen, denn schon wurde ihr schwarz vor Augen.  

 

 

          

 



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