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Was die Hitze des Sommers nicht alles bewirken kann...

The Vessel and the Fallen 1
von

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Heimreise

*~*
 

„Dann bis gleich, wir sehen uns im Palast“, meinte Kouen und wartete geduldig, bis sein keuchender Bruder ein neues Portal nach Rakushou öffnete.

Koumei hatte bereits Kougyoku, Koubun Ka, Kouens Vasallen und einige Bedienstete samt wichtigen Utensilien in die kaiserliche Hauptstadt des Kou Reichs befördert. Nun bebte er unter der Anstrengung, die Macht seiner Dschinniya ein weiteres Mal zu beschwören. Zerzaust und verschlafen wie üblich stand er im großen Saal und umklammerte krampfhaft sein gefiedertes Metallgefäß. Das Gold und der prächtige Rubin glitzerten im einfallenden Sonnenlicht, wirkten unter den wärmenden Strahlen umso schöner, während diese bei ihrem Herrn lediglich heftige Schweißausbrüche hervorriefen. Er hatte nicht einmal einen schlappen Blick für den Glanz der schwarzen Federn seines Fächers übrig. Stattdessen hob und senkte sich seine magere Brust bedenklich, während er versuchte, die Reste seines Magoi zu bündeln. Nur wollte ihm dies unter Kouens wohlwollenden Augen und Chuu'uns zurückhaltender Präsenz nicht problemlos gelingen.
 

Sein älterer Bruder hatte sich, so imposant wie eh und je, in der Mitte des Saales aufgebaut, ein paar Gepäckbündel an seiner Seite und musterte Koumeis Bemühungen sehr genau. Unter Metallgefäßbesitzern musste man einander einfach auf die Finger schauen, vielleicht lernte man etwas, dass man für seine eigene Technik mit den Dschinns umzugehen verwenden konnte.

„Mein Bruder und König, verzeiht mir, es dauert wohlmöglich noch ein wenig, bis ich wieder über genügend Kraft verfüge“, stöhnte Koumei niedergeschlagen.

„Na schön, daran ist nichts zu ändern“, seufzte Kouen, ehe er streng hinzufügte: „Das kommt davon, wenn du nur einmal im Monat mit deinem Dschinn übst! Dies ist ein eindeutiges Zeichen, dass du mehr für deine Künste, sowie deine Kondition tun musst!“

Der Jüngere schluckte erschöpft. „Ich weiß … es ist nur nicht grade einfach, nach der Arbeit noch mehr Energie mit praktischen Übungen zu verschwenden.“

„Das stimmt. Aber dass es leicht wäre hat niemand behauptet. Meinst du, ich hätte es geschafft mit Astaroth und den anderen Dschinn umzugehen, wenn ich meine körperlichen Kräfte nicht vollkommen ausgereizt, ja sogar überschritten hätte?“

Koumei schüttelte betrübt den Kopf. An sich fand er es nicht unbedingt traurig, wenn er anderen Männern körperlich unterlegen war. Bei näherer Betrachtung seines großen Bruders konnte man zwar vor Neid erblassen, sofern man lediglich mit ein paar knochigen Ärmchen und einer Hühnerbrust geschlagen war, aber Koumei kam recht gut mit dieser Ernüchterung klar. Als Stratege benötigte er kaum Muskeln oder Kampftechniken. Zur Selbstverteidigung hatte er vor langer Zeit einen kleinen Dolch erhalten. Die einzige Waffe, mit der er einigermaßen umgehen konnte. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Einen Ernstfall, wo er sich hätte beweisen müssen, hatte es glücklicherweise noch nie gegeben. Wahrscheinlich hätte er diesen auch nicht überlebt. Aber wozu besaß er schließlich einen treuen Vasallen und Leibwächter? Ja, er kam gut ohne Körper- und Kampfkraft aus. Allerdings machte ihn die Herrschaft über Dantalions Fächer irgendwie doch zu einem Krieger, der an sich arbeiten musste. Er wusste, dass Kouen und auch seine anderen Geschwister auf seine kämpferische Unterstützung oder die generelle Anwendung dieser Fähigkeit zählten. Wenn er sie dann aufgrund Magoimangels enttäuschte, fühlte er sich nutzlos.
 

„Erinnerst du dich noch, wie wir vor acht Jahren gemeinsam trainiert haben?“, brummte Kouen plötzlich und stieß ihn erheitert an.

Der Jüngere taumelte schlaff zur Seite und wandte den Blick ab. Sofort schoss die Schamesröte in seine Wangen. Wie könnte er diese Schmach je vergessen? „Du machst es mir unmöglich, mich nicht daran zu erinnern“, entgegnete er spitzer als beabsichtigt.

„Haha, das ist wohl wahr!“, lachte Kouen vollkommen unerwartet und schlug ihm kräftig auf die Schulter.

Ach, wie nett … Als wüsste Koumei nicht selbst, welch einen Versager er in den Augen der Welt darstellte.

Irgendwie hatte diese ganze Peinlichkeit jedoch auch ihr Gutes: Kouen wirkte deutlich glücklicher als zuvor.
 

„Als du das erste Mal die Macht deines Dschinn nutzen wolltest, bist du in einem Brunnen gelandet!“

„Mhm…“

„Du sahst danach wirklich fertig aus. Und nass. Dein Vasall musste dich tagelang trösten und nach allen Regeln der Kunst überreden, es später noch einmal zu versuchen.“

„Ich weiß …“, stöhnte Koumei und fühlte sich ganz elend, als würde sein Kopf gleich vor lauter Blut, welches ungehindert in sein bereits knallrotes Gesicht strömte, platzen.

Doch Kouen hatte offensichtlich Gefallen am Verspotten des Jüngeren gefunden. Wahrscheinlich merkte er nicht einmal, dass diese unbedachten Worte seinen Bruder verletzten.
 

„Beim zweiten Mal ging es auch nicht wesentlich besser und als wir dann erst die Waffenausstattung ausprobiert haben, hatte ich Angst um mein Leben …“

Das ließ sich nachvollziehen. Mit Schaudern erinnerte sich Koumei, wie er bei dem Versuch die Waffe seiner Dantalion zu beschwören etliche Bäume im Garten ihres Geburtshauses gefällt hatte, deren Kronen größtenteils verschwunden waren, in Wahrheit jedoch irgendwo am anderen Ende des Anwesens wie von Geisterhand wieder aufgetaucht waren und dort einen der Hauptwege versperrten. Zum Glück hatte Kouen hinter ihm gestanden, sonst hätte er den Älteren in der Mitte zweigeteilt. Über den Schreck, dass die Dschinniya gar keine Waffe trug, sondern sich allein auf ihre magischen Hände verließ, hatte er die Kontrolle verloren. Nichts ahnend hatte er sein Magoi in den Fächer strömen lassen, bis dieser in seinem Griff zerschmolz und das heiße Gold über seine Hände geflossen war. Die kochenden Qualen würde er nie vergessen. Besonders als das glühende Metall in seine Haut gesickert war und dort den achtzackigen Stern eingebrannt hatte. Schreiend hatte er versucht, die Schmerzen durch Ausschütteln der Hände zu lindern, was prompt zu einem verwüsteten Garten geführt hatte. Unnötig zu erwähnen, das Koumei danach kein gesteigertes Verlangen gehegt hatte, je wieder auf diese mysteriösen und ebenso gefährlichen Kräfte zurückzugreifen. Es hatte lange gedauert, bis er sich wieder an die Übungen mit Kouen wagte, vor allem weil er die wachsamen Blicke des Bruders wahrnahm. Er war sich so dumm und unfähig vorgekommen. Vor allem wenn er sah, wie mühelos Kouen die Gestalt aller seiner Dschinn annahm und beliebig wechselte. Bis Koumei selbst die vollständige Dschinnausstattung beherrscht hatte, waren viele Monate ins Land gezogen. Bis Chuu'un endlich auf Dantalions Kräfte angesprungen war, hatte es sogar Jahre gedauert. Selbst heute wusste sein Vasall manchmal noch nicht so recht mit seinem Hausgefäß umzugehen. Im Gegensatz zu Kouen und dessen Vasallen hatten sie beide noch unvorstellbar viel zu lernen.
 

„Bist du wieder einsatzbereit?“, erkundigte sich der erste Prinz und zeigte langsam doch erste Anzeichen von Unruhe.

„Ich kann es versuchen“, antwortete Koumei. Er zeichnete die Silhouette des großen Wagens in die Luft und öffnete endlich vollkommen mühelos das strahlende Tor aus Sternenlicht.

Als Kouen einen Fuß in das Portal stellte, hielt er ihn jedoch zurück. „Warte!“

Kouen runzelte kritisch die Stirn. Seine Lust darauf schien unterirdisch zu sein.

„Ich komme nicht sofort zum Palast. Ich besuche unser altes Anwesen!“, beschloss Koumei so plötzlich, wie er sonst niemals etwas festlegte. Wie kam er denn auf diese Idee? Ewigkeiten hatte er sich nicht mehr in das alte Haus gewagt. Mittlerweile konnte es vielleicht sogar verfallen sein! Niemand aus ihrer Familie lebte noch dort. Weshalb verspürte er mit einem Mal den unleugbaren Wunsch, dorthin zu gehen? Nun gut, er hatte schon seit Jahren mit dem Gedanken gespielt, dorthin zu reisen, aber nie hatte er ihn ausgesprochen. Vor allem nicht zu solch einem unpassenden Moment.

Kurz zeichnete sich Überraschung in Kouens Miene ab. Dann nickte er andächtig. Er schien widererwarten nichts dagegen zu haben. „Tu das. Ein bisschen frischer Wind und ein Spaziergang durch den wilden Garten wird dir guttun, bevor wir uns mit all dem Stress abplagen müssen. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, ich brauche dich an meiner Seite. Wir werden ohnehin nicht sofort zu Vater gehen, sondern auf alle Geschwister warten. So hast du eine gute Gelegenheit für deinen Ausflug, aber du solltest vielleicht nicht unzählige Tage dort verbringen. Und nimm deinen Vasallen mit, wer weiß was sich dort für Gesindel herumtreibt.“

Die ungewohnte Wärme in den Worten seines älteren Bruders rührte Koumei unerwartet. Die Sicherheit, gebraucht zu werden ebenso. „B-bis später“, verabschiedete er sich überrumpelt.

Kouen verschwand im Sternengleißen.
 

„Sollen wir uns ebenfalls auf den Weg machen?“, fragte Chuu'un, der das ganze Gespräch stillschweigend mitangehört hatte. Der Vasall zerrte einen Beutel mit Koumeis wertvollsten formellen Gewändern und ein paar interessanten Schriftrollen hinter sich her. Ansonsten gab es in der Residenz nichts, was seinem Herrn in Rakushou nicht auch zur Verfügung stand. Zusätzlich schleppte der Mann auch noch seinen Bogen, samt Köcher und Pfeilen, sowie seinen eigenen kleinen Reisesack mit sich herum. Da sie sich vorerst nicht unter hohe Gesellschaft begeben würden, trug er keinen Helm, was Koumei sehr begrüßte. Man gewöhnte sich zwar schnell an das leicht furchteinflößende Aussehen eines voll ausgerüsteten Bogenschützen, aber angenehmer war es trotzdem, jemanden in seiner Nähe zu haben, der wie ein Mensch erschien und nicht wie eine metallene Dämonen-Statue.

„Hast du an alles gedacht?“, hakte Koumei ein letztes Mal nach. Nicht, dass es tragisch wäre irgendetwas zu vergessen, im kaiserlichen Palast gab es alles was das Herz begehrte und wenn noch etwas fehlte, beschafften die Diener und Sklaven es in kürzester Zeit. Dennoch, Chuu'uns Waffen waren nicht leicht zu ersetzen. Bei dem Gedanken, lediglich einen unausgestatteten Leibwächter an seiner Seite zu wissen, überkam ihn ein Gefühl der unsichtbaren Bedrohung. Feinde lauerten überall und er selbst konnte sich nicht schnell genug verteidigen, um bei einem Anschlag lebend davon zu kommen. Dantalion benötigte vergleichsweise lange, bis sie ihre Kräfte freisetzte. Überraschungskämpfe kamen mit ihr nicht in Frage. Koumei seufzte bitter. Die Geschehnisse vor zehn Jahren hatten deutliche Spuren in seinem Geist hinterlassen. Wie armselig, nicht einmal der eigenen Familie vertraute er. Zumindest nicht dieser Hexe von Kaiserin, die seinen Vater umgarnt und sich auf diese Weise von neuem die Macht erschlichen hatte. Während Chuu'un rasch ihrer beider Gepäck überprüfte, spielte Koumei nervös mit seinen Armbändern herum. Wieder einmal verspürte er den inneren Widerstand sich in sein Heimatland zu begeben. Als würde sie dort etwas Schreckliches erwarten. Dabei hatte er es anfangs gar nicht verlassen wollen und sehnte sich so sehr nach der vertrauten Umgebung. Doch irgendetwas warnte ihn, dorthin zurückzukehren. Ob es klüger wäre, auf diese Vorahnung zu hören?
 

Nach einiger Zeit bemerkte er den fragenden Blick seines Vasallen. Ach ja, sie wollten aufbrechen. „Ist alles da?“, murmelte er in sich hinein, ohne recht auf die Antwort zu hören, ehe er Dantalion noch ein letztes Mal um Hilfe bat.

Ohne zurückzublicken durchschritten die beiden Männer das magische Portal.
 

Das erste, woran Koumei merkte, dass sie heimischen Boden betreten hatten, war der erfrischende Luftzug, der seinen Pferdeschwanz noch mehr als gewöhnlich zerzauste. Mit einem Seitenblick zu seiner Begleitung versicherte er sich, dass es Chuu'un nicht besser erging. Hinter ihnen verschwand das magische Tor und gab die Sicht auf rote Ahornbäume und mächtige Kiefern frei. Unter ihnen wuchsen hohe Stauden, die ihre belaubten Zweige vorwitzig miteinander verflochten. Zahlreiche Blätter und Moose bedeckten die leicht feuchte Erde, ein perfekter Herbstbeginn in Kou. Noch strahlte die Natur in all ihren Farben, ehe das momentan reichlich vorhandene Grün vollkommen von Gelb und Rot abgelöst werden würde. Vögel zwitscherten verhalten in den Bäumen. Welch ein verwunschener Ort. Es hätte problemlos eine Szene aus einer der kitschigsten Sagen, die Koumei kannte, sein können. Damals war es ihm zu Hause nicht so unerträglich friedvoll vorgekommen.

Chuu'un machte sich ebenfalls mit der hübsch anzusehenden Umgebung vertraut. „Habt ihr uns in einen bestimmten Teil des Anwesens gebracht, Herr?“, erkundigte sich der Bogenschütze orientierungslos. Kein Wunder, die meiste Zeit seines Dienstes hatte er am kaiserlichen Hof und nicht in der Behausung des Kaiserbruders verbracht.

Dennoch, eigentlich hätte Koumei erwartet, dass er einen herausragenden Orientierungssinn besaß, woher auch immer diese zu hoch gegriffene Vermutung stammte. „Wir befinden uns am äußersten Rand des Geländes. Bis zum Haupthaus und den Nebengebäuden werden wir einige Minuten laufen müssen.“

Chuu'un musterte ihn entgeistert, als hätte er den Verstand verloren. „Ist das Euer Ernst, mein Prinz? Ihr wollt mit Euren langen Gewändern einen Marsch durch Dreck und Dickicht wagen? Noch dazu mit diesen Schuhen?“ Er deutete fassungslos auf deren nach oben gebogene Spitzen.

Koumei nickte lediglich. Mit diesem Protest hatte er bereits gerechnet, doch aus irgendeinem Grund zog es ihn an die frische Luft. Beängstigend. Aber hier ließ es sich wenigstens aushalten! Keine pralle Sonne, sondern sanft-grauer Himmel mit zarten Wolken, keine lärmenden Menschenmassen, nur Einsamkeit und Ruhe. Zum Glück auch keine Eiseskälte … die hasste er zwar nicht ganz so sehr wie die Hitze Balbadds, doch im Winter brachten ihn ebenfalls keine zehn Pferde ins Freie. Nein, im Moment herrschten perfekte Temperaturen. Wenn der zweite Prinz sich schon einmal bewegte, dann an genauso einem friedlichen Ort. Chuu'un wirkte davon wenig begeistert. Nun, er war derjenige, der das schwere Gepäck tragen musste. Bedauerlicherweise konnte Koumei es ihm nicht abnehmen. Eigentlich schon, aber wo kämen sie denn dann hin? Er würde unter einer derartigen Last wahrscheinlich zusammenbrechen.
 

Also kämpften sich die beiden Männer durch das dichte Gestrüpp. Schnell bemerkten sie, dass die friedvolle Natur eher als verwahrlost zu bezeichnen war: Die Pflanzen wucherten, wie ihnen der Sinn stand und verhinderten manchmal jegliches Durchkommen, sodass sie sich eine neue Bresche durch die störrischen Zweige und Dornenranken schlagen mussten. Nun ja, genaugenommen hatte Chuu'un den ungepflegten Zustand des Gartens schon früher als sein Herr als das erkannt, was er wirklich war. Aber da Koumei so gedankenlos gewesen war, sie in die hinterste Ecke dieser undurchdringlichen Wildnis zu teleportieren, mussten sie nun mit den unangenehmen Folgen leben. Kein Zweifel, wenn der Vasall nicht voraus gehen und für den zweiten Prinzen nicht ständig Äste und Blätter zur Seite biegen, abbrechen oder zertrampeln würde, würde dieser wohl kaum hinterher kommen. Es dauerte nicht lange, da bedauerte Koumei ein wenig, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte und den armen Chuu'un die ganze Arbeit machen ließ, schließlich trug dieser auch noch das Gepäck. Doch dafür, dass er so schwer belastet war, schien er mit seinen Aufgaben meisterlich zurechtzukommen. Bei Gelegenheit musste er ihn dringendst für seine Mühen entlohnen.
 

Irgendwann nutzte dem Prinzen jedoch auch Chuu'uns Hilfe nichts mehr. Der Marsch entpuppte sich als länger und anstrengender als erwartet. Zum tausendsten Mal stolperte er über eine hervorstehende Baumwurzel, bestens von hohem Gras getarnt. Unaufhaltsam schwankend, versuchte er, sich wieder zu fangen. Vergeblich, Gleichgewicht war ihm immer schon ein Fremdwort gewesen. Mit einem hilflosen Keuchen segelte er in den nächstbesten Busch. Die spitzen Zweige bohrten sich in seine Haut und hinterließen schmerzhafte Kratzer. Murrend registrierte er, dass er dieser Falle hier nur mit Unterstützung entkommen konnte. Welch ein Unglück. Gewiss bestand sein Haar nur noch aus einem blätterbedeckten Nest. Wie schrecklich! Bestimmt war das die Strafe des Schicksals für seinen groben Umgang mit Judar. Das ihm das im eigenen Anwesen passierte, beschämte ihn jedoch sehr. Eigentlich hätte er sich ja denken können, dass nach etlichen Jahren, in denen keine Angehörigen der kaiserlichen Familie mehr hier lebten, keine Gärtner mehr die hinteren Teile des Gartens pflegen würden … Obwohl, niemand hatte den Bediensteten erlaubt, alles derartig verkommen zu lassen. So verwunschen und schön es bei der ersten Betrachtung wirken mochte, kein Mensch konnte sich in diesem Chaos bewegen.

„Alles in Ordnung?“, murmelte Chuu'un nervös, als er ihr Gepäck für einen Moment abstellte, um seinen Herrn aus der heimtückischen Pflanze zu befreien.

Koumei spürte, wie der Vasall seine Robe mühsam von den feinen Zweigen befreite, damit sie beim Aufstehen nicht zerreißen würde. Dieses Unterfangen dauerte allerdings ewig und der Bogenschütze wirkte nicht so, als hätte er noch viel Geduld zu bieten. Dennoch, eigentlich fand Koumei die Situation gar nicht übel, denn auf diese Weise blieb ihm etwas Zeit, bis er weiterlaufen musste. Ausruhen … wie willkommen. Wahrscheinlich bot er einen ziemlich lächerlichen Anblick, wie er in diesem Gestrüpp feststeckte und sorgfältig wieder losgemacht werden musste. Doch momentan war es ihm vollkommen gleichgültig. Sein Kopf, nein sein ganzer Körper hing geschwächt herab und die Augen würden ihm sicher gleich zufallen. Natürlich reichte die Pause am Ende doch nicht aus, um im Reich der Träume zu schwelgen. Stattdessen schaffte es Chuu'un irgendwie, ihn aus dem Busch zu zerren, ohne die teuren Seidenroben allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen.
 

Unwillig stand Koumei also wieder auf eigenen Beinen. Prompt bemerkte er, dass der kurze, wenn auch hindernisreiche Marsch ihn ziemlich ausgelaugt hatte. Seine Füße schmerzten bereits, er musste sich in den unpraktischen Schuhen Blasen gelaufen haben. Litt Chuu'un denn gar nicht unter den Anstrengungen ihrer unliebsamen Wanderung? Der Vasall nahm völlig unbewegt ihre Bündel auf und setzte sich in Bewegung. Keine Frage, er sollte einige Strapazen gewohnt sein, aber das hier… diese unerschütterliche Gelassenheit! Koumei bereute es sehr, als Zielort ihrer Teleportation die hinterste Gartenecke gewählt zu haben. Leider hatte er sich vorhin so sehr verausgabt, dass er seinen dummen Fehler nicht mehr korrigieren konnte. Sein Magoi, welches er für den entsprechenden Zauber benötigte, war unleugbar aufgebraucht. Wenn er nicht bis zum nächsten Morgen in diesem Urwald feststecken wollte, blieb ihm folglich nichts anders übrig, als Chuu'un hinterher zu rennen, wie ein unartiges Kind, das von zu Hause fort gelaufen war. Immerhin erlaubte das dichte Unterholz keinen schnellen Schritt. Unglaublich, wie sehr die Natur sich ihre Gebiete zurück eroberte, sobald sie niemand mehr in Schach hielt. Wie viele Jahre wohl vergangen sein mochten, seit die Gärtner noch die wuchernden Stauden und knorrigen Bäume zurechtgestutzt hatten? Mindestens fünf mussten es wohl gewesen sein, oder? Andernfalls wäre der zweite Prinz ein wenig verstört gewesen. Die Natur und er vertrugen sich nicht sonderlich gut, ganz egal welche Schönheit sie bot. Hinter der prächtigen Fassade lauerten Unwirtlichkeit und Gefahren. Nicht für ein schläfrig-schlaffes Etwas wie ihn geschaffen. Ob sich der kaiserliche Palastgarten tatsächlich über eine größere Fläche als dieser hier erstreckte? Es war kaum zu glauben.
 

Irgendwann, es konnte nicht viel später sein, doch Koumei hatte das Gefühl bereits seit Jahren im wahrsten Sinne des Wortes in Chuu'uns Fußstapfen zu treten, lichtete sich das Dickicht um sie herum und sie betraten endlich wieder einen Weg, der sich in akzeptablen Zustand befand. Kein Vergleich zu damals, die Sträucher und anderen Pflanzen am Rand waren keineswegs derart ordentlich gestutzt, wie Koumei es aus seiner Kindheit kannte. Doch immerhin ließ es sich hier vernünftig gehen, ohne bei jedem Schritt Ranken bei Seite schieben zu müssen. Koumei seufzte ermattet. Endlich mussten sie sich nicht mehr jeden Zentimeter Strecke erkämpfen. Dennoch, da flammte nicht nur Erleichterung in ihm auf. Wenn er auf das mächtige Brombeergestrüpp blickte, welches sich bedrohlich hinter der Wegabgrenzung auftürmte, begann sein Herz unangenehm dumpf zu pochen. Schweratmend verharrte er, handelte sich einen prüfenden Blick unter Chuu'uns Mähne hindurch ein. Koumei wusste ganz genau, was den Grund dafür darstellte. Niemals hätte er gedacht, dass die Erinnerung ihn an diesem Ort nach all den Jahren noch so heftig treffen würde. Den selben ausgetretenen Pfad hatte er in der Nacht seines Geburtstags mit Hakuren beschritten. Na ja, zumindest einer von ihnen war ihn eher in blinder Verzweiflung entlang gerannt, nur um dem Kaisersohn dann einen kleinen Anfall vorzuspielen. Es war einfach immer zu herrlich gewesen, wie kinderleicht er Hakuren hereinlegen konnte. Viel zu oft hatte ihn deswegen ein schlechtes Gewissen geplagt, doch er hatte nie damit aufhören können.

„Stimmt etwas nicht, Herr?“, wollte Chuu'un wissen.

Koumei zuckte zusammen. Kein Wunder, dass sein Vasall ihn aus den Gedanken gerissen hatte, wo er ohne ersichtlichen Grund für den anderen stehen geblieben war.

„Alles bestens“, gab er knapp zurück und versuchte sich einen aufmunternden Blick abzuringen, der wohl genauso  finster ausfiel, wie eh und je. Hakuren musste wirklich unermesslich dumm gewesen sein, da er ihm Lüge um Lüge bedingungslos geglaubt hatte.

„Seid Ihr erschöpft? Falls Ihr eine Pause einlegen möchtet…“

„Nein. Schon gut. Lass uns weiter gehen. Wir wollen nicht den ganzen Tag hier verbringen. Spätestens am frühen Abend sollten wir uns in Rakushou befinden. Kouen braucht alle Unterstützung, die er erhalten kann.“

Der Ältere neigte ergeben den Kopf. Doch Koumei konnte sehen, dass ihn seine Ausflüchte nicht beeindruckt hatten. Dieser räudige Kerl besaß einen viel zu sensiblen Instinkt für seine Gefühle. Niemand hätte dies je vermutet.

„Weißt du jetzt, wo es zum Haupthaus geht?“, erkundigte er sich, um den Bogenschützen abzulenken.

„Verzeiht, aber ich kann mich nicht mehr erinnern“, gestand dieser.

Koumeis Mundwinkel wanderten ein winziges Stückchen nach oben. „Dann folge mir.“
 

Bald schon erreichten sie das Gebiet, in dem sich sogar Chuu'un wieder auskannte. Je näher sie dem eigentlichen Anwesen kamen, desto gepflegter wirkte der Garten. Aber niemals sah er so aus, wie Koumei ihn in Erinnerung hatte. Ein kaum merklicher Hauch von Verwahrlosung lag stets über den üppig mit Blumen bepflanzten Rabatten. Er konnte nicht einmal benennen, woran es lag. Vielleicht weil ungewöhnlich viele herabgefallene Blätter neben und auf den kleinen Pflanzen am Boden lagen, oder vertrocknete Blüten zwischen den frischen Trieben hervorschauten. Damals hätten die eifrigen Bediensteten sie sofort entfernt, doch nun lebte das meiste Personal im kaiserlichen Palast oder war vor etlichen Jahren entlassen worden. Hier auf dem Land wohnten nur noch die nötigen Bediensteten, um das Anwesen nicht völlig verkommen zu lassen. Ob ihnen dies gelungen war? Irgendwie verlieh einem der Anblick des Gartens nicht unbedingt Optimismus.
 

Sie nährten sich bereits dem Haupthaus, zumindest konnten sie es hinter ein paar Ahornwipfeln ausmachen. Da entdeckten sie einen kleinen Verschlag, der früher einmal die Aufgabe eines Taubenschlags erfüllt hatte. Koumei war sofort begeistert. Es gab nichts, dass seine Aufmerksamkeit so sehr wecken konnte, wie Tauben es vermochten. Leise Geräusche drangen aus dem wackeligen Schuppen ins Freie, als lebten die possierlichen Tiere noch immer darin. Doch Koumei wusste, dass seine geliebten Vögel schon lange nicht mehr dort hausten. Vor ihrem Umzug in den kaiserlichen Palast hatte er die meisten Tiere mitgenommen. Viele von ihnen, falls sie noch lebten, kannten sogar sein Zimmer dort und flogen nicht selten zum Fenster herein. Darauf freute er sich bereits. Hoffentlich würden sie merken, dass er wieder dort weilte, immerhin war er lange nicht mehr in Rakushou gewesen. Tiere erkannten schnell, wenn sich das Aufsuchen eines gewissen Ortes nicht mehr lohnte. Allerdings begriffen sie ebenso flink, falls es dort doch wieder etwas zu holen gab. Und wenn sie es nicht lernten, konnte er sie immer noch im Taubenhaus aufsuchen. Trotzdem, er war neugierig, was mit dem ungenutzten Verschlag geschehen war. Vorsichtig entriegelte er die knarzende Tür, wobei ihm das morsche Holz beinahe unter den Händen weggesplittert wäre, und spähte ins schummrige Innere. Der Geruch, welcher ihm entgegenschlug, nahm ihm kurz den Atem. Ja, hier lebten eindeutig andere Vögel. Misstrauisches Gackern ertönte, sobald er den Kopf hinein schob. Als sich seine Augen ein wenig an das fehlende Licht gewöhnten, erkannte der Prinz eine kleine Schaar von Hühnern, die unruhig im schmutzigen Stroh scharrten, während ein zerrupfter Hahn mit ruckendem Kamm stolz umherstakste, was überhaupt nicht zu seinem heruntergekommenen Äußeren passen wollte. Offenbar hielten sich die Diener hier Geflügel. Keine schlechte Idee, so gelangten sie am einfachsten an Eier und Fleisch, auch wenn dieser Taubenschlag nicht wirklich für die Haltung von Hühnern taugte und sich niemand angemessen um die Tiere zu kümmern schien. Kopfschüttelnd kehrte der Prinz wieder zu Chuu'un zurück, der ihn geduldig erwartete.

„Es hat sich einiges verändert, nicht?“, sagte er leise, als wüsste er nicht, ob dieser Kommentar besonders klug war.

Koumei nickte lediglich zustimmend. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine reine Lüge gewesen. Oder Blindheit. Dies hier glich dem behaglichen Ort, wo er mit seinen Geschwistern aufgewachsen war viel weniger als erwartet. Dennoch, der Verfall besaß seine eigene, widerwillige Schönheit. Falls man es so nennen wollte. Die Bezeichnung „Charme“ wäre vielleicht neutraler und weniger irreführend.

„Wohin sollen wir nun gehen? Ihr wollt gewiss ins Haus, nicht wahr? Vielleicht finden wir einen Diener, der uns Einlass gewährt. Oder möchtet Ihr zuvor noch den Rest des Gartens besichtigen?“ Bei der letzten Frage mischte sich leichter Unwillen in Chuu'uns Stimme. Nicht so viel, dass es irgendein Außenstehender bemerkt hätte, aber Koumei nahm den Widerwillen des Vasallen, noch eine halbe Ewigkeit wie ein vollbepackter Esel herumzulaufen, deutlich wahr.

Also beschloss er, den Bogenschützen nicht noch länger zu quälen. Genaugenommen kam ihm der Entschluss selbst am meisten zu Gute, denn er war sicherlich noch erschöpfter, als Chuu'un, obwohl er deutlich weniger Gewicht zu schleppen hatte.
 

Sehr gemäßigten Schrittes überquerten sie eine gebogene Brücke, deren ehemals in schillerndem Rot lackiertes Geländer nun eher braun und fahl wirkte. Nur einige abgesplitterte Reste erinnerten an die herrschaftliche Färbung. Was jedoch weitaus auffälliger wirkte, war das völlige Fehlen des Wassers im künstlich angelegten Bachlauf darunter. Statt sanft dahinplätscherndem Nass und den obligatorischen Goldfischen oder Koikarpfen, erblickten sie nun ein paar einsame Schilfgraswedel. Die Pflanzen hatten sichtlich mit der Trockenheit zu kämpfen, wenn man ihre gelblichen Blätter betrachtete. Wie schade, damals hatte das unauffällig fließende Wasser dem Garten erst das Leben eingehaucht. Nun wirkte dieser Bereich hingegen tot und vergessen. Hakuren wäre enttäuscht gewesen, er hatte diese Stelle geliebt. Nicht dass Koumei nicht verstand, warum alles derart alt und morsch wirkte. Wahrscheinlich gab es einfach zu wenig Bedienstete oder Sklaven hier, um alles in einem einwandfreien Zustand zu halten. Kein Wunder, das Anwesen wurde nicht mehr genutzt, warum sollte man sich mehr Mühe als nötig machen, es bewohnbar zu bewahren? Bedauerlich, vielleicht hätten sie irgendwann wieder hierher ziehen können. Nun würde es jedoch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, bis ein Mitglied der kaiserlichen Familie an diesem Ort wohnen wollte. Missmutig lehnte sich der zweite Prinz gegen die Brüstung, die unter seiner Last warnend knarzte. Erschrocken trat Koumei zurück. Diese Verwahrlosung ging wirklich einen Schritt zu weit, man konnte sich nicht einmal gefahrlos in diesem Garten bewegen. Was würde erst geschehen, wenn sie das Haus erreichten? Würden sie unter herabfallenden Dachziegeln begraben werden?! Sie sollten die Dienerschaft des Anwesens besser bestücken, damit in ein paar Jahren nicht nur noch Ruinen von dem friedlichen Haus und dem herrlich angelegten Garten künden würden.
 

Nachdem sie den ehemaligen Wassergraben passiert hatten, marschierten sie müde den gewundenen Pfad zum Haupthaus hinauf. An dieser Stelle herrschte eine leichte, eigentlich kaum merkliche Steigung, doch die anstrengende Wanderung durch das Unterholz hatte nicht nur Koumei ausgelaugt, dem der restliche Weg wie ein beschwerlicher Bergaufstieg vorkam. Selbst Chuu'un atmete mittlerweile nicht mehr so mühelos und hielt einmal sogar an, um für einen Moment das Gepäck abzustellen. Koumei hätte es besser direkt in die Hauptstadt teleportiert. Aber nun hatte er keine Kraft mehr und konnte nichts daran ändern. Hoffentlich würden sie hier eine Kutsche bekommen, ansonsten könnte es gut sein, dass sie im alten Haus übernachten mussten. Das würde durchaus kalt werden, besonders wenn man aus der wochenlangen Hitze kam.
 

Endlich standen sie röchelnd vor dem prächtigen Eingangstor. Doch sobald sie ein wenig verschnauft hatten, siegte sogar bei Koumei die Neugierde und die beiden Männer schritten höchst interessiert die ihnen zugewandte Seite des Gebäudes ab. Obwohl die goldenen Beschläge ein wenig dumpf geworden waren, wirkte der Rest des Hauses erstaunlich ansehnlich. Von außen zumindest. Die geschwungenen Dächer glänzten rötlich im Sonnenlicht, die Fenstergitter zeigten nicht einmal den Ansatz von Spinnenweben und die überdachten Wandelgänge luden noch immer zum gedankenverlorenen Flanieren ein. Falls man gerne spazieren ging jedenfalls. Zwar strahlten die ehemals weißgetünchten Wände nicht mehr derart rein wie vor zehn Jahren, doch dafür, dass sie wohl niemand mehr gestrichen hatte, boten sie keinen beklagenswerten Anblick. Welch eine Überraschung. Koumei konnte eine gewisse Freude nicht leugnen. Das Anwesen sah bewohnbar aus, was für ihn eine höhere Priorität hatte, als die makellose Gestaltung des Gartens.
 

Plötzlich wirbelte Chuu'un neben ihm herum. Koumei zuckte erschrocken zusammen. Der Vasall versetzte ihm einen heftigen Stoß und schob sich vor ihn. Mit einem lauten Poltern fielen die Gepäckstücke auf den steinernen Boden, als Chuu'un blitzschnell seine Waffe zückte und einen Pfeil auflegte. Überrascht drehte Koumei sich um. Die tödliche Spitze des Geschosses zielte gradewegs auf das Auge eines untersetzten kleinen Mannes. Den hatte er gar nicht bemerkt. Ob er sich angeschlichen hatte, um einen Überfall anzuzetteln? Wie gut, dass er den Bogenschützen mitgenommen hatte. Wer wusste schon, auf welches Gesindel man an diesem verlassenen Ort treffen konnte? Sicherlich nicht nur auf treuergebene Diener. Der Unbekannte starrte mit schreckensbleichem Gesicht auf die Waffe, die nur darauf zu warten schien, seinen Kopf zu durchbohren. Zitternd vor Angst hob er die Hände und wollte ein paar hastige Schritte zurück machen, wohl am liebsten flüchten, doch das sollte er gar nicht erst versuchen.

„Keine Bewegung!“, warnte Chuu'un. Im Gegensatz zu den meisten Leibwächtern, die Koumei im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte, verfiel er nicht in angsteinflößendes, völlig übersteigertes Gebrüll oder unwirsches Anblaffen, sondern blieb ganz nüchtern. Dennoch, sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass man diese Warnung befolgen musste.

Koumei war zufrieden: Auch wenn dem Vasallen die äußerliche Ruhe sonst ein wenig besser gelang, blieb er sehr gefasst, was dem Prinzen gefiel. Männer, die jeden Fremden sogleich zerfleischten, nur weil sie in eine falsche Richtung geschaut hatten, konnte er nicht gebrauchen. Stattdessen wartete Chuu'un gehorsam auf die Anweisungen seines Herrn und würde keine drastischen Maßnahmen ergreifen, es sei denn, der Fremde würde sie aus heiterem Himmel angreifen. Koumei glaubte jedoch nicht daran, dass der kleinwüchsige ältere Mann gleich auf sie losgehen würde. Nein, sein schreckensstarres Gesicht sprach Bände. Offenbar war er in seinem Leben noch nie derartig bedroht worden. Da sie von ihm vorerst wohl nichts zu befürchten hatten, nahm sich der Rothaarige einige Zeit, ihn zu mustern. Das schwarze Haar steckte in einem strengen Knoten und lichtete sich bereits stark. Das breite Gesicht wirkte ein wenig … verquollen, die schmalen braunen Augen freundlich und arglos. Die seidig glänzende Robe erschien wertvoll, hatte aber eindeutig bessere Zeiten hinter sich, während die Schuhe definitiv zu klein und ausgetreten waren. Das sah doch ganz nach einem Mitglied der alten Dienstleute aus. Um genau zu sein nach einer der höherrangigen Persönlichkeiten.
 

„Wie heißt du?“, fragte Koumei, in der Hoffnung, sich wenigstens an den Namen erinnern zu können, wenn ihm schon das Aussehen des Mannes unbekannt vorkam.

„T-Tekkyo Ki, mein Herr. Meine A-Aufgabe ist die Verwaltung dieses A-Anwesens. Außerdem kümmere ich mich mit den anderen verbliebenen Bediensteten darum, d-dass keine Unbefugten Zutritt zu dem kaiserlichen Haus bekommen. Wir geben unser beste-“

„Schweigt, mein Herr hat Euch nicht gestattet, frei zu sprechen“, unterbrach ihn Chuu'un beinahe tadelnd. Dabei klang er nicht einmal harsch, wie auch immer er das schaffte.

Na großartig, offenbar hatte dieser Verwalter keine Ahnung, mit welch vornehmen Herrschaften er es grade zu tun hatte. Wie dumm konnte man sein? Dachte er, es mit einem Fanalis zu tun zu haben? Nicht dass Koumei ihn dafür hinrichten lassen würde, aber mit Sicherheit würde eine Enthüllung seiner Identität zu ebensolchen Gedanken bei dem Fremden führen und unweigerlich unerträgliche Entschuldigungskaskaden mit sich bringen. Hilfesuchend schielte er zu Chuu'un hinüber, der jedoch offenkundig keinen Ratschlag für ihn übrig hatte. Also seufzte der Prinz innerlich auf, unterdrückte ein Gähnen und stellte sich neben seinen Vasallen, damit er sich im Blickfeld des kleinen Dieners befand. Doch außer einem unsicheren Stirnrunzeln erntete er nichts. Kein einziges Zeichen des Erkennens. Zweifellos wusste dieser, dass er mit hohen Herren verkehrte, doch dass er einen der kaiserlichen Prinzen vor sich hatte, blieb ihm verborgen. Dabei sollte man die Herrscherfamilie wenigstens grob wieder erkennen. Wenn man sie einmal in seinem Leben gesehen hatte, blieb einem doch immerhin das verräterische rote Haar ihrer Sippe im Gedächtnis. Wahrscheinlich hatte dieser Mann ihn noch nie in ausgewachsenem Zustand zu Gesicht bekommen, doch vor zehn Jahren musste er ihm des Öfteren über den Weg gelaufen sein. Unglaublich. Und so etwas wollte als Verwalter arbeiten? Kein Wunder, dass es mit dem Anwesen den Bach hinunterging. Also blieb Koumei nichts anderes übrig, als sich vorzustellen. Wie unangemessen in seiner Position, aber so würden sie müheloser in das Haus gelangen. „Mein Name ist Koumei Ren, Sohn von Kaiser Koutoku Ren und zweiter Prinz des Kaiserreich-Kou“, verkündete er und konnte den erneuten Drang zu Gähnen nicht niederringen.

Das brauchte er auch gar nicht, denn seine offensichtliche Müdigkeit half dem Mann auch nicht über einen Schock hinweg.

„W-wa-w-w-wie?“, stammelte er und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht, ehe er unterwürfig auf die Knie fiel und sich so tief verneigte, dass es die Naturgesetze grade noch zuließen.

Chuu'un, der auf Koumeis Zeichen den Bogen senkte, schnalzte ungehalten mit der Zunge. Sich als einfacher Diener dermaßen vor einer Hoheit zu blamieren, konnte eine schwere Strafe nach sich ziehen. Dieses respektlose Gestammel konnte bei manchen Prinzen zu Zornesausbrüchen führen. Nicht jedoch bei Koumei. Der Rothaarige legte lediglich fragend den Kopf schief.

„Schon in Ordnung, Chuu'un. Unser Gegenüber schämt sich bereits genug, auch wenn ich nicht weiß, wo das Problem liegt“, brummte er müde.
 

Rot vor Scham blickte der Fremde zu ihnen auf.

„Vergebt mir, mein hochwohlgeborener Prinz, hätte ich Euch früher erkannt, hätte ich Eure Augen niemals mit meinem unerfreulichen Anblick beleidigt. Gibt es nicht etwas, womit ich meine Schuld wieder begleichen kann? Ich werde jeden Befehl so gut ausführen, wie es unsere beschränkten Möglichkeiten hier erlauben.“

„Nur keine Mühen“, seufzte Koumei, „aber ein anständiges Bett wäre sehr erfreulich.“

„Und eine vernünftige Mahlzeit für den Herrn“, schob Chuu'un rasch hinterher.

„Ersteres wäre mir wichtiger“, stellte der Prinz klar.

„Letzteres ist für Euch wichtiger“, behauptete sein Vasall unerbittlich und ließ sich von dem peinlich berührten, wenn auch erleichterten Diener ins Innere des Hauses führen, der bereits nach anderen Bediensteten rief, um das Gepäck herein zu tragen.

Koumei folgte den beiden in gemessenerer Geschwindigkeit. Ob der äußere Schein wohl trog? Sie würden es jeden Moment herausfinden.

 

*~*



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