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Schwarzer Drache: Silberschwingen

Schwarzer Drache III
von

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Was bisher geschah...

"Schwarzer Drache"
 

Vier Jahre sind vergangen, seit Hitomi von Gaia auf die Erde zurückgekehrt ist. Der Kontakt zu Van ist abgebrochen, dunkle Ahnungen erfüllen sie. Hitomi hat den Willen zu Leben verloren und will sich von einer Klippe stürzen. Doch die Verbindungen zwischen Van und ihr ist zu stark - Van erscheint und rettet sie.

Hitomi kehrt nach Gaia zurück und trifft auf alte Freunde - und alte und neue Feinde.
 

Allens Schwester Serena scheint geheilt zu sein - die Vergangenheit als Zaibacher Krieger Dilandau liegt offenbar in der Vergangenheit. Dass dies nur eine Illusion ist, zeigt sich beim ersten Zusammentreffen von Serena und Van. Der Hass siegt und aus Serena wird wieder Dilandau. Er flieht aus Farnelia und schließt sich den Feinden von Farnelia an.
 

Das Zaibacher Reich ist zwar zerfallen, aber ein alter Feind bedroht Farnelia. Sarya, ein kleines Land erschüttert den Frieden. Und die Ehe des Königs von Farnelia mit der Prinzessin von Sarya scheint der einzige Ausweg zu sein. Van versucht zwar, sich Rat bei seinem verstorbenen - und wiederbelebten Bruder Folken zu holen, doch eine politische Ehe scheint die einzige Möglichkeit zu sein, den Frieden zu wahren. So kommt die saryanische Prinzessin Auriana nach Farnelia, um diese Bündnis zu schmieden. Als Hochzeitsgeschenkt bringt sie etwas besonderes mit - den Löwenjungen Louvain.

Doch Auriana ist nicht, was sie zu sein scheint. Intrigant bis ins Mark versucht sie die Macht an sich zu reißen - und scheitert nur an Vans schneller Reaktion. Doch eine Niederlage lässt sie nicht auf sich sitzen - sie lässt Hitomi, die Geliebte des Königs, und Prinzessin Milerna entführen. Van, Allen und Dryden brechen auf, um die beiden Frauen zu retten. Dryden sieht sich in der Konkurrenz zu Allen, seit er entdeckt hat, dass seine Ehefrau Milerna und der Ritter des Himmels ein Verhältnis unterhalten. Der Händler stirbt den Heldentod, als er sich seiner Frau beweisen will.
 

Hitomi und ein seltsamer schwarzer Drache, der sich als der verehrte Drachengott entpuppt, treten in Kontakt. Als beschützender Schatten begleitet der Drache Hitomi.

Zwischen Merle und Louvain entwickeln sich langsam erste zarte Bande...
 

Als Folge der Entführung wird die Ehe von Van und Auriana aufgelöst und Auriana des Landes verbannt. Der Krieg steht unvermeidbar vor der Tür.

Farnelia rüstet auf. Unerwartete Verstärkung bekommen sie von den Biestmenschen, die in Sarya verfolgt werden und in Farnelia eine neue Zuflucht finden. Schließlich ist es so weit - die saryanischen Truppen stehen vor dem Tor. Durch zwei Duelle soll der Kampf entschieden werden. Van tritt gegen Dilandau an und Folken gegen Orlog, den Sohn des verstorbenen Kaisers Dornkirk, König von Sarya und Vater von Auriana.

Als Van im Kampf zu unterliegen scheint, gibt es Einmischung von unerwarteter Seite. Der schwarze Drache stürzt vom Himmel und tötet Dilandau - gleichzeitig befreit er damit einen alten Feind als seinem Gefängnis und lässt eine neue Bedrohung auf Gaia los.

Ein alter Feind, an dessen Seite Auriana stehen wird...
 

"Schwarzer Drache: Manticor"
 

Auf der Suche nach Folkens Geliebten Tayana müssen Van und Hitomi die schockierende Feststellung machen, dass diese bereits vor etlichen Jahren gestorben ist. An ihrem Grab treffen sie auf Alexander Dazèra - Tayanas und Folkens Sohn und somit Vans Neffen.

Gemeinsam kehren sie nach Asturia zurück.

Dort haben Louvain, Lothian und Allen für Lothian einen Guymelef erstanden - Louvain übernimmt den Guymelef Castillo des verstorbenen Dryden.
 

Als die Gruppe schließlich wieder zusammentrifft, wollen sie mit dem Crusado nach Farnelia aufbrechen. Es geschieht jedoch etwas seltsames: Eine schwarze Lichtsäule ergreift den Crusado und trägt ihn fort. Der Manticor hat die Bühne betreten und ein erstes Mal seine Kräfte spielen lassen... Sein Ziel ist, seinen Erzfeind, den schwarzen Drachen, und dessen Kinder (namentlich Van und Alexander) zu vernichten.

Auriana hat Zwillinge zur Welt gebracht, die die Namen Laures und Lauria tragen. Beide werden getrennten Familien zur Erziehung gegeben und ihr Wachstum wird magisch beschleunigt. So besitzen die beiden innerhalb kürzester Zeit das Aussehen und das Auftreten 15jähriger Menschen. Laures wird vom Manticor so manipuliert, dass er seinen Vater Van auf den Tod hasst und als einziges Ziel hat, diesen umzubringen. Sowohl er als auch Lauria werden nach Farnelia geschickt. Die beiden sind dafür vorgesehen, ein neues Volk zu gründen, eines, das sowohl die Gene des Manticor als auch des Drachen in sich trägt...
 

Der Crusado stürzt in einer unbewohnten, unwirtlichen Gegend fast auf der anderen Seite des Planeten ab. Durch das schnelle Eingreifen des verstobenen Folken als Schutzengel für Van kann dessen Verletzung verhindert werden.

Nach einem Gespräch mit dem schwarzen Drachen beschließen Van & Co den Manticor in seinem Versteck aufzusuchen, denn nur so kann der Drache seinen Erzfeind erreichen. Dem Manticor ist es gelungen, sich vor ihm zu verbergen und somit im Moment unangreifbar zu sein.

Während Gardes und seine Crew zurückbleiben, um den Crusado zu reparieren, brechen Van, Hitomi, Allen, Shid, Louvain, Merle, Lothian und Alexander auf.
 

Auf der Reise haben die Gefährten verschiedene Gefahren zu überstehen. Sie werden von Werwölfen und Echsen angegriffen und verlieren sich auf der Traumebene. Die Traumebene ist ein Ort, den die Menschen durch ihre Träume zu erreichen pflegen, auf der aber auch begabte Menschen und die "Mächtigen" wie Drache und Manticor herumwandeln können.

Auf dieser Traumebene begegnen Hitomi und Alexander der "Herrin vom See". Da sie die Herrin vor dem Manticor beschützt hat, befreit der Drache sie aus ihrem Gefängnis auf der Traumebene.
 

Als die Gefährten beinahe die kalte Wüste erreicht haben, in der das Versteck des Manticors liegt, geschieht etwas unvorhergesehenes: Sie werden von einer Schar Kindersoldaten überfallen und Hitomi, die von dem Manticor mit einem Bann belegt und "umgepolt" wurde, wechselt die Seiten.
 

In der Ruine angekommen, die das Versteck des Manticors ist, überschlagen sich die Ereignisse. Auriana tritt erneut in Erscheinung und Van wird zu einem Kampf mit Balthèro, einem Kind des Manticor, aufgefordert. Lothian droht damit, Hitomi umzubringen, weil sie ihr Rudel, ihre Freunde verraten hat, einen Verrat, den er als Wolfsmensch nicht dulden kann. Es kommt zum Kampf zwischen den Freunden Lothian und Louvain, die der Löwenjunge für sich entscheidet. Im Moment seines Todes geling es Lothian mit Hilfe des Drachen noch, den Bann von Hitomi zu lösen. Sie ist wieder frei.

Schließlich taucht der schwarze Drache auf, da ihm seine Kinder nun den Weg zu seinem Erzfeind gewiesen haben, und die beiden kämpfen miteinander. Die beiden Erzfeinde töten sich schließlich gegenseitig...
 

Der Crusado erscheint gerade rechtzeitig, um die erschöpfen Gefährten nach Hause zu bringen. Doch dort erwartet sie mit Laures eine neue Bedrohung...

Außerdem sind die beiden Erzfeinde nicht so vollständig vernichtet, wie es zuerst den Anschein hat...

1. Kleine Elfe

"Langsam wird es Zeit, Hitomi." Milerna lächelte die Freundin fröhlich an.

"Ich habe Angst, Milerna," murmelte das Mädchen vom Mond der Illusionen und drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Ihr weißes Seidenkleid hatte einen leichten V-Ausschnitt und bauschte sich elegant um ihre Taille. Es glänzte hell wie das Mondlicht und kleine Diamantsplitter brachten es zum Glitzern. Der lange Schleier glitt hinter ihr über den Boden, als sich Hitomi wieder zu Milerna umdrehte.

"Hitomi, du siehst wunderschön aus. Wirklich. Und es ist normal, wenn du nervös bist. Das hier ist deine Hochzeit! Du darfst nervös sein." Milerna lachte auf und fasste Hitomi liebevoll an den Schultern. "Du machst das schon. Das hier wird der schönste Tag in deinem Leben werden. Glaub es mir, Hitomi."

"Ja, du hast Recht." Hitomi lächelte erleichtert. "Es ist doch schließlich das, was ich mir gewünscht habe."

"Na also, es geht doch..." Milerna grinste schelmisch.

"Wo bleibst du denn, Hitomi?" Merle stieß die Tür zu dem Ankleidezimmer ungestüm auf und funkelte Hitomi ungehalten an. "Die Kutsche wartet. Alle warten. Und zwar nur auf dich. Also komm endlich!"

"Beruhige dich, Merle. Ich komme ja schon." Hitomi lachte, raffte ihr Kleid zusammen und folgte dem ungeduldigen Katzenmädchen.
 

Alexander schlenderte durch die Stadt. Es dauerte noch etwas, bis die Hochzeitszeremonie vor dem Tempel anfangen würde. Als Trauzeuge würde er natürlich pünktlich sein, aber er hatte einfach keine Lust dort die nächste halbe Stunde einfach nur rumzustehen. Er lächelte leicht, während er weiterging. Van und Hitomi hatten wirklich einen wunderschönen Tag für ihre Hochzeit erwischt. Die Sonne schien und an dem strahlendblauen Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Ja, das Glück hatten sie wirklich verdient. Alexander musste laut lachen, als er daran dachte, wie nervös Van vorhin gewesen war. Der König von Farnelia hatte es kaum geschafft, seine Galauniform anzuziehen. Jetzt stand er schon mit Louvain und all den wichtigen Repräsentanten der anderen Länder vor dem Tempel und wartete auf seine Braut.

Eine volle halbe Stunde... Ich möchte wirklich nicht mit ihm tauschen, dachte Alexander mit einem breiten Grinsen.

"Komm, Mama! Der Mann da hinten hat eine echte Elfe!" rief auf einmal ein Kind neben ihm. Alexander hob den Kopf und sah ein kleines, blondes Mädchen, das übermütig an der Hand seiner Mutter zerrte. Es deutete auf einen der Schaustellerwagen auf dem Marktplatz. Ein großes Plakat wies daraufhin, dass es angeblich eine echte Elfe zu sehen geben würde.

Eine echte Elfe, dachte Alexander spöttisch. Wenn du wüsstest, wie schön, lieb und reizend Elfen sind. Dann würdest du sie nicht einsperren. Sicher nicht...

Er blieb stehen und sah nachdenklich zu dem Holzwagen hinüber. Es war einer von der Sorte, in der oft wilde Tiere dargeboten wurde. Dieser war mit einem schäbigen Vorhang zugehängt. Sollte er dort hinüber gehen? Es konnte doch keine echte Elfe sein. Niemals. Sie lebten doch so weit weg von Farnelia. Wie sollte es eine Elfe hierhin verschlagen? Alexander schüttelte den Kopf und wollte schon weitergehen, als der Mann, dem der Holzwagen offenbar gehörte, den Vorhang öffnete und er auf die silberne Gestalt hinter den Gittern blicken konnte. Verblüfft hielt Alexander inne.

Farla? Wie kann das sein?

Folkens Sohn rannte los und schob sich energisch durch die Menschenmenge, die sich augenblicklich vor dem Käfig gebildet hatte. Ja, sie war es wirklich. Zusammengekauert hockte das Elfenmädchen in der Ecke. Sie hatte viel von ihrem silbernen Glanz eingebüßt. Alexander vermisste die Lebensfreude, die sie sonst ausgestrahlt hatte.

"Farla?" murmelte er leise und blickte sie traurig an.

Das Elfenmädchen hob den Kopf. Ihre Augen glänzten, als sie ihn erkannte. Sie sprang auf und schwirrte zu den Gitterstäben.

"Alexander!" Farla schloss ihre Hände um die Stäbe. "Alexander..." Tränen rannen aus ihren Augen und über ihre Wangen.

Wütend drehte sich Alexander zu dem Wagenbesitzer um.

"Lasst sie raus! Sofort!" fauchte der schwarzhaarige Junge wütend.

"Und mit welchem Recht verlangt Ihr das?" Der dickliche Mann mit den schäbigen Kleidern sah Alexander spöttisch.

"Ich verlange es im Namen des Königs!" Alexander schlug seinen langen Umhang zurück und ließ den Mann das Siegel Farnelias auf seiner Jacke sehen.

"Verzeiht, mein Herr." Sofort gab der Händler mit bleichem Gesicht nach. Mit zitternden Fingern nestelte er an dem Schlüsselbund an seinem Gürtel herum, fand endlich den richtigen Schlüssel und schloss schließlich das Gitter auf.

"Farla!" Die kleine Elfe flog Alexander in die ausgebreiteten Arme.

"Alexander!" Das Mädchen presste sein verweintes Gesicht in den teuren Umhang und schluchzte erleichtert auf.

"Alles ist gut..." murmelte Alexander leise und streichelte ihr liebevoll über den Rücken.

"Und Ihr, präsentiert nie wieder irgendetwas in Eurem Käfig. Nicht hier! Habt Ihr mich verstanden?" knurrte Alexander den Schausteller an. Dieser nickte ängstlich.

"Gut..."

Farla immer noch im Arm haltend ging Alexander langsam weg.

"Und jetzt erzähl mir, wie du hierher kommst, Mädchen," lächelte Folkens Sohn sanft und strich Farla über ihr silbernes Haar.
 

Van stand neben dem Altar vor dem Hohen Tempel. Nachdenklich beobachtete er die Menschen, die sich auf dem Tempelplatz eingefunden hatten. Die Repräsentanten der anderen Länder unterhielten sich miteinander und hier und da konnte er vertraute Gesichter erkennen.

Man sollte eigentlich meinen, dass ich sie als König alle kenne... Van musste bei diesem Gedanken breit grinsen. Dann sah er Allen, der neben Herzog Shid von Freyd und Königin Eries von Asturia stand und Milernas Sohn Drayos an der Hand hielt. Lächelnd winkte er den Vieren zu. Allen winkte zurück und vertiefte sich dann wieder in das Gespräch mit Eries. Milerna würde noch nachkommen. Sie hatte sich entschlossen, Hitomi beizustehen, bis es Zeit war, zum Tempelplatz zu fahren. Die kleine Ayres hatte sie bei ihrem Kindermädchen gelassen. Für das Kleinkind war die Zeremonie noch zu anstrengend.

Vans Blick streifte weiter und blieb schließlich an Louvain hängen.

Louvain...

Van lächelte sanft. Seit Allen zu seinem Sohn nach Freyd gegangen war und seine Familie mitgenommen hatte, hatte sich Louvain entschlossen, seine Ausbildung zum Ritter bei Van abzuschließen. Er mochte einfach nicht aus Farnelia weggehen. Vor allem wegen Merle nicht.

Gerade eilte der Löwenjunge die Treppenstufen empor und blieb schließlich neben Van stehen. Er keuchte leicht.

"Entschuldige die Verspätung. Aber ich war noch bei Lothians Grab..."

"Ich verstehe." Van lächelte verständnisvoll.

Keiner von ihnen hatte es bisher geschafft den Tod des Wolfsjungen vor zwei Monaten zu verarbeiten. Er fehlte ihnen allen. Leise seufzte der König von Farnelia. Die Dinge hatten sich damals einfach überschlagen. Und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er nicht gerne an diese Zeit zurückdachte. Mit Sicherheit nicht. Nicht nur Lothian war gestorben. Auch der schwarze Drache war zusammen mit dem Manticor verschwunden. Um den Manticor tat es Van wenig Leid, aber er vermisste den Drachen. Er sah wieder zu dem Platz hinunter und erkannte Alexander, der gerade die Treppen hochstieg. An seiner Seite flog eine kleine silberne Gestalt.

Eine Elfe? Verwirrt und neugierig sah Van seinem Neffen entgegen.

2. Hochzeit

Hitomi stieg in die weiße Kutsche ein.

"Und du kannst wirklich nicht mitfahren?" fragte sie Milerna ängstlich.

"Hitomi, die Kutsche ist allein für dich." Die Prinzessin lächelte sanft. "Außerdem sitzt Merle doch auf dem Kutschbock. Du bist doch nicht allein... Kopf hoch." Sie drückte Hitomi noch einmal liebevoll an sich, dann wandte sie sich ihrer eigenen Kutsche zu und stieg ein. Als sie losfuhr, winkte sie Hitomi noch einmal zu. Diese seufzte leise.

"Dann mal los," murmelte sie leise, hob den Saum ihres Kleides an und stieg in die weiße Kutsche. Kaum hatte sie Platz genommen, da sprang Merle auch schon auf den Kutschbock und ließ sich neben dem Fahrer nieder.

"Auf geht's!" lachte das Katzenmädchen übermütig und der Kutscher trieb die vier weißen Pferde in einen flotten Trab.
 

"Was hat dich denn hierher verschlagen?" erkundigte sich Van und drückte die kleine Elfe sanft an sich. Lange war es her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Damals...

"Ich wollte etwas anderes sehen." Farla blickte verlegen zu Boden. "Nachdem ihr im Dorf ward, wurde es mir zu langweilig. Ich wollte mehr sehen. Und euch wieder finden." Sie hob den Kopf und strahlte Alexander, Louvain und Van an.

"Wo sind denn die anderen?" fragte sie.

"Allen und Shid sind da unten." Alexander deutete mit der Hand in die Menge. "Merle und Hitomi kommen gleich noch. Hitomi ist schließlich die Braut."

"Ihr heiratet?" Farla sah Van verblüfft an. "Deswegen also der ganze Trubel hier. Ich habe mich schon gewundert. Dann wünsche ich euch alles Gute..." Sie lachte glockenhell. "Und wo ist Lothian?"

Louvain biss die Zähne zusammen und versuchte die aufsteigenden Tränen zu bekämpfen. "Er hat die Begegnung mit dem Manticor nicht überlebt," sagte er knapp mit belegter Stimme.

Das ist zwar nicht ganz die Wahrheit, aber was soll's...

"Oh." Farla blickte ihn aus silbernen Augen an. "Das tut mir Leid. Ich mochte ihn wirklich."

"Ja, das taten wir alle..." Louvain seufzte leise auf.

"Die Kutsche kommt," unterbrach sie Alexander. "Farla, geh am besten runter zu Allen. Du kannst nicht hier oben bleiben."

"Ist gut." Das Elfenmädchen streichelte Louvain noch einmal tröstend über die Wange und flog dann zu dem Ritter des Himmels an das Ende der Treppe. Alexander folgte ihr, denn als Neffe des Königs war es seine Aufgabe, die Braut zum Altar zu führen.
 

Hitomi rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Schließlich hielt die Kutsche an und die Tür wurde geöffnet. Sie atmete noch einmal tief durch, zog den Schleier vor das Gesicht und stieg aus. Der Kutscher reichte ihr die Hand und half ihr die Stufe hinunter. Alexander stand neben ihm und lächelte sie freundlich an. Er reichte ihr den Arm und gemeinsam schritten sie über den Platz. Hitomi schielte immer wieder zu den Menschen, die sich eingefunden hatte, um die Hochzeit des Königs von Farnelia zu sehen. Schließlich entdeckte sie Milerna und Allen in dem Gedränge. Beide nickten ihr liebevoll zu. Hitomi straffte sich und lächelte hinter ihrem Schleier. Als die Nervosität endlich von ihr abfiel, konnte sie auch spüren, wie glücklich sie eigentlich war.

Plötzlich stockte ihr Schritt einen Moment. Aus dem Augenwinkel glaubte sie, etwas gesehen zu haben. Sie wandte den Kopf leicht und blickte in die Menge. Ein schwarzhaariger Junge war ihr ins Auge gefallen. Sein Gesicht konnte sie jedoch nicht sehen, da er sich gerade abgewandt hatte.

"Hitomi, ist alles in Ordnung?" flüsterte Alexander leise, irritiert darüber, dass sie auf einmal langsamer ging.

"Ja, ja," nickte Hitomi, blickte wieder nach vorne und ging gemessenen Schrittes weiter.
 

Laures lachte leise über einen Kommentar seines Ziehvaters, dann wandte er seinen Blick wieder zu der Braut, die gerade begann, die Treppen empor zu gehen.

Heute heiratet mein Vater also... Der Manticor hat sein Wort gebrochen. Er hat ihn nicht getötet. Also muss ich es doch selbst tun. Er muss bezahlen. Für all das, was er mir angetan hat. Mir und meiner Mutter...

Laures' schwarze Augen waren dunkel vor Hass, als er zu seinem Vater blickte. Schließlich sah er weiter durch Publikum und sein Blick fiel auf ein Mädchen mit langen goldenen Haare, das ihm genau gegenüber stand. Sie blickte ihn aus dunklen Augen unverwandt an.

"Mein Lord, wer ist das?" wandte er sich an seinen Ziehvater Lord von Styx.

"Das ist Lauria von Lethe," erklärte dieser und lächelte Laures sanft an.

"Wenn du willst, kannst du sie nachher auf dem Ball näher kennen lernen," mischte sich Lady von Styx ein.

"Ja, das wäre wunderbar." Laures schenkte Lauria ein sanftes Lächeln und nickte ihr zu. Sie erwiderte den Gruß und konzentrierte sich dann wieder auf die Zeremonie.
 

Alexander und Hitomi hatten endlich den Altar erreicht. Mit einer Verbeugung zog sich Alexander zurück und nahm seinen Platz an Hitomis linker Seite ein. Rechts von ihr stand nun Van und rechts von ihm wiederum Louvain. Ihnen gegenüberstand der Hohe Priester, der nun mit der Zeremonie begann.

Hitomi spürte die warme Sonne auf ihrem Rücken. Sie drehte den Kopf zur Seite und lächelte Van an. Er strahlte zurück und sie konnte sehen, dass er genauso glücklich war wie sie.
 

"Möchtet Ihr, Hitomi Kanzaki, den hier anwesenden Van Farnel, König von Farnelia, zu Eurem angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Euch scheidet?" fragte der Priester und blickte Hitomi ernst an.

"Ja, ich will," erwiderte Hitomi und blickte Van in seine mandelbraunen Augen. Dann steckte sie ihm den goldenen Ring an den Finger.

"Und wollte Ihr, Van Farnel, König von Farnelia, die hier anwesende Hitomi Kanzaki zu Eurer angetrauten Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Euch scheidet?"

"Ja, ich will," lächelte Van und steckte Hitomi den Ring an.

"Damit ist der Bund vollendet und ich erkläre Euch zu Mann und Frau," deklarierte der Priester und breitete seine Arme für den Segen aus. "Möge Eure Ehe durch den Drachengott gesegnet sein und das Glück mit Euch sein, wohin Euch Euer Weg auch führen mag."

Van schlug Hitomis Schleier zurück und küsste sie liebevoll. Jubel brannte in der Menge auf.

"Das hätten wir geschafft," flüsterte Van Hitomi leise ins Ohr.

"Wurde ja auch Zeit," gab sie mit einem Lächeln zurück.

Hand in Hand stiegen sie die Treppe zu der wartenden Kutsche hinunter, die sie für ihre Ehrenrunde durch die Stadt fahren würde.

3. Eröffnungstanz

Vergnügt winkten Van und Hitomi aus der Kutsche der Bevölkerung zu. Die Menschen standen entlang der Straßen und jubelten ihnen zu. Van beugte sich zu seiner frisch angetrauten Ehefrau hinüber und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

"Wie fühlst du dich, Hitomi?" fragte er sanft und blickte ihr in die grünen Augen.

"Glücklich," lachte Hitomi. "Einfach nur glücklich. Milerna hatte Recht. Das hier ist wirklich der schönste Tag meines Lebens." Sie streichelte Van liebevoll über die Wange. "Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dass es dich gibt, Van. Ich liebe dich."

"Ich liebe dich auch, Hitomi." Van küsste sie erneut und winkte dann weiter aus dem Fenster.
 

Im Ballsaal des Schlosses sammelten sich mittlerweile die geladenen Gäste und warteten auf das Brautpaar. Allen legte Milerna den Arm um die Hüften und zog sie liebevoll an sich.

"Bedauerst du, dass bei uns dieser Zirkus weggefallen ist?" fragte er sie.

"Nein, eigentlich nicht. Es ist zwar ganz schön, aber... Bei jedem ist es so ein Pomp. Bei uns war es etwas ganz Besonderes. Wann darf eine Prinzessin schon allein im engsten Kreis heiraten?" Milerna gab ihrem Ehemann einen liebevollen Kuss auf die Lippen.

"Hast du mal nach Ayres gesehen?" erkundigte er sich.

"Ja, als ich Drayos zu dem Kindermädchen gebracht habe. Er muss ja diese Feierlichkeiten nicht mitmachen. Das ist todlangweilig für ihn."

"Das stimmt..." Allen grinste breit.

Alexander, Louvain, Merle und Farla gesellten sich zu den Beiden.

"Wie lange müssen wir denn noch warten?" quengelte Merle und zappelte auf der Stelle herum. "Ich will den Beiden endlich gratulieren."

"Da musst du dich in die Schlange stellen," grinste Louvain. Mit einer weiten Handbewegung erfasste er sämtliche Leute, die sich im Ballsaal aufhielte. "Die alle wollen Van und Hitomi gratulieren. Du siehst, wie viele das sind. Ich glaube, da können wir doch ein bisschen warten. Und in aller Seelenruhe eine Runde tanzen gehen... Soweit ich weiß, schulde ich dir seit gut drei Monaten noch einen Tanzabend..."

Merle lief rot an, als sie sich an die Szene erinnerte, die sie ihm vor langer Zeit, wie es ihr schien, im Schloss von Palas gemacht hatte.

"Daran erinnerst du dich noch?" fragte sie vollkommen verblüfft.

"Natürlich." Grinsend strich ihr Louvain über das rosafarbene Haar.

"He, pass auf meine Frisur auf," quietschte Merle und duckte sich unter seiner Hand weg. Der Löwenjunge lachte auf und warf seine blonde Mähne demonstrativ zurück.

"Welche Frisur meinst du?"

"Du....!" Das Katzenmädchen ging fauchend auf ihn los. Louvain lachte noch breiter, zog sie energisch an sich und gab ihr einen Kuss.

"Mein kleiner Wildfang."

"Sind die beiden immer so?" erkundigte sich Farla und blickte Alexander neugierig an.

"Immer," seufzte Folkens Sohn. "Aber sie sind glücklich. Und nur das zählt."

"Ja..." Nachdenklich blickte die Elfe ihn an. "Glücklich..."

Plötzlich erklangen Fanfaren, die Gäste nahmen Haltung an und reihten sich entlang des roten Teppichs auf, der zu den beiden Thronsitzen am Kopfende des Saales führte.

"Sie kommen," flüsterte Milerna und zog ihre Freunde mit bei Seite.

Dann sprang das große Tor auf und bei dem Fanfarenklang schritten Hitomi und Van Arm in Arm durch die Menge. In der Mitte des Ballsaales blieben sie schließlich stehen. Sie nahmen Haltung an und Musik begann zu spielen. Arm in Arm tanzten sie durch den Saal.
 

Hitomi konzentrierte sich allein auf Van. Sie sah in seine braunen Augen und wusste, dass es sonst nichts auf der Welt gab, das ihr so wichtig war wie er. Sie lächelte ihn strahlend an. Van lächelte zurück.

Ja, das ist genau das, was ich immer wollte, dachte er zufrieden.

Sie schwebten durch den Saal und keiner von ihnen achtete auch nur eine Sekunde auf das, was sich außerhalb dieser Welt, die nur sie beide umfasste, befand. Völlig in einander versunken tanzten sie ihren Tanz.

Schließlich endetet die Musik und Van und Hitomi blieben stehen. Applaus brandete auf. Dann reichte Van Hitomi seinen Arm und gemeinsam schritten sie zu den Thronsesseln.

Als sie die Thronsitze erreicht hatten, drehten sie sich um und Van wandte sich an die wartende Menge.

"Hiermit erkläre ich den Ball für eröffnet," verkündete er. Danach ließen Hitomi und er sich auf den Sesseln nieder. Die ersten Gratulanten strömten nach vorne, um dem Brautpaar ihre Glückwünsche zu überbringen.
 

"Komm, Milerna. Wir tanzen erst einmal," meinte Allen und zog seine Frau auf die sich füllende Tanzfläche. Milerna nickte zustimmend und gemeinsam verschwanden sie in der Menge.

Die verbliebenen Vier betrachteten in aller Ruhe die Szenerie. Schließlich blieb Alexanders Blick an einem Mädchen mit einem langen schwarzen Kleid hängen, das ihm den Rücken zuwandte. Sie war die Einzige auf diesem Fest, die Schwarz trug. Die anderen Frauen trugen alle bunte Kleider, die kaum noch schmuckvoller sein konnten. Nur dieses Mädchen mit den langen, weißen Haare war in Schwarz gekleidet.

"Wer ist das?" wandte sich Alexander an Louvain. Der Löwenjunge folgte seinem Blick und seufzte auf.

"Lothians Schwester. Sie heißt Ivory. Und ist im Moment nicht gerade gut auf mich zu sprechen. Sie macht mich für seinen Tod verantwortlich," sagte er traurig.

"Meinst du, sie mag mit mir sprechen?" fragte Folkens Sohn vorsichtig. Sein Blick haftete noch immer an dem Rücken des Mädchen.

"Versuche es. Mehr als dir einen Korb einfangen, kannst du nun auch wieder nicht." Louvain zuckte mit den Schultern. "Aber ich warne dich. Sie ist so schon launisch genug, aber seit Lothians Tod... Sie ist verbittert und trauert. Sei einfühlsam, Alexander."

Vans Neffe nickte langsam und ging dann entschlossenen Schrittes auf das Mädchen mit den weißen Haaren zu. Farlas Blick folgte ihm.

4. Hochzeitsball

"Lass uns auch tanzen," meinte Louvain zu Merle.

Das Katzenmädchen nickte und drehte sich zu Farla. "Geh du doch zu Shid. Er steht da hinten."

Das Elfenmädchen nickte langsam und schwirrte zu dem Herzog von Freyd. Sie seufzte leise. Irgendwie hatte sie etwas anderes erwartet, als sie sich auf den Weg nach Farnelia gemacht hatte. Was genau sie erwartet hatte, als sie von dem See der Träume aufgebrochen war, um nach Farnelia zu gehen, wusste sie zwar nicht. Aber mit Sicherheit war es nicht dieses Abstellgleis gewesen, auf dem sie sich nun befand...
 

"Ivory?" Vorsichtig sprach Alexander das weißhaarige Mädchen an.

Sie wirbelte herum und blickte ihn aus leuchtend roten Augen an. Ihr Gesicht ähnelte Lothian sehr. Sie hatte die gleiche Wolfschnauze und das gleiche argwöhnische Funkeln in den Augen. Spitze Ohren ragten durch ihr langes, weißes Haar. Ihr ganzer Pelz war so leuchtend weiß wie Schnee in einer besonders klaren Vollmondnacht. Sie war ein Albino.

"Wer bist du?" fragte sie knurrend.

"Mein Name ist Alexander. Alexander Dazéra Farnel. Ich bin der uneheliche Sohn von Folken Farnel. Also der Neffe des Königs." Alexander lächelte verlegen.

"Du gehörst also auch zu diesem Zirkus." Mit leeren Augen verfolgte Ivory das Geschehen auf der Tanzfläche.

"Ich... Ich war dabei als Lothian starb." Unsicher blickte Alexander ihr Profil an. Verdammt, sonst konnte ihn doch keine Frau verunsichern!

"Ah, daher weht der Wind... Du bist also auch einer von denen, die ihn umgebracht haben. Die ihn in den Tod geführt haben." Sie schaute ihn wieder an und Alexander konnte die tobende Wut und den Schmerz in ihren roten Augen sehen.

"Wir kannten uns nicht lange, aber wir waren Freunde," erklärte Alexander langsam. "Wir waren alle bereit für einander zu sterben. Und wir waren bereit für Gaia in den Tod zu gehen."

"Ja... So war Lothian. Kleiner dummer Bruder..." Ivory seufzte leise und fuhr sich durch das weiße Haar. "Erzähle mir, wie es passiert ist. Ich muss es wissen. Und von jemand anderem hören, als von seinem Mörder." Bittend sah sie Alexander an. Dieser nickte.

"Gerne. Aber nicht hier. Das ist nicht der Ort dazu."

"Gut, dann gehen wir nach draußen." Sie wandte Alexander den Rücken zu und ging zielstrebig durch die Menge. Mit einem Achselzucken folgte ihr Folkens Sohn.
 

Hitomi und Van nahmen die Gratulationen mit Gelassenheit entgegen. Immer mehr Geschenke stapelten sich auf den Tischen neben den beiden Thronsesseln. Und immer mehr Leute kamen, um ihnen zu gratulieren. Innerlich stöhnte Hitomi auf, als sie sah, wie lang die Schlange entlang des roten Teppichs noch war und wie viele Menschen sich noch in dem Ballsaal tummelten. Einer der Adjutanten, der neben Vans Thron stand, rief bei jedem Neuankömmling den Namen auf. Hitomi schüttelte in Gedanken den Kopf.

Wie kann er sich nur all die Namen merken?!

"Wir möchten Euch unseren Glückwunsch aussprechen," sagte gerade Lord von Lethe und verneigte sich vor dem Königspaar. Hinter ihm knicksten seine Frau und seine Tochter. Van und Hitomi nickten dankend.

"Wir danken Euch," erwiderte Van.

"Als Geschenk möchten wir Euch diese Kleinigkeit reichen," sprach Lady von Lethe und überreichte Hitomi eine goldene Vase. Sie nahm sie dankend entgegen. Dann fiel Hitomis Blick auf das goldhaarige Mädchen, das sich weiter im Hintergrund hielt. Die Familie von Lethe zog sich langsam zurück und gedankenverloren drückte Hitomi dem Bediensteten neben sich die Vase in die Hand, damit er sie zu den anderen Geschenken auf den Tischen stellen konnte.

Dieses Mädchen... Sie erinnert mich an jemanden. Nur an wen?

Nachdenklich stützte Hitomi den Arm auf die Lehnen und spielte mit ihrer silbernen Halskette, ein Geschenk Milernas, das sie bereits vor der Hochzeit erhalten hatte.

"Familie von Styx," deklarierte der Adjutant neben Van und die nächste Familie stand vor dem Königspaar.

"Wir gratulieren Euch, Eure Hoheiten," sagte der Familienvater und verneigte sich. Seine Frau knickste neben ihm und auch ihr Sohn verneigte sich. Bei ihm sah die Verbeugung allerdings sehr widerwillig aus. Der Blick aus seinen schwarzen Augen haftete fest an Van. Lady von Styx reichte Hitomi eine prächtige Halskette als Geschenk und diese bedankte sich höflich. Dann zog sich auch die Familie wieder zurück.

Bei ihm ist es das Gleiche. Dieser Junge... Hitomi schüttelte den Kopf und versuchte den Gedanken abzuschütteln. Ein Frösteln überlief sie.
 

Laures wandte sich um und blickte noch einmal zu dem Königspaar zurück.

Genieß dein Glück nur, Vater. Du wirst nicht mehr lange leben, dachte er hasserfüllt.

Dann bemerkte er, wie ihn die Königin musterte und wandte sich ab. Vor sich sah er Lauria von Lethe durch die Menge gleiten. Entschlossen folgte er ihr. Jetzt würde er sie endlich ansprechen können. Schnell hatte er sie erreicht und tippte ihr vorsichtig mit der Zeigefinger auf die Schulter. Elegant drehte sie sich um und blickte ihn aus schwarzen Augen an.

Laures sog überrascht die Luft ein. Er hatte augenblicklich das Gefühl, sich in ihren Augen zu verlieren. Er versank vollkommen in ihrem Anblick.

Auch Lauria blickte den Mann, der sie angetippt hatte, überrascht an. Es war genau der Junge, der ihr schon während der Hochzeitszeremonie aufgefallen war. In seinen schwarzen Augen fühlte sie sich so sicher und geborgen. Fast schien es ihr, als wenn sie ihn schon eine Ewigkeit kennen würde. Vorsichtig lächelte sie ihn an.

"Mit wem habe ich die Ehre?" fragte sie mit heller Stimme und warf ihr goldenes Haar zurück.

"Verzeiht, dass ich mich nicht vorgestellt habe." Laures lächelte verlegen. "Mein Name ist Laures von Styx, Mylady von Lethe."

"Ich sehe, Ihr wisst, wer ich bin," lachte Lauria auf und zwinkerte dem schwarzhaarigen Jungen übermütig zu.

"Möchtet Ihr tanzen?" erkundigte sich Laures höflich.

"Aber mit Freuden, Laures. Mit Freuden." Sie hakte sich lachend bei ihm ein und gemeinsam begaben sie sich auf die Tanzfläche.
 

"Die Dinge gehen also ihren Weg," lächelte eine verschleierte Frau in einer unterirdischen Kapelle sanft. Sie blickte in ihre Kristallkugel und sah zu, wie ihre Kinder mit einander tanzten.

"Jetzt muss es nur noch einen Weg geben, Euch wieder zu erwecken, Herr."

Dabei hatte sie zwar ein ungutes Gefühl, aber letztlich war es doch ihre Pflicht...

Sie blickte zu der mächtigen Statue empor, an deren Füßen sie saß. Über ihr fiel der steinerne Blick des Manticor ins Leere.

5. Auf dem Balkon

"So ist es also passiert," sagte Ivory nachdenklich, als Alexander geendet hatte, und stützte ihre Hände auf die Balkonbrüstung. Ihr weißes Fell schimmerte hell im Licht der beiden Monde.

"Warum warst du nicht bei seiner Beerdigung?" fragte Alexander langsam und lehnte sich neben ihr gegen die Brüstung. Er betrachte das Wolfsmädchen von der Seite. "Es waren so viele Leute da, aber du nicht. Ich hätte dich bemerkt."

"Scharfer Beobachter," erwiderte Ivory spöttisch und funkelte den schwarzhaarigen Jungen aus roten Augen an. "Ich wollte dort nicht hinkommen, nicht solange sein Mörder da war. Sein bester Freund. Louvain..." Sie spuckte den Namen des Löwenjungen angewidert aus. Dann blickte sie zu dem klaren Sternenhimmel empor.

"Verstehst du immer noch nicht, warum er es getan hat?"

"Doch, ich verstehe es. Aber das lindert meinen Schmerz nicht. Und meinen Zorn lässt es auch nicht verschwinden." Stolz war das Wolfsmädchen die langen, weißen Haare zurück.

"Weißt du, die Dinge sind einfach passiert. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Schuld daran hat. Wenn man es aufrollt, dann... Nun, Hitomi wurde von dem Manticor manipuliert. Sie konnte nichts für ihre Handlungen. Und sie hat uns verraten, was bei Lothian nun einmal seine... Reaktion ausgelöst hat. Er hat getan, was er tun musste. Und Louvain hat wiederum getan, was er tun musste. Er hat unsere einzige Chance verteidigt. Kannst du ihm daraus einen Vorwurf machen? Lothian wollte Hitomi töten. Und er hat keinerlei Rücksicht auf Merle genommen, Louvains Freundin. Unser aller Freundin..." Eindringlich sah Alexander die weiße Wölfin an. "Am Ende war es aber ausgerechnet Lothian, der Hitomi irgendwie von diesem Bann befreit hat. Fast scheint es, dass die Dinge so geschehen mussten. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit. Dein Bruder hat uns mit seinem letzten Atemzug die Möglichkeit zur Rettung gegeben. Wenn du es so willst, ist er als Held gestorben."

Ivory starrte stumm weiter zu den Sternen. Der Wind fuhr ihr durch das Haar und bauschte ihr schwarzes Kleid. Alexander sah sie noch einen Moment lang an, dann wandte er sich ab und wollte sie allein lassen. Abrupt drehte sie sich um und fasste ihn am Arm. Überrascht blickte Alexander in ihre lodernden Augen.

"Du magst vielleicht Recht haben. Vielleicht. Aber es ändert die Tatsachen nicht. Lothian ist tot. Daran ändert auch kein Sinn nichts. Gar nichts wird das jemals ändern können," knurrte sie.

"Habe ich das etwa behauptet?" Alexander riss sich los und funkelte das Wolfsmädchen aus seinen dunklen Augen wütend an. "Er war mein Freund - Hast du das schon vergessen? Auch mir war er wichtig! Und auch mir fehlt er! Du warst nicht da! Du hast nicht gesehen, wie sehr Louvain das alles geschmerzt hat. Du hast nicht gesehen, wie Lothian gestorben ist. Du hast den Schmerz nicht für dich allein gepachtet! Wir alle leiden! Nicht nur du! Du musst mit dem Schmerz nicht allein sein, aber du sorgst dafür, dass du es bist. Du tust mir Leid." Mitleidig sah er sie an. Erneut drehte er sich um und stieß die Balkontür auf, doch etwas ließ ihn mitten in der Tür innehalten. Langsam drehte er sich um. Ivory war zu Boden gesunken und hatte den Rücken gegen die Balkonbrüstung gelehnt. Sie hatte sich eng zusammengekauert und die Arme um die Knie geschlungen. Sie schluchzte leise. Folkens Sohn zögerte noch einen Moment, doch dann trat er zu ihr und ging neben dem Wolfsmädchen in die Hocke. Zögerlich legte er die Arme um sie und zog sie schließlich sanft an seine Brust. Leise fiel die Balkontür wieder ins Schloss.
 

Farla war neugierig geworden. So nett die Menschen in diesem Saal auch alle waren und sie bewunderten und bestaunten, so sehr wollte sich doch nur Alexander sehen. Er war schließlich der Grund dafür, dass sie ihr Dorf verlassen hatte. Und dann verschwand er einfach so mit diesem weißhaarigen Mädchen.

Irgendwann hatte sie sich aus dem Gedränge gelöst und sich in die Nähe des Balkons begeben. Jetzt hockte sie hinter einem Pflanzekübel und beobachtete, wie Alexander das fremde Mädchen, das offenbar Lothians Schwester war, wie sie gehört hatte, tröstete. Enttäuscht seufzte das kleine Elfenmädchen auf. Sie hatte sich anderes erhofft.
 

"Schau mal, wir können Hitomi und Van endlich gratulieren!" Merle deutete auf den leeren roten Teppich vor den Thronsesseln. Die Menge hat sich langsam aufgelöst. Energisch zerrte das Katzenmädchen Louvain mit sich. Gemeinsam schritten sie die paar Treppen zu dem Brautpaar empor und verneigten sich formell.

"Jetzt fangt nicht auch noch damit an!" stöhnte Van auf. "Das haben sich Allen und Milerna auch gerade erlaubt."

Hitomi kicherte und auch Merle konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen. Louvain jedoch brachte seine Verbeugung formvollendet zu Ende und sagte schließlich gestelzt: "Wir gratulieren Euch." Danach brach auch er in Gelächter aus. "Als angehender Ritter muss ich die Form doch wahren können." Er grinste breit.

"Daran musst du dann aber noch arbeiten," lachte nun auch Van.

"Wir wünschen euch beiden aber trotzdem alles Gute," meldete sich Merle zu Wort und umarmte Hitomi und Van liebevoll. Louvain tat es ihr nach.

"Danke. Das sind so ziemlich die schönsten Glückwünsche, die ich heute Abend gehört habe," bedankte sich Hitomi.

"Tanzt ihr heute Abend eigentlich noch mal?" erkundigte sich Louvain mit einem schelmischen Lachen.

"Keine schlechte Idee," erwiderte Van, stand auf und reichte Hitomi seine Hand. "Darf ich bitten, meine Königin?"

"Ihr dürft, mein König," kicherte Hitomi und nahm seine Hand. Würdevoll schritten beide zur Tanzfläche und begannen ihrer zweiten Tanz.

"Die beiden sind so ein schönes Paar," seufzte Merle und schaute ihnen schwärmerisch nach.

"Nicht so schön wie wir," entgegnete Louvain und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.
 

In einander versunken tanzten Laures und Lauria. Der Junge mit den schwarzen Haaren konnte seinen Blick nicht mehr von Lauria nehmen. Lauria erging es ähnlich. Auch das blonde Mädchen war völlig von ihrem Gegenüber fasziniert. Sie lächelte sanft und sofort wurde ihr Lächeln von Laures erwidert.

Vielleicht gibt es ja doch einen Gott, dachte Laures lächelnd. Auch wenn ich bisher immer daran gezweifelt habe. Vor allem nach den Dingen, die mir geschehen sind...

6. Silberner Mond

Alexander wusste nicht, wie lange er neben Ivory auf dem kalten Steinboden gesessen und das Wolfsmädchen im Arm gehalten hatte. Irgendwann hatte sich ihr Schluchzen beruhigt, dennoch hatte sie sich nicht gerührt. Sie hatte den Kopf immer noch an seine Brust gelehnt und er konnte ihr weißes Haar an seinem Gesicht spüren. Schließlich bewegte sie sich und blickte ihn aus ihren roten Augen verlegen an.

"Entschuldige bitte. Das ist... sonst nicht meine Art," sagte sie leise und zog sich langsam an die Balkonbrüstung zurück. Sie lehnte sich dagegen und sah ihn an.

"Ist schon gut," erwiderte Alexander sanft und stand langsam auf. Er streckte sich und lächelte das Wolfsmädchen an. "Dazu sind Freunde nun einmal da."

"Freunde..." Nachdenklich starrte sie neben ihm auf die Balkontür. "Freunde... So etwas hatte ich noch nie." Sie stand auf und strich sich über das schwarze Kleid, als wenn sie Staub abklopfen wollte.

"Wie kommt das?" erkundigte sich Folkens Sohn und trat vorsichtig neben sie. Ihr Blick war abschätzend, doch sie duldete seine erneute Nähe.

"Albinos sind... nicht gerne gesehen. Wenn du verstehst, was ich meine. Ich bin eine Ausgestoßene unter Gefürchteten. Denn Angst ist es doch, was uns Wolfsmenschen entegegengebracht wird. Tiermenschen haben es nie leicht, doch wir Wölfe haben es am schwersten. Jeder verwechselt uns mit Werwölfen, unsere blutrünstigen Vettern. Niemand versucht zu sehen, was wir sind. Es sind immer nur die Ammenmärchen. Nichts anderes. Allein König Van ist anders. Er hat uns hier eine Heimat gegeben. Was leider nichts an dem Misstrauen der Menschen ändert." Während Ivory sprach, hatte sie sich von Alexander abgewandt und blickte wieder zu den beiden Monden empor. "Ihr verehrt hier den Drachengott und wir den Mond. Das ist unserer großen Familie gemeinsam. Wir verehren alle den silbernen Mond. In der Wildnis kann man heute Nacht meine Verwandten singen hören. Sie singen für den Mond." Sie schenkte Alexander einen kurzen Seitenblick. Dabei umschmeichelte das weiße Haar sanft ihr Gesicht. Danach blickte sie wieder zu den Monden empor. "Wir haben ein Lied für den silbernen Mond..."

"Singst du es für mich?" fragte Alexander leise und blickte das Albinomädchen unverwandt an. Als Antwort hob sie die Stimme und begann zu singen. Glockenhell klang ihr Gesang durch die Nacht.
 

"Silberblick

herab zu uns

sanftes Licht

das einzige Lächeln

für uns
 

Silberlicht

Sonne in der Nacht

einsamer Schein

das einzige Licht

für uns
 

Silberschatten

eine Umarmung

ganz zärtlich

die einzige

für uns
 

Silberschein

der einzige Freund

der wahre

die einzige Liebe

für uns"
 

Farla hatte die ganze Zeit über hinter dem Pflanzenkübel gehockt und Alexander und das Wolfsmädchen beobachtet. Als sie die alte Weise hörte, seufzte sie leise auf. Sie hatte dieses Lied schon oft gehört. Die Legende besagte, dass ,Silberner Mond' ein Lied war, das die Elfen einmal dem Volk der Wolfsmenschen geschenkt hatten, um ihnen ein wenig Trost zu spenden. Die kleine Elfe spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken rann. Noch nicht einmal die Priesterin der Elfen war in der Lage dieses Lied so schön zu singen, wie es das Wolfsmädchen gerade tat.
 

"Milerna! Hier bist du also! Ich habe dich schon den ganzen Abend gesucht!" Eries' Stimme klang erleichtert, als sie ihre Schwester von hinten ansprach.

Innerlich seufzte Milerna auf. Sie hatte also doch vergeblich versucht ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen. Eries hatte ihr immer noch nicht die spontane Heirat mit Allen verziehen und noch weniger, dass sie zusammen mit ihrem Mann zu dessen Sohn nach Freyd gegangen war. Und am wenigstens hatte sie ihnen beiden vermutlich das ganze politischen Chaos verziehen, das sich ergeben hatte, nachdem bekannt geworden war, wer wirklich Prinz Shids Vater war. Glücklicherweise hatte Eries während der Hochzeitszeremonie nicht mit ihr reden können, doch jetzt konnte Milerna ihr nicht mehr entwischen.

"Eries!" Milerna drehte sich mit einem strahlenden Lächeln um. "Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst." Sie gab der Königin von Asturia einen höflichen Kuss auf die Wange.

Allen verfolgte mit einer hochgezogenen Augenbraue die übertriebene Freundlichkeit, mit der sich die Schwestern begrüßten. Er ahnte, dass unter der Oberfläche noch etwas vorging, doch er war auch der Ansicht, dass es ihn so lange nichts anging, bis Milerna ihn einweihte.

"Allen." Eries nickte ihm freundlich zu. "Wir haben uns seit der Zeremonie nicht mehr gesehen. Soweit ich mich erinnere, hattet Ihr mir einen Tanz versprochen." Sie lächelte sanft und streifte Milerna mit einem Seitenblick.

"Dann lasst ihn uns doch jetzt einlösen," entgegnete Allen mit einer leichten Verbeugung und reichte Eries den Arm. "Du hast doch nichts dagegen, oder?" raunte er Milerna aus dem Mundwinkel zu, doch diese schüttelte nur unmerklich den Kopf.

"Tanz nur mit ihr. Dann muss ich mir wenigstens keine neue Tirade anhören," flüsterte sie leise. Allen musste grinsen.
 

Kaum waren Allen und Eries im Getümmel auf der Tanzfläche verschwunden, als sich Van und Hitomi aus dem Gedrängel herausschoben und Milerna entgegen kamen.

"Na, ihr zwei Süßen? Genießt ihr eure Hochzeit?" fragte die Prinzessin mit einem Lächeln.

"Wie du siehst, ja!" grinste Hitomi breit. Auch Van lachte übermütig.

Wenig später erreichten sie auch Merle und Louvain.

"Tanzen wir auch endlich zusammen, Van?" quengelte Merle und nahm den König an die Hand.

"Nur, wenn Hitomi mich gehen lässt," gab Van zurück. Das Katzenmädchen blickte die neue Königin von Farnelia erwartungsvoll an.

"Na geht schon!" lachte diese und zwinkerte den beiden zu. Übermütig zerrte Merle Van zur Tanzfläche.

"Wo nimmt sie nur diese Energie her?" Louvain sah dem Katzenmädchen kopfschüttelnd nach. "Wir haben jetzt mindestens zwei Stunden am Stück getanzt. Und sie ist immer noch nicht müde!"

Hitomi und Milerna mussten kichern.

"Sagt mal, habt ihr Alexander irgendwo gesehen?"

"Vorhin war er noch draußen auf dem Balkon," meinte die asturianische Prinzessin. "Vielleicht ist er ja immer noch da."

"Danke. Ich werde mal nachsehen." Entschlossen drängelte sich der Löwenjunge durch die Menschenmenge davon.
 

"Das war wunderschön," sagte Alexander als Ivory geendet hatte. Er hatte die Arme auf die Balkonbrüstung gestützt und sah sie unverwandt an.

"Danke." Ein sanftes Lächeln umspielte die Lefzen des Wolfsmädchens. Zum ersten Mal seit langem hatte sie das Gefühl wirklich lächeln zu können und nicht nur eine Maske aufzusetzen.

Leise sprang hinter ihnen die Balkontür auf und Louvain betrat den Balkon. Als er das Gesicht von Lothians Schwester sah, wünschte er sich, dass er es nicht getan hätte.

Sobald Ivory Louvain ansichtig wurde, änderte sich ihre Miene schlagartig. In ihren roten Augen glomm kaum verhohlener Hass.

"Mörder!" knurrte sie hasserfüllt.

7. Verbotene Liebe

"Mörder!" Ivory blickte Louvain aus rot glühenden Augen hart an.

"Bitte, Ivory... Lass mich dir doch erklären..." stammelte der Löwenjunge schwach.

"Was willst du mir denn noch erklären?" höhnte die weiße Wölfin und tat einen Schritt auf Louvain zu. "Was? Dass du meinen Bruder ermordet hast? Den Einzigen, der jemals zu mir gestanden hat? Willst du mir das noch einmal sagen?" Sie funkelte Louvain hasserfüllt an, dann schritt sie an ihm vorbei und verließ den Balkon. Louvain sah ihr betreten nach.

"Lass sie," meinte Alexander sanft und legte dem Löwenjungen die Hand auf die Schulter. "Sie trägt viel Schmerz in sich. Das braucht seine Zeit."

"Damit ist sie nicht allein..." Der Löwenjunge seufzte auf. "Zeit... Damit sie noch mehr Hass aufbauen kann? Etwas anderes ist es doch nicht. Nicht mehr..." Resigniert lehnte er sich neben Alexander an die Balkonbrüstung. "Hat sie dich auch die ganze Zeit so behandelt?"

"Nein." Folkens Sohn schüttelte energisch den Kopf. "Sie war ziemlich... zugänglich. Ich weiß nicht. Ich glaube, ich mag sie." Alexander grinste schief. "Sie ist etwas Besonderes..."

Louvain zog eine Augenbraue hoch. "Wenn du meinst..."
 

Hitomi und Milerna hatten sich zu einer gemütlichen Sitzecke zurückgezogen. Die neue Königin von Farnelia wurde dafür, dass sie sich nicht auf ihren Thron gesetzt hatte, immer wieder mit irritierten Seitenblicken gestreift, doch Hitomi verstand, sie zu ignorieren. Sie gab nichts darauf, was die anderen dachten.

"Weißt du, Milerna," sagte Hitomi mit einem glücklichen Lächeln, "Das ist wirklich der schönste Tag in meinem Leben."

Milerna grinste breit. "Dann habe ich dir ja nicht zu viel versprochen." Die Prinzessin ließ ihren Blick über die tanzenden Gäste schweifen und sah schließlich Allen mit Eries.

"Ich wüsste gerne, was in ihrem Kopf vorgeht," murmelte sie leise.

"Was sagst du?" erkundigte sich Hitomi neugierig.

"Ich meinte Eries. Sie ist in letzter Zeit noch... schwieriger. Seit ich mit Allen nach Freyd gegangen bin, ist sie noch ,anstrengender' als so schon." Milerna seufzte auf. "Sie hat mir die Spontanheirat mit Allen immer noch nicht verziehen. Genauso wenig, dass ich mit ihm nach Freyd gegangen bin und der potenziellen Nachfolger für den Thron Asturias - Drayos - in Freyd aufwächst. Und dann ist da noch das politische Chaos, das Allens Vaterschaft von Shid ausgelöst hat. Kurz gesagt: Im Moment glaube ich, dass sie mich hasst."

"Das bildest du dir sicherlich nur ein. Eries trägt viel Verantwortung und kann vielleicht die kleinen Dinge nicht mehr sehen..." Hitomi zuckte ratlos mit den Schultern und blickte zu den Tanzenden hinüber.

Für mich sieht es fast so aus, als wenn sie unglücklich verliebt ist, dachte sie nachdenklich.
 

"Und? Seid Ihr glücklich in Freyd?" fragte Eries und blickte Allen tief in die blauen Augen. Er lächelte sie an.

"Ich kann bei meinem Sohn sein. Dem Sohn, dem ich viel zu lange nicht gesagt habe, dass ich sein Vater bin. Wie sollte ich da nicht glücklich sein?"

"Ihr habt all das verloren, was Ihr in Asturia hattet." Eries' Stimme klang ein wenig betrübt. "Ihr habt Euren Posten in der Armee verloren. Und jeglichen Besitz. In Asturia seid Ihr niemand mehr. Ist das kein hoher Preis?"

"Nein. Eigentlich nicht. Für die Familie gibt es keinen zu hohen Preis. Außerdem bin ich nun der General der Streitkräfte von Freyd. Und meinen Titel ,Ritter des Himmels' habe ich ja - dank Euch - behalten. Ich habe also keinen Grund mich zu beschweren. Ihr macht Euch ein wenig zu viele Gedanken."

"Ja, vielleicht..." Verträumt sah Eries ihn an. Beim Tanzen wehte ihr hellblondes Haar sanft nach hinten und umspielte ihr schmales Gesicht.

"Habt Ihr Euch eigentlich schon für einen Ehemann entschieden?" wechselte Allen das Thema.

Eries schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Ich wünschte, meine Berater würden mich damit in Ruhe lassen. Aber sie haben nun einmal recht. Als Königin bin ich schon viel zu lange unverheiratet."

"Gibt es denn niemanden, der Euer Herz erreicht?" fragte Allen und legte den Kopf leicht schräg.

"Es gibt da schon einen, aber er ist schon längst verheiratet und auch für mich unerreichbar." Eries lächelte traurig.
 

"Lauria?" Das blonde Mädchen wurde unsanft aus ihren Gedanken gerissen, als sie jemand an der Schulter fasste. Laures und sie unterbrachen ihren Tanz und Lauria drehte sich um. Ihre Mutter sah sie an.

"Wir müssen gehen, Kind. Es ist schon spät." Lady von Lethe fasste Lauria an der Hand und zerrte sie mit sich. Über die Schulter hinweg lächelte das goldhaarige Mädchen Laures noch einmal zu.

"Es tut mir Leid," flüsterten ihre Lippen.

"Wir werden uns wiedersehen," sagte Laures mit fester Stimme und sah ihr noch nach, als sie schon in der Menge der Tanzenden verschwunden war.

Ja, denn du gehörst zu mir...
 

Kaum waren sie aus dem Ballsaal heraus, blieb Lady von Lethe stehen und packte Lauria grob am Arm.

"Meine Tochter, du wirst diesen Jungen nie, nie wieder sehen. Haben wir uns verstanden? Du lässt die Finger von ihm!"

"Aber Mutter..." Erschrocken sah Lauria ihre Mutter an. Was hatte sie nur?

"Kein aber! Vergiss ihn, Kind! Es ist besser für dich! Besser für uns alle!" Sie ging weiter und zerrte Lauria grob hinter sich her.

Kind, dachte Lady von Lethe verzweifelt, ich habe diesen Blick schon so oft gesehen. Du liebst ihn. Und du sollest ihn nicht lieben. Er ist dein Bruder... Selbst wenn das die Absicht des Manticor war: Er ist nicht mehr! Und ich werde dich beschützen, mein Kind... Meine einzige Tochter...
 

Unwirsch schüttelte die verhüllte Gestalt in der unterirdischen Felskapelle ihre Kristallkugel. Ihr gefiel nicht, was sie sah.

"Dumme Frau! Du stellst dich der Zukunft entgegen! Schade um dich und deinen Mann... Ihr werdet dafür bezahlen..." Abrupt stellte sie die Kristallkugel auf den Sockel der Manticorstatue ab und rief in die Dunkelheit: "Miguel! Mèo! Kommt sofort her!" Ein etwa zehnjähriger Junge und ein knapp zwanzig Jahre alter Mann schälten sich aus der Dunkelheit und blieben vor der schwarz verhüllten Frau stehen. Ehrfürchtig verneigten sie sich.

"Was wünscht Ihr, Herrin?" fragte Miguel und blickte in den dunklen Schatten unterhalb der Kapuze.

"Ihr werdet Lord und Lady von Lethe töten. Und genauso Lord und Lady von Styx. Wir können kein Risiko eingehen. Sie könnten sich einmischen..."

"Ja, Herrin." Die beiden verneigten sich und verschwanden wieder in der Dunkelheit.

Auriana lehnte sich zurück und blickte zu dem Manticor empor, der steinern über ihr thronte.

"Ich denke, das dürfte in Eurem Sinne sein..." murmelte sie leise.

8. Hochzeitsnacht

Langsam aber sicher leerte sich der Ballsaal. Als letzte Gäste waren schließlich nur noch Milerna, Allen, Merle, Louvain, Alexander und Farla da.

"Es war wirklich ein wunderschönes Fest," sagte Milerna.

"Das freut mich," erwiderte Van. "Sag, Alexander, zeigst du Farla bitte das Zimmer, in dem sie schlafen kann?"

Folkens Sohn nickte und nahm Farla beim Arm. "Na komm, Kleine. Du siehst müde aus."

Die kleine Elfe unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und meinte dann schleppend: "Das wirkt nur so..."

Alexander lachte auf und gemeinsam verließen sie den Saal. Allen und Milerna verabschiedeten sich von den anderen und taten es ihnen gleich.

"So eine Hochzeit möchte ich auch mal feiern," meinte Merle mit einem breiten Grinsen zu Louvain.

"Irgendwann einmal..." konterte der Löwenjunge. "Wir werden sehen..."

"Das klingt ja nicht gerade, als ob du mich heiraten willst..." Beleidigt sah Merle ihren Freund an. Dieser strich ihr lachend über das rosafarbene Haar. "Ich liebe es, wie du dich immer so schnell aufregen kannst..."

"Ach du!" Merle sprang auf und schneite beleidigt aus dem Saal.

"Entschuldigt mich," wandte sich Louvain kurz an Van und Hitomi, dann rannte er Merle fluchend nach. So langsam sollte ich doch wissen, womit ich sie zu viel reize, stöhnte er in Gedanken.

Van sah Hitomi an. "Und jetzt sind nur noch wir da..."

"Ja, und wir gehören ins Bett," gähnte Hitomi.

"Dann lass uns mal gehen..." Van grinste breit und nahm sie an die Hand.
 

Laures ging nachdenklich hinter seinem Vater und seiner Mutter zu dem Gasthof, in dem sie sich einquartiert hatten. Sie mochten zu dem höchsten Adel in Farnelia gehören, aber trotzdem waren sie nicht in der Lage, sich etwas besseres als diese schäbige Herberge zu leisten. Das sollte sich ändern, fand Laures. Irgendwann zumindest. Dann, wenn er König von Farnelia war. Spätestens dann... Dazu musste aber sein Vater, Van Farnel, verschwinden.

Seltsam, dass er so jung aussieht... Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass er gar nicht mein Vater sein kann. Er sieht aus zwanzig. Höchstens. Und ich bin jetzt fünfzehn. Wie kann das nur sein?

Laures fuhr sich durch das schwarze Haar und grübelte weiter. Irgendetwas musste da noch sein. Etwas, wovon er keine Ahnung hatte. - Und das ihm der Manticor verschwiegen hatte...
 

Vor der Tür des königlichen Schlafzimmer blieben Van und Hitomi stehen. Van stieß die Tür auf, hinderte Hitomi aber am Eintreten.

"Es gibt da so einen Brauch, dass man die Braut über die Schwelle trägt..." sagte er mit einem breiten Grinsen. Er hob Hitomi hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Sie musste kichern. Sanft legte er sie auf dem Bett ab und schloss die Tür. Dann ließ er sich neben ihr auf der Bettkante nieder. Hitomi hatte sich wieder halb aufgerichtet und sah Van aus ihren grünen Augen unverwandt an. Sie beugte sich vor und küsste ihn liebevoll. Sie streichelte ihm sanft über die Brust und begann die Knöpfe seiner Uniformjacke zu öffnen. Van lächelte und löste langsam den Schleier von ihrem Kleid.
 

"Merle! Jetzt bleib doch endlich stehen! Ich habe es doch nicht so gemeint!" rief Louvain dem Katzenmädchen entnervt nach.

Sie rannte vor ihm durch den Gang und stieß die Tür zur Terrasse weit auf. Sie wollte offenbar in den Schlossgarten laufen und wenn sie erst einmal dort war, dann würde Louvain keine Chance haben sie zu finden - wenn sie nicht gefunden werden wollte.

"Merle! Bitte!" schrie er.

Er stürmte durch die Tür und blieb abrupt stehen, als er sah, wie Merle zusammengekauert auf der Treppe der Veranda saß. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte zu den Sternen empor. Langsam trat Louvain näher und hockte sich neben sie. Sanft legte er den Arm um ihre Schultern. Gemeinsam sahen sie eine Sternschnuppe fallen.

"Wünsch dir was," flüsterte ihr der Löwenjunge sanft ins Ohr. Merle blickte ihn aus ihren babyblauen Augen und lächelte.

"Das muss ich nicht. Ich habe alles, was ich mir wünsche. Nämlich dich." Sie küsste ihn zärtlich.

"Entschuldige, dass ich so ein Dummkopf war," sagte Louvain, als sie sich wieder von einander gelöst hatten.

"Ist schon gut," murmelte Merle verträumt. "Ich weiß ja, dass du es nicht so meinst."

Liebevoll streichelte ihr der Löwenjunge über das Haar und nahm sie in den Arm.
 

Farla lag nachdenklich in ihrem Bett. Das Elfenmädchen wälzte sich unruhig hin und her. Sie war solche seltsamen Betten nicht gewöhnt. In ihrem Dorf schliefen die Elfen in Hängematten, die sie aus Gras webten. Schließlich warf sie die seltsam schwere Bettdecke bei Seite und stand auf. Langsam flog sie zum Fenster und setzte sich auf das Sims. Sie blickte hinaus zu den Sternen.

"War es richtig wegzugehen?" fragte sie sich leise. "Ist er es wert? Ist er es wert alles wegzuwerfen und alles hinter mir zu lassen?"

Die Nacht gab ihr keine Antwort auf ihre Fragen.
 

Es war spät in der Nacht, als Hitomi wach wurde. Neben sich spürte sie Vans warmen Körper, der sich eng an sie geschmiegt hatte. Sie drehte sich ein wenig zur Seite und blinzelte aus dem Fenster. Ganz eben noch konnte sie den Mond der Illusionen sehen.

Mama, Papa, kleiner Bruder, Yukari, Amano... Mir geht es gut. Ich bin glücklich, dachte sie und lächelte. Hier ist meine Heimat. Hier gehöre ich hin. Aber das wisst ihr ja... Verschlafen blinzelte sie, dann schlief sie wieder ein.

9. Herrin vom See

Hitomi träumte...

Sie fand sich in einem tiefen See wieder, dessen Wasser blaugrün schimmerte. Fische zogen an ihr vorbei und Wasserpflanzen ragten aus dem sandigen Boden empor. Hitomi ließ sich treiben und sah sich um.

Wo bin ich hier nur?

"Willkommen, Mädchen vom Mond der Illusionen und Königin von Farnelia. Willkommen in meinem Reich."

Hitomi drehte sich um und sah, wie die Herrin vom See sie anlächelte. Das lange blaugrüne Haar der Nixe wallte mit dem Wasser und ihr Fischschwanz glitzerte silbern. Ihre großen Augen schimmerten strahlend blau und blickten das Mädchen vom Mond des Illusionen freundlich an.

"Warum bin ich hier?" fragte Hitomi leise und schaute die Nixe bewundernd an.

"Ein Freund von uns führt dich hierher. Der schwarze Drache. Er braucht deine Hilfe."

"Wo ist er?" erkundigte sich Hitomi aufgeregt.

"Ganz nah..." Die Herrin vom See lächelte geheimnisvoll. Ein Schwarm Fische schoss um silbrigglänzend um sie herum und verschwand wieder in der Ferne.

"Farnelia ist sein Land... Irgendwo gibt es eine unterirdische Kapelle. Dort wirst du seinen Körper finden. Aber er schläft. Tief und fest. Du musst ihn wieder aufwecken, Mädchen. Du musst ihn wecken..."

"Aber warum? Nicht, dass er mir nicht fehlen würde, aber... Warum sollte ich ihn wecken? Es gibt keine Bedrohung..."

"Dann bist du ein Träumer." Die Herrin vom See lachte spöttisch. "Hast du die Kinder schon vergessen? Das neue Volk, das der Manticor geschaffen hat? Sie sind euch näher, als du denkst. Sie stehen vor eurer Tür. Ein zorniger junger Mann und ein junges Mädchen, das nicht weiß, wer sie ist. Und er... Ihm hat der Manticor eine Vergangenheit gegeben. Und nur der Drache kann sie ihm wieder nehmen - bevor er etwas Unbedachtes tut, geführt von seinem Zorn."

"Wer sind sie? Die Kinder, meine ich." Hitomi sah die Herrin vom See abwartend an. Vielleicht wusste sie ja mehr...

"Ich weiß es nicht. Ich kann sie spüren. Ganz deutlich... Ich weiß aber nur, dass sie euch nahe sind. Mehr nicht. Nur der Drache kann euch mehr sagen. Und dafür muss er aufwachen. Finde ihn. Dann werde ich dir sagen, wie du ihn wecken kannst, Mädchen vom Mond der Illusionen..."

Die Herrin vom See blickte Hitomi bestimmt an und diese spürte, dass sie ihr nicht widersprechen würde. In diesen klaren, blauen Augen lag der gleiche Ausdruck, wie sie ihn so oft bei dem Drachen gesehen hatte. Sie würde den schwarzen Drachen suchen.

Hitomi spürte, wie sie langsam davon trieb und sich in einen normalen Traum hineinträumte.
 

Am nächsten Morgen als Hitomi aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Sie blinzelte die Decke über sich an und brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie im königlichen Schlafzimmer lag. Neben sich spürte sie Vans warmen Körper. Sie lächelte. Ja, sie war jetzt Königin von Farnelia. Aber nicht das war es, was zählte. Das wirklich Wichtige war, dass sie jetzt mit dem Mann verheiratet war, den sie liebte. Konnte sie sich noch mehr wünschen?

Sanft löste sie sich aus Vans Umarmung und stand auf. Sie streifte sich einen weißen Morgenmantel über und trat ans Fenster. Die Sonne schien schon hell und malte goldenen Kreise auf den Schlossgarten. Ein Vogel zwitscherte in der Nähe und kurz darauf mischten sich noch drei weitere ein. Hitomi lächelte. Ja, sie war wirklich glücklich. Sie drehte sich um und blickte ihren schlafenden Mann an. Vans schwarzes Haar war strubbelig und die Sonne zauberte einen goldenen Schimmer auf seinen nackten Rücken. Hitomis Lächeln vertiefte sich noch mehr. Gott, wie sehr sie ihn doch liebte! Langsam bewegte Van eine Hand und fuhr sich damit über die Augen. Dann setzte er sich gemächlich auf und blinzelte sie an. Seine braunen Augen leuchteten im Morgenlicht.

"Du bist schon wach?" murmelte er verschlafen.

"Es geht," erwiderte Hitomi.

"Komm wieder ins Bett." Van streckte die Hand aus. "Es ist noch viel zu früh um aufzustehen."

"Du hast Recht..." Hitomi grinste.

Das Mädchen vom Mond der Illusionen schritt bis zum Bett und streifte den Morgenmantel wieder ab. Dann ließ sie sich in Vans zärtliche Umarmung sinken und erwiderte seinen Kuss.
 

Farla wachte auf der Fensterbank auf. Verwirrt stellte sie fest, dass sie irgendwann im Sitzen eingeschlafen sein musste.

Na, immer noch besser als dieses seltsame, riesige Bett...

Sie streckte sich und bewegte langsam ihre Flügel. Sie waren ein wenig verspannt, aber es ging. Sie beugte sich etwas vor und sah aus dem Fenster. Ein junger Mann ging gerade über den Weg zum Schlossgarten. Die Elfe erkannte Alexander sofort. Er war einfach unverkennbar und absolut unverwechselbar. Nachdenklich sah sie ihm nach.

Bist du es wert? Bist du es wert, dass ich alles zurückgelassen habe? Ist es meine Liebe wert?

Farla seufzte leise und blickte Alexander aus traurigen Augen nach.
 

Alexander pfiff fröhlich vor sich hin. Das Wolfsmädchen mit dem weißen Haar und den roten Augen ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er wollte sie in dem Viertel der Tiermenschen besuchen. Seit Louvain sie nach Farnelia geholt hatte, hatten sich die Wolfsmenschen, die Löwenmenschen und all die anderen ihr eigenes Viertel in der Stadt geschaffen. Ein Teil der Einwohner begegnete ihnen noch immer mit Mistrauen, aber die meisten hatten sich an sie gewöhnt und sich mit ihnen angefreundet. Die Menschen fürchteten eben immer, was sie nicht kannten und verstanden. Langsam erkannten sie jedoch, dass sich die Tiermenschen gar nicht so sehr von ihnen unterschieden und lernten sie zu akzeptieren.

Wie dumm Menschen doch sein können, dachte Alexander traurig. Gerade die Wölfe erfahren das immer wieder...

Der Wind spielte mit seinen kurzen schwarzen Locken und zerrte an seinem Mantel. Alexander lächelte leicht. Er freute sich darauf, Ivory wiederzusehen.

10. Guymelef

"Kommst du, Milerna? Wir werden zum Frühstück erwartet." Allen wippte ungeduldig mit einem Fuß auf dem Boden und wiegte seine Tochter im Arm. Ayres blickte ihn aus ihren blauen Augen an und lachte gurgelnd vor sich hin. Allens Blick wurde weich. Sanft stupste er sie mit seinem Zeigefinger an und bekam ein leises Kichern zu hören.

"Ich bin fertig." Milerna kam aus dem Nebenzimmer. Sie musste lächeln, als sie ihren Mann mit seiner Tochter im Arm sah.

"Ist sie nicht einfach wunderbar?" fragte Allen und blickte seine Tochter immer noch an.

"Ja, das ist sie," sagte Milerna und trat neben ihren Mann. Auch sie blickte ihre Tochter liebevoll an. Zu dritt verließen sie das Gästezimmer. An der Tür zum nächsten Zimmer blieben sie stehen. Milerna öffnete die Tür.

"Drayos, komm, wir gehen frühstücken."

"Ist ja gut..." murrte der braunhaarige Junge, warf seinen Teddybär bei Seite und sprang vom Bett. Mürrisch sah er seine Mutter an und huschte an ihr vorbei. Milerna seufzte leise. Seit sie nach Freyd gegangen waren, war Drayos störrischer und launischer geworden. Für seine vier Jahre war er ein sehr aufgeweckter Junge und stellte seine Umwelt ständig auf den Kopf. Vor allem im Palast von Freyd hatten sie den Stiefbruder von Herzog Shid fürchten gelernt. Seine Streiche waren bereits im ganzen Land bekannt und berüchtigt.

Allen hatte derweil bei Shid angeklopft und seinen Sohn abgeholt. Der dreizehnjährige Junge stand neben seinem Vater. Drayos lief an beiden vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Kopfschüttelnd sah Shid ihm nach. Er fühlte sich von seinem Stiefbruder abgelehnt und wusste auch, dass er damit Recht hatte. Er wusste nur nicht, warum es so war.

"Lass ihn," meinte Allen langsam. "Das ist alles noch so neu für ihn."

"Neu? Er ist seit zwei Monaten mein Bruder und behandelt mich immer noch wie einen Fremden."

"Er ist noch klein. Er wird es lernen," gab Allen zurück und wiegte Ayres sanft auf seinem Arm.
 

Hitomi und Van fanden sich schließlich auf der Terrasse am Frühstückstisch ein. Merle und Louvain saßen bereits dort. Farla ließ sich gerade nieder und die Familie Aston-Schezar trudelte gerade ein. Am Kopfende der Tafel setzte sich das Königspaar und Van blickte in die Runde.

"Wo ist denn Alexander?" fragte Van.

"Ich glaube, er ist schon in die Stadt gegangen," meinte Farla. Ihr silbernes Haar funkelte in der Sonne.

"Aha. Und Königin Eries? Milerna, weißt du etwas?"

Die blonde Prinzessin zuckte nur mit den Schultern. "Ich wusste bis gerade nicht, dass sie zum Frühstück eingeladen ist," erwiderte sie.

In dem Moment ging die Glastür auf und Eries betrat die Terrasse.

"Entschuldigt meine Verspätung, Majestät," sagte sie mit einem höflichen Knicks.

Van nickte und deutete ihr auf dem Stuhl zu seiner Linken Platz zu nehmen.

"Da wir jetzt wohl alle da sind, können wir mit dem Frühstück beginnen," erklärte Van und sofort begannen die Diener Essen und Getränke zu reichen.
 

Unschlüssig stand Alexander vor dem Haus, in dem Ivory wohnte. Louvain hatte ihm die Adresse verraten. Jetzt war sich Folkens Sohn nur nicht mehr so sicher, ob er sie wirklich besuchen sollte und vor allem, ob es so ein guter Zeitpunkt war, nachdem sie gestern so wütend gegangen war. Ob sie ihn überhaupt sehen wollte? Von Zweifel geplagt stand Alexander wie erstarrt vor der einfachen Holztür. Plötzlich öffnete sich diese und Ivory trat heraus. Überrascht sah sie den jungen Mann mit den dunklen Augen an.

"Was führt dich so früh am Morgen her?" fragte sie schließlich. Heute hatte sie ihr weißes Haar zu einem Zopf geflochten. Auch trug sie kein Kleid mehr, sondern schwarze Hosen und ein ebenfalls schwarzes Hemd.

"Ich... ich wollte dich besuchen," stammelte Alexander.

"Oh. Ich wollte gerade weggehen. Aber du kannst ja gerne mitkommen," sagte sie schnell. Sie lächelte Alexander auffordernd an.

"Gerne." Folkens Sohn strahlte sie an. Ivory zog die Haustür hinter sich zu und gemeinsam gingen sie in Richtung Palast.

"Und wohin gehen wir?" fragte Alexander schließlich.

"Zu Lavender. Als Lothians Schwester ist es meine Pflicht, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hat."

"Was meinst du?" Verwirrt sah Alexander das Wolfsmädchen an. "Willst du in seine Fußstapfen treten?"

"Genau. Ich werde mit seinem Guymelef kämpfen, um sein Ansehen zu wahren." Die weiße Wölfin sah ihn aus funkelnden, roten Augen an.

"Hast du denn schon einmal in einem Guymelef gesessen?" hakte Alexander nach.

Sie waren mittlerweile an der Halle angekommen, in der sich die Guymelefs befanden und Folkens Sohn schob die Tür auf. Ivory schritt hindurch und gab über ihre Schulter zurück: "Nein, aber ich kann kämpfen. Ich werde es eben lernen."

"Dann lass mich dir helfen," bot Alexander an.

Er selbst hatte die letzten zwei Monate gelernt, wie man einen Guymelef steuerte und mittlerweile auch von Van einen eigenen Guymelef geschenkt bekommen. Er hatte ihn auf Grund seiner schwarzbraunen Färbung Ebony getauft.

"Warum nicht?" Ivory lächelte ihn an und Alexander wusste, dass er dieses Lächeln niemals wieder missen wollte.

"Dann lass mich dir Lavender in die Arena bringen. Dort werden wir dann mit dem Training anfangen."

Das Albinomädchen nickte zustimmend und ging weiter zur Arena, während Alexander zu Lavender eilte und in dessen Cockpit schlüpfte. Nur gut, dass sein eigener Guymelef von einer ähnlichen Bauart war. Er bewegte den Guymelef mit dem violetten Umhang langsam nach draußen in die Arena. Ivory sah zu ihm empor.

Das Wolfsmädchen war von der Größe des Guymelefs beeindruckt. Sie hatte zwar schon Guymelefs von Nahem gesehen, aber nie in dem Bewusstsein, dass sie einen steuern würde. Es gab ihr ein anderes Gefühl. Ihr Bruder hatte diesen Guymelef gesteuert und Stolz erfüllte sie. Fast erwartete sie, dass Lothian aus dem Cockpit springen und auf sie zu laufen würde. Doch das tat er nicht. Stattdessen sprang Alexander aus dem Cockpit und winkte ihr zu. Ivory seufzte leise auf und kletterte an Lavender empor.

"Dort musst du deine Füße hintun und hier deine Arme. Mit den Händen fasst du dann diese Hebel an," erklärte Alexander und deutete auf die verschiedenen Punkte. Ivory folgte seinen Erklärungen aufmerksam und war auf einmal sehr erleichtert, dass sie ihn an seiner Seite hatte. Alleine wäre es schwierig gewesen, das alles zu begreifen.

Seltsam. Das erste Mal in meinem Leben scheine ich jemand anderen als mich und meinen Bruder zu brauchen... kam es ihr in den Sinn.

11. Pläne

Miguel und Mèo landeten mit ihrem kleinen, schnellen Luftschiff außerhalb der Stadtmauern. Der Auftrag, den ihnen ihre Herrin gegeben hatte, war klar. Heute Nacht würden sie ihn ausführen. Sie stiegen aus dem Luftschiff und machten es sich auf der Wiese bequem. Abwechselnd würden sie ruhen, damit sie heute Nacht ausgeschlafen genug waren, um ihrer Pflicht nachzukommen. Was es sie betraf, waren Lord und Lady von Styx sowie Lord und Lady von Lethe bereits Geschichte.
 

Laures verließ die schäbige Herberge, in der er und seine Eltern untergebracht waren. Wo sollten sie eigentlich dauerhaft bleiben? Dieses Frage hatten sie ihm noch nicht beantwortet. Zurück auf die Rückseite Gaias konnten sie nicht, denn sie hatten das alterschwache Luftschiff, mit dem sie hergekommen waren, verkaufen müssen, um die Unterkunft zu bezahlen. Laures schüttelte zornig den Kopf. Und zur gleichen Zeit lebte sein Vater in einem Schloss. Die Wut in ihm staute sich an und wurde immer stärker. Irgendwann würde sein Hass groß genug sein. Und dann würde er Van töten...

Aber dafür war jetzt noch nicht die Zeit. Jetzt war es Zeit zu beobachten. Seinen Vater zu beobachten. Denn obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, so war Laures doch neugierig, wie sein Vater eigentlich war. Auch wenn er für ihn nur Hass empfand, wollte er ihn doch kennen lernen. Und sei es nur als Soldat. Deswegen ging Laures nun zum Schloss. Er wollte sich als Soldat für Farnelias Heer melden. Außerdem würde er so die Gegebenheiten im Schloss besser auskundschaften können.
 

Das Frühstück war beendet und Van nahm Eries bei Seite.

"Ich weiß nicht, ob Ihr nicht schon genug Männer erlebt habt, die um Eure Hand angehalten haben, aber mich hat gestern ein junger Mann aus Arkadien angesprochen. Ich würde Euch bitten, ihn zumindest anzuhören. Im Gegensatz zu vielen anderen scheint es ihm nicht um eine rein politische Heirat zu gehen."

Eries sah Van nachdenklich an. Eigentlich hatte sie genug von diesen Bewerbern, aber Van schien es äußerst wichtig zu sein. Außerdem hatte er sie neugierig gemacht.

"Also gut," sagte sie schließlich. Nebeneinander verließen sie die Terrasse und gingen in die kleine Bibliothek, wo der Prinz von Arkadien sie bereits in der Hoffnung auf ein Treffen erwartete.

"Worum ging es denn?" fragte Milerna neugierig.

Hitomi zuckte mit den Achseln. "Um irgendeinen Mann, der um die Hand deiner Schwester anhalten will. Frag mich aber nicht, warum er sich ausgerechnet an Van gewandt hat."

"Wie heißt er denn?" erkundigte sich Allen.

"Torian. Torian dy Arkadia."

"Ein guter Krieger," meinte Allen. "Er ist der zweite Sohn von König Traian. Ein sehr anständiger junger Mann. Ich habe bereits mehrfach mit ihm über Guymelefs gefachsimpelt. Schade, dass er keine Chancen auf den Thron hat. Er wäre der bessere König von den beiden Brüdern..."
 

"Königin Eries Aston, das ist Torian dy Arkadia, Prinz von Arkadien. Torian dy Arkadia, dies ist Königin Eries Aston von Asturia," stellte Van die blonde Königin und den Mann mit dem braunen Haar vor. Danach verließ der König von Farnelia taktvoll die kleine Bibliothek.

Abschätzend sah Eries den jungen Mann an. Sein braunes Haar war schulterlang und unter den langen Ponysträhnen funkelten sie grüne Augen an. Er war etwas größer als sie und sehr durchtrainiert.

"Ihr wollt also auch um meine Hand anhalten?" erkundigte sich Eries und ließ sich auf einem bequemen, roten Sofa nieder.

Vorsichtig setzte sich Torian neben sie und lächelte sie unsicher an. "Das ist richtig, Euer Majestät."

"Und warum habt Ihr Euch deswegen an König Van gewandt? Das ist etwas ungewöhnlich. Normalerweise kommen Bewerber immer an den Hof von Asturia und bitten nicht jemand anderes um Vermittlung."

"Ich weiß, Königin Eries. Aber ich wollte nicht wie die anderen sein, da ich anders bin. Im Gegensatz zu den anderen interessiert mich die Herrschaft über Asturia recht wenig. Ihr seid es, die mich interessiert."

Überrascht blickte Eries den jungen Mann an. Seine grünen Augen sahen sie ehrlich an. Damit hatte sie nun nicht gerechnet.

"Was wollt Ihr mir damit sagen?" Sie wollte, dass er es ihr direkt sagte und sie nicht zwischen seinen Worten lesen musste.

"Eries." Er rutschte näher und nahm ihre Hand. "Seid Ihr zehn Jahre alt gewesen seit, begegnen wir uns immer wieder auf Festlichkeiten. Und seid ich Euch das erste Mal gesehen habe, denke ich nur an Euch. Ich habe mich bereits damals, als ich selbst erst dreizehn Jahre alt war, in Euch verliebt. Und jetzt möchte ich um Eure Hand anhalten, Eries. Nicht weil ich über Euer Land herrschen will, sondern weil ich Euch liebe." Er blickte ihr direkt in die wasserblauen Augen, konnte aber nichts in ihnen ablesen. Sie war zu beherrscht. Manchmal ein wenig zu beherrscht, so schien es ihm.
 

"Gut so, Ivory!" rief Alexander dem Wolfsmädchen zu, als sie die ersten Schritte mit Lavender machte. Das Ganze wirkte zwar noch etwas holperig und hölzern, aber sie machte rasend schnelle Fortschritte.

"Alexander! Was treibt ihr denn hier?"

Folkens Sohn wirbelte herum und sah seinen Onkel, Louvain und Allen im Eingang der Arena stehen.

"Ich bringe Lothians Schwester bei, wie man einen Guymelef steuert," erklärte Alexander und ging zu den Dreien hinüber.

"Seit wann?" fragte Allen und blickte zu Lavender herüber. Mit jedem einzelnen Schritt wurde Ivory sicherer und mittlerweile wirkte es fast, als wenn sie schon immer in der Kampfmaschine gesessen hätte.

"Seit knapp zwei Stunden. Warum fragst du?"

"Dann ist sie talentiert. Sehr talentiert." Bewundernd sah Allen zu, wie der Guymelef mit dem violetten Umhang in die Knie ging und geschmeidig wieder hoch kam. Dann wirbelte Lavender um die eigene Achse und schnellte durch die Arena.

"Dann ist sie wirklich verdammt gut," stimmte ihm nun auch Van zu, der die Bewegungen des Guymelefs aufmerksam verfolgte.

"Aber wie willst du ihr alles beibringen, wenn du selbst noch lernst, Alexander? Wenn sie so weiter macht, ist sie im Handumdrehen besser als du. Nimm es nicht persönlich, aber sie braucht einen besseren Lehrer. Einen, der ihr auch morgen noch etwas beibringen kann," erklärte Allen.

Nachdenklich blickte Alexander zu dem Guymelef. Der blonde Ritter hatte so Recht. Alexander wusste es ja.

"Van, Allen, könntet ihr dann nicht uns beide unterrichten?" bat er.

Der schwarzhaarige und der blonde Mann grinsten sich an.

"Genau mein Gedanke," meinte der Ritter des Himmels. "Und Louvain schaffen wir auch noch..."

"Na los, holt eure Guymelefs," fügte Van hinzu, während er die Arena langsam betrat. Hinter ihm verschwanden Alexander und Louvain und holten ihre Guymelefs.

"Hey!" rief Van zu Lavender empor. Der Guymelef blieb direkt vor ihm stehen. Langsam öffnete sich das Cockpit und ein Wolfsmädchen blickte ihn aus rot glühenden Augen an. Sie kletterte heraus und landete weich neben ihm auf dem Boden.

"Euer Majestät," sagte sie mit einer kurzen Verbeugung und sah Van abwartend an. Nun kam auch Allen langsam näher.

"Alexander kann dich nur die Anfänge des Kampfes mit dem Guymelef lehren. Wenn du weiterkommen willst, dann solltest du von Allen und mir lernen. Wir bieten es dir an. Ob du es tun willst, ist deine Entscheidung," bot Van ihr an.

"Ob ich von Euch lernen will, Van Farnel, und von Euch, Allen Schezar, den beiden berühmtesten Guymelefkämpfer auf ganz Gaia? Was für eine Frage! Natürlich will ich, Euer Majestät." Ivory sah beide völlig überwältigt an.

"Gut," meinte Allen. "Aber zuerst gewöhn dir diese Förmlichkeiten ab. Sag einfach ,Allen' und ,Van'. Und bitte keine Feindseligkeiten zwischen dir und Louvain."

Ivory verzog das Gesicht. Sie biss sich auf die Lippe und dachte angestrengt nach. Sie würde mit Louvain zusammen trainieren müssen. Aber andererseits würde sie die besten Lehrer auf ganz Gaia haben. Sie seufzte leise.

"Also gut. Ich verspreche es Euch... äh... dir."

Allen und Van lächelten.

12. Unter die Erde

Auf der Terrasse saßen nur noch Hitomi und Merle. Nachdem schließlich auch Allen und Shid gegangen waren, hatte sich auch Milerna mit ihren beiden Kindern verabschiedet. Jetzt blinzelte das Katzenmädchen müde in die Sonne und meinte zu Hitomi: "Und was machen wir beide jetzt, meine Königin?"

"Lass den Quatscht, Merle," brummte Hitomi und blickte ebenfalls zu dem strahlend blauen Himmel empor. Das Blau erinnerte sie an etwas... Die Erinnerung an die Vision kam wieder hoch. Eine unterirdische Kapelle...

"Sag mal, Merle, gibt es unter dem Schloss irgendwelche Katakomben oder so?" fragte Hitomi.

"Ja, da ist ein richtiges Labyrinth unten. Gibt auch irgendwo die Karten dazu..." gab Merle zurück und sah Hitomi aus zusammengekniffenen Augen an. "Du hast was vor, oder?"

"Wir werden da runter gehen und eine Kapelle suchen", sagte die Königin von Farnelia entschlossen.

"Werden wir?" Merle sah sie überrascht an.

"Ja, der schwarze Drache muss irgendwo dort unten sein. Wir müssen ihn finden. Das ist wichtig, Merle."

Das Katzenmädchen seufzte auf. "Also gut. Organisiere du uns ein paar vernünftige Lampen. Und Fackeln. Für alle Fälle. Ich gehe in die große Bibliothek und gucke nach den Karten. Da müssen irgendwo welche sein... Wir treffen uns dann in einer halben Stunde an der Kellertreppe." Merle sprang auf und huschte davon.
 

Eine halbe Stunde später stand Hitomi ungeduldig vor der Kellertreppe und wartete auf das Katzenmädchen. Sie hatte nicht nur die Lampen und die Fackeln besorgt, sondern auch eine Zunderbüchse, eine Schachtel mit Kreide, um im Zweifelsfall den Weg zu markieren, sowie zwei Flaschen mit Trinkwasser und ein paar Äpfel. Sie wusste ja schließlich nicht, wie lange ihr Ausflug dauern würde. Verstaut hatte sie alles in zwei Umhängetaschen. Außerdem hatte sich noch Zeit gefunden um sich umzuziehen. Sie trug jetzt ihre alten schwarzen Jeanshosen und ihr schwarzes T-Shirt.

Lange her, dass ich diese Sachen an hatte... Es war eine andere Hitomi damals. Eine andere Hitomi in einer anderen Welt... Sie schob die Erinnerungen bei Seite und sah mit Erleichterung, dass Merle endlich angerannt kam. Auch das Katzenmädchen hatte sich ein paar dunkle Hosen sowie feste Schuhe angezogen. Sie schwenkte übermütig einen Rolle Papier in der Hand.

"Hab die Karte gefunden," keuchte sie, als sie neben Hitomi ankam.

"Gut," gab das braunhaarige Mädchen zurück und hängte Merle eine Tasche über die Schulter. "Da drin sind zwei Fackeln, Proviant und Kreide. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen..." Dann drückte sie dem Katzenmädchen noch eine der Lampen in die Hand. Hitomi nahm ihre eigene Tasche und spähte auf die Karte.

"Hm, da ist nichts von einer Kapelle eingezeichnet. Aber sie muss dort unten sein. Ich weiß es."

"Der Bibliothekar hat gesagt, dass das Katakombensystem noch viel größer ist, als die Karte angibt. Der größte Teil der Pläne ist bei dem Angriff der Zaibacher damals verbrannt..."

"Nun, dann muss es so gehen," sagte Hitomi und legte den Plan zusammen. Dann stieg sie die Treppe hinunter. Merle folgte ihr.

Sie gingen durch die Kellerräume, in denen der Wein und die anderen Lebensmittel gelagert wurden. Schließlich erreichten sie eine weitere Treppe, die noch weiter noch unten führte. Im Gegensatz zu den Kellerräumen war sie nicht beleuchtet.

"Da runter," meinte Merle und zündete ihre Lampe an. Dann stieg sie als Erste hinunter in die Dunkelheit. Sobald sie ihre eigene Lampe angezündet hatte, folgte ihr Hitomi. Lang und schmal zog sich die Treppe hin. Hitomi war unwohl zu Mute, aber sie ging weiter. Sie wusste, dass sie den Drachen finden musste.

Merle wartete am Fuß der Treppe auf sie. Der Hohlraum, in dem sich Hitomi wieder fand war groß und mehrere Tunnel zweigten von ihm ab. Merle hatte sich auf den Boden gehockte und studierte die Karte.

"Wir sind jetzt hier. Und nach dorthin sieht es so aus, als wenn es weiter runter geht. Und da ist auch der Plan zu Ende," überlegte sie laut.

"Dann gehen wir dort hin. Wir müssen weiter runter. Viel weiter," sagte Hitomi. "Das spüre ich. Wir müssen so tief unter die Erde, wie es geht."

"Na dann mal los," murmelte Merle, stand wieder auf und malte mit der Kreide einen Pfeil auf den Boden, der in die Richtung wies, in die sie gingen.

Langsam stießen sie in das Tunnelsystem vor. Bei jeder einzelnen Kreuzung blieben die beiden Mädchen stehen, suchten auf der Karte ihren Weg und markierten an Wand und Boden, wo sie lang gingen.

Der Fels, der sie umgab war schwarz und kalt. Meist sahen die Tunnel stabil und fest aus, aber andere hatten schon leichte Einstürze oder waren gänzlich verschüttet. Je länger sie unterwegs waren, desto mehr verstärkte sich das mulmige Gefühl ins Merles Magen. Als sie das Ende des Teils erreicht hatten, der auf der Karte verzeichnet war, sagte das Katzenmädchen: "Sollen wir wirklich weitergehen, Hitomi? Wir haben keine großen Aussichten den Drachen überhaupt zu finden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns verlaufen ist viel, viel größer..."

"Merle," erwiderte Hitomi sanft, "Mir ist auch nicht gerade wohl zu Mute, aber wir werden weitergehen. Wir werden den Drachen finden. Vertrau mir einfach."

"Sonst wäre ich wohl kaum hier unten..." murmelte Merle, während Hitomi schon den nächsten abschüssigen Gang entlang lief.

Schweigend liefen die beiden Mädchen weiter und folgten immer dem Gang, der am tiefsten unter die Erde zu führen schien.

Plötzlich hielt Hitomi inne.

"Spürst du das auch?" fragte sie.

"Was meinst du?" erkundigte sich Merle neugierig und sah sich unbehaglich um.

"Ein Luftzug. Hier kommt irgendwo Wind her."

"Wind? Wir sind hier mitten unter den Bergen von Farnelia. Wo soll hier denn Wind herkommen?"

"Aus einer Öffnung im Berg," gab Hitomi zurück. "Sieh mal, ich glaube, da vorne wird es heller..."

Langsam gingen Merle und Hitomi weiter. Schließlich endete der Tunnel und sie fanden sich hoch oben an einer Felswand wieder. Vor ihnen war ein Hohlraum, der vom Sonnenlicht hell erleuchtet wurde. Blinzelnd blickten sich die beiden Mädchen um. Sie waren an der Wand eines erloschenen Vulkans gelandet. Nachdem sich ihre Augen an das plötzliche, helle Licht gewöhnt hatten, sahen sie sich weiter um. Über ihnen war der klare blaue Himmel zu sehen und gut hundert Meter unter ihnen befand sich ein klarer See. An dessen Ufer wucherte ein dichter Wald. Außerdem konnten sie sehen, wie ein kleiner Pfad an ihrer Seite des Vulkankegels nach unten führte.

"Dort geht es also weiter," meinte Hitomi und machte sich an den Abstieg auf dem schmalen Pfad. Merle sah ihr unbehaglich hinterher. Das Katzenmädchen blickte noch einmal zu dem See. An dessen Ufer meinte sie etwas Elfenbeinweißes verschwinden zu sehen. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, hinter Hitomi herzukommen.

13. Das letzte Einhorn

"Hitomi, das ist hier unheimlich," murmelte Merle leise, als die beiden Mädchen an dem See im Vulkankrater angekommen waren. Es war still. Allein der Wind raschelte leise in den Blättern der Bäume.

"Ja, es ist irgendwie eine komische Stimmung hier. Es ist so unwirklich," stimmte Hitomi dem Katzenmädchen zu.

"Ich habe von oben irgendetwas gesehen. Etwas Weißes..." flüsterte Merle und drängte sich enger an die Freundin. Dicht nebeneinander standen sie am See und blickten zu dem Wald, der sich direkt vor ihnen an der Kraterwand entlang erstreckte.
 

"Ihr liebt mich?" Eries starrte Torian dy Arkadia vollkommen perplex an. Der junge Mann mit den tiefgrünen Augen musste lächeln.

"Ich wusste doch, dass Ihr mir nicht glauben würdet. Warum solltet Ihr auch? Ihr kennt mich schließlich nicht. Aber ich bitte Euch, gebt mir die Möglichkeit Euch zu beweisen, wie groß meine Liebe für Euch ist, Königin Eries. Ich bitte Euch von Herzen."

Eries starrte ihn immer noch an.

Seltsam, ich glaube ihm, was er sagt... Zum ersten Mal glaube ich jemandem auf Anhieb...

"Das müsst Ihr nicht, Torian," erwiderte sie und stellte fest, dass er ihre Hand immer noch festhielt. Sie hatte sie nicht zurückgezogen. "Aber gebt mir die Möglichkeit, Euch besser kennen zu lernen, ehe ich mich entscheide."

Sie entzog ihm ihre Hand und stand auf. Rastlos lief sie an den Bücherregalen entlang. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn lange einfach nur angesehen haben musste, bevor sie auf seine Liebeserklärung reagiert hatte. Sie blieb am Fenster stehen und blickte nach draußen. Noch nie zuvor hatte ihr ein Mann seine Liebe gestanden. Immer war es nur um Politik gegangen. Und nun... Nun zeigte sich, dass es noch etwas anderes gab. Torian trat leise hinter sie und legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter.

"Ihr habt alle Zeit der Welt, Eries," flüsterte er sanft in ihr Ohr. Und sie glaubte ihm.
 

Hitomi wusste nicht, wie lange sie neben Merle am Seeufer gestanden und den Wald angeblickt hatte. Irgendwann änderte sich etwas. Sie begriff zuerst nicht, was es war, doch dann bemerkte sie das silberweiße Glitzern zwischen den Bäumen.

"Komm, Merle," sagte sie, fasste die Freundin am Arm und ging zielstrebig auf das weiße Leuchten zu. Unbehaglich folgte ihr das Katzenmädchen. Hitomi jedoch ging sicheren Schrittes weiter. Immer blieb das weiße Geschöpf zwischen den Bäume in gleichen Abstand zu ihnen. Kamen sie auf Grund des Dickichts nur langsam voran, so bewegte es sich auch langsamer. Und doch achtete es offenbar darauf, nie erkannt zu werden. Immer war es nur weiß leuchtendes Fell mit einem silbrigen Schein, das sie durch die Bäume sahen.

Schließlich erreichten sie einen schmalen Pfad, dem sie folgen konnten. Hitomi betrachtete den Boden und stellte fest, dass die Spuren fast wie Hufabdrücke aussahen. Wie Hufabdrücke von einem Pferd mit gespaltenen Hufen. Endlich erreichten sie die Kraterwand. Der Pfad wand sich am Berg empor und mit einem Achselzucken machten sich Hitomi und Merle an den Aufstieg. Immer wieder sahen sie die Hufabdrücke und hin und wieder auch einige weiße, silbrigglänzende Haare, die im nun spärlichen Gestrüpp hängen geblieben waren.

"Oh Mann," stöhnte Merle. "Und ich dachte, wir wollte nach unten in den Berg rein..."

"Das hier ist der richtige Weg," gab Hitomi zurück. "Wir haben einen Führer... Und da vorne wartet er."

Merle hob den Blick vom Boden und blickte nach vorne. Überrascht blieben die beiden Mädchen auf dem kleinen Plateau, das sie nun erreicht hatten, stehen und musterten die weiße Gestalt, die neben einem Tunneleingang stand. Der sanfte Wind, der in dem Vulkankrater wehte, spielte mit der Mähne des Einhorns. Sein Fell glänzte in schimmerndem Weiß und sein Horn funkelte wie Perlmutt. Der silbrigweiße Schweif flatterte hinter ihm wie eine Fahne. Es scharrt unruhig mit den Hufen und deutete mit einer ruckenden Kopfbewegung auf den dunklen Eingang.

Langsam lösten sich Hitomi und Merle aus ihrer Erstarrung und gingen vorsichtig weiter. Keine von ihnen wollte dieses wunderschöne Geschöpf aus Versehen verschrecken. Endlich hatten sie es erreicht und blieben in respektvollem Abstand vor ihm stehen.

"Ich wusste nicht, dass es euch noch gibt," sagte Merle leise. Das Einhorn blickte sie aus dunklen Augen an und schien zu lächeln.

"Ich bin das Letzte von uns..." erwiderte es mit sanfter Stimme. "Und ich werde nun meinen letzten Gang gehen. Zusammen mit euch. Mit zwei reinen Seelen, die den schwarzen Drachen suchen."

"Du willst uns helfen?" Hitomi war überwältigt. Sie hatte noch nie zuvor ein Einhorn gesehen und war von dem leuchtenden Geschöpf fasziniert. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es überhaupt eine solche Reinheit geben konnte.

"Ihr braucht mich," gab das Einhorn sanft zurück. "Ihr braucht jemanden, der euch den Weg weist. Der schwarze Drache ist mein letztes Ziel..."

Dann schritt es vor ihnen in den dunklen Tunnel hinein. Sein sanftes Leuchten erhellte die Dunkelheit. Verwirrt folgten ihm Merle und Hitomi.
 

"Das ist gut!" rief Van lobend, als Ivory den ersten Schlag von Alexanders Guymelef parieren konnte. "Halt das Schwert noch ein wenig höher! Dann ist es perfekt!"

Ivory nickte in Lavenders Cockpit und erwartete den nächsten Schlag von Alexanders Guymelef Ebony. Diesmal wehrte sie ihn mit Erfolg ab und schlug eine perfekte Attacke.

"Sie ist wirklich verdammt gut," meinte Van leise zu Allen. Der blonde Ritter stand neben Van in der Arena. Er nickte zustimmend.

"Und jetzt gleichzeitig, Alexander, Louvain! Ivory, behalte beide im Blick!" schrie Allen.

Augenblicklich griffen Castillo und Ebony den Guymelef des Wolfsmädchen an. Unter der ersten Attacke geriet sie ein wenig ins Wanken, doch dann wehrte sie sich beherzt. Alexander hatte sie schnell geschlagen. Er ging mit Ebony zu Boden und war damit nach den Trainingsregeln aus dem Kampf ausgeschieden. Nun prallten die Klingen von Castillo und Lavender aufeinander.

14. Trainingskampf

Louvain war von der Kraft überrascht, mit der Ivory zurückschlug. Ihre Angriffe kamen kurz und hart. Immer wieder drang sie auf ihn ein und trieb seinen Guymelef langsam aber sicher zurück.

Sie ist noch stärker als Lothian...

Der Löwenjunge beschränkte sich langsam aber sicher auf die reine Verteidigung. Und mit jedem weiteren Schlag wurden die Attacken von Ivorys Guymelef härter.

Das Wolfsmädchen schlug unnachgiebig zu.

Für dich, Lothian, dachte sie bei jedem einzelnen Schlag. Für dich. Für dich. Für dich...

Kraftvoll hieb sie zu. Wieder und wieder und wieder. Und langsam aber sicher spürte sie, wie der Schmerz wieder hoch kam. Sie sah Lothian vor sich, wie er sie anlächelte, wie er der Einzige war, der rückhaltlos zur ihr stand. Ihr Bruder. Und mit jedem einzelnen Schlag wuchsen ihr Hass und ihr Zorn.
 

Alexander sprang aus Ebony und gesellte sich zu seinen Lehrmeistern.

"Das sieht nicht gut aus für Louvain..." murmelte er leise.

"Sie lässt ihre ganzen Gefühle raus," meinte Van. "Und das ist auch gut so. Besser hier als anderswo..."

"Ich hoffe nur, dass sie sich zügeln kann," entgegnete Allen und sah sorgenvoll zu, wie Castillo immer weiter zurückwich und sich nur noch mühsam gegen Lavenders harte Schläge halten konnte.

"Aber eins muss man ihr lassen," sagte Alexander, "Sie kämpft fantastisch."
 

Tränen standen in Ivorys roten Augen. Schweißperlen liefen langsam an ihren Schläfen herunter. Aber sie würde nicht aufgeben. Nicht, wenn sie den Mörder ihres Bruders so kurz vor der Niederlage hatte. Nicht jetzt...

Louvain keuchte unter jedem neuen Schlag, den er abwehren musste. Wie eine Furie tobte Ivory vor ihm und langsam begriff er, wie groß ihr Schmerz, ihre Wut und ihr Hass sein mussten.

"Verzeih mir, Ivory," flüsterte er leise. "Ich bitte dich, verzeih mir. Ich habe ihn doch auch geliebt. Er war mein Freund..."

Dann konnte er ihr nichts mehr entgegen halten. Mit einem lauten Aufstöhnen von Louvain brach Castillo in die Knie. Lavenders Schwert raste heran.
 

Jetzt! Jetzt kannst du dich rächen! Deinen Bruder rächen! Du musst nur noch zustoßen... schrie Ivory stumm, doch dann hielt sie plötzlich inne. Millimeter bevor sie Castillos Energiestein traf, verharrte die Schwertspitze.

Er war sein bester Freund... Lothian hat ihn geliebt. Sie waren Freunde. Kann ich ihn wirklich töten?

Ratlos blickte das Wolfsmädchen Louvains Guymelef an.

"Lass es sein, Schwester. Er tat nur, was er tun musste..." hörte sie Lothians sanfte Stimme. "Er hat richtig gehandelt. Verzeih ihm, Schwester. Denn ich habe es schon längst..."

"Lothian..." flüsterte Ivory leise. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Zischend sprang das Cockpit von Lavender auf. Das Wolfsmädchen sprang heraus und landete federnd auf dem Boden. Dann rannte sie aus der Arena.

Verwirrte Blicke folgten ihr.

"Ich laufe ihr nach!" rief Alexander noch, dann rannte er ihr auch schon hinterher.
 

"So, du willst also Soldat werden?" Der Hauptmann musterte Laures von oben bis unten. "Na ja, siehst ganz gut trainiert aus... Du kommst zu Garde IV. Da ist noch Platz für dich. Heute Mittag habt ihr die erste Trainingssitzung mit König Van. Bis dahin kümmert sich Asha um dich." Der Hauptmann deutete auf einen jungen Leutnant mit aschblondem Haar, der an der Tür des Wachraums stand und das Gespräch interessiert verfolgt hatte. "Er wird dir alles Nötige zeigen..."

"Ich danke Euch, Hauptmann," sagt Laures beherrscht und salutierte.

Er hasste es, wenn man ihn so herablassend behandelte. Dann wandte er sich Leutnant Asha zu, der ihn zu seiner Einheit bringen würde. Außerdem würde er ihm seine Uniform beschaffen.

Ausgerechnet in Vans Garde bin ich gelandet. Das Glück scheint mit mir zu sein...

Ein Lächeln huschte über Laures' Gesicht.
 

Louvain kletterte langsam aus Castillos Cockpit. Er war leichenblass und zitterte. Seine blonde Mähne war schweißnass und als er auf dem Boden landete, knickten ihm die Knie ein. Er sackte auf den Sandboden der Arena. Van und Allen kamen sofort zu ihm.

"Ist alles in Ordnung mit dir?" fragte Van besorgt.

"Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen..." flüsterte der Löwenjunge betroffen. "Ich dachte wirklich, dass sie mich umbringen will..."

"Ganz ruhig," murmelte Allen und gemeinsam halfen sie Louvain wieder auf die Beine. "Sie hat es nicht getan..."

"Habt ihr geahnt, dass sie das versuchen würde?" Louvain blickte seine beiden Lehrmeister aus großen Augen an.

"Na ja..." druckste Van herum. "Eine Konfrontation zwischen euch beiden hielten wir für sinnvoll. Wir hatten nur keine Ahnung, dass es so ausgehen würde..."

"Na klasse," brummte Louvain und taumelte zu der Wand der Arena. Er stützte sich mit den Händen ab, lehnte die Stirn dagegen und schloss die Augen. Ihm war schlecht.
 

Alexander musste sich anstrengen, um mit dem Wolfsmädchen mithalten zu können. Sie hetzte vor ihm durch die aufgereihten Guymelefs und gelangte schließlich ins Freie. Dort bog sie zum Schlossgarten ab und war Sekundenbruchteile später verschwunden.

"Und wie soll ich dich jetzt finden, Mädchen?" keuchte Alexander.

Aber er gab nicht auf, sondern rannte weiter.

Hitomi vertraut doch auch immer auf ihr Herz, also tue ich es jetzt auch einfach. Ich werde Ivory finden... Mit Sicherheit!

Irgendwann hörte er auf zu rennen und ging langsam weiter.
 

Am See hielt Ivory inne. Sie ließ sich ins Gras sinken und weinte hemmungslos.

"Lothian," schluchzte sie. "Ach, Lothian. Warum nur? Warum?"

Plötzlich spürte sie eine sanfte Berührung an ihrer Schulter. Fast war es wie ein Windstoß, doch im Moment ging kein Wind. Verwirrt sah sie auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie war allein am Seeufer und dennoch spürte sie, dass noch jemand da war.

"Lothian?" flüsterte sie fragend.

"Ich werde immer bei dir sein, Schwester," klang seine sanfte Antwort. "Ich lasse dich niemals allein."

"Bruder..." Ivorys rote Augen suchten die Umgebung ab, doch sie sah ihn nirgends.

"Deine Augen werden mich nicht finden, nur dein Herz. Ich bitte dich, Schwester, wenn du mich wirklich liebst, dann verzeih Louvain. Verzeih meinem besten Freund. Er hat nur getan, was er tun musste. So wie ich tat, was ich tun musste. Verzeih ihm, Schwester. Das ist mein sehnlichster Wunsch..."

Hinter ihr klangen Schritte und Lothians Stimme verhallte.

"Geh nicht, Bruder..." murmelte Ivory leise und versuchte den Wind zu berühren, der ihr sanft über die Wange streichelte. Sie meinte die pelzige Hand ihres Bruder zu spüren. Dann war der Wind verschwunden.

Alexander setzte sich neben das Wolfsmädchen und legte ihr sanft den Arm um die Schulter. Für einen Moment konnte sie sich noch zusammenreißen, dann schluchzte sie wieder auf und weinte an Alexanders Schulter.

15. Schatten der Liebe

Schweigend folgten Hitomi und Merle dem leuchtenden Einhorn durch die Tunnel. An Kreuzungen hielt es immer so lange inne, dass sie ihren Weg markieren konnten, und führte sie dann weiter. Sie drangen immer tiefer in das Katakombensystem unter den Bergen ein. Längst hatten die beiden Mädchen die Orientierung verloren, dennoch sie folgten dem Einhorn ohne zu zögern. Sie wussten, dass sie ihm vertrauen konnten. Wenn ein Einhorn kein Vertrauen verdient hatte, wer dann?
 

"Milerna, hier bist du also."

Eries trat auf den Balkon und ließ sich neben ihrer Schwester auf einem Stuhl nieder. Milerna saß auf einem bequemen Korbstuhl in der Sonne. Zur ihren Füßen spielte Drayos mit zwei hölzernen Kutschen und neben ihr lag Ayres in ihrem Kinderwagen und schlief.

"Hast du mich gesucht?" erkundigte sich Allens Frau höflich, während sie sich innerlich schon auf die nächste Predigt vorbereitete.

"Ja, ich möchte gerne mit dir reden." Eries spielte unruhig mit ihren Fingern. "Torian dy Arkadia hat mir gerade einen Heiratsantrag gemacht."

"Das ist doch nichts Neues, oder? Du musst in den letzten Wochen doch mindestens dreißig solcher Anträge erhalten haben," stellte Milerna fest und musterte ihre Schwester nachdenklich.

Zum ersten Mal seit langem schien Eries die Maske der Beherrschung fallen zu lassen. Die Königin von Asturia wirkte verwirrt.

"Schon, aber... Aber kein anderer hat gesagt, dass er mich heiraten will, weil er mich liebt." Eries sah ihrer Schwester direkt in die violetten Augen und diese konnte erkennen, dass Eries wirklich durcheinander war.

"Eries, das ist doch wunderbar." Milerna griff nach Eries' Hand und drückte sie liebevoll. "Etwas Besseres konnte dir doch gar nicht passieren. Ich meine, wir wissen doch, dass du als Königin nicht unverheiratet bleiben kannst. Wenn du die Wahl unter allen Männern der Welt hast, dann nimm wenigstens den, der dich liebt, wenn du schon niemanden findest, den du liebst."

"Das ist es ja." Eries seufzte auf. "Es gibt jemanden, den ich liebe. Aber ich werde ihn niemals haben können..." Mit ihrer freien Hand strich sie sich eine vorwitzige hellblonde Haarsträhne aus dem Gesicht

"Sagst du mir, wer es ist?" fragte Milerna langsam. Sie hatte schon lange eine Ahnung, aber sie war sich nicht hundertprozentig sicher. Genauso wenig war sie sich sicher, ob sie es überhaupt hören wollte.

"Das weißt du doch, Milerna. Es ist der Mann, den Marlene geliebt hat und den auch du liebst." Eries lächelte traurig.

"Also ist es Allen." In Milernas Stimme war kein Vorwurf, sondern sie traf nur eine Feststellung. Eries nickte stumm.

"Aber, Milerna, um nichts in der Welt..." setzte die Königin von Asturia an, doch ihrer Schwester schnitt ihr das Wort ab.

"Ich weiß. Du wirst die Regeln niemals verletzen. Du wirst niemals eine Ehe brechen. Ich weiß es, Eries. Und ich mache dir auch keinen Vorwurf. Wie könnte ich denn? Ich liebe ihn ja auch."

"Oh, Milerna!" Eries sprang auf und fiel ihrer Schwester um den Hals. Verblüfft erwiderte Allens Frau die liebevolle Umarmung.

"Ich werde diese Gefühle hinter mir lassen," sagte die Königin von Asturia entschlossen, als sie Milerna schließlich losgelassen hatte. "Ich werde Torian dy Arkadias Antrag annehmen, denn einen solch wunderbaren Mann werde ich wohl nie wieder finden. Und ich werde lernen ihn zu lieben. Dir zu Liebe. Ihm zu Liebe. Und vor allem: mir selbst zu Liebe."
 

Lauria ging langsam durch die Straßen. Sie war in Gedanken versunken. Warum war ihre Mutter nur so sehr dagegen, dass sie Laures wieder sah? Sie mochte ihn gestern zwar erst zum ersten Mal gesehen haben, aber dennoch wusste sie schon, dass sie ihn liebte. Und zwar aus ganzem Herzen und voller Seele. Nachdenklich strich sie sich das goldene Haar aus dem Gesicht. Von Anfang an war eine unglaublich enge Verbindung zu Laures da gewesen. Eine Verbindung, die sie um nichts in der Welt wieder verlieren wollte. Sie musste ihn einfach wiedersehen. Und daran würde auch ihre Mutter nichts ändern können. Sie bog energisch um die nächste Ecke und prallte mit jemandem zusammen. Taumelnd fand sie an der nächsten Wand Halt, während ihr Gegenüber zu Boden ging.

"Entschuldige," murmelte Lauria und sah auf.

"Ist schon gut," gab Farla zurück, schlug mit den Flügel und schwang sich wieder in die Luft. "Es ist eine neue Erfahrung mal übersehen zu werden, anstatt ständig angestarrt..." Sie grinste schief und blickte Lauria in die tiefschwarzen Augen. In dieser Schwärze spürte die Elfe ein Lodern, dass sie schon einmal gesehen hatte. Sie fragte sich nur wann und wo. Sie wusste nur, dass dieses Lodern rein war. Rein und gut.

"Dir scheint auch viel im Kopf rumzugehen," meinte Lauria mit einem Lächeln und sah Farla sanft an.

"So kann man das auch nennen," seufzte die kleine Elfe auf und warf mit einer Kopfbewegung ihr silbernes Haar zurück.

"Weißt du, ich könnte jemandem zum Reden gebrauchen..." sagte Lauria schließlich scheu.

"Ich auch." Farla grinste breit. "Dann lass uns doch mit einander reden."

"Das klingt gut." Ein Lächeln huschte über Laurias Gesicht und kurz schien die ganze Welt in ein helleres Licht getaucht zu sein.

"Aber lass uns irgendwo hingehen, wo nicht so viele Leute sind. Ich kann diese Blicke nicht leiden..." Farla sah sich unbehaglich um. Sie wurde immer noch von vielen Menschen angestarrt und einige waren sogar so dreist, sie einfach anzufassen.

"Und wohin?"

"Der Schlossgarten wäre gut," meinte das Elfenmädchen. "Dort können schließlich nur wenige Leute hinein..."

16. Drachenstatue

"Wir sind da," sagte das Einhorn, als sie einen riesigen Hohlraum erreicht hatten.

Staunend blieben Merle und Hitomi stehen. Die Felsdecke befand sich irgendwo weit außerhalb des sanften Lichtschimmers, der von dem Einhorn ausging.

"Kommt." Das Einhorn warf seine silbrigweiße Mähne stolz zurück und betrat die Felskapelle. Die beiden Mädchen folgten ihm, vorbei an hohen schwarzen Säulen und über einen schwarz-weiß gefliesten, glatten Boden. Die weißen Fliesen reflektierten den Lichtschein des Einhorn und erleuchteten langsam aber sicher die ganze Halle. Nun konnten Merle und Hitomi auch die Decke in etwa fünfzig Meter Höhe entdecken. Langsam aber sicher begannen auch die Verzierungen an den Säulen zu leuchten und Bilder wurden erkennbar. Sie zeigten alle den schwarzen Drachen. Mal flog er ruhig über den Wolken, mal kämpfte er mit dem Manticor und immer wieder war ein Einhorn an seiner Seite zu sehen.

Überwältigt blieb Merle schließlich vor eine Säule stehen, die den schwarzen Drachen in einer Ruine im Kampf gegen den Manticor zeigte. Das Bild kam ihr seltsam bekannt vor.

"Hitomi!" Sie winkte die Freundin zu sich. "Das haben wir doch erlebt, nicht wahr?"

Hitomi starrte das Bild fasziniert an. Auch sie erkannte den Schauplatz wieder. Das war unzweifelhaft der Kampf, den sie vor zwei Monaten selbst miterlebt hatten.

"Was sind das für Bilder?" fragte sie schließlich das Einhorn.

"Dinge, die geschehen sind. Dinge, die gewesen sind," kam seine Antwort.

"Und wer macht diese Bilder?" hakte Merle neugierig nach.

"Kobolde," antwortete das Einhorn einsilbig. Dann blieb es stehen. "Dort ist er. Der schwarze Drache."

Ehrfurchtsvoll sah es zu der schwarzen Basaltstatue empor. Ausdruckslos blickte der schwarze Drache mit leeren Augen durch die Kapelle. Seine Flügel waren leicht angewinkelt und es sah aus, als wenn er jeden Moment losfliegen würde. Doch tat er nicht. Auch Hitomi und Merle fanden sich nun neben ihm ein. Sie blickten die schwarze Statue an, die königlich über ihnen thronte.

"Er ist so wunderschön," murmelte Merle leise. "Immer noch..."
 

Langsam fing sich Ivory wieder. Sie hörte auf zu schluchzen und atmete tief durch. Dann löste sie sich langsam von Alexander und lächelte vorsichtig. Sie hatte das Gefühl, dass all ihr Zorn und Hass von ihr abgefallen waren. Sie spürte noch immer Lothians sanft Berührung auf ihrer Wange. Sie berührte die Stelle und ihr Lächeln vertiefte sich noch mehr.

"Ist alles in Ordnung?" fragte Alexander vorsichtig und strich Ivory sanft eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Lothian hat mit mir gesprochen," sagte sie schließlich langsam. "Er hat mich gebeten, Louvain zu verzeihen." Sie starrte auf das Wasser hinaus. "Und ich habe es getan," fügte sie hinzu. "Ich habe ihm wirklich verziehen..."

"Dann sag es ihm," murmelte Alexander. "Sag es ihm. Er muss wissen, dass du so weit bist."

"Weißt du, der Schmerz und die Traurigkeit über den Tod meines Bruders werden nicht vergehen. Aber dennoch will ich in Liebe zurückdenken. Und nicht geblendet von Hass..."

Sie sah Alexander aus ihren roten Augen an und Folkens Sohn erkannte in ihnen eine Größe, von der er nur träumen konnte, sie jemals zu erreichen.
 

"Ruf die Herrin vom See," sagte das Einhorn sanft und blickte Hitomi aus seinen dunklen Augen sanft an. "Sie wird dir sagen, was du tun musst, damit der Drache aufwachen wird."

Hitomi nickte zustimmend, schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie rief in Gedanken immer wieder den Namen der Herrin vom See. Und dann spürte sie, wie sie eine Antwort auf ihr Rufen bekam.
 

Louvain beruhigte sich allmählich wieder. Das Zittern ließ nach und schließlich drehte er sich um und sah Van und Allen an. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich die Sorge um den Löwenjungen wieder.

"Mir geht es gut," lächelte Louvain und fuhr sich durch seine blonde Mähne. "Und wisst ihr was: Ich werde mir jetzt erst einmal ein Bad gönnen. Im See des Schlossparks kann man doch baden, oder nicht?" Er zwinkerte den Beiden vergnügt zu.

"Eine gute Idee," meinte Allen und auch Van nickte zustimmend. "Nimmst du uns mit?"

"Aber immer doch." Louvain grinste breit.

Zur dritt verließen sie die Arena und begaben sich ins Schloss, um ihre Badesachen zu holen. Anschließend machten sie sich auf zum See des Schlossparks.
 

Nahe des Irrgartens ließen sich Lauria und Farla auf einer Bank in der Sonne nieder.

"Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt." Lauria lächelte verlegen. "Mein Name ist Lauria von Lethe."

"Ich bin Farla." Das Elfenmädchen grinste. Sie fand es angenehm, dass zur Abwechslung mal jemand unsicherer war als sie selbst. Vor allem in dieser fremden Welt.

"Also, was beschäftigt dich?" fragte Farla mit einem gütigen Lächeln. Ihr gefiel das warmherzige Leuchten, das von Lauria ausging. Das fünfzehnjährige Mädchen hatte etwas an sich, das sie mochte und das vertraut wirkte. Auch, wenn sie immer noch nicht den Finger darauf legen konnte, an wen oder was sie diese Aura erinnerte.

"Ich habe gestern auf dem Ball einen Jungen kennen gelernt. Laures von Styx. Mir ist so etwas noch nie passiert: Von Anfang an war ein richtiges Band zwischen uns, so als wenn wir uns hätten begegnen müssen, verstehst du? Ich habe in seine Augen geblickt und gefühlt, dass ich ihn schon ewig kenne. Und liebe. Dass wir für einander geschaffen sind. Und ich bin mir sicher, dass er auch das Gleiche gefühlt hat. Ich habe es in seinen Augen gesehen."

"Das klingt doch wundervoll," meinte Farla. "Wo ist der Haken?"

"Meine Mutter will nicht, dass ich ihn wiedersehe. Sie sagt, dass das besser sei. Ich verstehe nicht warum. Und... Da war noch etwas anderes. Er hat eine unglaubliche... Schwärze ausgestrahlt. Noch dunkler als die tiefste Finsternis. Das hat mich erschreckt. Doch neben dieser Angst spüre ich auch, wie meine Seele zu ihm drängt..." Lauria seufzte auf. "Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll..."

Farla stimmte in ihr Seufzen ein. "Ich weiß nicht, was ich dir raten soll, aber ich kann dir sagen, was die Elfenpriesterin Faisala sagen würde. Willst du es hören?"

"Warum nicht? Wenn es mir helfen kann..." Lauria zuckte mit den Schultern.

"Höre auf dein Herz, Mädchen, würde sie sagen. Lausche, was dir deine Seele sagt, und dann tue es. Das ist das einzig Richtige."

Farla musste bei der Erinnerung an ihre Lehrmeisterin hart schlucken. Sie vermisste sie. Sie vermisste ihr zu Hause. Die anderen Elfen und ihr Dorf, den See und die ganzen alltäglichen Rituale. Sie spürte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten. Einen Moment lang konnte sie sie noch zurückhalten, doch dann begann das Elfenmädchen hemmungslos zu weinen. Bestürzt blickte Lauria sie an, dann zog sie Farla sanft in ihre Arme und streichelte ihr tröstend über den Rücken.

17. Einhornblut

Der Raum der Felskapelle wurde langsam mit einem bläulichen Lichtschein angefüllt. Auf einmal wirkte alles, als wenn es sich unter Wasser befinden würde. Merle meinte sogar das leise Schlagen der Wellen zu hören. Dann verdichtete sich das Blau einen Augenblick lang und die Herrin vom See erschien vor ihnen in der blauschimmernden Luft.

"Ich sehe, du hast ihn gefunden, Mädchen vom Mond der Illusionen," sagte die Herrin vom See mit ihrer klangvollen Stimme.

"Ja, das haben wir. Wir hatten einen freundlichen Helfer." Hitomi lächelte dem Einhorn zu, das das Erscheinen der Herrin vom See ohne mit der Wimper zu zucken beobachtet hatte. "Aber nun sag mir, was ich tun muss, um den schwarzen Drachen aufzuwecken."

"Nur das Blut der reinsten Seele, freiwillig gegeben, kann ihn aus seinem Schlaf wecken," erwiderte die Nixe und als sie sich einige Meter in der Luft treiben ließ, ging Merle auf, dass sie nur eine Vision der Herrin vom See hatten und sie gar nicht wirklich anwesend war.

"Was heißt das?" fragte Hitomi nach.

"Du brauchst mein Blut," mischte sich das Einhorn ein. Es blickte die beiden Mädchen aus seinen sanften Augen an.

"Ich soll dein Blut opfern?" fragte Hitomi entgeistert. Ihr Blick wanderte von dem Einhorn zur Herrin vom See und wieder zurück. "Aber das kann ich nicht! Ich kann dich doch nicht töten! Ich kann kein Einhorn töten.

"Doch, das wirst du," sagte das Einhorn bestimmt und lächelte nachsichtig.

"Aber du bist das Letzte! Du bist das letzte Einhorn!" mischte sich nun Merle entsetzt ein.

"Ich weiß. Und genau hierfür lebe ich noch. Dies ist meine Bestimmung. Dies ist mein Weg. Ich existiere nur noch, um mein Blut für den schwarzen Drachen zu geben. Das ist mein Schicksal..."

"Aber gegen das Schicksal kann man sich doch wehren! Du musst nicht sterben! Es muss einen anderen Weg geben!" Verzweifelt sah Hitomi die Herrin vom See an. Diese schüttelte nur traurig den Kopf.

"Mädchen vom Mond der Illusionen, Katzenmädchen," sagte das Einhorn sanft, "Die Zeit der Einhörner ist unwiderruflich vorbei. Was soll ich denn noch allein hier? Ich bin einsam. Seit Hunderten von Jahren schon... Es ist Zeit für mich zu gehen. Die letzten Jahrhunderte habe ich auf diesen Moment gewartet. Auf den Moment, an dem der Drache mich braucht. Wo mein Blut ihn aus seinem Schlaf erwecken kann. Auf diesen Moment. Wehrt euch nicht dagegen. Es ist mein Weg. Und ich werde ihn gehen müssen. So war es schon immer bestimmt. Und ich bin froh, dass es endlich zu Ende geht..."

Tränen schimmerten in Hitomis und Merles Augen, als die beiden Mädchen erkannten, dass sie keine Chance hatten, den Tod des letzten Einhorns zu verhindern. Sein Schicksal war unabänderlich.

"Und womit soll ich dein Blut opfern?" fragte Hitomi schluchzend.

Das Einhorn trat bei Seite und deutete mit seinem Horn auf ein silbernes Messer, das zu Füßen des schwarzen Drachen lag. Hitomi ging hinüber und hob es auf. Sie blickte das Einhorn aus tränenverschleierten Augen an.

"Ich kann das nicht..." flüsterte sie.

"Doch du kannst es," sagte das Einhorn sanft und berührte Hitomi oberhalb ihres Herzens sanft mit dem Horn. Ein strahlendes Leuchten ging von ihm aus.

"Mögest du immer deine Güte und deine Liebe bewahren," sagte das Einhorn sanft, während sich Hitomi von einer warmen Woge durchlaufen fühlte. Dann schritt das Einhorn zu Merle und berührte auch das Katzenmädchen sanft mit seinem Horn.

"Und mögest du immer die Kraft deines Herzens spüren und niemals aufgeben."

Auch Merle fühlte sich auf einmal von Wärme erfüllt.

"Wo soll ich es tun?" schluchzte Hitomi.

Das letzte Einhorn führte sie zu einem Altar, der an der rechten Seite der Drachenstatue stand. Von dem Altar aus, führte eine schmale Rinne rund um die Statue und Hitomi begriff, dass durch diese Rinne gleich das Blut des Einhorns fließen würde. Sie blieb neben dem Altar stehen, während sich das Einhorn ruhig auf ihm niederlegte.

"Und jetzt?" Hitomis Stimme zitterte.

"Die Halsschlagader," sagte die Herrin vom See sanft. "Ich werde deine Hand führen..."

Das Einhorn lächelte Hitomi noch einmal an, dann schloss es seine Augen. Merle stand zitternd daneben und sah zu, wie Hitomi nun die Hand mit dem Messer hob und mit einer kurzen, schnellen Bewegung die Halsschlagader des Einhorns durchtrennte. Die beiden Mädchen schluchzten trocken auf und im gleichen Moment tat das Einhorn seinen letzten Atemzug.

In dem Moment, als Hitomi das Messer durch die Schlagader gezogen hatte, hatte sie gespürt, wie die reine Seele des Fabelwesens den Raum mit einer ungeheuren Seele erfüllte. Und im gleichen Augenblick war ihr klar, dass sie einmal für den Tod des Einhorn würde zahlen müssen...

Silbernes Einhornblut floss aus der tiefen Wunde und füllte langsam aber sicher die Rinne an. Der Silberbogen wurde immer weiter und umschloss die Drachenstatue schließlich vollständig. Je mehr Blut das Einhorn verlor, desto durchscheinender wurde es. Der Blutstrom verebbte und augenblicklich löste sich das letzte Einhorn in silbernen Nebel auf.

Die Herrin vom See breitete ihre Arme aus und begann zu sprechen:

"Einhornblut, für dich vergossen.

Die reinste Seele, für dich gegeben.

Silberlicht, das die Nacht durchbricht.

Schwarze Drache!

Wach auf!

Komm zu uns zurück!"

Von dem Einhornblut ging auf einmal ein helles Licht aus. Es hüllte die Drachstatue vollständig ein und glitzerte wie Wasser auf den schwarzen Schuppen. Schließlich ließ das Leuchten nach. Für einen Augenblick geschah nichts, sodass sich Merle schon fragte, ob das Opfer des Einhorns nicht vielleicht vergeblich gewesen war. Doch dann brach die schwarze Oberfläche der Statue auf. Gleißendes Licht fiel hindurch und der Panzer aus Basalt explodierte zu Staub. Der schwarze Drache bewegte mit einem Donnerknall die Flügel. Dann brach er auf dem Sockel zusammen. Er schnappte keuchend nach Luft. Seine gelben Augen öffneten sich und für einen Moment blickten sie verschleiert durch die Kapelle. Allmählich klärte sich sein Blick und ein Lächeln huschte über sein schuppiges Gesicht.

Die Herrin vom See nickte ihm grüßend zu, dann löste sie die Vision auf und verschwand. Hitomi, Merle und der schwarze Drache blieben in der Felskapelle zurück, die immer noch von dem Licht des letzten Einhorns erhellt wurde.

18. Ganz nah

Als Van, Allen und Louvain am See ankamen, waren Alexander und Ivory schon längst nicht mehr dort. Die drei jungen Männer stürzten sich mit Begeisterung in die Fluten und schnell war eine heftige Wasserschlacht entbrannt.

Schließlich wischte sich Allen das nasse Haar aus dem Gesicht und keuchte: "Das reicht!"

Van und Louvain grinsten sich kurz zu und drückten den blonden Ritter zum Abschluss noch einmal kräftig unter Wasser. Prustend kam Allen wieder hoch.

"Das kriegt ihr in der Arena zurück!" drohte er ihnen lachend.

Dann ließen sie sich auf dem Rücken treiben und betrachteten die Wolkenbilder.

"Da ist ein Pferd," meinte Louvain überzeugt und wies mit der Hand nach oben.

"Das sieht eher nach einem Baum aus," hielt Allen dagegen.

"Quatsch," entgegnete der Löwenjunge empört. "Das da ist der Schweif und das..." Weiter kam er nicht, denn auf Grund seines wilden Gestikulierens, geriet sein Kopf unter Wasser. Augenblicklich kam er nach Luft schnappend wieder hoch.

"Also gut, es ist doch ein Baum. Pferde sind zu gefährlich..." Beide mussten lachen.

Allens Blick fiel auf Van, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte, sondern nur mit leeren Augen zum Himmel starrte.

"Van?" Besorgt sprach der blonde Ritter den König von Farnelia an.

"Der schwarze Drache..." flüsterte Van. "Er ist wieder erwacht. Er ist wieder da..."

"Was meinst du?" hakte Louvain aufgeregt nach.

"Ich spüre es. Der schwarze Drache ist wieder wach." Abrupt drehte sich Van um und schwamm zielstrebig auf das Seeufer zu. Verwirrt folgten ihm Allen und Louvain.

Sobald Van aus dem Wasser stieg, kam einer seiner Adjutanten über die Wiese gerannt.

"Bitte nicht..." murmelte Van unwillig.

"Majestät." Noch etwas nach Luft schnappend verneigte sich der Adjutant vor Van. "Ihr werdet schon auf dem Übungsplatz erwartet. Garde IV wartet auf Euch, Majestät."

"Die habe ich ja ganz vergessen..." Van stöhnte auf. "Sag ihnen, dass ich sofort komme," meinte er zu dem jungen Mann, der kurz nickte und sofort wieder davon rannte. Dann wandte er sich an Allen und Louvain.

"Sucht bitte nach Hitomi. Wenn der Drache wach ist, dann muss sie etwas damit zu tun haben. Wer denn sonst?"

Allen und Louvain nickten zustimmend. Van zog sich sein Hemd über den Kopf und lief in seinen Badeshorts zurück zum Schloss. Bevor er sich um die Garde kümmern konnte, musste er sich erst noch umziehen.
 

In seiner Uniform fühlte sich Laures unwohl. Der hohe Kragen schien ihm die Luft abzuschnüren und auf Grund der dunkelblauen Farbe schwitzte er noch mehr, als er es ohnehin schon in der prallen Sonne getan hätte.

Zusammen mit den restlichen 19 Soldaten von Garde IV und ihrem verantwortlichen Leutnant, Asha, stand die Truppe auf dem Übungsplatz in der Sonne und wartete auf ihren König.

Das allein ist es schon wert, dich zu hassen... dachte Laures zornig.

"Still gestanden!" befahl der Leutnant und augenblicklich ging ein Ruck durch die Soldaten und sie nahmen Haltung an. Einen Moment später betrat Van Farnel den Übungsplatz und blieb vor seinen Soldaten stehen.

"Entschuldigt meine Verspätung," sagte er ruhig und schritt dann die Reihen ab.

Immer wieder blieb er stehen und wechselte einige Worte mit den Soldaten. Schließlich kam er bei Laures an. Vor dem schwarzhaarigen Jungen hielt er ebenfalls inne und blickte ihn lange an.

"Ich habe das Gefühl, dich von irgendwoher zu kennen..." sagte Van langsam. "Wie ist dein Name?"

"Ich bin Laures von Styx. Meine Eltern und ich haben Euch gestern Abend gratuliert," erklärte Laures und spürte, wie sein Herz einen Satz tat. Erkannte ihn sein Vater etwa?

"Das muss es sein." Van lächelte ihm kurz zu und ging dann weiter.

Nachdenklich sah Laures ihm nach und merkte, wie sich sein Herzschlag wieder verlangsamte.

Habe ich mir etwa gewünscht, dass er mich erkennt? überlegte er.

Eine Antwort auf seine Frage fand er nicht.
 

Farla schluchzte noch einmal herzerweichend, dann hob sie den Kopf und lächelte Lauria verlegen an.

"Entschuldige bitte..." schniefte das Elfenmädchen leise.

"Das ist schon in Ordnung." Lauria lächelte sanft und wieder schien die Welt mit ihr mitzulächeln.

Welch klare Aura, schoss es Farla durch den Sinn. Sie ist jemand besonderes...

"Was liegt dir denn auf dem Herzen, Elfenmädchen?" fragte das goldhaarige Mädchen einfühlsam.

"Weißt du, ich habe mein Volk verlassen, um bei einem Jungen sein zu können. Ich habe mich in ihn verliebt. Aber..." Sie holte tief Luft. "Er mag mich zwar, aber er interessiert sich für eine andere. Und jetzt... Jetzt weiß ich nicht, ob ich die richtige Wahl getroffen habe. Und ich habe Heimweh..." Wieder traten Farla die Tränen in die Augen.

"Ganz ruhig," murmelte Lauria und nahm das Elfenmädchen wieder in die Arme. "Weißt du, man weiß nie, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat. Das erkennt man immer erst später. Dann, wenn es zu spät ist. Das Einzige, was wir tun können, ist unseren Herzen zu folgen..."

Farla schniefte leise, drückte sich enger an Lauria und ließ sich von der neuen Freundin den Rücken streicheln.
 

Der schwarze Drache lag auf der Seite und rang keuchend nach Luft. Hitomi und Merle sahen besorgt zu ihm empor. Sie merkten kaum, wie sich das Licht von dem klaren Schein des Einhorn langsam zu einem etwas gedämpfteren, warmen Gelb verwandelte. Nun war es die Aura des Drachen, die die Felskapelle erleuchtete.

"Mädchen," keuchte der Drache schwach und sah sie aus seinen leuchtenden gelben Augen an. "Mädchen... Ich spüre ihn. Bei Van. Bei Van ist die Finsternis. Und das Licht... Es ist auch da, ganz in der Nähe... Sie sind da. Die Kinder. Sie sind euch nahe. Ganz nah..."

Erschöpft schloss er seine Augen wieder.

"Und was machen wir jetzt?" fragte Merle angsterfüllt.

Hitomi spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog und hätte alles für eine Antwort gegeben.

19. Müder Drache

Gedankenverloren blieb Van bei dem nächsten Soldaten stehen und stellte ihm eine belanglose Frage. Seine eigenen Gedanken drehten sich immer noch um Hitomi und den schwarzen Drachen.

Wie hat sie ihn nur gefunden? Wie geht es ihr? Und wie geht es ihm? Um wie viel lieber wäre ich jetzt bei ihr und nicht hier....

Van seufzte leise auf. Sein Blick glitt an der Reihe der Soldaten entlang und blieb an dem Jungen hängen, mit dem er vorhin gesprochen hatte.

Laures von Styx, irgendetwas an dir ist seltsam. Aber ich kann nicht den Finger drauflegen... Du kommst mir so vertraut vor. Vertrauter, als dass es ein kurzer Gruß auf der Hochzeitsfeier erklären könnte...

Van schüttelte die Gedanken ab, als er in das verwirrte Gesicht von Leutnant Asha sah. Er war wohl doch etwas länger in Gedanken gewesen, als er gedacht hatte.

"Also gut," begann Van, "Ich werde euch nacheinander am Schwert testen. Stellt euch bitte nach eurer Dienstnummer auf."
 

Innerlich lachte Laures zufrieden auf. Auch noch ein Schwertkampf mit seinem Vater! Das wurde ja immer besser. Allein seine Dienstnummer gefiel ihm nicht. Er schielte auf die Zahlen- und Buchstabenkombination auf dem Messingring, der um seinen Oberarm lag. GIV20LVS. Er würde der Letzte sein, der gegen Van Farnel kämpfen durfte.
 

Hitomi sah den schwarzen Drachen schockiert an.

"Was soll das heißen ,ganz nah'?" stieß sie hervor.

"Beruhige dich, Mädchen." Mühsam bewegte der Drache seine schwarzen Flügel und streckte sich. Er sah erschöpft aus. "Es besteht keine Gefahr. Vans Sohn ist kein Dummkopf... Ja, es ist sein Sohn. Die Dunkelheit ist der Junge. Und das Licht... Es ist das Mädchen. Das Mädchen..." Die Stimme des Drachen wurde schwächer und langsam schloss er wieder seine Augen. "Ich bin so müde. So müde..."

Merle und Hitomi wechselten einen hilflosen Blick.

Und was machen wir jetzt? fragten sie sich stumm. Dann kletterte Hitomi auf den Sockel, legte dem Drachen sanft die Hand auf die schuppige Haut und sagte: "Wir werden bei dir wachen, bis du wieder Kraft gefunden hast."

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Drachen und dankbar berührte er sie mit seinem Maul.
 

"Hey!" Louvain hielt einen Diener unsanft am Arm fest. "Weißt du, wo wir Königin Hitomi finden können?"

"Herr," stammelte der Junge erschrocken, "Ich glaube, sie ist mit Lady Merle unterwegs. Ihre Majestät hat Fackeln geholt und dann sind sie in den Keller gegangen. Das habe ich zumindest gehört, Herr..."

"Danke," sagte Allen und zerrte Louvain mit sich mit. "Du kannst den armen Kerl doch nicht so anfahren!" zischte er dem Löwenjungen zu, als sie wieder allein waren.

"Entschuldige," grummelte Louvain leise.

"Ach, was soll's. Wir brauchen jetzt Fackeln. Und dann folgen wir den beiden. Wir haben es Van ja schließlich versprochen..." Entschlossen marschierte Allen los.
 

"Torian? Ihr seid noch hier?" Überrascht sah Eries den braunhaarigen jungen Mann an, der noch immer am Fenster der kleinen Bibliothek stand.

"Wie hätte ich denn einfach so gehen können, Eries?" Er drehte sich um und lächelte sie an. Seine grünen Augen blitzend strahlend auf. "Aber was führt Euch hierher zurück?"

"Ich habe Euch gesucht..." Eries lächelte verlegen.

"Und warum habt Ihr mich gesucht?" Torian sah sie noch immer lächelnd an und kam ihr entgegen. Direkt vor Eries blieb er stehen und blickte ihr in die Augen.

"Ich... Ich habe eine Entscheidung getroffen," sagte die Königin von Asturia fest.

"Und wie lautet sie?" Torian sah Eries abwartend an. Sie musterte sein Gesicht, doch sie konnte keinerlei Regung darauf erkennen.

"Ich nehme Euren Antrag an, Torian dy Arkadia. Ich werde Euch heiraten." Eries lachte übermütig und fiel ihm um den Hals.

Verblüfft presste Torian sie an sich und atmete tief den Duft ihres Haares ein.

"Ich hatte es so gehofft..." flüsterte er leise. "Ich hatte es so gehofft."
 

Van begann in Ruhe, sich den ersten der Soldaten im Übungskampf vorzunehmen. Es war ein großer, blonder Mann, der sich mehr durch seine Kraft, als durch Schnelligkeit und Gewandtheit auszeichnete. Entsprechend schnell hatte Van ihn an seine Grenzen gebracht. Mit dem kurzen Kommentar: "Mehr Technik" wurde er entlassen und der zweite Soldat stellte sich dem König.

Leutnant Asha notierte gewissenhaft, was der König zu jedem einzelnen Soldaten zu sagen hatte, denn das würde über das Training des jeweiligen Soldaten entscheiden. Zwar würden sie die meiste Zeit im Verband ihrer Truppe verbringen, aber Feinheiten, wie mehr Technik im Schwertkampf, wurden in speziellen Übungsgruppen, die sich aus den Soldaten der verschiedenen Truppen zusammensetzten, trainiert. So war eine intensivere Ausbildung möglich.

Auch der zweite Soldat bekam nach dem Kampf den Befehl, sich mehr um seine Technik zu kümmern. In Ruhe wandte sich Van dem dritten Mann zu.
 

Ivory und Alexander schlenderten Seite an Seite durch den Schlossgarten. Der Wind spielte mit einigen weißen Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf des Wolfsmädchen gelöst hatten. Sie lächelte. Alexander spürte deutlich, welche Last ihr von der Seele gefallen war und lächelte mit ihr. Schließlich blieb er stehen und brach eine rote Sternenblume ab.

"Warte mal," murmelte er und als Ivory stehen blieb, steckte er ihr die rote Blume ins Haar. Sie lachte auf. "Das hat noch nie jemand für mich gemacht."

"Einmal ist immer das erste Mal..." Alexander grinste breit und streichelte ihr sanft über die Wange.
 

Langsam setzte sich Merle neben Hitomi und legte ihre Hand ebenfalls auf den Rumpf des Drachen. Seine Schuppen fühlten sich glatt und warm an und nicht so kühl, wie sie es erwartet hatte. Sie konnte seinen kräftigen Herzschlag spüren.

"Was meinst du, wie lange er schläft?" fragte Merle leise.

Hitomi zuckte mit den Achseln. "Ich habe keine Ahnung. Aber wir werden über ihn wachen. So lange, wie es nötig sein sollte..."

20. Wut

Vorsichtig stiegen Allen und Louvain die Treppe vom Kellerraum in die Katakomben hinunter. Die Fackel in der Hand des blonden Ritters brannte rußig und ungleichmäßig, sodass die Treppe noch unheimlicher aussah, als sie es ohnehin schon war. Allen musste ein erleichtertes Aufseufzen unterdrücken, als sie endlich in dem großen Hohlraum am Ende der Treppe ankamen.

"Und jetzt?" murmelte er leise.

"Da lang!" sagte Louvain energisch und deutete auf einen weißen Kreidepfeil am Boden. "Das kann nur Merle gewesen sein..."

Beherzt ging der Löwenjunge in den dunklen Tunnel hinein. Seine Fackel warf eine seltsame Mischung aus Licht und Schatten an die Wand. Allen zuckte mit den Schultern und folgte dem Freund in die Dunkelheit.
 

Milerna half Drayos beim Ausmalen der Bilder in seinem Malbuch, als Shid auf den Balkon kam. Sofort verfinsterte sich das Gesicht des kleinen Jungen und er wollte sich aus den Armen seiner Mutter befreien, doch Milerna hielt ihn unerbittlich fest.

"Hör auf, Drayos," sagte sie bestimmt. Murrend gab das Kind seine Befreiungsversuche auf und sah Shid aus zornig funkelnden Augen an.

Der Herzog von Freyd seufzte auf und ließ sich in dem Korbsessel nieder, auf dem vor einer Weile noch Eries gesessen hatte.

"Was hat er nur?" murmelte er leise.

"Drayos, was hast du denn gegen Shid?" fragte Milerna und streichelte ihrem Sohn sanft über das dunkle Haar.

"Ich hasse ihn!" kreischte der Junge und wandt sich schließlich frei. In einigem Abstand blieb er stehen und starrte Shid aus seinen violetten Augen wütend an.

"Er hat alles! Und immer nimmt er mir alles weg!"

"Was soll das heißen Drayos? Was hat er dir weggenommen?" hakte Milerna überrascht nach, doch Drayos drehte sich um und rannte auf seinen kurzen Beinen davon. Die blonde Prinzessin seufzte auf. "Ich werde ihm nachgehen. Passt du bitte so lange auf Ayres auf?"

Shid nickte. "Natürlich, Milerna."

Er sah seiner Tante und Ziehmutter nach, wie sie den Balkon verließ und betrachtete dann seine Halbschwester beim Schlafen. Lächelnd streichelte er ihr über die weiche Wange.
 

"Nicht..." Der schwarze Drache sprach leise im Schlaf. "Nicht!"

Seine Stimme erhob sich schlagartig zu einem Donnerhall und Staub rieselte von der Decke der Felskapelle. Er öffnete die Augen und starrte vor sich hin.

"Was ist?" fragte Hitomi behutsam und streichelte ihm sanft über die Schulter.

"Der Manticor... Er wird auch erwachen. Das Band zwischen uns... Es ist so eng... Noch kann ich es verhindern, aber nicht mehr lange..." Der Drache atmete schwer, dann schloss er die Augen wieder.

"Langsam wird er mir unheimlich," murmelte Merle und tätschelte dem Drachen behutsam die Seite.

"Wem sagst du das," gab Hitomi leise zurück.

"Warum bekommt ihr Angst?" fragte der Drache leise.

"Du bist so anders..." antwortete die Königin von Farnelia.

"Wenn es nur das ist... Ich bin erschöpft. Der Kampf mit dem Manticor hat mich all meine Kraft gekostet. Und das Aufwecken war auch nicht gerade sanft. Ich bin nur müde, aber ich habe keine Zeit um Kraft zu sammeln... Ich muss den Manticor im Zaum halten. Noch schläft er tief, aber mit jedem einzelnen meiner Atemzüge nähert er sich dem Moment des Erwachens. Ich versuche, ihn schlafen zu lassen, aber ich weiß nicht, wie lange ich es kann. So erschöpft, wie ich bin..."
 

Laures stellte allmählich fest, dass er offenbar in einer Truppe von lauter Schwächlingen gelandet war. Jeden einzelnen Soldaten hatte Van nach wenigen Minuten besiegt und entweder seine Technik, Kondition oder Kraft bemängelt. Die besiegten Soldaten saßen kopfschüttelnd an der Seite und verfolgten das Geschehen. Bisher hatte es noch niemandem gegeben, der Van Farnel länger als fünf Minuten etwas hatte entgegen halten können. Aber Laures musste auch zugeben, dass sein Vater ein ausgezeichneter Schwertkämpfer war. Seine Technik war perfekt, ebenso der Einsatz seiner Kraft.

Ich kann ihn nur über die Kondition kriegen... Er hat schon gegen 19 Männer gekämpft, wenn ich an der Reihe bin. Aber ich bin ausgeruht... Ein Lächeln huschte über Laures' Lippen.

"Der Nächste," sagte Van, als der 19. Soldat zu Boden gegangen war und sich nun langsam aufrappelte. Er war auf einen der ältesten Tricks Gaias hereingefallen und hatte sich zusätzlich noch ein Bein stellen lassen.

Laures bezog vor Van Stellung und sah seinem Vater fest in die Augen.

"Hier bist du also wieder, Laures von Styx," murmelte Van leise.

Sie sahen einander abwartend an. Dann stieß Laures mit seinem Schwert plötzlich vor und eröffnete den Kampf. Van parierte den Schlag elegant und drang seinerseits auf Laures ein. Geschickt sprang Vans Sohn bei Seite und rollte sich ab. Federnd kam er wieder auf die Füße und wirbelte gerade rechtzeitig herum, um den nächsten Schlag seines Vaters abzublocken.

"Du hattest einen guten Lehrmeister," meinte Van anerkennend.

Der Kampfstil des Jungen gefiel ihm. Er war effektiv und geradeaus. Allerdings erkannte er für seinen Geschmack etwas zu viel Wagemut in den Attacken und in der Vernachlässigung der Deckung. Blitzschnell nutzte Van den kurzen Moment, den Laures seine Deckung preisgab, um seine Attacke zu führen. Nur mit Mühe konnte der schwarzhaarige Junge dem Schlag des Königs ausweichen. Ein Lächeln huschte über Laures' Gesicht. Sein Vater war wirklich gut.

"Euer Lehrmeister scheint ebenfalls gut gewesen zu sein..." gab Laures zurück.

Schweiß rann ihm über die Stirn und zu seiner Verblüffung sah er, dass Van noch immer frisch und erholt aussah. Der König schien sich noch nicht übermäßig angestrengt zu haben.

"Mein Lehrmeister war Vargas, der beste Schwertkämpfer Gaias. Wer war deiner?"

Laures gab keine Antwort, sondern nutzte den Moment, um Van mit einem Hagel von Schlägen einzudecken. Van wehrte sie aber geschickt ab.

Seltsam. Diese Attacke kenne ich doch von... Dilandau?! Wie soll denn Dilandau diesen Jungen unterrichtet haben? Das kann nicht sein!

Van wurde von seinen Gedanken abgelenkt und sah Laures' Schlag erst im letzten Moment. Er sprang bei Seite und spürte, wie das Schwert des Jungen seine Uniform auf der Seite aufschlitzte und die Haut schmerzhaft anritzte. Van wirbelte um die eigene Achse und prellte dem Jungen mit einem harten Schlag das Schwert aus der Hand. Laures stolperte und fiel hinterrücks zu Boden.

"Nicht schlecht," sagte Van und presste seine Hand auf die Seite. "Keine Schwachstellen. Er kann mit der Elite trainieren. Die sind seiner würdig," meinte er in die Richtung von Leutnant Asha. Dann lächelte Van Laures zu, steckte er sein Schwert weg und reichte dem jungen Soldaten die Hand. Einen Moment lang zögerte Laures, doch dann ergriff er die Hand seines Vaters und ließ sich von ihm hochziehen.

In dem Moment, als Van Laures berührte, spürte er eine unglaubliche Vertrautheit, die ihn mit Laures von Styx verband. Er sah seinem Sohn lange in die schwarzen Augen. Das Lodern in ihnen machte ihm Angst. So viel Schwärze und Hass hatte er noch nicht einmal in der Anwesenheit der Manticor verspürt. Nachdenklich ließ er Laures' Hand los. Auch Laures sah seinem Vater fest in die Augen. Zum ersten Mal war da etwas anderes als nur der Hass und die Wut, die er für seinen Vater empfand. Anerkennung. Er verspürte Anerkennung für Van.

21. Über Einhörner

Lauria und Farla hatten ihren Spaziergang durch den Schlossgarten wieder aufgenommen und langsam kamen sie in die Nähe des Übungsplatzes, der am Rand zwischen Stadt und Garten lag. Das Geklirre der Schwerter machte die beiden Mädchen neugierig und daher blieben sie am Rand des Platzes stehen und sahen den Soldaten zu. Inmitten der Truppe bewegte sich Van auf und ab und kommentierte immer wieder den Kampfstil der Soldaten, die einander im Zweikampf gegenüber standen. Gerade besiegte Laures von Styx seinen Partner zum fünften Mal.

"Das reicht jetzt," kommandierte Van. "Komm her."

Er deutete auf den blonden Mann, gegen den als Erstes gekämpft hatte, und führte mit ihm die nächste Übung vor. Diesmal ging es nicht um Schwertkampf, sondern um die Situation einem bewaffneten selbst völlig unbewaffnet gegenüber zu treten.

"Das ist der König, nicht wahr?" murmelte Lauria leise zu Farla.

Das Elfenmädchen nickte. "Und da ist Laures," fuhr das Mädchen mit den goldenen Haaren fort. Laurias Blick blieb an Laures haften und verfolgte aufmerksam die geschmeidigen Bewegungen, mit denen er dem Schwert seines Partners auswich. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr.

"Geh doch nachher zu ihm hin," meinte Farla und lächelte. "Deine Mutter ist im Moment ja nicht hier..."

Lauria musste lachen. "Ja, da hast du recht..."
 

Allen und Louvain wanderten durch die Stille der Katakomben. An jeder Kreuzung fanden sie die Markierungen, die Merle und Hitomi hinterlassen hatten und folgten ihnen. Schließlich erreichten sie den Vulkankrater und blickten hinunter. Unter ihnen lag ein einsamer See, an dessen Ufer ein toter Wald stand. Louvain sog argwöhnisch die Luft ein.

"Es riecht hier nach Tod," murmelte er leise.

Allen nickte. Sie machten sich auf den Abstieg und der blonde Ritter meinte schließlich: "Das ist genau wie in den Erzählungen über die Einhörner. Wenn ein Einhorn stirbt, dann stirbt auch sein Wald und zurück bleibt ein toter Geisterwald..."

Unbehaglich zog er die Schultern hoch.

"Dieser Ort macht mich traurig, denn ich kann spüren, dass... dass etwas Wundervolles unwiederbringlich verschwunden ist..." Louvain seufzte leise auf.

Schweigend erreichten sie den See und folgten einem schmalen Pfad, auf dem die Fußabdrücke von Menschen sichtbar waren.
 

"Hitomi." Das Mädchen vom Mond der Illusionen hob überrascht den Kopf. Bisher hatte der Drache sie noch nie bei ihrem Namen genannt.

"Du denkst an das Einhorn," stellte der Drache fest. Er atmete noch immer flach und blinzelte sie müde an.

"Ja. Ich... Ich mache mir Gedanken. Es war nicht richtig es zu töten..." sagte Hitomi langsam. Das Gefühl eines unvorhersehbaren und abwendbaren Damoklesschwertes, das sie mit dem Tod des Einhorns heraufbeschworen hatte, belastete sie immer noch.

"Du hast es nicht getötet. Du hast nur sein Schicksal erfüllt. Deine Seele ist noch immer rein, Hitomi, denn schließlich hat die Herrin vom See deine Hand geführt. Außerdem... Das Einhorn war einverstanden. Wenn es das nicht gewesen wäre, dann hätte es nichts auf der Welt töten können. Einhörner sind unsterblich. Es sei denn, sie wollen sterben."

Und dennoch werde ich dafür zahlen müssen... dachte Hitomi. Als wenn er ihre Gedanken lesen könnte, nickte der Drache unmerklich und blickte sie traurig an.

"Aber..." Jetzt mischte sich Merle ein. "Warum war es dann das letzte Einhorn? Warum gibt es dann keine Einhörner mehr?"

Der Drache lachte leise und Hitomi fühlte sich ungeheuer erleichtert, als sie diesen vertrauten Laut hörte. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie sehr sie das Lachen des Drachen vermisst hatte.

"Wer versteht schon Einhörner?" erwiderte der Drache sanft. "Einhörner sind Wesen, die anders sind, als alles, was es je gab. Sie sind etwas Besonderes. Selbst ich kann sie nicht verstehen. Sie sind das, was sie schon immer waren: ein wunderschönes Geheimnis. Mach dir keine Sorgen, Katzenkind, sie werden zurückkehren. In einem friedlichen Gaia, das seine Seele in der Menschlichkeit wieder entdeckt, werden auch die Einhörner wieder sein..."

"Das verstehe ich nicht," murmelte Merle leise.

"Die Einhörner sind nicht wirklich tot." Der Drache seufzte auf und drehte seinen Kopf, um das Katzenmädchen besser sehen zu können. "Einhörner sind auf eine Art und Weise unsterblich, die selbst ich nicht verstehen kann. Sie mögen aus unserer Sicht sterben, aber sie sind nicht tot. Sie gehen, damit sie am Ende wiederkommen können, wenn es wieder Zeit für Einhörner ist..."
 

Milerna fand Drayos schließlich in dem Schutz einer Trauerweide.

"Sag mal, was ist denn mit dir los?" fragte die Prinzessin und ließ sich neben ihrem Sohn im Gras nieder. Drayos sah sie aus seinen violetten Augen an und sie konnte sehen, dass er geweint hatte.

"Schatz, was ist denn nur?" Zärtlich nahm Milerna ihr Kind in den Arm. Drayos schlang seinen kleinen Arme um ihren Hals und presste sein Gesicht in ihre Halsbeuge. Schließlich machte sich der kleine Junge frei und blinzelte seine Mutter keck an.

"Gehen wir jetzt spielen, Mama?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff er nach der Hand seiner Mutter und Milerna folgte ihm schließlich kopfschüttelnd.
 

Die Übungsstunde war vorbei und Van verließ den Übungsplatz. Er eilte zurück zum Schloss. Jetzt kann ich endlich nach Hitomi suchen... Und mit ihr reden. Über Laures. Etwas an ihm ist unheimlich...

Kaum war Van jedoch durch die Tür getreten, da stand der nächste Adjutant vor ihm.

"Torian dy Arkadia wünscht Euch zu sprechen, Majestät."

Van stöhnte auf.

Ich bin König und doch kann ich nicht tun, was ich tun will...

"Wo ist er?"

"Er wartet im Thronsaal auf Euch..."

Van wandte sich brüsk ab und marschierte in den Thronsaal.
 

Farla verabschiedete sich mit einem fröhlichen Zwinkern von Lauria, als sich die Truppe auf dem Übungsplatz auflöste. Der Großteil der Soldaten folgte dem König in Richtung Schloss. Einzig Laures und Leutnant Asha blieben auf dem Platz zurück.

"Die Eliteeinheit trainiert morgen früh. Du solltest um acht Uhr hier sein," sagte der Leutnant. "Und in einer Stunde hast du in den Unterkünften zu sein. Du bekommst dein Zimmer zugewiesen." Damit drehte sich Asha um und ließ Laures allein zurück.

Der schwarzhaarige Junge sah ihm kurz nach, dann drehte er sich um und blickte überrascht in Laurias schwarze Augen.

"Was führt Euch hierher?" fragte er verblüfft.

"Der Zufall." Lauria lachte auf. "Und als ich Euch sah, habe ich Euch mit Freuden beobachtet..." Sie wurde leicht rot.

"Das ist doch kein Grund, verlegen zu werden." Laures grinste breit. "Habt Ihr vielleicht auch Zeit für einen kleinen Spaziergang?" Erwartungsvoll sah er das Mädchen an.

"Aber sicher doch."

22. Erwachender Manticor

Louvain fluchte leise. Nachdem sie den Aufstieg aus dem Vulkankrater zu dem nächsten Tunnel geschafft hatten, liefen sie wieder durch die dunklen Gänge. Er hatte genug davon. Er wollte wieder nach draußen in die Sonne. Aber noch viel mehr wollte er zu Merle.

"Sieh mal!" Allen blieb stehen und deutete nach vorne. Vor ihnen konnten sie einen warmen Lichtschimmer entdecken. Außerdem konnten sie schwache Stimme hören. "Wir scheinen hier richtig zu sein..."

Schnell eilten sie weiter und erreichten schließlich den Eingang zu der Felskapelle. Überwältigt blieben beide stehen und sahen sich um. Auf dem Sockel hob Merle den Kopf und erkannte ihren Freund, der sich staunend um seine Achse drehte.

"Louvain!" quietschte sie und sprang ihm freudig entgegen.

Der Löwenjunge wirbelte herum und Sekunden später hatte sie ihn erreicht und fiel ihm um den Hals. Sie hatte die Hundert Meter vom Drachen bis zur Tür in Rekordzeit hinter sich gebracht. Nachdem Allen mitbekommen hatte, dass Merle sich zu ihnen gesellt hatte, hörte er auf, sich im Kreis zu drehen und blickte in die Richtung, aus der das Katzenmädchen gekommen war. Dort sah er Hitomi neben dem schwarzen Drachen sitzen. Zu Dritt gingen sie zu ihnen.
 

"Nun, Torian, was führt Euch zu mir?" Van stand dem Prinzen von Arkadien gegenüber und sah ihn abwartend an.

"Ich möchte mich bei Euch bedanken, Van. Eries hat meinen Antrag angenommen," sagte Torian mit einer leichten Verbeugung.

"Das freut mich." Van lächelte. "Sie verdient ein wenig Glück..."

Innerlich zappelte er vor Ungeduld.

War es das schon? Oh bitte, lass es das gewesen sein. Ich will zu Hitomi!

"Außerdem wünscht mein Vater, dass ich mit Euch über die Handelsverbindungen zwischen Arkadien und Farnelia spreche..." fuhr Torian fort.

Unhörbar seufzte Van auf.
 

Alexander lief allein zum Schloss zurück. Er hatte Ivory nach Hause gebracht und sich von ihr verabschiedet. Er hatte gespürt, dass sie Zeit für sich allein brauchte und ihn nicht mehr um sich haben wollte. Sie hatte viel, über das sie nachdenken musste. Alexander konnte sie gut verstehen. Kurz vorm Schloss flog ihm eine kleine, silberne Gestalt über den Weg.

"Farla! Dich habe ich heute ja noch gar nicht gesehen..." begrüßte er die Elfe.

"Alexander!" Sie strahlte ihn fröhlich an.

"Hast du schon Mittag gegessen?" erkundigte sich Folkens Sohn. "Wenn nicht, dann können wir zusammen essen. Ich habe Hunger wie ein Löwe..."

"Ich auch..." Farla lachte übermütig. Gemeinsam gingen sie weiter zum Schloss.
 

Plötzlich warf der Drache den Kopf in den Nacken und heulte auf. Sein verzweifelter Schrei brachte die Höhle zum Beben.

"Was ist?" Hitomi sprang erschrocken auf und starrte den Drachen an. Neben ihr hielten Allen, Louvain und Merle inne und blickten den Drachen ebenfalls an.

"Ich kann es nicht mehr aufhalten," keuchte der schwarze Drache und wandt sich wie unter Schmerzen. Sein Schwanz peitschte unruhig hin und her und riss eine Säule zu Boden.

"Er erwacht... Er erwacht..." Erneut heulte er auf.
 

In der dunklen Felskapelle unter Sarya brach ein glühendroter Schein aus dem kalten Stein der Manticorstatue hervor. Auriana hob überrascht den Kopf und blickte zu ihrem versteinerten Herrn empor.

"Du erwachst also, du Grausamer," murmelte sie leise. Dann stand sie auf und wich in einen sicheren Abstand zurück. Anmutig schlug sie ihre schwarze Kapuze zurück und blickte den Manticor an.

Die Statue glühte immer heller auf, doch plötzlich schlug das Licht um und wandelte sich von dem blutigen Rot zu einem undurchdringlichen schwarzen Schein. Sämtliche Fackeln erloschen schlagartig. Zitternd zog sich Auriana ihren Umhang enger um die Schultern. Sie spürte, wie eine eisige Kälte nach ihrem Herzen griff. Ein lauter Knall hallte plötzlich durch die unterirdische Kapelle. Augenblicklich flackerten sämtliche Fackeln wieder auf und Auriana sah, wie sich eine rote Staubwolke langsam legte. Mit einem lauten Seufzer sackte der Manticor auf seinem Sockel zusammen. Einen winzigen Moment später richtete er sich schon wieder auf, streckte die schwarzen Flügel und warf den Kopf in den Nacken. Dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus. Staub rieselte von der Decke und ein leichtes Erdbeben erschütterte ganz Gaia. Der Manticor verkündete der Welt, dass er wieder erwacht war.
 

Stirnrunzelnd nahm Van zur Kenntnis, dass die Erde bebte. Gleichzeitig spürte er, wie eine undurchdringliche Schwärze an seiner Seele entlang glitt.

"Er ist auch wieder da," murmelte er leise. "Er ist auch wieder da..."

"Van? Ist mit Euch alles in Ordnung?" Torian sah Van besorgt an.

"Nein, nichts ist in Ordnung," knurrte der König von Farnelia ungehalten. "Tosha!" Van wirbelte herum und sah den schmalen, blonden Diener neben der Tür an. "Schickt mir sofort Alexander, Shid, Milerna und Farla her. Augenblicklich!"

Erschocken stürzte der junge Bedienstete aus dem Thronsaal. Währenddessen besann sich Van auf seine enge Verbindung zu Hitomi.

Hitomi, er ist wach. Ich habe es gespürt. Der Manticor ist wieder da. Komm her, wenn du kannst. Komm so schnell wie möglich her. Hitomi, bitte...
 

Hitomi zuckte wie unter einem Schlag zusammen, als die Erde auf einmal bebte. Genau wie Van konnte sie die plötzlich aufkeimende Schwärze spüren. Kaum hatte sie sich von diesem Schock erholt, dann erreichten sie auf einmal Vans Gedanken. Sie schrak zusammen, da es ihr so schien, als wenn sie seine Stimme wirklich hören könnte.

"Van... Er ruft mich," murmelte sie benommen.

"Dann geh, Mädchen vom Mond der Illusionen." Der Drache lächelte sie erschöpft an. "Sei wegen mir unbesorgt. Ich lebe doch schon seit Äonen. Und der Manticor... Er ist nun genauso müde wie ich. Es wird dauern, bis er wieder etwas tun kann... Wir werden uns wiedersehen, Mädchen. Schon bald..."

Hitomi nickte dem Drachen zu. Dann sprang sie vom Sockel und zusammen mit ihren drei Freunden machte sie sich auf den Weg zum Schloss von Farnelia.

23. Kind des Manticor

Ivory blickte nachdenklich aus dem Fenster. Ein Erdbeben. Wie es wohl Alexander gehen mochte? Er musste gerade auf dem Weg zum Schloss gewesen sein...

"Ich sollte wohl besser einmal nachsehen," sagte sie sich mit einem leichten Lächeln. Sie mochte den schwarzhaarigen Jungen zwar erst kurz kennen, doch irgendwie hatte er sich bereits in ihr Herz geschlichen.
 

Im Schlossgarten wurden Laures und Lauria von dem Erdbeben derart überrumpelt, dass sie den Boden unter den Füßen verloren und ins Gras fielen. Benommen fand sich Lauria über dem schwarzhaarigen Jungen wieder. Sein Gesicht war dicht vor ihrem. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er ihr die Augen sah.

"So nah waren wir uns noch nie," sagte er leise.

"Ja..." Lauria blickte ihm tief in die schwarzen Augen.

Auf einmal erschien ihr die Schwärze darin doch dunkler. Etwas war geschehen. Irgendetwas... Fast schien es ihr, als wenn auf einmal eine weitere Schattierung der Dunkelheit in das Spektrum getreten wäre, die Laures' dunkle Aura noch um einiges dunkler erscheinen ließ...

Ihr Licht strahlt noch heller als je zuvor. Fast ist es so, als wenn eine neue Nacht hinzugekommen ist, die ihr Licht noch heller scheinen lässt... dachte Laures und strich Lauria sanft eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihre Wärme so nah zu spüren, gefiel ihm. Am liebsten hätte er ewig so unter ihr gelegen. Langsam näherte er sich ihrem Mund mit seinen Lippen.

Abrupt machte sich Lauria frei und sprang auf.

"Entschuldigt bitte..." murmelte sie verlegen.

"Schon gut. Es war nicht Eure Schuld," lächelte Laures und stand auf.
 

Nach seinem kurzen Ausbruch sackte der Manticor erschöpft zusammen. Auriana betrachte ihren Herrn nachdenklich. Natürlich war es ihre Pflicht gewesen ihn wieder aufzuwecken, aber war sie glücklich darüber? Nein, eher nicht. Langsam trat sie näher an den Sockel heran. Der Atem des Manticor ging schnell und unregelmäßig. Er keuchte und leichter Schaum stand ihm vor dem Maul. Er öffnete seine Augen und sah Auriana durchdringend an.

"Zeig mir deine Flügel," sagte er plötzlich. "Zeig mir deine Flügel. Zeig mir, dass du mein Kind bist..."

Auriana ließ den Mantel von ihrem Schultern rutschen und stand in ihrem einfachen, dunkelrotem Kleid vor dem Manticor. Sie schloss die Augen und breitete ihre Arme aus. Einen Augenblick lang konzentrierte sie sich, dann brachen die schwarzen, ledrigen Flügel aus ihrem Rücken hervor. Anmutig streckte sie die Schwingen, bis sie vollständig entfaltet waren.

"Ja, du bist mein Kind..." murmelte der Manticor erschöpft und schloss seine Augen wieder. Kopfschüttelnd sah Auriana ihn an. Ihre Flügel ausbreiten...

Lange war es her, dass sie ihre Flügel überhaupt gezeigt hatte. Lange. Sehr lange. Sie war noch ein Kind gewesen, als sie gemerkt hatte, dass sie Flügel besaß. Doch die Menschen hatten Angst bekommen, wenn sie sie benutzt hatte, also hatte sie ihre Flügel immer versteckt. Allein der Manticor und Balthéro hatten sie seither zu Gesicht bekommen. Ja, sie war eine Tochter des Manticor. Aber sie war nicht stolz darauf. Sie war es einfach und erfüllte ihr damit verbundenes Schicksal.
 

"Laures," sagte Lauria langsam und sah den dunkelhaarigen Jungen liebevoll an. "Ich muss langsam gehen. Meine Mutter wird sich schon fragen, wo ich so lange bleibe..." Das goldhaarige Mädchen lächelte scheu.

Laures erwiderte ihr Lächeln sanft und strich ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Dann solltet Ihr wohl besser gehen," sagte er heiser und blickte ihr tief in die schwarzen Augen. "Ich werde wohl auch langsam in den Unterkünften erwartet. Ich sollte mir nicht gleich an meinem ersten Tag Ärger einhandeln..."

"Ja..." Lauria versank tief in Laures' Blick und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Fast schien es ihr, als wenn sie die Schwärze in ihm brodeln spüren könnte. Zitternd zog sie die Hand zurück.

Was ist das? Wer ist er? WAS ist er? Einen Moment lang sah sie ihn starr an, dann drehte sie sich um und ging in Richtung Stadt davon. Im Laufen warf sie noch einen Blick über die Schulter zurück und winkte Laures zu.

Was auch immer er ist, wer auch immer er ist - ich liebe ihn trotzdem!
 

Es dauerte drei Stunden, bis Hitomi, Merle, Allen und Louvain endlich im Sitzungssaal des Schlosses ankamen. Sie wurden bereits ungeduldig von Van, Milerna, Shid, Alexander, Ivory - die Alexander gesucht hatte und von Van kurzerhand eingeladen worden war zu bleiben - und Farla erwartet.

"Hitomi." Als seine Frau hereinkam, stand Van auf und begrüßte sie mit einer liebevollen Umarmung. Dabei ignorierte er vollkommen, dass sie staubig und verschwitzt war, da die vier Neuankömmlinge bisher noch keine Zeit gefunden hatten, ihre Kleider zu wechseln.

"Setzt euch," sagte Van und deutete auf die freien Stühle. Dann ließen Hitomi und er sich am Kopfende des Tisches nieder.

"Erzählt uns, was passiert ist," verlangte er.

Hitomi und Merle berichteten abwechselnd, wie sie den Drachen gesucht und schließlich aufgeweckt hatten. Bei dem Gedanken an das Einhorn musste Hitomi wieder schwer schlucken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Zärtlich nahm Van ihre Hand und drückte sie liebevoll. Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln und berichtete weiter.

"Dann hat der Drache gesagt, dass der Manticor auch wieder wach ist... " endete Hitomi.

"Na, der Manticor hat uns ja gerade noch gefehlt," knurrte Alexander. "Warum konnte dieses Mistvieh nicht einfach weiterschlafen?"

Van zuckte mit den Schultern. "Ehe du noch weiter meckerst, überleg lieber einmal, was wir jetzt tun sollen," sagte er.

"Na, die Kinder suchen, so wie der Drache es euch gesagt hat," mischte sich Ivory entschlossen ein. Ihre roten Augen blitzten in die Runde. "Ich kenne den Drachen zwar nicht, aber das mit den Kindern scheint doch das Wichtigste zu sein. Ihr müsst sie finden."

"Ivory hat Recht," meinte Louvain, der die Worte des Wolfsmädchens argwöhnisch verfolgt hatte. "Wir müssen als Erstes die Kinder finden. Denn wenn sie dir, Van, wirklich schon so nahe sind, dann... Dann könnte es vielleicht wirklich gefährlich werden..."

"Aber," merkte nun Allen an, "Was bedeutet das, was der Drache sonst noch gesagt hat? Das mit der Schwärze und dem Licht? Was hat das für einen Sinn?"

Nachdenklich stützte Hitomi ihr Kinn in die Hände. Sie hatte da eine Idee.

"Allen, ich glaube, der Drache hat von der Aura der Kinder gesprochen. Der Junge hat eine dunkle Aura. Und das Mädchen eine sehr helle... Der Manticor hat auch eine extrem dunkle Aura und der Drache eine helle... Also scheinen die Kinder vielleicht doch nicht beide so wie der Manticor zu sein. Das Mädchen muss ganz einfach wie der Drache sein."

"Da hat wohl nicht alles so geklappt, wie der Manticor es gerne gehabt hätte," murmelte Merle leise und fing sich für ihre Zwischenbemerkung einen unsanften Rippenstoß von Louvain ein. Alle wollten hören, was Hitomi noch zu sagen hatte.

"Ich denke, dass das Mädchen mit der hellen Aura vielleicht der Schlüssel sein könnte... Ich meine, sie kann doch gar nicht böse sein, wenn sie von Licht umgeben ist..." fuhr Hitomi langsam fort.

"Das klingt gut," erwiderte Van. "Aber der Schlüssel wozu?"

"Der Schlüssel, um mit dem Jungen fertig zu werden. Dem mit der dunklen Aura. Dem gefährlichen..."

"Aber..." mischte sich Merle jetzt hartnäckig ein, "Wenn die beiden noch Kinder sind - die müssen ja noch Säuglinge sein -, wie können sie - oder er - dann jetzt schon gefährlich sein? Was können Babys schon tun?"

"Weißt du, Merle," sagte Milerna ruhig, "Ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass wir gar keine Kinder mehr suchen..."

Schockiert sahen alle die Prinzessin an. Dieser Gedanke schien ihnen so ungeheuerlich.

"Ich stimme dir zu, Milerna," meinte Hitomi nachdenklich. "Wir sind nicht auf der Suche nach Babys. Wir suchen nach Erwachsenen - oder zumindest Jugendliche."

"Und wie finden wir sie?" hakte Shid nach.

"Ich kann sie finden," erklärte Farla. Diesmal richteten sich alle Blicke auf das Elfenmädchen.

"Ich... Ich kann die Aura eines Menschen gut spüren," stammelte sie nervös auf Grund der Blicke, die auf einmal auf sie geheftet waren. "Das ist ein Talent von uns Elfen..."

"Na wunderbar." Erleichtert sah Van in die Runde. "Dann haben wir zumindest einen Plan. Morgen wird Farla anfangen nach den beiden Kindern zu suchen. Wobei..." Van hielt inne und erinnerte sich an den Übungskampf mit Laures von Styx und an das Gefühl, das er bei der Berührung gehabt hatte.

Was sagte Hitomi noch gerade? Eine dunkle Aura, die den Jungen umgibt? Und er soll kein Kind mehr sein? Vielleicht...

"Und ich habe da auch schon einen Verdacht, wen du dir einmal genauer ansehen solltest..." meinte er schließlich laut zu dem Elfenmädchen. Anschließend blickte er aus dem Fenster und sah, dass es schon längst dunkel geworden war.

"Und jetzt ist es endlich Zeit für das Abendessen," brummte Merle. "Ich sterbe vor Hunger..."

24. Im Schutze der Nacht

Leise schlichen sich Mèo und Miguel im Schutze der Dunkelheit in die Stadt. Der Weg bis zu der schäbigen Herberge, in der Familie von Styx untergebracht war, war nicht weit. Unter dem Fenster des Zimmers, in dem das Ehepaar schlief, hielten sie kurz inne. Mit einigen knappen Gesten forderte Mèo Miguel auf, ihn hochzuheben. Kaum war der Junge auf den Schultern des Mannes, als er auch schon die Fensterläden aufschob und das Fenster öffnete. Sein Messer blitzte im Mondlicht kurz auf. Miguel wartete unter dem Fenster, bis der Junge zurückkam.

"Alles erledigt?" fragte er leise.

Mèo nickte und zeigte wie zum Beweis sein blutverschmiertes Messer vor.

"Sie hatten einen seligen Schlaf," sagte er mit einem düsteren Lächeln. Dann wischte er das Messer mit einem Tuch ab und steckte es wieder an seinen Gürtel. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu der Unterkunft der Familie von Lethe. Sie lag in einem weitaus besseren Stadtteil. Dort würde ihr Auftrag möglicherweise etwas schwerer zu erledigen sein.
 

Auriana sah den schlafenden Manticor nachdenklich an. Sie lauschte stumm in sich hinein. Irgendetwas musste sie doch in ihrem Inneren finden können. Irgendein Gefühl. Aber da war nichts. Keine Zuneigung, aber auch keine Ablehnung. Gar nichts. Sie hatte den Eindruck, dass etwas in ihrem Inneren zerbrochen sein musste. Sie fuhr sich gedankenverloren durch das blonde Haar. Wann hatte sie das letzte Mal überhaupt etwas gefühlt?

Sie erinnerte sich plötzlich an ihre Hochzeit mit Van Farnel. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie den Manticor weiter an.

Ja, damals...

Damals hatte sie noch geglaubt irgendwie ihrem Schicksal entkommen zu können. Sie hatte gehofft, dass ihre Hochzeit mit Van sie retten könnte. Doch sie hatte sich geirrt. Am Ende hatte sie wieder getan, was sie tun musste. Und damit verloren, was sie sich erhofft hatte. Was sie gebraucht hätte. Auriana seufzte leise auf. Ja, als sie allein im Regen gestanden und das Luftschiff abheben gesehen hatte, das sie zurück nach Sarya gebracht hatte - das war der letzte Moment gewesen, in dem sie noch das Gefühl gehabt hatte, zu leben. Danach... Danach war sie abgerutscht, hinein in die Leere, die sie nun ausfüllte.

Plötzlich regte sich der Manticor und öffnete eines seiner schwarzen Augen und sah Auriana an. Sie erwiderte seinen Blick gelassen. Er war das Einzige, was sie noch hatte.

Der Manticor blickte sie lange an. Dann huschte ein dunkles Lächeln über seine Lefzen.
 

Hitomi kuschelte sich eng an Vans warme Schulter.

"Ich habe Angst, Van..." flüsterte sie leise.

"Ich weiß," erwiderte ihr Mann und streichelte ihr behutsam über das hellbraune Haar. "Niemand kann sagen, was diesmal auf uns zukommt..." Er seufzte leise und gab Hitomi einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. "Du solltest jetzt schlafen, Liebling..."

"Ich weiß." Jetzt war es Hitomi, die leise seufzte. "Aber ich kann nicht. Immer noch sehe ich das Einhorn vor mir... Und den Drachen... Und dann den Manticor..."

Verständnisvoll nickte Van. "Wir können uns ja auch noch etwas unterhalten. Bis du einschläfst..." Er lächelte in der Dunkelheit. "Aber über nichts, was dir noch mehr Gedanken macht..."

"Was ist mit dir? Machst du dir denn gar keine Gedanken?" fragte Hitomi nachdenklich.

"Und wie! Aber ich weiß, dass es nichts bringt, sich verrückt zu machen. Weißt du, es ist wie mit einem Krieger vor einer Schlacht. Wenn er genug Schlaf finden will, damit er seine Schlacht schlagen kann, darf er nicht über das Morgen nachdenken. Darüber, was passieren kann. Dass er sterben könnte. Wenn er das tut, dann wird er sterben, weil er nicht ausgeruht in die Schlacht geht und es ihm an Kraft fehlt. Schlaf jetzt, mein Schatz, denn Morgen früh beginnt unsere Schlacht..."

Van spürte, wie Hitomis Atem ruhiger wurde und lächelte, als er erkannte, dass sie endlich eingeschlafen war. Er selbst starrte nachdenklich zu der dunklen Zimmerdecke empor.

Kann es sein? Laures von Styx, kannst du mein Sohn sein? Ist das möglich?

Mit einem leichten Schauer rief er sich die Dunkelheit in Erinnerung, die er in den Augen des jungen Soldaten gesehen hatte.

Bist du mein Sohn, Laures von Styx? fragte Van stumm in die Dunkelheit, doch die Nacht gab ihm keine Antwort auf seine Frage.
 

Ivory saß auf dem Balkon ihres kleinen Hauses und blickte zu den Sternen und den beiden Monden empor. Neben ihr saß Alexander und beobachtete das Wolfsmädchen. Der Wind spielte mit ihrem weißen Haar und das Licht des Mondes der Illusionen ließ es silberblau schimmern. Schließlich blickte sie Alexander an und lächelte.

"Du beobachtest mich..." stellte sie fest.

"Jetzt fühle ich mich ertappt." Alexander lachte schelmisch. Dann wurde er ernst. "Die Nacht scheint zu dir zu gehören. Vor allem das Mondlicht. Es ist unheimlich, aber es scheint eher deine Welt zu sein, als das Sonnenlicht."

Ivory lachte auf. "Kunststück! Ich bin nun einmal ein Kind der Nacht. Ein Kind des Mondes." Ihre Stimme wurde sofort wieder ernst. Dann fing sie leise an zu singen.

"Silberscheibe in der Nacht

ein Blick zu dir

bin nicht mehr allein
 

Silberlicht bis ins Herz

heulender Schrei

du bist da
 

Silbersonnenschein

du mein Licht

in der Nacht
 

Silbertraum

nicht nur ich sehe dich

die anderen auch
 

Silbermond

in deinem Schein sehe ich

die anderen Kinder des Mondes"
 

Als sie geendet hatte, sah Alexander sie tief berührt an. Langsam bekam er einen Eindruck von dem, was das Volk der Wolfsmenschen wirklich hatte erdulden müssen und immer noch mit sich trug. Vorsichtig streckte er die Hand aus und fasste Ivory unter das Kinn. Er drehte ihren Kopf sanft zu sich und sie blickte ihn aus ihren roten Augen ruhig an. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann beugte sich Alexander vor und küsste sie vorsichtig.
 

Schweigend huschten Mèo und Miguel durch die Straßen der Stadt. Ihr Vordringen war doch einfacher gewesen, als sie erwartet hatten. Wenige Wachen waren ihnen über den Weg gelaufen, sodass sie sich selten in die Schatten hatten zurückziehen müssen. Nun hatten sie den protzigen Gasthof erreicht, in dem Familie von Lethe untergebracht war.

"Zweiter Stock," zischte Miguel leise. Dann bedeutete er Mèo an der Regenrinne hinaufzuklettern. Wendig wie ein Affe schwang sich der Junge empor. Miguel folgte ihm kurze Zeit später. Diesmal würden sie ihren Auftrag zusammen erledigen.

Auf dem Fenstersims verhielt der Junge. Prüfend drückte er gegen das Fenster und stellte überrascht fest, dass es offen war. Schnell kletterte er hinein. Miguel folgte ihm auf dem Fuße. Leise huschten beide zu dem Ehebett, dass in der Mitte des protzig eingerichteten Raumes stand und in dem das Ehepaar von Lethe schlief. Sie bezogen an beiden Seiten des Bettes Stellung. Mèo nickte einmal kurz, dann stießen sie beide mit ihren Messern zu.

25. Wasserdrache

Laures lag schlaflos in seinem Bett in den Soldatenunterkünften. Er musste den Schlafsaal mit den anderen Soldaten seiner Garde teilen. Allein ihr Leutnant hatte einen eigenen Schlafraum. Ruhelos wälzte sich Laures hin und her. Immer wieder musste er an Lauria denken. Ihr Bild hatte sich tief in seine Seele eingebrannt. Und doch... Irgendetwas erschien ihm seltsam an ihr. Sie war ihm so vertraut. Er hatte den Eindruck sie schon ein Leben lang zu kennen, und trotzdem kannte er sie gerade einmal seit der Hochzeitsfeier vor zwei Tagen. Laures schüttelte den Kopf und starrte weiter zu der Decke empor.

Aber nicht nur Lauria beschäftigte ihn. Auch war da dieses Gefühl, dass der Manticor wieder da war. Er hatte damals, vor zwei Monaten spüren können, wie die dunkle Aura des Manticor verschwand. Und jetzt spürte er, dass dieses Wesen wieder zurückgekehrt war. Nachdenklich fuhr sich Laures mit dem Arm über das Gesicht.

Du hast dein Wort nicht gehalten, Manticor. Mein Vater lebt noch... Damit bist auch du für mich gestorben. Auch du hast dein Wort nicht gehalten. Niemand hält es je...

Laures spürte, wie der vertraute Hass auf die Welt wieder in ihm hoch kochte. Nichts gab es, an das er glauben konnte. Nichts gab es, auf das er vertrauen konnte. Er war allein. Allein in dieser Welt, die ihn nicht gewollt hatte und die ihm nichts bedeutete.
 

Mèo und Miguel schlichen leise über die Stadtmauer. Ihr Seil hing immer noch an der Stelle, an der sie es zurückgelassen hatten. Gewandt schwangen sie sich nacheinander über die Mauer. Dann huschten sie zu ihrem Luftschiff. Noch vor Sonnenaufgang waren sie auf dem Rückweg nach Sarya.
 

Langsam löste sich Alexander von Ivory und blickte ihr tief in die glühend roten Augen. Sanft streichelte er ihr über die Wange und durch das weiße Haar. Das Wolfsmädchen lächelte leicht.

"Hältst du das für eine gute Entscheidung?" fragte sie leise.

"Ich weiß es nicht," erwiderte Alexander, "Ich weiß nur, dass ich meinem Herzen folge..."

Ivory machte sich frei und sprang auf. Sie trat an die Balkonbrüstung und blickte Rat suchend zu den beiden Monden empor.

"Dann möchte ich, dass du dir zumindest eines bewusst bist: Du lässt dich mit einem Wolf ein. In mir schlummert ein Tier, das jederzeit hervorbrechen kann. Unberechenbar und unvorhersehbar. Ich bin anders als du, Alexander. Ich bin mein Leben lang weggelaufen. Ich war immer auf der Flucht. Und es kann sein, dass ich wieder laufen muss..."

Alexander stand auf und stellte sich neben sie. Dann legte er ihr sanft den Arm um die Schulter und drückte sein Gesicht in ihr Haar.

"Wenn du läufst, dann werde ich mit dir laufen," flüsterte er leise und zog sie sanft an sich. Für einen kurzen Moment sperrte sich Ivory gegen seine Umarmung, doch dann kuschelte sie sich eng an ihn.
 

Auriana beobachtete in ihrer Kristallkugel, wie ihre beiden Soldaten in das Luftschiff stiegen und sich auf den Rückweg machten. Sie hatten ihren Auftrag mit Bravur erfüllt, aber etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet. Es waren schließlich ihre besten Männern.

"Eine kluge Entscheidung, die Zieheltern zu töten," sagte der Manticor dumpf. Er blinzelte Auriana müde aus seinen schwarzen Augen an. Immer noch war er sehr erschöpft.

"Lady von Lethe wollte Lauria von ihrem Bruder fern halten. Das konnte ich nicht dulden," erwiderte Auriana ruhig. Sie empfand keinen Stolz über sein Lob. Sie empfand gar nichts. Auch nichts für die ermordeten Zieheltern ihrer Kinder.

"Entsteht die Verbindung zwischen den Kindern?" fragte der Manticor nach.

"Ja. Sie besteht und wird immer fester," antwortete die blonde Prinzessin.

"Gut... Sie werden eine neue Generation begründen... Eine Generation, die unter meiner Hand heranwächst..."
 

Hitomi träumte...

Sie fand sich am Ufer des Sees der Träume wieder. Immer noch sah dieser See so unglaublich schön im Sonnenlicht aus. Hitomi blickte sich um und erkannte, dass neben ihr das Einhorn stand. Das Einhorn, das von ihrer Hand gestorben war.

"Du glaubst dem Drachen immer noch nicht," stellte das Einhorn fest. Das Sonnenlicht ließ sein helles Fell leuchten und fast schien es, als wenn es noch heller sei als die Sonne selbst.

Hitomi zuckte ratlos mit den Schultern. "Ich habe dich getötet," sagte sie leise.

"Aber das musst du dir nicht vorwerfen." Die dunklen Augen des Einhorn blickten sie unverwandt an. "Es war mein Schicksal, mein Blut für den schwarzen Drachen zu geben. Und das ist auch gut so. Die Zeit für Einhörner ist auf Gaia längst vorbei. So, wie sie auch auf der Erde schon lange vorbei ist. Aber... Die Zeit für Einhörner kann wiederkommen. Ich bin nicht tot, Hitomi. Ich lebe noch. Miss nicht alles mit deinen Maßstäben. Es gibt andere im Universum, Hitomi." Mit diesen Worten sprang das Einhorn vor und galoppierte mit ausgreifenden Sätzen in das Wasser hinein. Sekunden später war es im See verschwunden. Nachdenklich sah Hitomi ihm nach.

Plötzlich fing das Wasser an zu brodeln und sie spürte, dass etwas Großes auf dem Weg nach oben war. Augenblicklich brach die Wasseroberfläche zu einer riesigen Fontäne auf. Dann schoss der schwarze Drache mit angelegten Flügel aus dem Wasser. Sobald er über der Oberfläche war, breitete er die Flügel aus und schraubte sich in anmutigen Bewegungen in den Himmel. Ein Lächeln huschte über Hitomis Gesicht und sie spürte, wie ihr Herz endlich leichter wurde. Dennoch war sie sich aber weiter des Gefühls eines beständig über ihr hängenden Damoklesschwertes bewusst. Weder der Drache noch das Einhorn hatten es angesprochen, denn es erschien klar, dass Hitomi einmal eine Gegenleistung für den Tod des Einhorns würde erbringen müssen...

26. Blut

Lauria wurde von den hellen Sonnenstrahlen geweckt, die ihr warm auf das Gesicht fielen. Verschlafen blinzelte sie aus dem Fenster und sah, dass die Sonne schon recht hoch stand. Seltsam, dass ihre Mutter sie noch nicht geweckt hatte... Langsam setzte sie sich auf und strich sich das wirre, goldene Haar aus dem Gesicht. Dann stand sie auf und schlich in ihrem weißen Rüschennachthemd in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Komisch, die Fensterläden waren zugeschlagen. Normalerweise schlief ihr Vater doch immer bei offenem Fenster. Lauria spürte, wie ihr Herz anfing zu rasen. Sie hörte auch nicht die üblichen Schlafgeräusche. Irgendetwas stimmte hier nicht... Leise schritt sie zum Fenster und sah, dass es trotz der geschlossenen Läden weitoffen stand. Mit einem Ruck stieß sie die Holzläden auf und drehte sich um. Augenblicklich wünschte sie sich, dass sie es nicht getan hätte. Das Bett und der Boden war vollkommen mit getrocknetem Blut bedeckt. Ihre Eltern lag tot im Bett. Man hatte ihnen die Kehle durchgeschnitten. Einen Moment lang sah Lauria sie wie erstarrt an, dann schrie sie.
 

"Majestät!" Hitomi wurde durch die laute Stimme eines Soldaten wach. Mühsam öffnete sie die Augen und sah Leutnant Asha vor dem Bett stehen, den Blick krampfhaft gesenkt. Hitomi zog die Bettdecke höher und stieß Van hart in die Seite. Mit einem leisen Grunzen fuhr dieser hoch und blickte den Leutnant verwirrt an.

"Ja?" sagte er verschlafen.

"Majestät, wir haben vier Mordfälle in der Stadt. Die Ehepaare von Styx und von Lethe. Sie... Ihnen wurde die Kehle durchgeschnitten..." stieß der Leutnant hervor.

"Ich bin unterwegs..." murmelte Van und deutete Asha mit einer unwirschen Handbewegung das Zimmer zu verlassen. Dann ließ er sich wieder in die Kissen zurückfallen.

"Eine tolle Art geweckt zu werden..." knurrte er. Neben ihm fing Hitomi an zu lachen.

"Was ist?" Van sah sie irritiert an.

"Asha..." brachte Hitomi hervor. "Sein Gesicht..." Jetzt grinste auch Van.

"Ja, das war wohl ein bisschen viel für ihn..." Seufzend warf der König von Farnelia die Bettdecke bei Seite und stand auf. "Die Arbeit ruft..."
 

Schlaftrunken kam Farla im Thronsaal an. Van hatte nach ihr schicken lassen und der Diener hatte kaum einen Zweifel daran gelassen, dass der König sie jetzt und nicht erst in fünf Minuten sehen wollte. Ihre Flügel schlugen leicht unregelmäßig, sodass sie ein wenig taumelnd vor dem Thron landete.

"Entschuldige, dass ich dich so früh wecken musste," sagte Van sanft. "Aber Laures von Styx ist unterwegs hierher und ich möchte, dass du dich auf seine Aura konzentrierst. Das ist die Gelegenheit dazu..." Farla nickte langsam und fuhr sich durch das kurze silberne Haar. Dann begriff sie langsam, welchen Namen Van gerade gesagt hatte.

Laures von Styx. Der Junge, den Lauria liebt... Na wunderbar, stöhnte das Elfenmädchen innerlich auf.
 

Auf dem Weg zum Balkon Hitomi begegnete Alexander und Ivory. Folkens Sohn und das Wolfsmädchen hatten sich entschlossen, das Frühstück lieber im Schloss zu nehmen. Außerdem war es die perfekte Gelegenheit der Welt zu zeigen, dass sie zusammengehörten. Hitomi musste lächeln, als ihr auffiel, dass die beiden Hand in Hand neben einander hergingen. Sie gönnte Alexander das Glück von Herzen. Und auch Ivory schien es wirklich zu verdienen. Gemeinsam erreichten sie den Balkon. Louvain, Merle, Allen, Milerna und Drayos saßen dort bereits. Nachdem die drei Neuankömmlinge Platz genommen hatten, erschien auch kurz Eries, um mitzuteilen, dass sie mit Torian essen würde. Milerna bemerkte das vergnügte Leuchten auf dem Gesicht ihrer Schwester. Eries sah wirklich glücklich aus. Ja, Torian würde ihr wirklich gut tun...

Kaum war die Königin von Asturia wieder gegangen, da kam Shid auf den Balkon. Sofort wollte Drayos von seinem Stuhl aufspringen, doch Milerna hielt ihn gedankenschnell fest.

"Oh nein, junger Mann. Du erzählst mir jetzt endlich, was los ist. Warum magst du Shid nicht? Was hast du, Drayos?"

Bockig verschränkte der Junge die Arme vor der Brust und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. "Alles nimmt er mir weg. Er hat alles und ich nichts!" schluchzte er plötzlich auf.

"Was nimmt er dir denn weg?" hakte Milerna nach und streichelte ihrem Sohn liebevoll über das Haar. Augenblick wollte Drayos den Moment nutzen, um sich von ihr frei zu machen und wegzulaufen, doch es gelang ihm nicht.

"Nein, Drayos. Sag es mir endlich. Ich habe dich doch lieb. Und ich will nicht, dass du weinst."

Traurig sah Milerna den kleinen Jungen an. Dieser starrte noch einmal zornig zu Shid herüber, dann warf er sich in die Arme seiner Mutter und schluchzte: "Erst ist mein Papa gestorben. Und... Und als ich endlich einen neuen habe, dann kommt er und nimmt ihn mir weg. Und er nimmt mir dich weg. Alle haben ihn lieb. Aber mich nicht. Mich hat keiner lieb..."

"Ach, Drayos." Milerna musste jetzt ihrerseits mit Mühe die Tränen unterdrücken. Sie war so erleichtert, dass sich ihr Sohn nur in etwas verrannt hatte. "Aber, Schatz, ich habe dich doch lieb. Und Allen auch. Und Ayres. Und Shid auch. Wir haben dich doch alle lieb, mein Schatz. Wir haben dich doch alle lieb."

"Aber..." schluchzte Drayos weiter, "Warum muss ich dann ,Allen' sagen und er darf ,Vater' sagen?"

"Du darfst auch ,Vater' zu mir sagen," mischte sich Allen nun ein und drückte Drayos samt Milerna fest an sich. "Ich habe dich und Shid doch gleich lieb..."

Sanft streichelte er dem kleinen Jungen über die braunen Haare. Erleichtert betrachtete Shid die Szene. Endlich war raus, was in seinem Ziehbruder vorging. Endlich... Schließlich sprang der junge Herzog von Freyd auf und schloss sich der Familienumarmung an.

27. Vergeben

"Ist das nicht süß?" flüsterte Hitomi Merle zu. Das Katzenmädchen nickte.

"Es gibt nichts Schöneres, als Menschen, die sich wieder versöhnen..."

Alexander gab Ivory unter dem Tisch einen kleinen Schubs und deutete auf Louvain.

Sag ihm, dass du ihm verziehen hast, sagten seine Lippen stumm.

Der Blick aus Ivorys roten Augen ruhte noch kurz auf Alexander, dann blickte sie zum dem Löwenjungen, der ihr schräg gegenüber saß. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und ergriff Louvains Finger.

Verblüfft sah der Löwenjunge sie aus seinen tiefbraunen Augen an.

"Louvain," begann Ivory langsam. "Ich... ich muss dir etwas sagen..." Sie holte tief Luft und fuhr dann fort. "Neulich, da war Lothian bei mir. Ich weiß, dass klingt etwas seltsam, aber er war da. Und... Er hat dir schon längst verziehen." Sie lächelte in Erinnerung an das Gefühl, als sie ihren Bruder das letzte Mal bei sich gespürt hatte. "Und ich, ich habe dir auch verziehen, Louvain. Ich weiß jetzt, dass du nicht anders konntest. Und dass du auf deine Art das Richtige getan hast."

Louvain sah das Wolfsmädchen schweigend an. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass sie ihm verzeihen würde. Einfach so.

"Ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll..." Silberne Tränen glänzten in seinen braunen Katzenaugen.

"Das brauchst du auch nicht," sagte Ivory sanft.

Abrupt sprang Louvain auf und hängte sich halb über den Tisch, um das Wolfsmädchen zu umarmen. Lachend ließ sie es zu. Als er schließlich auf seinem Stuhl zurückfiel, kippte seine Kaffeetasse um und die heiße Flüssigkeit breitete sich auf seinen hellen Hosen aus.

"Na wunderbar..." knurrte er leise, während ihm Gelächter von seinen Freunden antwortete.
 

Lauria saß zusammengekauert im Wachraum der Schlosses. Sie hatte sich gerade noch anziehen können, bevor man sie hierher gebracht hatte. Liebevoll wurde sie von den Soldaten umsorgt. Ein junger Leutnant legte ihr gerade eine warme Decke über die Schultern, in der seltsamen Hoffnung, dass dadurch ihr Zittern aufhören würde.

"Das ist wie damals mit Patrouille III," murmelte ein junger Soldat leise, der das tote Ehepaar gesehen hatte. "Das sah genauso schlimm aus..." Dann stürzte er aus dem Zimmer und aus dem Nebenraum konnte man hören, wie er sich übergab.

"Ist mit Euch alles in Ordnung?" fragte der junge Leutnant, der Lauria gerade die Decke gereicht hatte. Besorgt sah er sie an. Das goldhaarige Mädchen nickte benommen. Doch einen Moment später schüttelte sie den Kopf.

"Meine Eltern sind tot! Was soll da in Ordnung sein?" schrie sie auf. Ihre dunklen Augen blickten den Leutnant schmerzerfüllt an. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
 

Laures betrat ruhig den Thronsaal und schritt langsam auf seinen Vater zu. Van sah blass aus. Und neben ihm, neben seinem Thron, schwebte eine kleine, silberne Gestalt. Eine Elfe, mutmaßte Laures. Er war sich nicht sicher, aber es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Viel mehr interessierte ihn, warum ihn sein Vater hergerufen hatte.

"Euer Majestät," sagte er ruhig und verneigte sich kurz vor seinem Vater. Seine Verbeugung war exakt so, dass sie noch nicht als unhöflich gelten konnte.

Mit einer unwirschen Handbewegung bedeutete Van allen Bediensteten den Thronsaal zu verlassen. Er wollte mit Farla und Laures allein sein. Dann nickte er Farla einmal kurz zu und das Elfenmädchen konzentrierte sich darauf, Laures' Aura ganz genau wahrzunehmen.

"Ich... ich habe keine guten Neuigkeiten für dich," begann Van langsam und sah seinem Sohn fest in die schwarzen Augen. Laures erwiderte den Blick gleichmütig.

"So?"

"Deine Eltern wurden ermordet," sagte der König bedächtig. "Man hat sie heute Morgen gefunden..."

"Nein," stieß Laures hervor. "Nein! Das... Das kann nicht sein!" Fassungslos starrte er seinen Vater an. Es waren zwar nur seine Zieheltern gewesen, aber... Auf seine Art hatte er sie doch geliebt. Irgendwie. Dumpf starrte er ins Leere.

Farla zuckte zusammen. Sie spürte auf einmal eine Welle von Finsternis, die jegliche Deckung durchbrach und von diesem Jungen vor ihr ausging. Die Finsternis schien regelrecht Substanz zu haben und sich immer weiter auszubreiten.

"Er ist es," flüsterte sie Van leise zu. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. "Er ist es."

Van nickte kaum merklich.

Laures begann vor dem Thron auf und ab zu gehen. Er spürte, wie Hass und Zorn in ihm hoch brodelten. Wenn sein Vater ihn nicht verlassen hätte, dann... Dann wären seine Zieheltern niemals umgebracht worden. Dann wäre seine Mutter nie gestorben. Und dann wäre er jetzt nicht hier. Dieser Gedanke erschien ihm auf einmal so klar und einleuchtend. Seine Hand glitt zu seinem Schwert. Er spielte mit dem Griff und fasste ihn schließlich fest. Dann riss er es aus der Scheide, wirbelte herum und ging auf seinen Vater los.

"Das ist alles nur deine Schuld!" brüllte er.
 

Hitomi schrie gellend auf. "Van! Er ist in Gefahr! Der Junge ist bei ihm!" Sie sprang auf und rannte los. Louvain, Merle und Ivory folgten ihr auf dem Fuße. Alexander hielt mitten in der Tür inne und sah über die Schulter zu Allen, der ebenfalls mitkommen wollte.

"Ruf besser die Wachen, Allen," schlug Folkens Sohn vor. "Wer weiß, was uns da erwartet." Der blonde Ritter nickte, und während Alexander hinter Hitomi und den anderen zum Thronsaal stürzte, hetze Allen zum Wachraum.

28. Licht und Finsternis

Nur mit Mühe konnte Van Laures' ersten, zornigen Schlag abwehren. Der König hatte sein Schwert noch nicht einmal aus der Scheide ziehen können, sondern hatte sich die Lederhülle einfach mit vom Gürtel gerissen und damit die Klinge seines Sohnes aufgefangen. Überrascht taumelte Laures zurück und Van hatte endlich die Gelegenheit aufzuspringen.

"Wieso meine Schuld?" keuchte Van, während er der nächsten Attacke auswich und sein Schwert endlich aus der ledernen Hülle befreite.

"Wenn du meine Mutter und mich nicht im Stich gelassen hättest," fauchte Laures zurück, "Dann würden alle noch leben. Meine Mutter. Meine Zieheltern. Es würde uns gut gehen. Nur wegen dir..."

Abrupt hielt Laures mitten in der Bewegung inne, ließ Van bei Seite springen und schlug wieder zu. Er schlitzte Van den Ärmel auf und sofort floss Blut aus der Schnittwunde. Van suchte festen Stand und musterte seinen Sohn aufmerksam. Diesmal war es ein vollkommen anderer Kampf als noch am Vortag auf dem Übungsplatz. Diesmal kämpfte Laures vollkommen anders. Er war wie entfesselt. Und Van begriff, dass er diesem blanken Hass, der seinen Sohn vorwärts trieb, kaum etwas entgegenzusetzen hatte.

"Wenn ich gewusst hätte, dass sie schwanger war, hätte ich sie niemals weggeschickt. Es ist nicht so, wie du denkst. Und außerdem: deine Mutter lebt!" gab Van zurück. "Auriana lebt! Ich habe sie erst vor zwei Monaten gesehen..."

"Lügner!" Wieder hieb Laures Funken sprühend mit seinem Schwert zu. "Ihr lügt doch alle!"
 

Die Tür zum Wachraum wurde aufgerissen und Allen Schezar stolperte hinein. Lauria hob den Kopf und bemerkte, dass sich alle Aufmerksamkeit auf den blonden Neuankömmling richtete. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Irgendetwas geschah gerade.

Mit Laures. Laures war daran beteiligt. Das Mädchen mit den goldenen Haaren sprang auf und rannte aus dem Wachraum. Sie wusste nicht genau, wo sie eigentlich hinlief, aber sie wusste, wie sie zu dem Ort gelangen würde, an dem Laures gerade war.
 

Hitomi, Merle, Louvain und Alexander blieben wie angewurzelt in der Tür zum Thronsaal stehen.

"Van!" Hitomi schrie gellend auf. Gerade konnte sich Van nur noch mit Mühe unter einem Schlag Laures' hinwegducken.

"Verdammter Teufel!" knurrte Alexander angewidert.

"Was machen wir jetzt?" fragte Louvain und versuchte seine Sorge zu verstecken.

"Wir helfen Van," gab Alexander zurück, zog sein Schwert und stürzte auf die beiden Kämpfenden zu.

"Alexander!" Erschrocken sah Ivory ihm nach. Auch Louvain verharrte noch einem Moment neben den drei Mädchen, dann fluchte er laut, zerrte sein Schwert vom Gürtel und rannte dem Freund hinterher.
 

Laures wurde durch den lauten Kampfschrei hinter sich auf Alexander aufmerksam. Beiläufig wehrte er die Attacke von Folkens Sohn ab und ließ den schwarzhaarigen Jungen ins Leere taumeln. Danach griff er wieder Van an. Dieser hatte versucht die kurze Ablenkung durch Alexander für einen geschickten Täuschungsversuch zu nutzen, doch Laures durchschaute ihn augenblicklich und wehrte sein Schwert geschickt ab. Vans Sohn spürte in sich eine Finsternis aufwallen, die ihn immer stärker werden ließ. Er verstand selbst nicht mehr, wie er am Vortag seinem Vater noch hatte unterliegen können. Diesmal würde es nicht passieren. Diesmal würde er, Laures, gewinnen. Und dann würde er seinen Vater töten.

Aus dem Augenwinkel sah Vans Sohn ganz eben die Bewegung, mit der sich Louvain in den Kampf stürzte. Der Junge mit den schwarzen Augen wirbelte gedankenschnell herum und prellte dem Löwenjungen das Schwert aus der Hand. Mit der flachen Seite seines eigenen Schwertes versetzte er ihm einen harten Schlag gegen den Kopf, der Louvain benommen zu Boden fallen ließ. Blut sickerte durch seine blonde Mähne.

Kurz konnte Laures Van weiter in die Enge treiben, doch dann kam Alexander wieder heran. Laures gab einen leisen Fluch von sich und konzentrierte sich auf Folkens Sohn. Alexander versuchte zwei kurze Angriffsschläge hintereinander, doch Laures konnte beide problemlos abwehren. Durch die beiden heftigen Attacken ließ Alexander seine Deckung fallen und Laures nutzte den Moment sofort aus. Er stach blitzschnell nach dem Bauch seines Gegners. Millimeter bevor das Schwert Alexander jedoch berühren konnte, warf ihn ein kleines, silbernes Geschöpf zur Seite. Dadurch erwischte das Schwert statt seinem Bauch nur Alexanders Bein. Farla hatte Alexander mit ihrem beherzten Eingreifen das Leben gerettet.

Augenblicklich wirbelte Laures wieder herum und wehrte einen ungeschickten Hieb seines Vaters ab. Nun waren sein Vater und er wieder allein an dem Kampf beteiligt.
 

"Louvain!" Merle kreischte laut auf und rannte zu ihrem Freund. Als Alexander bei Seite geworfen wurde, konnte auch Ivory nicht mehr an sich halten und rannte zu Folkens Sohn. Nur Hitomi blieb wie erstarrt an der Tür stehen und verfolgte mit schreckensweiten Augen das Geschehen. Sie spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug und hatte auf einmal die bizarre Angst, das es ganz aussetzen könnte. Das Mädchen vom Mond der Illusionen spürte, wie das Gefühl von Finsternis in dem Thronsaal immer greifbarer wurde. Jetzt fand sie es dumm, vor der dunklen Aura des Manticor Angst gehabt zu haben. Diese Aura hier war sehr viel furchterregender. Plötzlich fiel neben Hitomi die Tür des Thronsaals ins Schloss. Als sie sich umdrehte, stand ein Mädchen mit goldenen Haaren und scheinbar unendlich dunklen Augen neben ihr. Sie keuchte leicht, doch ihr Blick war unverwandt auf die Kämpfenden gerichtet. Sie ignorierte Hitomi vollständig.

"Laures," flüsterte das Mädchen leise.

Hitomi fühlte auf einmal, wie sich zu der scheinbar undurchdringlichen Finsternis noch etwas anderes gesellte. Licht. Sie spürte, wie eine unglaublich helle und reine Aura von den Mädchen mit den goldenen Haaren ausging.

29. Manticor

Urplötzlich veränderte sich noch etwas. Alle hielten für den Moment mitten in der Bewegung inne. Selbst Laures verharrte mitten im Schlag und lauschte auf das seltsame Geräusch, das auf einmal durch den Thronsaal schallte. Es klang beinahe wie heulender Wind.

Hitomi wirbelte herum und hörte, wie von draußen Männer gegen die Eingangstür zum Thronsaal schlugen. Die Tür wurde hartnäckig gerüttelt, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Vor der verschlossenen Tür konnte sie Allen fluchen hören.
 

Merle fasste Louvain liebevoll an der Schulter und stellte beruhigt fest, dass er nur etwas benommen war. Das Blut stammte nur aus einer leichten Platzwunde an seiner Schläfe. Einige Meter weiter rappelte sich Alexander langsam wieder auf. Blut strömte aus einer tiefen Schnittwunde an seinem Bein. Er sah erst Ivory an und dann Farla.

"Danke, Kleine," murmelte er leise und verwuschelte dem Elfenmädchen das silberne Haar. Sie strahlte ihn mit leuchtenden Augen an. Dann schob Ivory sie bei Seite und warf sich ungestüm in Alexanders Arme.

"Ich hatte Angst um dich," flüsterte Ivory leise. Alexander streichelte ihr sanft über den Rücken und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Farla wurde leichenblass.
 

Laures trieb Van langsam aber sicher weiter zurück. Der König von Farnelia konnte die heftigen Schläge seines Sohnes nur noch mühsam abwehren. Während ihn selbst die Kräfte langsam verließen, schien Laures mit jedem einzelnen Schlag stärker zu werden. Schließlich stolperte Van ungeschickt zurück und sein Sohn konnte ihm das Schwert aus der Hand schlagen.

"Jetzt wirst du sterben," sagte Laures leise und entschlossen. Dann holte er anmutig aus und schlug zu. Doch statt Van tödlich zu verwunden, blieb das Schwert mitten in der Bewegung stehen. Allmählich materialisierte eine grauhaarige Gestalt mit ausgebreiteten schwarzen Flügeln vor ihm.

"Du wirst meinen Bruder nicht töten," sagte Folken sanft. Mit den bloßen Händen hatte er Laures' Schwert aufgehalten.

Laures sah Vans Bruder kurz an, dann schüttelte er lachend den Kopf.

"Schwarze Flügel," sagte er dumpf, "du bist nicht der Einzige, der sie hat..."

Anmutig warf er seinen Kopf in den Nacken und streckte seine Arme zur Seite. Augenblicklich breiteten sich vier schwarze Flügel auf seinem Rücken aus. Ein Flügelpaar bestand aus schwarzen Engelsflügeln, während es sich bei dem anderen um ledrige Fledermausflügel handelte.

"Wie willst du die Dunkelheit aufhalten, schwarzer Engel?" fragte Laures leise und sah Folken in seine braunen Augen.

"Laures!" schrie Lauria auf einmal auf und rannte auf den Jungen mit den vier schwarzen Flügeln zu. Verwirrt drehte sich dieser um und sah dem Mädchen mit dem wehenden goldenen Haar entgegen.
 

Die schwarze Lichtsäule erschien urplötzlich mitten in dem Thronsaal. Ihr schwarzes Licht erfüllte den Raum vollständig und als sie nach einem endlosen Moment endlich wieder verschwand, stand der Manticor mitten im Raum. Erschrockene Blicke trafen ihn.

"Kommt zu mir, meine Kinder," sagte er mit grollender Stimme.

"Was soll ich bei dir?" fauchte Laures zornerfüllt. "Du bist doch auch nichts! Du bist nicht anders als alle anderen! Kein bisschen! Verschwinde und halt dich aus Dingen raus, die dich nichts angehen!"

Lauria blickte verwirrt von Laures zu dem gigantischen Geschöpf, das gerade erschienen war.

"Du kennst ihn?"

"Kennst du mich nicht, meine Tochter?" grollte er und sah Lauria verblüfft an. Wie konnte es sein, dass sie ihn nicht kannte? Hatten ihre Zieheltern etwa versagt?

Lauria zuckte unter dem Blick seiner schwarzen Augen zusammen und spürte deutlich das brodelnde Böse, das ihn umgab. Es war eine andere Art von Schwärze als die, die sie bei Laures wahrnahm.

"Ich bin nicht deine Tochter!" schrie Lauria zurück und sah wieder Laures an. "Laures, was hat das zu bedeuten?" Doch der Junge mit den schwarzen Flügeln zuckte nur mit seinen Schultern.

"Ihr seid meine Kinder, ihr beiden," erklärte der Manticor. "Ihr werdet das neue Volk gründen. Das Volk, das Gaia beherrschen wird. Ihr, Bruder und Schwester, vom Blut des Manticor und vom Blut des Drachen..."

"Bruder und Schwester?" Lauria blickte entsetzt vom Manticor zu Laures und wieder zurück. Auch Laures war schneeweiß im Gesicht geworden.

"War das alles nur ein Teil deines Plans?" Seine Seele schien innerlich aufzuschreien. "War es nur dein Wille, dass ich mich in meine Schwester verliebe? Ist das alles nur dein Werk?" Laures spürte, wie das Letzte bisschen, an das er sich noch hatte klammern können, seine Liebe zu Lauria, unter seinen Fingern zerrann. Nur ein Beschluss des Manticor. Seine Schwester. Er liebte seine Schwester. Und zwar nur, weil der Manticor es so wollte. Laures spürte, wie noch mehr von dem Hass in ihm hoch kochte. Noch mehr. Viel mehr. Mit einem gellenden Aufschrei warf er sich nach vorn und griff den Manticor an.
 

Überrascht hatte Hitomi die Entwicklung verfolgt. Erst erschien dieses Mädchen, das offenbar Vans Tochter und Laures' Schwester war und dann der Manticor. Und jetzt griff Laures auf einmal den Manticor an. Hitomi ließ ihren Blick kurz durch den Raum schweifen. Lauria stand wie erstarrt da und blickte den Manticor und ihren Bruder abwechselnd an. Van saß hinter Folken auf dem Boden und starrte ebenfalls zu dem Giganten empor. Folken stand noch immer mit ausgebreiteten Flügeln vor seinem Bruder. Alexander ging, mit Ivory im Arm und Farla an seiner Seite langsam zu seinem Vater herüber. Und Merle kauerte noch immer neben Louvain auf dem Boden.

"Drache," murmelte Hitomi leise, "Ich glaube, so langsam solltest du hier auftauchen..." Dann fing sie an sich zu konzentrieren und legte ihre rechte Hand behutsam über die Tätowierung oberhalb ihres Herzens.

Schwarzer Drache, ich rufe dich...

30. Silberschwingen

Er ist mein Bruder... Dieser einfache Satz beherrschte Laurias Gedanken, während sie teilnahmslos zusah, wie Laures auf den Manticor losging und wie beiläufig zurückgeschlagen wurde. Er ist mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder...

"Hör auf, du Narr!" durchbrach der grollende Schrei des Manticor ihre Gedanken. "Du kannst mich nicht töten! Du bringst dich nur selbst um!"

"Na und?" schrie Laures zurück. "Dann durchkreuze ich wenigstens deine Pläne..." Er flog mithilfe seiner vier Flügel um den Manticor herum und verpasste ihm einen schmerzhaften Schlag auf den rechten Flügel.

"Du hast es nicht anders gewollt!" Der Manticor sah sich dazu gezwungen, härtere Maßnahmen zu ergreifen. Er wollte den Jungen nicht verletzten, denn schließlich war dieser eine wichtige Grundlage für seine Pläne, doch ohne eine wirkungsvolle Einschüchterung, würde sich dieser offenbar nicht fügen.

Mit einem ohrenbetäubenden Knurren schlug der Manticor mit seinem Skorpionsschwanz zu und verletzte Laures' Feldermausflügelpaar. Der schwarzhaarige Junge schrie schmerzerfüllt auf und taumelte zu Boden. Lauria war sofort bei ihm und kniete neben ihm nieder.

"Hast du es jetzt verstanden?" grollte der Manticor und baute sich vor den Geschwistern auf.

"Nein," lächelte Laures und wischte das Blut, das ihm von seinem Flügel herab auf das Gesicht tropfte, weg. "Ich werde dir nicht nachgeben, niemals..."

"Also gut..." Der Manticor stieß noch einmal mit seinem Skorpionsschwanz zu. Diesmal traf er die Engelsflügel. Laures sackte endgültig zusammen und wandt sich wimmernd am Boden. Immer mehr Blut floss aus seinem zerstörten Flügeln.

"Füg dich!" brüllte der Manticor.

"Nein!" schrie nun Lauria und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihren Bruder. Ihr war es gleich, wer Laures war. Sie liebte ihn. Mit jedem einzelnen Moment ihrer Seele. Sie liebte ihn. Und es war gleich, ob der Manticor das bewirkt hatte. Was zählte waren allein ihre Gefühle. Und Laures. Sie würde nicht zulassen, dass der Manticor sie benutzen konnte. Niemals. Niemals!

Irritiert blickte der Manticor das Mädchen mit den goldenen Haaren an. Er hatte nicht mit Widerstand von ihrer Seite gerechnet.

"Du bekommst uns nicht. Niemals," sagte sie mit fester Stimme. Laures hinter ihr lächelte leicht und schaffte es irgendwie, wieder auf die Beine zu kommen. Mit blutbedeckten Flügeln stellte er sich hinter sie und nickte bekräftigend.

"Dass ich ihn liebe, heißt nicht, dass du uns benutzen kannst," fuhr Lauria fort.

"Und dass ich sie liebe auch nicht," ergänzte Laures. Sanft legte er seine Hand auf Laurias ausgestreckten Arm. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Dann blickte sie wieder zu dem Manticor empor. Dieser wich langsam einige Schritte zurück.

"Wie ihr wollt," knurrte er. "Es gibt auch andere Wege..."

Langsam spannte er seine Muskeln an.

Laures griff nach Laurias Hand und drückte sie fest. Allmählich nahm sie die Arme runter und spürte, wie sich auf ihrem Rücken etwas regte. Sekundenbruchteile später schoben sich zwei silbern glänzende Flügel durch ihr Kleid. Silberschwingen.

Mit einem höhnischen Lachen quittierte der Manticor das Ausbreiten ihrer Flügel. Dann spie er sein weißes Feuer. Die Flammen umschlangen beinahe sanft das Geschwisterpaar, das es gewagt hatte, dem Manticor die Stirn zu bieten. Mit einer gleißend hellen Stichflamme verschwanden die weißen Flammen wieder. Von Laures und Lauria war nichts zurückgeblieben.

"Und nun zu euch, ihr Kinder des Drachen!" fauchte der Manticor und blickte von Van zu Alexander.
 

"Schwarzer Drache," murmelte Hitomi leise, "Bitte..."

Die weiße Lichtsäule erhellte den Thronsaal und als sie sich auflöste, kauerte der schwarze Drache direkt zwischen seinen Kindern und dem Manticor.

"So sieht man sich wieder," sagte er sanft.

"Du!" Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich der Manticor auf seinen uralten Gegner. Geduckt erwartete der schwarze Drache seinen Angriff und wehrte ihn spielend leicht ab. Dann spuckte der Drache gelbes Feuer. Fluchend wich der Manticor mit heftigen Flügelschläge aus und die Flammen schlugen harmlos auf die steinerne Säule hinter ihm. Der Manticor stürzte sich von oben auf den Drachen.
 

"In Deckung!" schrie Van und rettete sich selbst hinter eine der vielen Säulen. Folken folgte ihm. Merle zerrte Louvain mit sich und beide duckten sich in eine schmale Nische an der Wand. Auch Alexander, Ivory und Farla stolperten hinter eine der Säulen. Nur Hitomi stand unbewegt an der Tür und verfolgte den Kampf der beiden ewigen Feinde.
 

Als sich die beiden kämpfenden Giganten langsam in ihre Richtung bewegten, meinte Alexander leise: "Da rüber!" und rannte zu der nächsten Säule. Farla folgte ihm dichtauf, während Ivory durch das plötzliche Zusammenbrechen einer nahen Säule abgelenkt war. Der Manticor war gegen diese geprallt und hatte sie mit seinem Gewicht einfach umgerissen.

Plötzlich saß der Manticor direkt vor Ivory. Erschrocken schrie sie auf und starrte ihn wie hypnotisiert an. Beiläufig bemerkte der Manticor, wie Alexander ihr heftig zuwinkte und jagte ihr eine Flammensalve entgegen.

"Ivory!" Alexander schrie gellend auf. Farla hielt mitten in der Bewegung inne und blickte zu Folkens Sohn. Dieser bereits stand in der Deckung einer Säule und starrte zu dem Wolfsmädchen hinüber. Die weißen Flammen des Manticor schossen auf sie zu. Mit schreckensstarren Augen blickte Ivory dem weißen Tod entgegen. Sie würde keine Chance haben, das war Farla klar.

Weil du sie liebst, dachte das Elfenmädchen, als sie Alexander noch einen winzigen Gedanken lang ansah, dann hetzte sie los. Als kleiner, silberner Wirbelwind traf sie auf das Wolfsmädchen und stieß sie mit ihrem Schwung hart bei Seite. Farla sah noch über die Schulter zurück und blickte Alexander aus traurigen, silbernen Augen an. Stolz hob sie den Kopf und breitete ihre Silberschwingen aus. Dann traf das weiße Feuer auf sie und verwandelte sie in eine winzigkleine, silberne Stichflamme. Als das Feuer des Manticor verloschen war, war von Farla nur noch ein kleines Häufchen Asche geblieben.

31. Ewiger Tanz

Mit einem tiefen Grollen warf sich der schwarze Drache auf den Manticor. Durch den Angriff auf Ivory war dieser nur einen winzigen Moment abgelenkt gewesen, doch dieser Moment reichte dem Drachen. Er bohrte seinen Krallen fest in den Rücken des Manticor und schlug seine Zähne tief in dessen Flügel. Der Manticor brüllte schmerzerfüllt auf und versuchte den Drachen abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Der schwarze Drache ließ die zerrissenen, ledrigen Flügel los und reckte sich. Der Manticor bohrte seinen Skorpionsschwanz brutal durch die Flügel des Drachen, doch dieser schien den Schmerz gar nicht zu bemerken. Unaufhaltsam näherte er sich mit seinem aufgerissenem Maul dem Genick des Manticor.

Von Todesangst gepackt, warf sich der Manticor herum. Augenblicklich ließ der Drache los und der Manticor fiel vor ihm auf den Rücken. Sofort hielt ihn der Drache mit seinen scharfen Krallen am Boden. Dann biss er dem Manticor in die Kehle. Die Abwehr des Manticor wurde schwächer und schließlich lag er mit bebenden Flanken und zitternden Beinen ruhig da. Der schwarze Drache zog sich langsam zurück und setzte sich neben seinen Feind.

Das dunkle Blut pulsierte langsam aus der tödlichen Wunde. Obwohl der Drache es versucht hatte, hatte er es doch nicht vermocht, den Manticor auf Anhieb zu töten. Sie mochten Feinde sein und dennoch hätte er ihm gerne diesen quälenden Todeskampf erspart.

"Du weißt, ich werde immer sein," murmelte der Manticor leise. Blut floss ihm dabei aus dem Maul.

"Wir tanzen unsere ewigen Tanz. Führen unseren ewigen Krieg. Seite an Seite. Stirn an Stirn. Alter Feind. Vertrauter Feind. Alter Freund. Wir werden immer sein," antwortete der schwarze Drache sanft.

"Freund..." keuchte der Manticor mit einem seltsamen Lächeln auf den Lefzen. Dann hob sich seine Brust zum letzten Mal und er lag still.

Der Drache spürte auf einmal eine große Last von seinen Schultern fallen. Es schien ihm, als wenn er zum ersten Mal wirklich frei atmen könnte. Traurig blickte er seinen toten Feind an. Doch dann hob er den Kopf und lächelte Hitomi und Van zu, die nun nebeneinander an der Tür zum Thronsaal standen. Der schwarze Drache ging langsam auf sie zu. Doch plötzlich schien die Luft schwerer zu werden und er hatte das Gefühl keine Luft mehr zu kriegen. Seine Beine knickten unter ihm weg und er brach langsam zusammen. Hart schlug sein Kopf auf dem Steinboden auf. Für einen Augenblick schlossen sich seine gelben Augen. Als er sie mühevoll wieder öffnete, standen Van und Hitomi besorgt vor ihm.

"Was ist mit dir?" fragte Hitomi. Das Entsetzen klang deutlich in ihrer Stimme mit.

"Wir sind uns doch zu nahe..." seufzte der Drache leise. "Jetzt ist es an euch die Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft ohne uns. Eine Zukunft, in der wir nur noch Erinnerung sind..." Damit schloss er seine gelben Augen endgültig und sein Herz hörte auf zu schlagen. Der schwarze Drache war tot.

Schockiert knieten Van und Hitomi neben ihm nieder.

"Das kann nicht sein," murmelte Van leise.

"Es war sein Schicksal," sagte Folken hinter ihnen sanft. Hitomi und Van blickten auf und sahen, dass Vans Bruder hinter ihnen stand. "Die Verbindung zwischen ihnen war zu stark. Sie können nicht ohne den anderen sein..." Langsam verblasste Folkens Gestalt.

"Bruder!" rief Van entsetzt.

"Nehmt euch seine letzten Worte zu Herzen," lächelte Folken sanft. "Schafft eine Zukunft ohne uns. Eine Zukunft, in der wir nur noch Erinnerung sind..."

Folken verblasste zu einer grauen Rauchwolken, die sich langsam auflöste. Mit Tränen in den Augen blickte Hitomi wieder zu dem schwarzen Drachen. Auch sein toter Körper wurde langsam zu Rauch, der langsam verwehte. Das Gleiche geschah auch mit dem Manticor.

Jetzt gab es nur noch die Erinnerung an sie...

32. Epilog

In der dunklen Felskapelle unter Sarya blickte Auriana nachdenklich zu den Schatten an der Wand. Ja, er war nicht mehr. Er war nicht mehr. Sie war frei. Endlich frei. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, dann stand sie auf und ließ die Felskapelle des Manticor hinter sich.

Die Vergangenheit konnte sie zwar nicht auslöschen, aber sie konnte doch Gras über sie wachsen lassen. Und endlich ihr Leben leben...
 

Auf einer abgelegenen, einsamen Insel mitten im Auge des ewigen Sturms erschienen in einem silbernen Lichtblitz ein Junge mit vier blutigen, schwarzen Flügeln und ein Mädchen mit Silberschwingen...
 

ENDE (vorläufig - die Forsetzung erfolgt in dem letzten Teil der Saga "Schwarzer Drache: Geisterdrache")



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