Erinnerungen
Die Sonne ist schon lange untergegangen und färbt den Wald in düstere Grau- und Schwarz- Töne. Am Himmel sind bereits die ersten Sterne zu sehen und der Mond zeigt seine schmale, silberglänzende Sichel. Auf der kleinen Lichtung brennt noch schwach ein Lagerfeuer. Das meiste Holz ist bereits heruntergebrannt, aber die rote Glut spendet noch immer Wärme. Direkt daneben hat sich das kleine Mädchen Rin in ihre dünne Decke gekuschelt und schläft friedlich. Auf der anderen Seite des Feuers liegt Jaken mit offenem Mund auf seinem Lager und schnarcht leise vor sich hin. Sein Kopfstab liegt gleich neben ihm. Doch auf einem der flachen Steine dicht am Feuer sitzt noch immer der Herr und zugleich Beschützer der beiden und blickt mit gleichmütigen Augen in die leise züngelnden Flammen des Lagerfeuers.
Sesshomaru schläft nicht. Er hat momentan keinen Bedarf danach und er will es auch nicht. Dazu geht ihm zu viel im Kopf herum. So nutzt er die stillen Stunden des Abends um nachzudenken. Die Tatsache, dass seine Mutter nach so langer Zeit wieder aufgetaucht ist, lässt ihm einfach keine Ruhe. Eigentlich hätte er nie damit gerechnet sie wiederzusehen.
Nach dem Tod seines Vaters, hatte er wie vorgesehen, das Schwert Tensaiga erhalten. Als er feststellte, dass es völlig unbrauchbar war, war er schwer enttäuscht gewesen. Seine Mutter war darüber gleichermaßen betrübt gewesen. Mehr noch, sie schäumte vor Wut! Sie versicherte ihm, dass sie herausfinden würde, was aus dem anderen Schwert geworden war, aus Tessaiga.
Ja, sie brachte es in Erfahrung. Aber als sie ihm dann mitteilte wer zum Erben dieses mächtigen Schwertes bestimmt war, packte ihn erst richtig der Zorn. Inu Yasha! Dieser miese kleine Halbdämon, dieser schreckliche Missgriff der Natur! Er sollte Tessaiga erben! Was hatte das zu bedeuten?
Sesshomaru verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte sein Vater ihm ein solch nutzloses Schwert vermachen und Inu Yasha Tessaiga überlassen? Inu Taisho muss doch gewusst haben, dass, wenn überhaupt, allenfalls Inu Yasha Verwendung für Tensaiga hätte. Warum gab er es dann seinem eigenen Sohn und nicht dem Ergebnis seines kleinen Fehltritts? Hatte er sich irgendwie den Zorn seines Vaters zugezogen? Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Wie oft hat er sich nun schon diese Frage gestellt?
Lag es daran, dass sich mit der Zeit das Verhältnis zwischen Inu Taisho und seiner Frau abkühlte? Es hatte zur Folge gehabt, dass nun hauptsächlich seine Mutter für seine Erziehung zuständig war, während sein Vater sich kaum noch bei ihnen blicken ließ.
Noch sehr gut hat Sesshomaru den Tag in Erinnerung, als zu ihm und seiner Mutter die Nachricht gelangte, dass die Menschenfrau Izayoi ein Kind zur Welt bringen würde; einen Halbdämon, ein Kind des mächtigen Hundedämons Inu Taisho. Für seine Mutter brach an diesem Tag eine Welt zusammen, dass weiß er. Lange Zeit musste er mitansehen, wie sie diese Tatsache immer mehr quälte. Er sah ihren Schmerz; sah sie immer mehr vor Gram vergehen. Er hielt sie nicht auf, als sie es dann eines Tages nicht mehr ertrug und losging um diese Frau umzubringen.
Doch auch danach schien die Sache sie noch immer zu beschäftigen. Ja, es wurde zu einer wahren Besessenheit. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Und er konnte es irgendwann nicht mehr verstehen. Wieso ließ sie es zu, dass eine gewöhnliche Sterbliche sie so gefangen nahm, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte? Warum erlaubte sie ihr, in ihren Gedanken so viel Raum zu erlangen. Und dieser fanatische Hass auf den Halbdämon Inu Yasha, der sich in ihr entwickelte, warum schenkte sie ihm nur so unerklärlich viel Beachtung. Hatte sie ihm nicht immer wieder eingetrichtert, dass Menschen und Halbdämonen nur niedere Lebewesen und kaum einer Erwähnung wert waren? Warum verhielt sie sich nun eines Dai-Youkai so unwürdig?
Erst als er erfuhr, dass sein Vater nicht ihm, sondern seinem Halbbruder Inu Yasha das Schwert Tessaiga vermacht hatte, konnte er in etwa nachfühlen, wie sie empfand. Noch immer hat er ihre Mine vor Augen, als sie ihn beruhigen wollte und ihm mit zornesroten Augen zusicherte, dass sie ihm das Schwert Tessaiga schon besorgen würde. Er hatte ihr blind vertraut. Sie war seine Mutter! Er liebte sie über alles, er vertraute ihr. Sie schaffte immer alles was sie sich vornahm. Sie würde ihm das Schwert verschaffen, das stand für ihn fest!
Doch wie groß war seine Erschütterung, als er herausfand, was hinter ihren scheinbar noblen Absichten wirklich steckte. Nachdem er lange Zeit nichts von ihr gehört hatte, machte er sich schließlich selbst auf die Suche. Durch eigene Bemühungen fand er schließlich heraus, was sich zugetragen hatte. Dass das Schwert inzwischen unauffindbar war und dass seine Mutter heimlich, ohne ihrem geliebten Sohn ein Wort zu sagen, das Land verlassen hatte. Und er fand auch heraus warum!"
Von diesem Tage an war er vollkommen auf sich allein gestellt gewesen. Aber das hatte ihn nicht geschreckt. Immerhin war er eines Dai-Youkais Sohn! Ein Dämonenprinz! Und er war fest entschlossen sich dessen würdig zu erweisen! Anders als sein Vater, der mit den Menschen auf freundlichem Fuß stand und anders als seine Mutter, die einem Halbdämon gestattete ihr gesamtes Denken zu vereinnahmen. Nein, diesen Fehler würde er nicht machen! Er würde sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und den Menschen und seinem halbdämonischen Bruder gerade mal die Aufmerksamkeit entgegenbringen, die ihnen zustand; eine geringe!
Und er würde sich von nun an selbst um das kümmern, was er haben wollte, und dazu gehörte noch immer Tessaiga! Um dieses Schwert zu bekommen, brauchte er seine Mutter nicht! Und seinem Vater würde er schon zeigen, dass er als sein Erstgeborener als einziger das Recht besitzt dieses Schwert zu führen. Wenn sein Vater ihn zu Lebzeiten dessen nicht werterachtete, würde er es sich eben nach seinem Tod besorgen!
Doch nun ist seine Mutter wieder aufgetaucht, noch immer besessen von ihren Rachegedanken für Inu Yasha. Innerlich schnaubt er verächtlich. Die Behauptung, dass sie ihm Tessaiga besorgen will ist doch nur ein Vorwand! In Wirklichkeit geht es ihr nur um Inu Yasha. Ihr eigener Sohn spielt in ihren Plänen keine große Rolle mehr. Solange sie ihn noch als Aushängeschild für sich benutzen konnte, solange war er noch gut genug für sie. Doch heute ist er für sie nichts weiter als eine Spielfigur auf ihrem ganz eigenen Spielfeld der Rache.
Ein leichtes Lächeln legt sich um Sesshomarus Mundwinkel. Inu Yasha hat keine Ahnung worauf er sich einlässt. In ihr hat er eine erbitterte Gegnerin gefunden. Er kennt seine Mutter gut. Tückische Pläne sind ihre Stärke, auf diese Weise hat sie bereits ihren allergrößten Feind besiegt und Inu Yasha wird ihr erst recht nichts entgegenzusetzen haben.
Zu gerne wüsste er wie weit sie schon mit ihm ist. Ob sie ihren ganzen Plan schon in die Tat umsetzen konnte? Sicher hat sie nicht unnötig Zeit verloren. Wahrscheinlich winselt er schon längst bei ihr um Gnade. Zu gerne möchte er jetzt das Gesicht seines Bruders sehen. Bestimmt würde es ihn angenehm aufheitern. Der kleine Dummkopf wird seines Lebens nicht mehr froh werden und ist auch noch selber Schuld daran! Kann es eine schönere Vorstellung geben?
Das Feuer brennt langsam nieder. Sesshomaru nimmt es schweigend zur Kenntnis. Schließlich erhebt er sich um einen weiteren Scheit nachzulegen. Nicht, dass er ein Feuer nötig hätte, aber er verspürt wenig Lust sich mit einer ständig schniefenden und hustenden Rin abfinden zu müssen. Das kleine Mädchen ist bedauerlicherweise auf ein warmes Nachtlager angewiesen.
Gerade will er sich wieder auf den Stein niederlassen, als er innehält. Er hebt den Kopf und spitzt die Ohren. Jemand nähert sich dem Lager. Ein kurzes Einziehen der Nachtluft und sein Verdacht bestätigt sich.