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Vergessen

von

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Zwei

Zwei
 

Vor vielen Jahren, als man beschloss, den kulturellen Schwierigkeiten auszuweichen, indem man einfach verschiedene Wohngegenden für verschiedene Religionen und Völker erschuf, meldeten sich einige verstimmte Bürger zu Wort und meinten, wenn man dies täte, müsste man auch für Die einen gesonderten Bezirk erstellen.

Keiner kam auf die Idee, dass diese Konfliktlösung eventuell genau das Gegenteil bewirken könnte, und da alle den Vorschlag für eine wunderbare Sache hielten, teilte man die Arbeitsplätze, Schulen und Schwimmbäder, die schon nur für eine bestimmte "Zielgruppe" erreichbar waren, auch noch einmal so, dass Die, also wir niemandem ein schlechtes Gewissen machen konnten.

Und so ist es bis heute, wie wir gerade lernen.

Natürlich hören wir es nicht so, sie sprechen selbstverständlich davon, dass wir anders gefördert werden müssten, dass Streitigkeiten im Vorfeld verhindert werden müssten, dass wir geschützt werden müssten, reden von der "Grundlösung", der "Trennungspolitik", und meinen damit doch nur, dass wir zu anders sind, um mit den anderen zusammen zu sein.

Dabei sind sie es doch, die uns so anders gemacht haben, sie haben mit ihrem Fortschritt erschaffen, was wir sind- und nun machen wir ihnen Angst.

Niemand braucht uns zu sagen, dass wir nicht normal sind, wir haben es oft genug gehört, und wissen, warum es für Verbrechen an oder von uns andere Strafen gibt.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit...

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, in der wir alle gemeinsam im Kindergarten saßen und ein Psychologe uns erklärte, was der Schächter von Ohmsbach getan und was ihn getrieben hatte.

Wir sprachen auch darüber, was im Krieg geschah, und welche Strafen die Foltermeister vom Labor Warheim&Co zu erwarten hatten- und als der Herr Meinster meinte, sie würden wegen Verbrechen an der Menschlichkeit angeklagt, fragte ihn eines meiner Gruppenmitgliedern, noch voller kindlicher Unschuld, ob das denn ginge- es seien doch keine Menschen gewesen..

Sie hatte es gesagt und wurde hastig bekehrt, doch alle, die sie gescholten hatten, dachten das selbe.

Alle dachten und denken sie es...

"Maraike?"

Ich blicke auf, direkt in das faltige Gesicht der Frau Gombert, deren langes, weißes Haar zu einem strengen Dutt hochgebunden ist.

Sie ist erst achtundzwanzig.

Sie ist für die meisten Menschen beängstigend.

Sie ist eine von uns.

"Welche bedeutenden Forscher sind mit dem Jahr 2022 eng verbunden?"

Ihre kühle Stimme und ihre distanzierte Art lassen mir genug Raum, um aus meiner Gedankenwelt wieder aufzutauchen und ihr die Antwort zu geben- doch das ist ihre Art.

Sie hat das Gefühl, jede Gemütsregung verhindern zu müssen, will uns nicht in eine Richtung drängen, und doch, wenn etwas sie resignieren lässt, klingt sie noch kälter - so wie jetzt.

"Christian Dedenbrück und Ian McGreggor."

Sie nickt, und während ein bitterer Zug ihre schmalen Lippen noch dünner wirken lässt, fragt sie weiter.

"Welchen bedeutenden Schritt machten die beiden?"

Meine Antwort ist auswendig gelernt- wir alle kennen sie.

"Sie schafften es mit ihrem unglaublichen Erfolg, die Forschung ein großes Stück weiterzubringen.

Am 3.2.2022 kam Polly Diego gesund und ohne Komplikationen auf die Welt.

Sie war der Anfang, und seit dem sind jährlich mehr als sechs Prozent der Kinder auf der Welt geklont."
 

Ja, das sind wir - geklont, falsch, künstlich.

Und gerade die, die uns erschaffen haben, die, die den Fortschritt umjubelt haben, fürchten uns nun.

Die Euphorie war nicht von langer Dauer...

Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze, um ihre Kinder, um ihre Menschlichkeit, und versuchen deshalb, uns von sich selbst abzutrennen, wie ein verkrüppeltes Glied.

Sie wollen vergessen, dass es uns gibt, uns übersehen, doch wie es uns geht, interessiert sie nicht.

Ich wäre gerne erst gefragt worden, ob ich das Leben eines anderen Leben möchte, im Körper eines anderen, mit Wünschen der anderen...

Mein Blick streift über die Stadt, die vor mir liegt wie ein aufgeschlagenes Buch und mir eine Geschichte erzählt, die schon längst in Vergessenheit geraten ist.

Ein winziger, gelbgrauer Schimmer zwischen den künstlichen Bäumen, die die Hauptstraße säumen, zeigt mir, wo das alte Ortseingangsschild steht, und der breite Asphaltstreifen schlängelt sich wie ein riesiges, träges Tier neben den Häusern her, während sich immer wieder kleine Ableger von ihm trennen und alles erreichbar machen.

Dann ist da der Bürgersteig, der an einigen Stellen schon durch den Gehtunnel ersetzt wurde, der aber nur an Regentagen die Passanten vor dem Wasser schützt, und die falschen englischen Rasen, die vor jedem der Einfamilienhäuser wachsen.

Idyllisch sieht es aus, auch das kleine Hofcafé gegenüber von Anni´s Haus trägt zu der Dorfatmosphäre bei.

Doch dann wandert mein Blick etwas zurück, bis er dem Messeweg ins Unterdorf folgt, wo es ganz anders aussieht- plötzlich scheint alles alt, zerstört und schmutzig, und ich weiß, dort wohnen die, die vor den rassistischen Übergriffen geschützt werden sollen...

Jetzt sehe ich einen dunkelblauen Ford Safari, der schnell durch die heruntergekommenen Straßen braust und durch das Mitteldorf vorbei am Supermarkt und dem riesige Betzentrum zu den wirklichen Deutschen fährt.

Die Häuser sind größer, die falschen Gärten grüner und die Menschen halten sich für besser...

Und das soll EIN Dorf sein?

Ich kann kaum glauben, dass...

"...ke! HEY!! Sag gefälligst was!"

Da ist sie wieder.

Klein, untersetzt, wie immer ein wenig schnaufend.

"Ich rufe dich schon die ganze Zeit..."

"Entschuldigung, ich hab´ nachgedacht..."

Sie lacht, kurz und abgehackt.

"Ach wirklich? Ist ja mal ganz was neues..."

Sie räuspert sich und kratzt sich mit der linken Hand rechts am Hals, so wie sie es immer tut, wenn sie etwas unangenehmes zu sagen hat.

Auch das ist so etwas- um schlechte Dinge schleicht sie immer herum, wie eine Katze um den heißen Brei.

"Ich habe gehört, sie wollen die Wohnbezirke neu aufteilen..."

Ich nicke kurz und denke an den hellblauen Brief mit den schwarzen Druckbuchstaben, der heute Morgen angekommen ist.

Sie räuspert sich noch einmal und streicht ihr dunkles Haar zurück.

"Seid ihr auch betroffen?"

Diesmal schüttele ich den Kopf, verspüre aber immer noch kein Verlangen, zu sprechen, obwohl Annika schwer schluckt und einmal tief einatmet.

"Timo und ein paar andere haben gesagt, dass sie eurer Straße heute einen Besuch abstatte wollen- ich weiß nicht, irgendwie waren die ziemlich ernst."

Timo also...

Er ist ein hochgewachsener Kerl, mit akkurat geschnittenem, goldblondem Haar, dunkelblauen Augen und einem einwandfreien Körperbau, der sich gerne bewundern lässt und Pullover mit der Aufschrift "Alles echt!" trägt.

Er hält sich und alle, die auf die selbe Art und Weise gezeugt wurden, für etwas besseres, und ist der Meinung, dass man Die wegsperren sollte.

Immer, wenn er etwas sagt, dass andere Leute verletzen soll, wirft er den Kopf zurück und hebt die linke Augenbraue um einen Zentimeter an, während er schnippisch grinst.

Er ist der Meinung, er sei perfekt.

Timo gehört zu den Menschen, die einfach nicht sehen, was sie tun, oder denen die Konsequenzen völlig egal sind.

Timo ist normal.

"Ach, lass die nur reden...

So etwas macht uns keine Angst."

Annika nickt und fixiert ihre Schuhspitzen für eine halbe Minute.

Sie weiß, dass ich lüge.

Ich weiß, dass sie es weiß.

Und damit ist die Sache beendet.

Vorbei am Sparmarkt, an der Bahnhofsstraße, die längst nicht mehr zum Bahnhof, sondern zur Wintersporthalle führt, bis sich unsere Wege trenne, reden wir nur über belangloses Zeug - Schule, Unterricht, Lehrer und derartige Dinge.

Dann winkt Anni mir kurz zu, ruft ein "Bis Morgen!" und stapft den kleinen Hügel zu ihrem über dreihundertfünfzig Jahre alten Haus, das ihre Mutter aus Trotz und Nostalgie nicht abreißen will, hinauf.

Und ich?

Ich gehe, wie immer, alleine nach Hause, wo meine Großmutter schon mit einem großen Topf Pilzsuppe auf mich wartet, damit sie mir erzählen kann, wie Mutter war, wie ich werden muss...

So ist es eben, wenn man weder Fleisch noch Fisch ist.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2006-03-01T12:25:01+00:00 01.03.2006 13:25
Also anfangs hat mich das "Die" noch verwirrt, aber nun weiß ich wenigstens was gemeint ist. Die Geschichte schlägt irgendwie eine andere Richtung ein finde ich und du zeigst auch, dass nicht nur die Umgebung nun künstlich ist, sondern auch die Menschen und hast das auch gut in die Story eingebaut.
Allerdings dürstet es mich immer noch nach Informationen, die ich wohl eh nicht bekommen werde, ahh :(
Ja hmm... Irgendwie ist das beängstigend... Und meine Vorstellung wäre eigentlich gewesen, dass die Menschen die nicht geklont und perfekt sind die Außenseiter dartellen würden irgendwann...
Na ja, was soll ich noch sagen, ohne mich zu wiederholen... ^^
Von:  Drachenwind
2005-12-21T16:51:33+00:00 21.12.2005 17:51
Ah, klick... Gehirn rasselt... (bin halt nen bissel langsam...)
Also dieses Kapitel hat mir bis jetzt am meisten gefallen, weil es am meisten flüssig in einer Stimmung verhaftet beibt und die Thematik langsam umrissen wird und was ds Problem ist, obwohl ich glaube, ein wenig unterliegt die Sache einem Klischee. Die Trennung ist nicht so deutlich sichtbar, denn wenn er so deutlich sichtbar ist, ist er strenger in dem allgemeinen Handeln verankert und ihre Freundin könnte nur schlecht ihre Freundin sein.
Ich nehme an, in einer Gesellschaft, die zwar alles getrennt hat, aber immer noch in ihrer Doppelmoral lebt, würde sich eine äußere Verwahrlosung nicht erlauben.

Großmutter? Ist sie der Klon ihrer Mutter? Übrigens ist es ja ironisch, dass die echten Menschen perfekter sind, als die geschaffenen. Eigentlich streben sie ja das Gegenteil an ;)


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