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Die Weiße Schlange

von

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Einige Jahre später

Es gab überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass es der Baum war.

Sie hatte ihn sofort wiedererkannt.

Einer der knorrigen, uralten Äste hatte sich so tief heruntergeneigt, als wolle er vorübergehende Menschen zum Schaukeln einladen. Und dieser Ast war auch früher schon dort gewesen. Nur war der Baum in der Vergangenheit, die Madoka kennengelernt hatte, noch nicht ganz so breit und ausladend gewesen wie jetzt. Heute war er noch viel größer, noch hundert Mal beeindruckender als damals.

Der kleine Park war nicht einmal sehr weit von ihrem Haus entfernt. Wenn man es genau nahm war es allerhöchstens ein Fußmarsch von fünf Minuten, der sie hierher und zurück in die Vergangenheit trug. Kyoto war damals natürlich noch nicht so groß gewesen, wie es das heute war. Der kleine Vorort, in dem Madoka heute lebte, erstreckte sich genau dort, wo vor langer Zeit der Wald gewesen war. Jener Wald und jene Lichtung, auf der Madoka in der Vergangenheit erwacht war. Jene Lichtung, auf welcher Takeo und Mamoru ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Natürlich war von den Gräbern nichts mehr zu sehen. Aber Madoka konnte spüren, dass sie hier waren. Dass ER hier allgegenwärtig war.

So wie der Wind, der nach wie vor leise wispernd durch die Zweige und Blätter des alten Baumes fuhr. Er würde immer hier sein.

Madoka war schon oft hier gewesen. Sie konnte lange Zeit, manchmal Stunden, damit zubringen unter dem Baum zu sitzen und ihre Gedanken schweifen zu lassen. Sie fand Trost und wundervolle Erinnerungen unter der Krone des alten Baumes.

Auch heute war sie wieder hier, um Takeo und seinen Bruder zu besuchen.

Sie kniete nieder und grub ein kleines Loch in die Erde zwischen den großen Wurzeln des Baumes.

Sie hob die Hand und öffnete sie. Auf ihrer Handfläche glitzerte eine filigrane, wunderschöne Silberkette. Der Anhänger glich einer aufgerichteten, fein gearbeiteten Schlange.

"Ich möchte, dass du sie behältst, Takeo.", flüsterte sie leise und ließ die Kette in das Erdloch gleiten, bedeckte sie mit Erde und Gras.

"Sie gehört dir. So wie ich dir gehöre. Immer. Ich liebe dich..."

Und wieder, auch nach all der Zeit, fühlte sie Schmerz und Tränen in sich aufkommen. Doch da fuhr eine Windböe rauschend und flüsternd durch die Bäume des Parks, schien ihr Gesicht, ihre Wangen zu liebkosen und mit ihrem Haar zu spielen, bevor sie weiter ihres Weges zog. Sie schloss die Augen.

Mehr denn je konnte sie ihn spüren, seine Gegenwart fühlen, als stünde er direkt neben ihr und lächelte sie an.

Sie erhob sich.

Plötzlich schob sich eine kleine, vertrauensvolle Hand in ihre und drückte sie leicht.

"Mama, wo sind wir hier? Was machst du?"
 

Und vorbei war der Schmerz, die Tränen versiegten, noch bevor sie die Oberhand gewinnen konnten, und eine wunderbare Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Und Liebe. Eine ganz andere Liebe, als sie sie je vorher in ihrem Leben erfahren hatte, und die sich ihr nur durch dieses eine, wunderbare kleine Leben für sie offenbarte, dass sie zur Welt gebracht hatte.

Sie drehte sich ihrem Sohn zu. Der kleine Takeo war mit seinen acht Jahren ja nun schon ein großer Junge. Jedenfalls behauptete er das allzu gern von sich selbst. Und er glich seinem Vater wie ein Ei dem anderen. Die großen, dunkelblauen Augen schauten jedoch mit einer kindlichen Naivität in die Welt, die sie bei ihm unbedingt erhalten wollte. Niemals sollte er so viel Leid erfahren müssen, wie sein Vater es getan hatte. Das Haar war etwas dunkler, hatte jedoch, im Gegensatz zu ihrem eignen, einen deutlichen Kupferschimmer. Der kleine Takeo trug einen Pferdeschwanz - und hatte ständig sein kleines Bambusschwert dabei, mit dem er oft wilde Scheinkämpfe ausfocht.

Manches Mal, so wie jetzt gerade, als er zu ihr aufblickte, mit all dem Vertrauen und all der Liebe, die nur ein Kind der Mutter entgegenbringen konnte, traf es sie wie ein dumpfer Schlag, wie ein kleiner Blitz, so sehr ähnelte er seinem Vater. Die Art, wie er sich bewegte, manchmal den Kopf drehte und lächelte... Ja, da war Takeo. Ganz eindeutig.

Takeo war immer noch bei ihr. Er würde immer da sein, dass wusste sie nun, so oft sie ihren Sohn ansah. Milde lächelte sie zu ihm herab.

"Was meinst du denn, was ich tue?"

"Naja... Ich weiß nicht. Du... bist irgendwie so komisch."

Madoka lachte leise.

"Komisch? Nun ja, ich bin... ein bisschen traurig, weißt du? Ich hab dir doch mal von deinem Vater erzählt, oder?"

Takeos Augen leuchteten auf.

"Ja, das war doch der tolle Schwertkrieger! Der, der alle schlagen konnte, so stark war er! Ich will auch mal so stark werden!"

Madoka strich ihm liebevoll durch das Haar.

"Aber sicher wirst du das. Ganz bestimmt. Denn dein Vater schaut dir ganz sicher vom Himmel aus zu, von dort, wo seine Seele ist. Und wenn dir danach ist, dann kannst du hierher kommen und ihn besuchen, weißt du? Sein Körper wurde nämlich hier begraben."

Sie deutete unter den alten Baum.

Der kleine Takeo schaute plötzlich nicht mehr ganz so fröhlich drein.

"Warum ist hier kein Grab?", fragte er dann.

"Wenn hier ein so großer Schwertkämpfer begraben liegt, warum ist hier dann kein Grab? Wo sind denn die Blumen?"

"Oh, er hat doch diesen Baum, Takeo. Der schützt ihn und wacht über ihn. Es ist der älteste und schönste Baum des Parks, findest du nicht?"

Als er nicht antwortete fügte sie hinzu:

"Du kannst ja das nächste Mal Blumen mitbringen, wenn du es möchtest."

Schon strahlte er wieder. Kinder waren so leicht zu erfreuen. Zumindest manchmal...

"Ja, das nächste Mal werd ich Blumen mitbringen! Oder nein, noch besser: Ich mach ihm ein Bambusschwert! Onkel Shido hat mir gezeigt wie man das macht! Was soll ein Schwertkämpfer schon mit Blumen anfangen."

Sie nickte. "Das klingt... durchaus logisch."

Aus einem Impuls heraus zog sie ihn dann in ihre Arme und hob ihn hoch. Sie drückte ihn fest an sich.

Einige Passanten drehten sich lächelnd zu ihnen herum.

"Mamaaa...", quengelte Takeo.

Sie küsste ihn und setzte ihn wieder auf den Boden, wo er sich umgehend die Wange abwischte und lautstark "Bähh!" machte.

"Takeo, du weißt hoffentlich, dass ich dich sehr doll lieb habe?", sagte sie nun leise uns ließ sich in die Hocke sinken, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte.

"Ich liebe dich. Du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas bedrückt, hörst du?"

Takeo nickte. "Klar.", sagte er schlicht.

Dann sauste er davon, zurück zu Shido-san, der es sich auf einer Bank in der Nähe bequem gemacht hatte und Zeitung zu lesen versuchte. Madoka hatte Shido zwar das Lesen beigebracht - doch der junge Mann hatte nach wie vor Schwierigkeiten damit vor allem lange Texte zu verstehen. Er brauchte oft Stunden für eine Tageszeitung - wenn er denn überhaupt so viel Geduld aufbrachte.

Meist spielte er ohnehin am liebsten mit dem kleinen Takeo. Es war wie Madoka gesagt hatte: Er hatte einen neuen Freund gefunden.

Madoka sollte niemals erfahren, warum gerade SIE es gewesen war, der all diese Dinge wiederfuhren. Allerdings war das auch jetzt nicht mehr wichtig. Alles was zählte war, dass sie nicht eine Minute von dem, was sie erlebt hatte, bereute. Der kleine Takeo war all das wirklich wert gewesen.

"Dies ist dein Sohn, Takeo.", flüsterte sie und sah lächelnd dabei zu, wie Shido und der Kleine fangen spielten.

"Kannst du ihn sehen? Er ist wie du. Wir sollten beide über ihn wachen, nicht wahr?"

Der Wind nahm zu und herabgefallene Blätter begannen unter dem Baum einen wirbelnden Tanz aufzuführen. Eine besonders heftige Windböe erfasste sie, trug sie zum Himmel hinauf, wo sie taumelnd und schaukelnd weitergetragen wurden, hinein in den spätnachmittäglichen Himmel, hinein in den sanften, orangeroten Schein der untergehenden Sonne.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Schalmali
2007-03-19T21:46:10+00:00 19.03.2007 22:46
Hach wie süß... mehr gibts dazu schon gar nicht zu sagen :)
Von:  Rogue37
2007-02-09T08:01:54+00:00 09.02.2007 09:01
Hach snief, das ist so süß. Ta-chan <grins> Aber ihm ausgerechnet den Namen seines Vaters geben, na, ich weiß nicht. Andererseits warum eigentlich nicht. Unendlich viele Länder halten es so, dass der Sohn den Namen des Vaters fortführt. Von daher ... Und irgendwie ists ja auch süß.

Übrigens muss ich herzlich lachen, wenn ich mir Shido beim lesen vorstellen soll. Das glaub ich dir ungesehen, dass ser dafür kaum GEduld aufbringen kann.

Und die Idee mit dem Baum gefällt mir. Ein dauerhaftes Grabmal. Irgendwie sehr schön.


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