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Blutbande

Es ist ihre Welt
von

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Und so trinkt nur so viel von ihrem Blut, wie in einen silbernen Becher passt.

Lasst sie weder leiden, noch tötet sie.

Wer sie tötet ohne Grund, soll genauso zugrunde gehen, wie seine Opfer.

Alle Zünfte sollen dies als oberstes Gesetz halten.

Jeder, der sich darüber erhebt, hat als Preis seine Existenz zu zahlen.
 

(Quelle: Zeile 11-16, Artikel 1, "Blutbande")
 

Wie gewöhnlich machte sich Cal nach der Schule auf den Heimweg. Hier und da machte sie ein paar Umwege, wie sie es immer tat. Das Mädchen hatte es nicht eilig nach Hause zukommen, zu viel Arbeit wartete dort auf sie. Gedankenversunken schlenderte sie die lange Sankt-Gillian-Street hinunter. An den großen Mietskasernen vorbei, zu der verloren wirkenden Gründerzeitvilla, die da von beiden Seiten von zwei riesigen Wohnblöcken bewacht wurde. Die Besitzerin war eine nette alte Dame. Ab und an hatte sie Callista zu sich ans Fenster gewunken, mit ihr geredet und ihr Gebäck gereicht. Da drang auch dieses Mal wieder die bekannte Stimme an Cals Ohr. Freundlich winkte die Besitzerin ihr zu. Das Mädchen machte kehrt. Die rostige Gartentür quietschte, als ob man sie jahrelang nicht benutzt hätte.

Die alte Dame begrüßte Cal freundlich und reichte ihr selbstgebackene Kekse; die Form der Kekse war nicht sehr unebenmäßig, was auf die Backkünste der alten Frau hinwies. In irgendeiner Weise schien die Frau heute beunruhigt. Ihr Blick irrte wirr in der Gegend umher. An sich sah sie auch erschöpfter aus, als habe sie die letzten Nächte nicht geschlafen. Ihre Augen wirkten klein, ihre Haut fahl und als Cal die Kekse entgegennahm bemerkte sie das Zittern ihrer Hände.

"Sagen sie, was beunruhigt sie denn so?", erkundigte sich Cal. Die alte Dame schenkte dem Mädchen ein Lächeln, so wie Alte immer lächeln, wenn die etwas Wichtiges wissen, es aber aus dem Wissen um die Gefahr nicht preisgeben wollen.

"Ach, mein Kind, du kennst die Gefahren in diesem Viertel einfach nicht. Ich will dir nicht jetzt schon, in so jungen Jahren, eine solche Bürde aufhalsen", entgegnete die Frau. Ihre Augen blickten Cal dabei so sanft an, dass jegliche Neugierde hätte ersticken müssen.

"Ich bin mir sicher, dass ich damit umgehen kann", äußerte sich das Mädchen. Die alte Frau zierte sich jedoch und dieses Frage-und-keine-Antwort-Spiel ging noch einige Minuten so. Langsam kam es Callista in den Sinn, dass die Frau wollte, dass sie von den beunruhigenden Tatsachen erfuhr. Fast wollte sie schon aufgeben, da verdunkelte sich auf einmal die angeheiterte Miene der Frau und geheimnisvoll leise begann die: "Versprich, dass du dich nicht unnötig in Gefahr begibst! Ich weiß, dass bald meine Zeit kommt und das Wissen um die Menschen hier möchte ich nicht mit in mein Grab nehmen. - Tu es als die Spinnereien einer alten Verrückten ab... aber es gibt in Blackurb Vampire. Einige an der Zahl."

"Gute Frau, das meinen Sie doch nicht ernst! Wahrscheinlich sehen Sie nur nicht mehr gut oder vermischen Traum mit Wirklichkeit - ", bemerkte Cal enttäuscht. Sie hatte ein wirkliches, ein reales, Geheimnis erwartet.

"Glaub mir, mein Kind, ich selbst bin halb Mensch, halb Vampir. Ein Halbwesen, wie sie es nennen", bekräftigte die Frau ihre Aussage. Callista schüttelte ungläubig den Kopf. Die alte Frau wollte ihr wohl einen Streich spielen. Sie wusste, dass die Dame geistig ziemlich fit für ihr Alter war.

"Doch ich denke, dass sie mich bemerkt haben - sie mögen keine Halbwesen, sie jagen sie bis in den Tod - in letzter Zeit habe ich immer öfter Vampire in dieser Gegend gesehen. Zu viele, als dass sie nur zufällig hier sein konnten. Nun, du magst mir nicht glauben, dennoch lass mich dir ein paar Namen nennen, damit du weißt, vor wem du dich in Acht nehmen musst! Hüte dich vor Heyburn, Zhorel und Faucon. Es gibt sicherlich noch mehr in dieser Gegend, doch kenne ich sie namentlich nicht. Du erkennst die meisten an ihrer vornehmen, ungewöhnlichen Ausdrucksweise. Pass auf dich auf mein Kind, ich muss jetzt gehen, damit du ihnen nicht auch noch ins Fadenkreuz gelangst..." Die Frau wandte sich ab.

"Wartet! Woher soll ich wissen, dass ihr nicht lügt?" Die alte Dame hielt ihr einen Ausweis aus dem Jahr 2153 hin. Verdutzt starrte Cal den Ausweis an. 2153? Jetzt war es 2300! Das normale Sterbealter lag heutzutage bei 95 Jahren. Wie sollte diese Frau 147 Jahre alt geworden sein?

"Isabelle Vermont. Ja, damals war ich auch so hübsch wie du. Leider hat das mit der Zeit nachgelassen..." Cal begriff, diese alte Dame meinte ernsthaft, was sie sagte. Ihr Gegenüber bemerkte Cal's Gesinnungswandel und begann zu erklären.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte die alte Frau wirklich Recht und es gab Vampire? Hier in New London? Das war einfach schwer vorzustellen. Und dann sollten sie noch organisiert leben. Das kann einfach nicht wahr sein! Wie sollte es auch? OK, dann ist es eben ein medizinisches Wunder, dass diese Frau 147 Jahre alt geworden ist. So etwas gibt es. - Aber nein, Callista, was willst du dich belügen, du glaubst ihr. Ihr und ihrer Geschichte. All die Einzelheiten, die sie von früher erzählt hatte, können nicht erlogen sein, dazu klangen sie viel zu realistisch! Sollte ich es probieren? Sollte ich diese Leute mit ihrer Identität konfrontieren? Und wenn ich es tue, sollte ich vorsichtshalber Theater spielen...

Es war später Nachmittag als Cal nach Hause kam. Ihre Elter waren wie immer auf der Arbeit und würde erst gegen Mitternacht zurückkommen, nur um dann etwas zu essen und spätestens nach sieben Stunden wieder zur Arbeit zu fahren. Das Leben in New London war nicht leicht und erst recht nicht billig. In den letzten zehn Jahren waren die Preise für Wohnungen explodiert. Mieten hatte sich verdreifacht und die Lebenserhaltungskosten, wie der Staat es so schön nannte, waren so hoch, man hätte vor fünfzehn Jahren eine ganze Schulklasse damit ein Jahr durchfüttern können. Doch nicht nur in New London war das so, alle Großstädte waren zu lebensfeindlichen Räumen geworden. Cal konnte froh sein, wenn ihre Eltern das Schulgeld bezahlen konnten. Das war auch so eine geniale Idee der Regierung im 21. Jahrhundert gewesen: Bildung käuflich zu machen. Proteste dies wieder rückgängig zumachen, scheiterten jedes Mal an dem Einfluss der Reichen.

Cal macht es sich auf ihrem Bett gemütlich. Die Wohnung war nicht allzu groß. Sie bestand aus drei Zimmern, einem Schlafzimmer, der Küche und dem Bad, und dem Flur. Das eine Schlafzimmer teilte sie sich mit ihren Eltern und zugleich wurde es als Wohnzimmer genutzt. Es war das größte mit seinen neun Quadratmeter Grundfläche. Die Küche und das Bad mit ihren je zwei Quadratmetern waren kaum des Erwähnens wert. Doch für diese dreizehn Quadratmeter Wohnfläche mussten ihre Eltern immer hin neuntausend Dollar bezahlen. Es war die Hölle auf Erden. Sie als die einzige Tochter musste sich nach der Schule um den Haushalt kümmern, da ihre Eltern sonst nicht die geringste Freizeit gehabt hätten. Jede Nacht erledigte sie in der Küche noch ihre Hausaufgaben, nachdem sie für ihre Eltern gekocht und geputzt hatte. All ihren Klassenkameraden ging es auch so. Es war ein hartes Leben mit nur wenig Aussicht auf Besserung. Den Traum von Prinzen in der strahlenden Rüstung auf seinem weißen Ross haben wir schon längst aufgegeben, dachte Cal bevor sie einschlief.
 

Enthusiastisch klopfte das Mädchen an die schwere Buchenholztür. Leise Schritte näherten sich von innen der Tür. Mit einem Ruck wurde die Tür geöffnet. Überrascht sah der Wohnungsbesitzer das Mädchen an.

"Guten Abend, der Herr. Cal Anthes, mein Name!", überschwänglich schlug dem Besitzer die Begrüßung entgegen.

"Äh, Seraphin ... Seraphin Faucon. - Was wollen Sie um diese späte Uhrzeit hier?", fassungslos starrt Seraphin Cal an. Daraufhin trat das Mädchen nervös auf der Stelle. Betreten sah sie zu Boden. Unvermutet blickte sie auf einmal hoch, legte ihren Kopf zur Seite und lächelte Seraphin an.

"Sie sind doch ein Vampir, oder?" Fröhlich wippte sie von einem Bein auf das andere. Panik trat in Seraphins Augen. War das ein Scherz, oder wusste dieses Mädchen wirklich, wer er war?

"Was wollen Sie? Wer sind Sie?", kam prompt die Antwort.

"Ich hab' gehört, dass Sie manchmal ... unter Blutarmut leiden". Mit ihrer rechten Hand warf Cal ihre Haare in den Nacken. Provozierend hielt sie dem Mann ihren nackten Hals hin und legte ihren Kopf abermals zur Seite. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Und?" Schlagartig schloss sich die Tür vor Cals Nase. Unentmutigt klopfte sie ein weiteres Mal an die Tür.

Auf der anderen Seite lehnte sich Seraphin an die geschlossene Tür. Mit einer Hand griff er sich an den Kopf. Was sollte das? Das Mädchen war höchstens achtzehn und sehr hübsch. Was wollte es hier? Hatte James Heyburn, der Mieter über ihm, das Mädchen organisiert? War das ein schlechter Scherz seiner Freunde? Sonst wusste niemand, dass...

"Na, was ist jetzt? So ein Angebot bekommen Sie bestimmt nicht alle Tage!", hallte es vom Flur, "Ich warte nicht ewig. - Wollen Sie mich nicht rein bitten?"
 

Kurze Zeit später. Seraphin öffnete die Tür, was er dort sah erschrak ihn. An der Wand des Flurs gelehnt saß Cal, die mit einer Haarsträhne spielte. Freundlich sah sie zum ihm hoch. Damit hatte er nicht gerechnet, nicht mit so einer Hartnäckigkeit. Aber was wollte sie?

Flink stand sie auf und stand neben Seraphin: " Darf ich?" Ungebeten trat sie in Seraphins Wohnung.

"Euch Vampire muss man immer zu eurem Glück zwingen!" Erstaunt über die teure Einrichtung und die Großzügigkeit der Räume, ging sie den Wohnungsflur entlang.

Eine kalte Hand legte sich auf ihre Schulter und strich ihre Haare nach hinten.

"Sie bieten mir ihr Blut an? Obwohl Sie nicht wissen, ob ich wirklich bin, was Sie zu wissen glauben", flüsterte er Cal ins Ohr. Sie nickte, wobei ein leichter Schauer über ihren Rücken lief.

Ob es wirklich richtig gewesen war hier herzukommen? Cal wurde es mulmig zu Mute. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Das Blut in ihren Adern pulsierte, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Beißt er jetzt zu? Oh mein Gott, lass die alte Frau nicht Recht haben, lass ihn ein Mensch sein!

Die kalte Hand war plötzlich nicht mehr da und auch der lauwarme Atem fehlte. Seraphin war an Cal vorbeigegangen. Die letzte Tür des Flurs hatte er als einzige offen stehen lassen. Seraphin saß gemütlich auf einem dunkelblauen Sofa und wartete auf Cal.

"Woher wissen Sie von meiner Herkunft?", begann der Vampir.

"Du. - Von... von einer alten Frau. Die am Ende dieser Straße lebt", antwortete Cal. Ein kalter Schauer lief ihr erneut den Rücken hinunter, als sie sich neben Seraphin setzte.

Der Vampir hatte schon seit Wochen kein Blut mehr getrunken. Wochen ohne Blut waren für Manchen seiner Art gar nicht vorstellbar. Er aber hatte ausgeharrt. Und jetzt bot ihm jemand freiwillig sein Blut an. Ein, im wahrsten Sinne des Wortes, blutjunges, schönes Mädchen. Bemerkt hatte Seraphin schon, dass das Mädchen unruhig wurde, aber er verdrängt es. Das Einzige, was jetzt zählte war sein unstillbarer Durst nach Blut. Diese Nacht würde blutig für Cal enden.
 

Zögernd öffnete Cal ihre Augen. Sie lag in einem fast vollkommen dunklen Raum. Ein paar Sonnenstrahlen drangen in das Zimmer ein. Ein pochender Schmerz breitete sich von Cals Hals aus. Automatisch griff sie danach. Ein Verband. Ihre schmalen Finder glitten über die raue Oberfläche. Eine Stelle klebte. Zögerlich zog das Mädchen ihre Hand zurück und betrachtete die klebrige Flüssigkeit. Was ist das? Es riecht wie...Blut? Blut. Was ist passiert? Warum liege ich in diesem Bett? Wo ist der Vampir? Er saß neben mir auch dem Sofa und dann war da der fürchterliche Schmerz. Hat er mich gebissen? Sie leckte über ihre Fingerspitze. - Es schmeckt wie Blut. Es kann nicht anders gewesen sein.

Um sich herum erkannte Cal neben dem Bett, in dem sie lag, einen kleinen Tisch und etwas, das aussah, wie ein Stuhl, oder ein Gestell.

Da lag sie nun vollständig regungslos. Mit jeder Minute, die verging schien der Raum kleiner zu werden. Gefährlich rückten die Wände näher. Das war zuviel für Callista. Ruckartig versuchte sie sich aufzurichten. Ihr gelang es aber nicht. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Kraftlos sank sie zurück ins Bett. Der Raum schien sie erdrücken zu wollen. Immer näher. Immer enger. Panisch stieg in Cal das Gefühl auf nicht mehr atmen zu können. Ihre Kehle zog sich zu, ihre Lungen schienen wie zugeschnürt. Nicht einmal schreien konnte sie.

In diesem Augenblick betrat Seraphin das Zimmer. Das Licht ging an und das ganze Zimmer sah vollkommen friedlich aus. Das warme Licht ließ den Raum größer und unglaublich freundlich erscheinen. Als er die panische Angst in Cals Augen bemerkte, trat der Vampir an ihr Bett. Seine Hand legte er auf Cals Stirn und prüfte, ob sie Fieber hatte. Danach fühlte er ihren Puls.

"Alles ist in Ordnung. Du hast weder Fieber, noch müsste man sich um deinen Blutdruck Sorgen machen." Nachdem Seraphin das gesagt hatte, lief er ans Fenster und zog einen der Vorhänge zurück. Cal kniff die Augen zusammen, als das grelle Licht der Mittagssonne das Zimmer durchflutete.

"Argh, - ich dachte ihr Vampire seid lichtscheu und zerfallt zu Staub, wenn ihr mit Sonnenlicht in Berührung kommt", Cals Bemerkung klang gequält.

"Du hast wohl zu viel Dracula gesehen!", entgegnete Seraphin spöttisch, wand sich ihr dann aber wieder mit ernstem Gesicht zu, "Warum hast du das gemacht?" Stille. Das Mädchen getraute sich nicht zuantworten. Noch wollte sie Vorsicht walten lassen und diesem Vampir, es hatte sich jetzt ja bewiesen dass er einer war, nicht allzu viel vertrauen. Seraphin schien zu akzeptieren, dass sie nicht antworten wollte und schickte sich an zu gehen.

"Ich...", begann Cal kurz bevor der Vampir das Zimmer verlassen hatte. Rasch drehte sich Seraphin um.

"Ja? Gibt es noch irgendetwas, was ich für dich tun kann?" Cal verneinte, dann verließ Seraphin den Raum.
 

Ihr seid keine Monster. Nein, ihr seid nur unser Spiegelbild. Ihr seid das, was sich hinter unseren tausend Masken verbirgt. Ihr seid das Tier in uns und zugleich seid ihr uns überlegen.

Ihr Vampire kennt unseren verzweifelten Kampf gegen uns selbst. Ja, jahrelang habt ihr uns dabei zugesehen. Endlich sind wir darauf gekommen, wer uns all dies beschert hat. Ihr wart es nicht, denn ihr handelt nur wie Tiere und nehmt nur, was ihr wirklich benötigen...
 

Ich bin ein Vampir,

Ich kann's einfach nicht lassen!

Nachts treibt mich die Gier

Hinaus in die dunklen Gassen.

Frisches rotes Blut

aus pulsierenden Adern

Gibt mir neuen Mut,

lässt mich nicht mehr hadern.
 

Seraphins Wohnung lag im dritten Stock. Von der Straße aus konnte man durch ein Fenster in seine Wohnung blicken. Aber meistens versperrte ein schwarzer Vorhang den Blick, was nicht verwunderlich in dieser Gegend war. Fast neunzig Prozent der Bewohner von Blackurb waren arbeitslos, hatten mit Drogen und Alkohol zu tun oder waren Verbrecher. Jedoch genau diesen Ruf machten sich ein paar Leute der Oberschicht zu nutze. Klamm heimlich bauten sie so manche Wohnungen zu waren Palästen aus und nutzen diese sogleich als Rückzugsmöglichkeit für den Notfall. So manche wilden Orgien wurden in diesem Bezirk schon gefeiert. Der Lärm schien aber keinen zu stören, denn jeder hatte hier Drecken am Stecken oder er war ein Vampir.

Ein gros der Vampire lebte in solchen Bezirken wie Blackurb. Es störte niemanden, wenn man spät abends das Haus verließ und erst kurz vor Sonnenaufgang wiederkam. Die Gassen waren eng, verwinkelt und dreckig. Wobei man das letztere einfach in Kauf nehmen musste, wollte man ungestört als Vampir sein Dasein fristen.

In dem Haus, in dem Seraphin wohnte, gab es noch drei weitere Vampire. Von zwei wusste er durch einen Freund und die Dritte kannte er persönlich. Reginae Zhorel, eine sehr alte Freundin. Er hatte sie auf seiner Reise nach Griechenland kennen gelernt. 1921, wenn er sich recht erinnerte. Es wäre eine gute Idee sie anzurufen. Vielleicht konnte Reginae ihm mit diesem Mädchen helfen. Zögernd griff er zum Telefon und betätigte das Adressbuch.
 

"Biep. Biep. Biep", erschalte es aus dem Flur. Hektisch rannte Reginae zum Telefon.

"Der Teufel persönlich, wie kann ich helfen?", erklang Reginaes Stimme mit einem Hauch Ironie und etwas genervt.

"Reginae, ich bin es Seraphin."

"Ah, hallo! Was gibt's, wieso rufst du an und kommst nicht hoch?"

"Ich habe ein Problem..."

"Eins mit vier Gliedmaßen und Blut in den Adern?" Obwohl Gi's Bemerkungen oft oberflächlich und beiläufig klangen, wusste sie genau, wie es um andere und vor allem um Seraphin stand, wenn sie seine Stimme einen Augenblick hörte. Mitmenschen und -vampire schienen für Gi ein offenes Buch zu sein, sie musste es nur aufschlagen und darin lesen.

Schweigen.

"Nun, ich nehme an, dass es sich um 'ne Frau handelt, nicht wahr?", harkte Gi nach.

"Ja, ein Mädchen, sie ist sechzehn. Höchstens achtzehn", murmelte Seraphin immer wieder erstaunt über Gi's Treffsicherheit.

"Das gibt's doch nicht! Was will denn unser Seraphin mit einem Teenager? Unser kluger, vernünftiger Seraphin und ein aufgedrehtes Girlie. Sag, bist du in Ordnung?", Gi klang unglaublich sarkastisch, " Gab's da irgendwie ein Versehen, dass du dich jetzt mit 'ner Sechzehnjährigen rumschlägst? Es ist lange her, dass du überhaupt Frauenbesuch hattest, außer mir natürlich. - Na, was war gestern los, dass du jetzt 'ne Teenager bei dir hast?"

"Sie stand vor der Tür und schien zu wissen wer ich bin", kam die Antwort von Seraphin.

"Du machst Witze? Wie sollte sie von deiner Identität wissen? Das wissen doch nur andere Vampire, wenn sie ein Mensch ist kann sie's eigentlich nicht wissen...", Gi schien nachzudenken, " Von wem sollte sie's wissen?"

"Sie sagte von der einer alten Frau am Ende der Straße."

"Warte ich komm runter!" Das Besetztzeichen drang an Seraphins Ohr.
 

Derweil hatte sich Cal auf den Bettrand gesetzt. Wie sie das geschafft hatte, konnte sie nicht sagen. Ihre linke Hand, die die ganze Zeit an ihrem Hals geruht hatte, glitt nun zur ihrer rechten auf ihren Schoß. Was war heute für ein Tag? Wenn gestern der Tag war, an dem sie zu dem Vampir gegangen war, müsste heute Dienstag sein. Dienstag? Oh, bitte nicht, wenn meine Eltern erfahren, dass ich nicht in der Schule war? Dabei mühen sie sich schon für das Schulgeld so ab! Wie spät ist es? Lohnt es sich jetzt noch zum Unterricht zu gehen? Verdammt, hier ist nirgends eine Uhr! Scheiß Vampirhaushalt! Als sie aufstand zitterten ihre Knie, vorsichtig und langsam tastete sich Cal Schritt vor Schritt zur Tür. Aus dem Flur drang eine aufgeregte weibliche Stimme. Andauernd hörte man diese Frau laut seufzen. Behutsam drückte Cal die Klinke herunter und trat auf den Flur. Doch sie schien nicht leise genug gewesen zu sein. Augenblicklich stand eine Frau neben ihr und musterte sie. Sie schien um die zwanzig zu sein, wenn sie ein Mensch war.

"Also das ist wirklich ein handfestes Problem. Mit Hand und Fuß", witzelte die Frau. Wie eine feilgebotene Kuh stand Cal auf dem Flur und wurde kritisch von der Frau gemustert. Unerwartet legte die Frau den Arm um Cals Schultern und drängte sie sanft in Richtung Wohnzimmer.

"Mein liebster Seraphin, du hast wohl echt keine Ahnung, wie man mit jungen Mädchen umgeht. Geh mir lieber 'was zu essen kaufen. Ich kümmere mich um das Mädchen!"

"Wie du meinst, Reginae." Seraphin war erleichtert, dass der Vorfall für Reginae keine große Sache schien. Er hätte keinen blasse Schimmer gehabt, was er mit dem Mädchen hätte anstellen sollen oder was das Mädchen von ihm erwartete und wenn er ehrlich war, sein Blutdurst war vorerst gestillt, jetzt war ihm vieles egal. Auch ob sich irgendein Mädchen in seiner Wohnung aufhielt. Wenn sie ihn gestört hätte, hätte er sie irgendwie beseitigt und aus seiner Wohnung bekommen.
 

"Nun, meine Kleine, erzähl mal! Wie kommst du hierher? Wie heißt du und wie kommst du auf diesen Blödsinn?", erkundigte sich Gi behutsam.

"Erstens ist das kein Blödsinn! Sonst hätte er ja nicht mein Blut getrunken und zweitens - "

"Ruhig, Kleine! Fangen wir von vorne an. - Wie heißt du?"

"Cal."

"Und weiter?"

"Callista Anthes." Das Mädchen drehte nervös eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares.

"Wie alt bist du? Gehst du zur Schule?"

"Ich bin siebzehn und gehe zur Christian-de Duve-Schule. Eigentlich müsste ich jetzt auch dort sein."

"Wann fängt denn dein Unterricht an?"

"Um sieben."

"Nun, da haben wir noch etwas Zeit. Es ist gerade mal kurz nach sechs. Wenn wir alles geklärt haben, bringe ich dich dahin, einverstanden?"

"Was müssen wir klären? Er hatte mein Blut und damit hat sich's!"

"Da irrst du dich."

"Wieso? Ihr könnt mich nicht festhal- " Da legte ihr Reginae den Zeigefinger auf die Lippen.

"Psst! Wir kriegen das schon hin. Keine Sorge. - Wo wohnst du?"

"In diesem Block. 2 R7 bei meinen Eltern. - Bringt ihr mich um?"

"Nicht, wenn du mir hilfst zu verstehen, Callista. Ich möchte dir helfen, auch wenn es nicht so aussieht", sagte Gi lächelnd, "Du bist viel zu hübsch, als dass du zu einer Tranktoten werden solltest."

"Wo ist er jetzt hin?"

"Mir 'was zu essen holen! Aber Spaß beiseite. Woher kennst du seine Identität?"

"Von der alten Dame in der Sankt-Gillian-Street. Ich kenne ihren Namen nicht. Wobei... Sie hat mir ihren Ausweis gezeigt. Isabelle oder ähnlich. Sie nannte mir Namen, die, wie sie sagte, gefährlich für mich sein könnten."

"Und als erstes besuchst du natürlich die Genannten? Entweder bist du vollkommen naiv oder... Ach, was weiß ich!" Gi schüttelte unverständig den Kopf. "Erzähl weiter, bitte."

"Was ist dabei? Was habe ich zu verlieren?" Callista hielt inne und stand auf, "Seht mich an. Ich bin ein siebzehnjähriges Mädchen ohne wirkliche Zukunft. Meine Bildung können meine Eltern bald nicht mehr bezahlen. Mein Vater wird kranker. Die Ärzte geben ihm noch ein halbes Jahr, dann wird meine Familie finanziell mit ihm sterben und ich werde eine Hure, die von alten, reichen "Bürgern" genommen wird, wo und wann sie wollen. Hätte diese blendende Zukunft mich von meiner Tat abhalten sollen? Ich habe nur ein Leben, keine tausend wie Ihr. Ich kann nicht auch eine bessere Welt warten!" Reginae war ebenfalls aufgestanden und strich Cal über die Wange.

"Komm, lass uns zu mir gehen, damit du erstmal bessere Kleidung bekommst." Sanft fasste sie Callistas Hand und führte sie durch den Flur und das Treppenhaus zu sich in die Wohnung.

"So", Gi stieß eine mahagonifarbene Tür auf, "Hier ist das Bad. Lass dir Zeit. Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich ruhig. Ich suche dir was zum Anziehen." Bevor die Frau in den vielen Räumen verschwinden konnte, packte Callista ihr Handgelenk.

"Schweigen ist für deine Freundlichkeit der Preis, nicht wahr?" Reginae drehte sich um und sah ihr ernst in die Augen: "Schweigen bis zum Tod, meine Kleine." Cal nickte und schloss die Badezimmertür hinter sich.

Sie ist nicht dumm, die Kleine, kam es Gi beim Aussuchen der Kleider in den Sinn.

Zwischen Schwarz, Dunkelschwarz und Nachtschwarz fahndete sie verzweifelt nach etwas Farbigen für ihren jungen Gast. Da fiel ihr auf einmal ein Stapel Seidenkleider entgegen unter dem sich ein zart auberginefarbiges Kleid befand. Erleichtert warf der Vampir es auf ihr Himmelbett. Kurz darauf hatte sie ebenfalls Schuhe, Strapse und Unterwäsche gefunden.

"Na, mal sehen, ob ihr das gefällt", murmelte Gi schlussendlich, als sie sich neben den Haufen schwarzer Kleider auf den Boden gleiten ließ.
 

Callista derweil ergötzte sich an dem Badezimmer, dass sie an den Barock und seine verschwenderische Pracht erinnerte. Ihre Kleider lagen durcheinander auf dem Boden. Das eingelassene Wasser dampfte und alle Spiegel begannen zu beschlagen, während Callista in Schaumbergen badete. Der Duft von Rosen, Lilien und Lavendel umnebelte ihren Verstand, dass sie umso erschrockener aus dem Wasser aufsprang, als Reginae das Bad betrat.

"Hübsch, hübsch", bemerkte diese beim Anblick der Nackten, "Wann bist du denn fertig? Du badest seit zwanzig Minuten. Irgendwann möchte ich schon fertig werden." Der Vampir warf ihr ein Handtuch zu, setzte sich auf einen Polstersessel und wartete, bis Callista mit dem Abtrocknen fertig war.

"Fertig, Kleine?"

"Ja. Wohin jetzt?"

"Einfach mir folgen, ich hoffe, dass kriegst du noch hin!", grinste Reginae und tauchte in den Flur ein. Callista folgte ihr so schnell sie konnte, bis beide in dem wüsten Chaos aus schwarzen Klamottenbergen standen.

"Ähm, nun ja, das Schwarze nicht. Aber wie wäre es hiermit?" Gi deutete auf das ausgesuchte Kleid.

"Wie?", erkundigte sich Callista unglaubwürdig, "Das da?"

"Was denn sonst? Es sei denn du hast was im Petto!", uzte der Vampir Callista, die sich schnell daran machte das Kleid anzuziehen. Jedoch schien dieser Traum aus Seide mehr Schwierigkeiten als Annehmlichkeiten zu bereiten. Beim ersten Versuch alle Häkchen zu schließen, scheiterten die beiden. Erst beim dritten Mal wollte alles so sitzen, wie es sollte.

"Passt, wackelt und hat Luft. Lass uns wieder runtergehen." Gefügig folgte Callista der Frau.

Schweigen bis in den Tod. Was bleibt mir anderes übrig? Flucht ist eine Illusion und alles Weitere wäre der Tod. Sie ist freundlich und ganz und gar menschlich, möchte ich behaupten, auch, wenn man ihre wahre Art doch eigentlich sofort spürt. Es ist mir ein Rätsel. Nein, sie ist mir ein Rätsel. Sie ist so ganz anders, als er, wie eine Mutter. Wie eine Mutter, die ich nicht hatte.

"Sodele, da wären wir wieder. - Nun hör' mir gut zu, Callista. Wir können dir dein Leben nur lassen, wenn du schweigst. Ich kann nur deine Freundin sein, wenn du Seraphin und mich verleugnest. Lügen und Leugnen kann dich bewahren, alle Liebe zur Wahrheit wird dich töten. Und dabei ist nicht gesagt, ob wir es wären, die dich umbringen würde. So wie du momentan lebst, hast du keine Zukunft. Ich aber kann dir eine geben, wenn du willst. Entscheide dich."

Die Kälte rann durch Callistas Adern. Von den Händen und Füßen Richtung Rückenmark. Dort angekommen schauderte es sie dermaßen, dass sie zu zittern anfing. Adrenalin versetzte ihren gesamten Körper in Alarmbereitschaft. Da entfaltete sich langsam ein klarer Gedanken in dem Wust aus Gefühlen und Ängsten. Sie wollte leben.

"Leben", flüsterte sie dem Vampir entgegen. Bei diesem Wort schloss Reginae sie fest in die Arme und hauchte ihr ins Ohr: "Leben, Lügen und Leugnen, meine süße Callista." Zusammen traten sie in Seraphins Flur und weiter in sein Wohnzimmer. Der Vampir stand schon mit zwei kleinen, weißen Tüten eines Feinkostladens am Wohnzimmertisch und schien Reginae und Callista erwartet zu haben.

"Da sind wir. - Oh, Essen! Wie schön! Ich glaube, ich begebe mich eben mal in die Küche", rief Gi aus, schnappte sich die Tüten und verschwand.

Callista und der Vampir standen sich schweigend gegenüber. Sie wagte es nicht Fragen zu stellen und setzte sich somit in einen Sessel. Ihr Gegenüber tat es ihr gleich. Es vergingen einige Minuten, bis er anfing: "Warum hast du das getan?" Sie blickte ihn aus ihren sanften Augen an zuckte mit den Schultern.

"Das kann nicht sein. Warum hast du es getan, antworte mir!", forderte Seraphin.

"Ich weiß es nicht, Herr."

Da erhob Seraphin sich. Langsam schritt er bis vor das Mädchen und ließ sich vor ihr auf einem Knie nieder. Dann reckte er sich ihr entgegen; seine Reißzähne blitzten weiß.

"Wenn du es nicht weißt, kann ich es gerne nochmals wiederholen. Vielleicht fällt es dir dann ein." Bevor er geendet hatte, öffnete sie ihre vollen Lippen und sprach leise: "Tut, was ihr nicht lassen könnt, Herr."

Elektrisiert von diesem Anblick, brach Seraphin sein Vorhaben ab. Er blickte fasziniert auf ihre Lippen und dann in ihre Augen, immer wieder wechselnd. Ehe er sich versehen hatte, spürte er ihre zarten Lippen auf den seinen. Ein Geschmack von Leben drang zu ihm durch als sich ihr Mund von ihm entfernte. Es war als hätte der Kuss nur im Traum statt gefunden. Unreal erschien ihm die Wärme. Callista blickte ihn an. Er empfand sie wie ein Wesen aus der griechischen Mythologie. Eine kleine, träumerische Nymphe. Eine Illusion.

Abrupt stand er auf, kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ sich darin nieder. Ihr Blick war andauernd auf ihn geheftet wie ein Schatten. Für einen Augenblick vermutete er Regung in ihren Augen zu sehen, doch verwarf er es als eine weitere Einbildung.
 

Eine Stunde später trat Reginae wieder zu den zweien in das Wohnzimmer.

"Na, holla! Was ist denn hier los? So eine Totenruhe... Na, Seraphin, was hast du schon wieder angestellt?", erkundigte sie sich. In dem Moment erhob sich Callista.

"Ich glaube, ich störe hier nur. Ich sollte besser gehen", stellte Cal fest. Bestürzt richtet sich Seraphin auf.

"Du wirst nicht gehen!"

"Wie? Seraphin, was hast du denn jetzt schon wieder? Lass die Kleine doch gehen. Es sei, denn du hast noch etwas mit ihr vor", scherzte Reginae während sie Callista sanft in den Flur schob, "Es ist alles in Ordnung, Seraphin. Sie wird nichts sagen und nun genieße den restlichen Tag. Ich bringe sie in die Schule." Mit diesen Worten waren die beiden Frauen aus der Wohnung verschwunden. Doch ihre Abwesenheit machte es dem Vampir nicht einfacherer. Erst jetzt brachen die ganzen Zweifel in ihm aus. Seraphin verfluchte sich, dass er das Mädchen nicht einfach ignoriert hatte. Doch da musste er an ihre Lippen denken, die so sanft und lebendig waren. Er hätte sie gestern Nacht haben können. Jetzt war es vorbei. Diesen Satz wiederholte er so oft in Gedanken, bis er es glaubte. Pünktlich um sieben Uhr sank er in sein Bett und fiel in einen traumlosen, tiefen Schlaf.
 

Erschöpft sank Callista in ihr Bett. Der Schultag war mehr als irreal vorbeigehuscht. Die zwölf Stunden Unterricht hatten sie so ausgelaugt, dass sich auf Grund der Anstrengung ein dünner Schweißfilm auf ihrer Stirn bildete. Die Blutarmut machte ihr schwer zu schaffen.

Langsam taperte sie in die Küche. In dicke Schwaden hing die trockene, stickige Luft in dem beengten Raum. Zu allererst öffnete Cal das schmale Glasfenster zu einer Decken hohen Lichtquelle, in dem sie Wandverkleidung hochfahren ließ. Frische Luft drang sofort gierig in den Raum und ermöglichte Callista tiefes Durchatmen. Genau das hatte sie gebraucht. Wie Äther durchspülte der Sauerstoff ihren Körper und brachte neue Kraft in ihre müden Muskeln.

Drei Klappstühle ruhten aufgereiht an der kahlen Wand gegenüber der Küchenzeile. Ein cremefarbener Grund und weiße Rauten brachten Struktur in den sonst klinisch wirkenden Raum.

Mühsam öffnete Cal einen der Stühle, ließ sich darauf sinken und seufzte leise: "Ach je... Das scheint alles so... Unreal. So komplett erfunden. - Ach, Mutter, wo bist du nur?"

2

Der Raum war still, nur das Surren der Klimaanlage drang wie das Summen einer altersschwachen Fliege durch die Luft.

Die Zeit floss dahin wie Wachs. Mal unglaublich schnell als tropfe es heiß und flüssig zu Boden. Dann wieder so zäh, dass man an einer Bewegung zweifelte.

Callista verbrachte den Nachmittag bewegungslos in der Küche. Zu viele Gedanken stoben wie Funken durch ihren Kopf. Sie glühten und erloschen daraufhin urplötzlich. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern jemals so orientierungslos gewesen zu sein. So gelassen sie versuchte nach außen zu wirken, so unruhig war es in ihrem Inneren. Nur zu gerne wäre sie aufgesprungen, ins Treppenhaus gerannt und hätte sich bei Seraphin vergewissert, dass alles nicht nur eine Illusion war.
 

Zur gleichen Zeit öffnete Seraphin die Augen. Das rot glühende Licht der untergehenden Sonne fiel durch ein Dutzend Auslassungen in den schweren Vorhängen hin in das Schlafzimmer. Mit gelb, rosa und orange malte eine unsichtbare Hand barocke Muster auf das Parkett.

Sein Schlaf war nicht tief gewesen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte der Vampir wieder geträumt und das verwunderte ihn sehr. Sicherlich waren die Ereignisse außergewöhnlich. Aber derart, dass ich wieder anfange zu träumen? Seinen letzten reellen Traum hatte er um achtzehnhundert gehabt, als die Deutschen seine Heimatstadt Orleans angriffen. Damals hatte er von den blutigen Kämpfen, den Leichenbergen und gellenden Schreien geträumt und gehofft niemals mehr zu schlafen. Damals... als die Deutschen über Paris nach Orleans rückten. Auch jetzt, da Seraphin es alles überwunden haben sollte, quälten ihn die Vorstellungen wie damals seine Mutter von den Soldaten vergewaltigt wurde. Er konnte das Blut zwischen ihren Beinen sehen. Er spürte ihre Hilferufe in der Luft vibrieren. Und er sah wie diese deutschen Bestien ihr schlussendlich die Kehle durchschnitten als töteten sie ein altes Vieh. Sein Bruder und er hatten das Inferno überlebt. Als die Deutschen Frankreich dann verließen, waren sie Mutterseelenallein. Seraphin kaum älter als achtzehn. Die Aufregung dieser vergangenen Tage hatte ihn vergessen lassen. Seinen Namen, seinen Geburtstag und seine Herkunft. Nachdem aller Staub zur Erde gesunken war, alle Leichen verbrannt waren und der letzte Gestank nach Tod verzogen war, schien es, als hätte der Regen alle Erinnerungen hinfort gewaschen.

Mit Widerwillen schüttelte sich Seraphin und versuchte die Erinnerung zu verdrängen. Alsdann schlug er die Daunendecke zurück. Die kalte Luft zog durch den dünnen Seidenstoff seiner Schlafanzugshose. Eine leichte Gänsehaut huschte über den Körper des Vampirs. Blut. Frisches, warmes Blut.

Die Uhr zeigte kurz vor Sechs. Zeit zum Aufstehen und für die Alltagsbeschäftigungen. Wenn er sich recht entsann, musste bald die Putzfrau kommen. Keineswegs wollte der Vampir ihr begegnen. Das schickte sich nicht. Er begann sich anzukleiden. Doch ehe er fertig war, klingelte es Sturm. Hastig warf der Vampir ein Hemd und einen Sakko über. Das Hemd halb zugeknöpft näherte er sich auf der Eingangstür.

"Wer ist da?", erkundigte er sich.

"Kennst du mich nicht mehr?"

"Wer ist da?", wiederholte Seraphin sichtlich genervt.

"Ich bin es! Jean!" Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Sein Bruder? Warum hatte er denn nicht seine Stimme erkannt? Welche Frage sich ihm jedoch viel drängender stellte: Warum war er hier? Seraphin öffnete die schwere Eingangstür und bat seinen Bruder herein.

"Was willst du hier?" Jean trat langsam, fast schwelgend ein. Er schien es zu genießen Seraphin in seiner Unsicherheit auf dem Flur stehen zu lassen.

"Ich wiederhole mich ungern, Jean. Was willst du hier?" Der Gefragte schritt durch den Flur und schaute neugierig durch jede offene Zimmertür.

"Na, wo ist sie denn?", ermittelte Jean.

"Wer?"

"Na, der kleine Appetithappen!"

"Ich weiß nicht wen du meinst."

"Jetzt tu nicht so! Ich meine die kleine Schlampe, die gestern Nacht bei dir war."

"Das geht dich nichts an.", entgegnete Seraphin ernst. Ihm war unwohl bei der Sache. Die Arroganz mit der sich sein kleinerer Bruder seiner Aufmerksamkeit bemächtigte, war gefährlich.

Kurz vor der Wohnzimmertür drehte sich Jean flugs um. Seine grauen Augen durchdrangen Seraphin wie ein Dolch. Wie er seinen Bruder dafür hasste!

"Nun, wo ist sie? Ich mag auch mal von ihr kosten. Junges Blut schmeckt doch noch am Besten!", flüsterte Jean und leckte sich über die Lippen.

"Das geht dich nichts an!", wiederholte Seraphin so langsam, dass der Zorn dahinter für sein Gegenüber sehr gut spürbar war, "Sie ist dir egal. Hast du verstanden? Wenn du weiterhin versuchst sie zu finden, stirbst du ein zweites Mal!"

Plötzlich schlug Jeans fröhliche Überlegenheit in Ernsthaftigkeit um.

"Was soll das? Willst du sie für dich? Hast du sie in Ekstase ausgetrunken?", fauchte der Jüngere zurück und näherte sich Seraphin. Wütend packte dieser seinen Bruder am Hals, hob ihn hoch und warf ihn gegen die Eingangstür. Mit eiskaltem Blick musterte er den leicht verletzten: "Vergiss sie!"

Jean setzte sich unter einem leisen Röcheln auf und blickte gen Decke zu Seraphin. Dann raffte er blitzschnell hoch und raunte: "Pass auf welchen Menschen du über mich stellst, Bruder! Kein Mensch ist das wert! Sie gehört mir. Noch heute Nacht!" Ehe sich der Vampir versah, war Jean aus der Wohnung verschwunden. Nur seine entsetzte Aura war blass wie ein Schleier zu spüren.

Nur wenig von der eben erschienen Gestalt erinnerte Seraphin an seinen Bruder. Die stechenden Augen, die Arroganz. Aber dieses charakterlose Benehmen war nicht seine Art. Die Zeit hatte Jean verändert. Wie lange hatte er seinen Bruder nicht mehr gesehen? Erinnerte er sich recht, dann waren es über einhundert Jahre. Vielleicht hatte den Jungen das einundzwanzigste Jahrhundert so geformt? Vieles hatte sich damals verändert am Anfang. Er dachte zurück an die Zeit, als sie sich noch das Blut brüderlich geteilt hatten. Wie sie nachts zusammen durch Paris gestreift waren und nach hübschen Dirnen Ausschau hielten. Stets elegant gekleidet. Meistens in Armani. Er vollkommen in schwarz, Jean meist mit einem burgunderfarbenen Hemd. Ja, damals war es noch einfach gewesen nicht aufzufallen in all den Massen, die verzweifelt darum bemüht waren ebenfalls teuer gekleidet das Haus zu verlassen. Heutzutage fiel man auf sobald man das Haus verließ. Der größte Teil trug Firmenkleidung und die Schüler die mit Mühe ersparte Schuluniform.

Jean und er. Wie er sich jetzt daran erinnerte machte es ihn nachdenklich. Was war seinem Bruder passiert? Während er überlegte, knöpfte er sein Hemd vollständig zu, zog Schuhe und Mantel an und verließ das Haus.

Als der Fahrstuhl nach drei Minuten um Erdgeschoss ankam, hatte Seraphin beinahe mit dem Vorfall abgeschlossen, da erblickte er Callista, die eilig die einzige Treppe im Haus in den Keller lief. Woher wusste Jean von ihr? Ein paranoider Gedanke packte ihn.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Luna143
2006-12-10T21:20:13+00:00 10.12.2006 22:20
Schreib schnell weiter:-)
Die story ist sau geil
Ich find es immer geil eine story von mehreren Sichten zu lesen...
Ich lieb Vamp geschichten...
*g*
mach schnell weiter
Von:  Schnuckelpunk
2006-05-29T19:53:07+00:00 29.05.2006 21:53
wow! die story ist super ! schreib schnell weiter und schick mir ne ens ,
es ist eine schande das du erst so wenig gute kommis hast,
der jenige der schlechte schreibt wird eigenzähnig von mir ausgesaugt!!!

viele liebe grüße : Kleinervampir
Von: abgemeldet
2005-02-14T21:07:22+00:00 14.02.2005 22:07
Boar geil *.*
ich will wissen was weiter passiert *quängel* >.<''
*liebt schau* Du bist doch so lieb oder? *glitzer augens*

Naja

Mfg
Moony
Von: abgemeldet
2005-02-08T18:14:17+00:00 08.02.2005 19:14
ERste?!!!!!!
wahnsinn!!!!!!
schreib gaaaaaaaaaaanz schnell weiter ja??!!!!!!!!!
gib mir aber auch bitte bescheid, wenn des nächste kap on is!!! ja????
danke bussi schpinnchen


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