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Sirenzia

Land der Hoffnung
von

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Der wahre Schuldige?

Jemand, der Moritz wie aus dem Gesicht geschnitten schien, trat aus dem Dunkeln. Er ging auf uns zu. Alle hielten den Atem an. Man hörte nur noch das gelegentliche Knistern einer Fackel und seine Schritte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er sah erwachsener aus als Moritz. Auch der unverdorbene Ausdruck fehlte auf dem Gesicht des Mannes. Er blieb direkt vor mir stehen. Ich roch sein Aftershave. Es roch fast genau so wie Moritz'. Der Mann nahm mein Gesicht in seine Hand und hob es etwas an.

"So sieht man sich wieder. Ich habe schon auf dich gewartet."

Ich zitterte. Er blickte mir tief in die Augen. Seine Hand wurde weggerissen. Neben ihm stand nun Moritz, der fest sein Handgelenk umklammert hielt.

"Lass sie bloß in Ruhe."

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Moritz' Stimme hatte einen ruhigen, fast monotonen Klang.

"Ich habe kein Problem damit, dich zu töten."

Der Mann riss sein Handgelenk los und rieb es.

"Das habe ich ja bereits gemerkt."

Sein bösartiges Grinsen stand dem Moritz' in nichts nach. Er wirkte fast wie ein Dämon. Anemone hatte Kampfposition eingenommen. Ihre Stimme zitterte.

"Würdest du bitte so freundlich sein, uns aufzuklären, wer das ist? Ihr scheint euch anscheinend so weit zu kennen, dass du ihn umbringen wolltest!"

Moritz hob sein Schert an.

"Das ist mein Vater und bald... ist er nur noch tot! Jegliche weitere Erklärung würde uns unnötig Zeit kosten."

Er stürzte sich mit einem Kampfschrei auf seinen Vater. Anemone und Kevin waren so überrumpelt, dass sie erschrocken zurückwichen. Ruckartig drehte Anemone sich zu mir um und packte mich an den Schultern.

"Du musst uns jetzt unbedingt helfen!"

Bei jeder Silbe schüttelte sie mich kräftig durch. Ich ging einen Schritt zurück.

"Wie meinst du das? Ich bin nicht einmal halb so stark wie einer von euch. Sieht dir doch mal Moritz an!"

Ich blickte in seine Richtung. Er lieferte sich einen erstklassigen Kampf. Was sollte ich überhaupt hier? Warum war ich ausgesucht worden. Oder war es einfach nur Zufall?

"Jetzt reiß dich doch endlich von diesem Anblick los. Ich weiß, dass er adonisgleich aussieht. Aber wenn wir ihm nicht halfen, lässt sein Vater von ihm nur Schaschlik übrig."

Ich blickte Anemone an. Sie ging mir auf die Nerven.

"Und was bitte soll ich tun?" Ein Kerzenhalter fiel klirrend zu Boden.

"Du bist eine Hexe. Also gleichzeitig auch ein Medium. Du kannst gewaltige Kräfte rufen und sie freisetzen."

Kevin trat zu uns.

"Aber woher nehme ich diese Kraft?"

"Von Kismu. Er stellt dir seine Kraft zur Verfügung."

"Was das kannst du nicht machen! Sie könnte..."

Anemone schrie beinah. Kevin legte einen Finger auf Anemones Mund.

"Pssssst. Das weiß ich doch. Aber meinst du nicht, sie würde für ihre Mutter ihr Leben geben?"

Alle schwiegen. Wie meinte er das? Ein lautes Krachen unterbrach das Schweigen. Wir sahen uns um. Moritz' Vater stand mit dem Rücken zum Thron. Moritz holte aus und schlug nach ihm. Er zertrümmerte einen Teil des Herrschersitzes, der bereits sehr lädiert war. Dabei brach sein Schwert bei der Hälfte ab. Er hob den Griff auf Augenhöhe und runzelte die Stirn.

"Scheiße!"

Mit diesem Ausruf schleudert er den Rest des Schwertes quer durch den Raum. Sein Vater fasste sich an die Seite und zog einen großen Spieß raus. In diesem Moment stürzte Moritz sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Sie prügelten sich wie zwei Schuljungs. Ich schloss meine Augen. Ich soll Moritz' Vater mit der Energie eines Gottes töten. Aber es ist doch sein Vater. Könnte er es mir jemals verzeihen? Ich würde es nicht aushalten, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen würde. Ich spürte, wie sich bereits Energie in mir ansammelte. Das Geräusch von Faustschlägen ließ mich die Augen aufreißen. Moritz schlug fortwährend auf das Gesicht seines Vaters ein. Er machte eine kurze Pause, um sich seine blutige Lippe zu wischen. Das nützte sein Vater aus und rammte ihm den Spieß, den er immer noch in der Hand hielt, genau ins Herz. Er zuckte unmerklich zusammen. Moritz stand auf und zog ihn langsam raus. Ein grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Die tiefe Wunde glühte kurz und heilte sich anschließend von selbst. Sein Vater richtete sich ruhig auf und klopfte sich den Staub von seinem dunklen Anzug. Er lockerte den Krawattenknoten.

"Natürlich! Ich war dumm, anzunehmen, ich könnte dich so ausschalten."

Ich spürte weiterhin die Kraft. Sie wurde ständig stärker. Moritz lachte verächtlich auf.

"Was dachtest du denn. Du bist ein Monster und ich bin auch eines!"

Moritz schlug nach ihm aus, doch sein Vater wich aus und startete sofort einen Gegenangriff. Die Kraft in mir war mittlerweile so groß geworden, dass ich begann zu zittern. Anemone hielt mich fest. Ich war nahe dran zusammen zu brechen. Das konnte es doch nicht sein. Warum brach ich bei der kleinsten Anstrengung zusammen? Ich riss mich zusammen und versuchte mich auf den Kampf zu konzentrieren. Alles verschwamm vor meinen Augen. Meine Knie wurden weich. Doch es war der Raum, der bebte. Kaum einer konnte sich mehr aufrecht halten. Keiner bis auf Moritz' Vater. Dieser grinste hämisch. Das Beben hatte aufgehört. Ich richtete mich auf und wollte damit fortfahren, Energie zu sammeln. Doch es war nichts mehr vorhanden. Nun gut. Das machte nicht wirklich was aus. Ich werde einfach von vorne beginnen. Leider war das einfacher gedacht als getan. Ich hatte eine Blockade. Warum ausgerechnet jetzt eine Blockade? Moritz wurde quer durch den Raum geschleudert.

"Verdammt! Jetzt tut doch etwas! Er bringt ihn noch um!"

Anemone und Kevin sahen mich verdutzt an. Doch dann schienen sie zu begreifen, dass ich nicht in der Lage war, die Energie dieses Gottes zu sammeln. Kevin warf Energiekugeln auf Moritz' Vater, der wegen dem Überraschungseffekt davon getroffen wurde. Er stürzte. Anemone wollte mit ihrem Schwert auf ihn einschlagen, doch er rollte zu Seite und richtete sich sofort wieder auf.

"Drei gegen einen. Das ist aber nicht sehr fair!"

Der Kampf ging weiter. Ich war zu Moritz gelaufen und half ihm beim Aufstehen. Als er mich bemerkte, stieß er mich weg und rief:

"Hau ab! Ich brauche deine Hilfe nicht!"

Meine Hand schnellte nach oben und im nächsten Augenblick hatte ich ihn geohrfeigt. Er legte eine Hand auf seine Wange und rieb sie.

"Sag so was nie wieder. Wir wollen dir nur helfen. Sei nicht so eingebildet. Oder willst du etwa, dass dich dein Vater tötet?"

Er blickte zu Boden.

"Nein. Aber willst du, dass mein Vater deine Freunde tötet?"

Diese Frage überraschte mich. Was wollte er damit bezwecken?

"N - nein."

"Wieso hast du sie dann gehen lassen? Sie haben nicht die geringste Chance."

"Aber..."

"Wenn sie sich nicht eingemischt hätten, hätte ich meinen Vater besiegt. Und nur, weil keiner von euch Vertrauen zu mir hat, muss ich meinen letzten Trumpf ausspielen. Ich werde euch alle fort bringen, damit keinem von euch etwas geschieht."

Er schloss seine Augen. Kevin, Anemone und ich begannen zu glühen. Er wollte auch mich fortbringen? Das durfte er nicht. Ich hielt mir vor Augen, was sein letzter Trumpf sein könnte. Was mich sehr stark beunruhigte, war das Wort "letzter". Ich würde hier nicht weggehen. Nicht ohne ihn. Ich klammerte mich an ihn. Anemone und Kevin bestanden nur noch aus Licht und waren kurz darauf verschwunden. Nur ich war noch da. Zusammen mit Moritz. Er sah mich entgeistert an.

"Was? Wieso bist du nicht?"

Ich grinste ihn böse an.

"Du glaubst doch wohl nicht, dass ich hier ohne dich weggehe. So schnell wirst du mich nicht los. Also, entweder weihst du mich in deine Pläne ein, oder ich lasse dich nicht los."

Genervt riss er sich los.

"Jetzt ist nicht die Zeit für deine Spielchen. Stell dich neben den Ausgang und sobald ich loslaufe, läufst raus. Hast du verstanden?"

Ich nickte brav. Ich wusste selbst, dass ich keine große Hilfe für ihn war. Aber ich wollte ihn wenigstens nicht alleine lassen. Ich lief zum Ausgang. Wegen des vielen Schutts, der herum lag, war es ein Slalom. Ich blieb vor dem offenen Tor stehen, bereit loszulaufen. Moritz senkte den Blick und ballte die Hände zu Fäusten. Eine starke Aura ging nun von ihm aus. Sein Vater konnte sich nicht bewegen. Moritz hob seine Brust an. Ein kleiner roter Stein drang aus seiner Brust. Er pulsierte wie ein Herzschlag und schwebte in die Mitte des Raumes. Die Wände zerfielen zu Staub, wie viele andere Sachen in diesem Raum. Genau mir gegenüber lenkte etwas Glitzerndes meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein riesiger Kristall. Und in diesem Kristall befand sich jemand. Selbst wenn ich es nicht durch eine tiefe Verbundenheit gewusst hätte, hätte ihr Äußeres keinen Zweifel daran gelassen: das war meine Mutter.

"Mama!"

Ich stürzte auf den Kristall zu. Moritz, der bereits losgelaufen war, lief in meine Richtung. Er packte mein Handgelenk und zerrte mich zum Ausgang.

"Bist du verrückt geworden? Willst du sterben? Jetzt komm doch endlich!"

"Aber da ist meine Mama! Ich kann sie doch nicht einfach hier lassen! Jetzt, wo ich sie endlich gefunden habe!"

"So! Und glaubst du, es wäre ihr recht, dass du wegen ihr stirbst? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Und ich werde auch nicht ohne dich gehen. Nur um dich zu zitieren. Jetzt komm endlich!"

Moritz zog mich in seine Arme. Der rote Stein wurde größer und stieß ein gleißendes Licht aus. Moritz drehte sich zwischen mich und dem Stein. Im nächsten Moment wurden wir von weißem Licht umhüllt. Ich fühlte mich so, als würde ich schweben.
 

6. Kapitel: Wieder zuhause...
 

Ich fasste mir an den Kopf und spürte eine harte Kruste. Langsam öffnete ich die Augen. Das Licht war zu grell und tat meinen Augen weh. Ich betrachtete die Fingerspitzen meiner rechten Hand, auf denen etwas von der schwarzen Kruste auf meinem Kopf war. Als ich es zwischen den Fingern verrieb, stellte ich fest, dass es getrocknetes Blut war. Ich fragte mich, wie lange ich schon hier gelegen war. Wo war ich überhaupt. Ich richtete meinen Blick in die Ferne. Besonders weit konnte ich trotzdem nicht schauen. Was mir die Sicht versperrte, war das Sofa in dem Wohnzimmer meiner Tante. Aber wie kam ich hier her? Ich war doch gerade noch... oder war das alles nur ein Traum gewesen? Das musste es gewesen sein. Ich bin ausgerutscht, gefallen und habe mit irgendwo den Kopf gestoßen. Jetzt bemerkte ich, dass sich mein linker Arm völlig selbstständig hob und senkte. Ich drehte meinen Kopf nach links. Moritz! Er lag auf dem Bauch und atmete schwer. Dann war es doch kein Traum gewesen! Ich stützte mich auf meinem rechten Ellenbogen auf. Mir tat alles weh, aber ich wollte ihm helfen. Tragen konnte ich ihn nicht, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Ich musste jemanden anrufen. Zum ersten Mal sah ich mich richtig im Wohnzimmer um und was ich sah schockierte mich sehr. Zwei Fensterscheiben waren eingeworfen und auf Boden und Möbeln lag eine Zentimeter dicke Staubschicht.

"Verdammt, was ist hier bloß los?"

Ich ging aus dem Wohnzimmer auf den Gang, nahm das Telefon ab und wollte den Notarzt anrufen, als ich feststellte, dass die Leitung tot war. Ich warf den Hörer auf die Telefongabel. Das gab es doch nicht! Ich ging zur Tür und wollte sie öffnen, aber es ging nicht. Einige Regale waren umgestürzt und ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrutschte. Mir wurde schwarz vor Augen. Konnte es sein, dass ich in meinem eigenen Haus gefangen war? Das gab es nicht! Ich warf mich gegen die Tür. Und das mehr als ein Mal. Meine Schulter begann zu schmerzen. Ich nahm ein letztes Mal Anlauf, rutschte jedoch aus und fiel der Länge nach hin. Wenige Zentimeter neben meinem Kopf ragte ein großer Nagel aus einem Brett. Mir schoss das Blut in den Kopf. Da hatte ich wohl noch mal Glück gehabt. Mühsam richtete ich mich auf. Mein gesamter Körper fühlte sich wie ein einziger Muskelkater an. Ich blickte mich müde um. Das matte Licht, das durch die länglichen Fensterscheiben fiel, brachte mich auf eine Idee. Ich hob eines der auf dem Boden liegenden Bretter auf und schlug auf die Fensterscheibe ein. Auf eine mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Ich warf das Brett weg. Mein Blick fiel dabei auf einen Spiegel, der vom Haken gefallen war und jetzt zerbrochen auf dem Boden lag. Ich sah mein Spiegelbild an. Ich sah zum Fürchten aus. Meine Haare standen fast genau so senkrecht wie ich. Automatisch versuchte ich, sie nach unten zu drücken. Das gelang aber nicht ganz so, wie ich es wollte. Ich sah an mir herab und bemerkte, dass sowohl Jeans als auch T-Shirt vor Dreck nur so standen. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit sich über das Aussehen Gedanken zu machen. Ich musste für Moritz Hilfe holen. Ich stieg vorsichtig aus dem Fenster, um mich nicht zu schneiden. Doch wie vorprogrammiert, hängte sich der untere Teil meines Hosenbeins an einer spitzen Scherbe fest und ich fiel, mit dem Gesicht zuerst in den Matsch. Wütend riss Ich mein Bein los und stand auf. Ich wischte mir mit meinem T-Shirt den Schlamm aus dem Gesicht, so gut es ging. Da war eine Telefonzelle. Ich stürzte hinein und rief den Notarzt an. So schnell ich konnte, lief ich zu meinem Haus zurück, um dort zu warten. Als der Notarzt ankam, wollte er mir gar nicht glauben. Doch als ich sie beinahe zwang, die Tür aufzubrechen, die mit Balken vernagelt war, aufzubrechen, entdeckten sie Moritz. Sie legten ihn auf eine Trage und sagten, dass er mehrere Prellungen und zwei gebrochene Rippen hatte. Wegen der Blutschicht auf meinem Kopf, nahmen sie mich auch mit und wollten mich untersuchen. Im Krankenhaus angekommen, wurde ich nach meinen Personalien gefragt.

"Penelope Satsujinsha."

Der Arzt sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

"Meine junge Dame, über so etwas macht man keine Witze."

"Das ist kein Witz! Wieso sollte ich über mich selbst scherzen?"

"Penelope Satsujinsha ist seit über fünf Jahren verschwunden."

Ich sprang auf.

"FÜNF JAHRE!? DAS IST NICHT IHR ERNST! ICH WILL TELEFONIEREN! SOFORT! JOCHEN, MARINA, MEINEN VATER, MEINEN SCHULLEITER! SOGAR MEINE MUTTER WENN ES UNBEDINGT NÖTIG IST! EGAL WEN! DAS IST DOCH NICHT WAHR!"

"BERUHIGEN SIE SICH DOCH!"

Der Arzt hatte auch begonnen zu schreien. Verängstigt blickte ich im Raum hin und her. Fünf Jahre! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich strich mir nervös doch die zerzausten Haare und zwang mich zur Ruhe.

"Also gut, ich möchte telefonieren. Mit Marina. JETZT!"

Meine Stimme war immer eindringlicher geworden. Der Arzt deutete auf sein Telefon.

"Tun sie sich keinen Zwang an. Aber ich möchte gerne hören, was sie besprechen."

Ich nickte, nahm den Hörer in die Hand und wählte Marinas Nummer. Es klingelte ein paar Mal.

"Hallihallo! Wer da, wer da?", rief sie fröhlich

Sie hatte ihren Namen nicht genannt, aber ich erkannte ihre Stimme.

"Hallo Marina. Hier ist Penelope."

Schweigen. Ich befürchtete schon, dass die Verbindung unterbrochen worden war. Ich hörte sie atmen.

"Das glaube ich nicht..."

"Aber! Erkennst du etwa meine Sti..."

"FÜNF JAHRE! WO WARST DU!"

Sie hatte mir ins Ohr gebrüllt und ich war kurzzeitig etwas taub.

"ANTWORTE MIR GEFÄLLIGST! WO BIST DU GEWESEN!"

"Ich... Es tut mir leid. Das wollte ich nicht."

Ich stotterte. Ich hatte meine Freundin noch nie so außer sich erlebt.

"Gut, wo bist du?"

"Im Krankenhaus."

"KRANKENHAUS!? WAS IST PASSIERT!? HAT MAN DICH MISSHANDELT, VERPRÜGELT, GESCHLAGEN!?"

Ich lachte.

"Jetzt beruhige dich doch einfach. Es ist nichts Schlimmes. Nur eine kleine Wunde am Kopf. Komm doch einfach her."

"Das tu ich auch! Darauf kannst du dich verlassen!"

"Marina! WARTE! Bist du noch dran?"

"Ja, was gibt's?"

"Ich habe keinerlei Papiere. Kannst du mir vielleicht meinen Ausweis mitbringen?"

"Ja. Klar."

Klick. Sie hatte aufgelegt. Ich tat das Gleiche und sah den Arzt an, der nur noch verstört dasaß.

"Sie sind es anscheinend tatsächlich. Wo waren sie die ganze Zeit?"

"Ich kann mich nicht erinnern."

Ich drehte meinen Kopf weg. Was hätte ich sagen sollen?

,Oh, wissen sie! Ich bin durch ein magisches Portal in eine andere Welt gekommen. Dort haben wir Moritz' Vater umgebracht. Eigentlich sind dort bloß fünf Tage vergangen. Aber hier anscheinend fünf Jahre.'

,Ach so. Natürlich. Dafür habe ich vollstes Verständnis! Das passiert doch andauernd!', würde er dann wohl antworten.

Na klar! Es ist wohl besser, ich erzähle niemandem von dem, was ich erlebt habe. Es würde mir sowieso keiner glauben.

"Und der Junge, der bei ihnen war, das war dann wohl Moritz Mariniack."

Ich nickte. Er führte mich in eine Wartehalle, in der ich auf Marina warten sollte. Die Zeit, in der ich wartete, vegetierte ich nur so vor mich hin. Ich dachte daran, als Moritz seinen Arm weggerissen hatte und als er mich so kalt angesehen hatte. Ohne jedes Gefühl. Ich hörte hastige Schritte und blickte auf. Marina lief mir entgegen. Ich stand auf und zwang mich zu einem Lächeln. Sie nahm mich in die Arme und drückte mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Als sie mich losließ, sah sie mich von Kopf bis fuß an.

"Wo kommst du denn her? Wann hast du das letzte Mal gebadet?"

Ich runzelte die Stirn. Zu freundlich. Wenn man einen Planeten retten muss, hat man doch keine Zeit, auch noch zu baden. Sie lachte auf.

"Du verstehst wohl gar keinen Spaß mehr. Los, lass uns zu mir gehen. Dort kannst du dich dann neu einkleiden und duschen. Deine Personalien hab ich dem Arzt schon mitgeteilt. Jetzt komm endlich."

Sie schob mich aus dem Krankenhaus raus, bevor ich irgendetwas einwenden konnte. Wir setzten uns in ihr Auto und fuhren los.

"Der Arzt hat mir gesagt, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wo du gewesen bis. Stimmt das?"

"Ich liebe ihn."

Meine Stimme hatte leicht gezittert. Marina sah mich ziemlich verdutzt an.

"Ich glaube, wir reden gerade ziemlich aneinander vorbei. Wen meinst du? Jochen?"

"Nein. Moritz."

Sie trat so fest auf die Bremse, dass die Reifen quietschten und eine riesige Bremsspur hinterließen.

"BITTE WEN!? DAS IST DOCH NICHT DEIN ERNST! AUSGERECHNET DEN!?"

Ich blickte starr vor mich hin. Ich glaubte es doch selbst kaum.

"Wie soll ich es Jochen sagen? Wie soll ich ihm noch in die Augen schauen können?"

Sie betrachtete mich von der Seite und hatte einen bedrückten Gesichtsausdruck. Sie hielt mir ihre rechte Hand hin, an der ein goldener Ring steckte.

"Siehst du den? Ich bin vor einigen Tagen aus meinen Flitterwochen zurückgekommen. Bitte, sieh mich nicht so froh an. Ich kriege sonst ein schlechtes Gewissen. Wie du es Jochen beibringst, wird wohl nicht die Schwierigkeit sein. Wir sind nämlich verheiratet."

Oha! Kaum bin ich mal nicht da, macht er schon so was. Ganz toll. Abwesend startete Marina das Auto und fuhr weiter, denn hinter uns hatte schon ein regelrechtes Hupkonzert begonnen. Wir fuhren schweigend weiter. Meine Wut verrauchte und ich fragte mich, warum mich das so aufgeregt hatte. Bei ihnen waren schon fünf Jahre vergangen. Sollte er etwa in Abstinenz leben, nur weil ich nicht da war? Natürlich nicht. Ich sammelte mich und zauberte ein wunderschönes Lächeln auf meine Lippen.

"Ich freue mich für dich!"

Verwundert sah Marina mich an.

"Bist du nicht sauer?"

"Natürlich nicht. Wieso sollte ich? Ihr liebt euch doch."

Bei ihr zu Hause angekommen, machte ich mich frisch. Danach kam Jochen auf Besuch, der sich sichtlich zu freuen schien, dass ich wieder da war. Doch man merkte auch, dass ihn, zumindest Anfangs, das schlechte Gewissen plagte.

Am Abend zeigte mir Marina dann einen Zeitungsartikel über mein Verschwinden. Dort war auch ein Foto von mir. Ein besonders hässliches, wenn ich das mal so sagen darf. Höchstwahrscheinlich hatte das meine Mutter ausgewählt. Ich stutzte. War sie etwa tatsächlich nicht meine richtige Mutter? Es wäre zu schön um wahr zu sein.

"Willst du heute Nacht hier schlafen?"

"Ich denke, ich werde zu meinen Eltern gehen und ihnen sagen, dass ich wieder da bin."

"Das ist wohl nicht nötig. Sie sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben ums Leben gekommen."

Alle schwiegen andächtig. Ich versuchte zu lachen.

"Dann werde ich wohl wieder ins Krankenhaus zu Moritz gehen. Ich will ja niemanden stören."

Jochen sah mich eindringlich an.

"Bist du damals mit ihm weggelaufen?"

Ich lachte amüsiert auf.

"Nein. Damals ging er mir gewaltig auf die Nerven. Und mal angenommen, ich wäre tatsächlich mit ihm abgehauen, dann würde ich mich doch an irgendetwas erinnern, oder?"

Mit diesen Worten verließ ich die Wohnung und spazierte zum Krankenhaus zurück. Dort wurde dann ein zweites Bett in Moritz' Zimmer gestellt, in dem ich schlief.

An einem Tag ging ich nach unten, in die Eingangshalle, um mir eine Zeitschrift zu kaufen. Als ich wieder ins Zimmer kam, war Moritz' Bett leer. Eine Tür neben mir ging auf und Moritz kam aus dem Bad, in einen Morgenmantel gehüllt. Die Zeitschrift landete am Boden und ich umarmte ihn stürmisch. Er bewegte sich nicht und machte auch sonst keine Anstalten mich zu umarmen.

"Bist du jetzt fertig?"

Erschrocken ließ ich ihn los. Es tat gut seine Stimme wieder zu hören. Doch dieser Unterton beunruhigte mich. Ich senkte meinen Blick.

"Entschuldige."

Ich hob meine Zeitschrift auf. Langsam ging ich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mich. Ich lehnte mich dagegen und rutschte daran runter. Das war nicht wahr. Ich war die ganze Zeit bei ihm gewesen. Habe alle Phasen mitgemacht. Als sich sein Zustand verschlechterte habe ich zu Gott gebetet. Und jetzt tut er so etwas. Ach was! Er ist doch nur ein Kerl! Warum mache ich mir solche Gedanken? Ein Kerl. Nur ein Kerl!

An demselben Abend packte ich meine Sachen und ging in das Haus meiner Tante. Es war zwar etwas zugig und sehr kalt, da es bereits Herbst war, aber eine Nacht würde ich das schon überleben. Danach wird aufgeräumt. Wenn man nach unserer Welt geht, bin ich jetzt schon 22 und somit gehört das Haus rechtmäßig mir. Als ich vor der Tür stand, entfuhr mir ein leiser Seufzer. Mit großer Kraftanstrengung öffnete ich sie. Ich nahm meine Tasche, trat ein und schloss die Tür. Sie quietschte ohrenbetäubend. Ich trug meine Tasche in mein Zimmer und stellte fest, dass es noch genau so aussah, wie als ich es verlassen hatte. Ich ließ sie auf den Boden plumpsen und wirbelte dabei sehr viel Staub auf. Ich zog die Tagesdecke von meinem Bett. Ich fühlte mich träge und leer. Ich ging wieder nach unten in die Küche und holte mir einen Besen. Als allererstes würde ich mein Zimmer ausfegen. Danach lege ich mich schlafen. Und morgen früh geht das große Putzen los! Ich blieb am Fuß der Treppe stehen und sah hinauf. Es kommt mir fast so vor, als wäre es gestern gewesen, als Moritz dort oben gestanden hatte. Abwesend fasste ich an meine Lippen. Es war benahe so, als könnte ich seinen Kuss noch spüren. Ich riss meine Hand nach unten. Was tat ich da eigentlich? Also ernsthaft! Ich würde ihm garantiert nicht nachtrauern! Ich stapfte die Treppe nach oben und wirbelte viel Staub auf. Ich kehrte so gut es ging, aber ich konnte kaum noch etwas sehen. Und Strom hatte ich keinen. Nach einer Weile gab ich es auf. Ich warf mich auf mein Bett, das markerschütternd quietschte. Ich blickte vor mich hin und versuchte zu schlafen. Doch daran war nicht denken. Ich drehte mich auf den Bauch. Ich atmete den Geruch meines Kissens ein. Ohne zu wissen, was ich tat, stemmte ich mich hoch und ging in Moritz' ehemaliges Zimmer. Ich legte mich auf sein Bett und schlief prompt ein.

Sonnenstrahlen, die durch das matte Glas fielen, weckten mich auf. Ich blinzelte verschlafen. Mist. Ich war ausgerechnet auf seinem Bett eingeschlafen. Ich richtete mich auf. Mein ganzer Rücken war voll mit Staub. Aber das war mich egal. Ich krempelte meine Ärmel hoch! Aufräumaktion gestartet! Als erstes riss ich alles Fenster auf, besser gesagt die, die noch nicht eingeschlagen worden waren. Bei dem Durchsehen der Gegenstände bemerkte ich, dass der Fernseher und unsere Stereoanlage fehlten. Ich machte mir nichts draus. Das Sparbuch hatte ich bereits gestern Abend in Sicherheit gebracht. Ich kehrte alle Räume durch. Nach drei Stunden war ich fertig und hatte einen Krampf in den Armen. An diesem Vormittag hatte ich auch bereits mehrere Morde begangen. Genau neununddreißig Spinnen hatten die längste Zeit ihres Lebens ihn diesem Haus verbracht. Mein Mittagessen ließ ich mir von einem Lieferservice bringen. Danach arbeitete ich jedes Zimmer einzeln durch. Ich musste sogar mit meinem Baseballschläger einen Penner vertreiben, der sich in meinem Keller eingenistet hatte. Gegen Abend hatte ich alles Fertig. Ich hatte sogar bei der Stromfirma erreicht, dass sie meine Stromzufuhr sofort wieder einschalten. Als nächstes würde ich morgen zur Telekom gehen und mein Telefon wieder frei schalten lassen. Müde stieg ich die Treppe hoch und ging wieder in Moritz' Zimmer. Das war der einzige Raum im ganzen Haus, den ich nicht aufgeräumt hatte. Denn falls er nicht mehr hierher ziehen wollen würde, würde mir wenigstens eine Sache nicht genommen werden. Ich ging an seinen Wäscheschrank. Ich wusste, dass sich das nicht gehörte, aber meine Beine taten etwas anderes als mein Verstand ihnen Befahl. Ich öffnete den Schrank und nahm seinen obersten Pyjama raus. Ich zog ihn an. Er war sehr bequem und sein Duft machte mich etwas melancholisch, weil er mich an Moritz erinnerte. Ich setzte mich auf sein Bett und schlief wieder darauf ein.

Ich wurde durch heftiges Schütteln geweckt. Ich öffnete die Augen. Langsam erkannte ich Marinas Gesicht.

"Au Mann! Ich dachte, du wärst tot oder so was! Du hast ja geschlafen wie ein Stein!"

Sie sah schweigend auf meinen Pyjama. Ich zog meine Beine an.

"Er fehlt dir, was?"

Ich nickte und zeichnete irgendetwas mit meinem Zeigefinger auf die Bettdecke. Sie strich mir über die Haare.

"Mach dir nichts draus. Bald ist er wieder da. Wahrscheinlich früher, als dir lieb ist. Und dann geht ihr euch wieder gegenseitig auf die Nerven. Ja?"

Ich nickte und lächelte unter Tränen.

"Das Haus sieht ja schon ganz ordentlich aus."

"Ich muss noch jemanden anrufen, der mir die Fensterscheibe repariert. Und meine Telefonnummer will ich mir frei schalten lassen."

"Wegen den Fenstern, da kenne ich jemand, der würde das noch heute erledigen."

"Ernsthaft? Dann regelst du das jetzt und ich gehe schnell zur Telekom."

Ich sprang auf und wollte sofort aufbrechen, als mich Marina am Arm festhielt.

"Willst du ernsthaft im Pyjama zur Telefongesellschaft."

Ich sah an mir runter und lachte so plötzlich und unvermittelt, dass Marina ängstlich zurückwich. Schnell zog ich mich an und lief dann sofort zur Telekom. Sie erklärten mir, dass die Freischaltung kein Problem sei und meine Telefonleitung spätestens heute Abend wieder funktionieren würde. Überglücklich lief ich nachhause und sah, wie gerade die Fenster neu eingesetzt wurden. Das war ein echtes Hochgefühl. Aber jemand fehlte da einfach. Jemand der sagt: ,Da ist Schmutz auf dem Glas.' ,Was? Das ist doch viel zu teuer!' ,Wehe die betreten mein Zimmer! Dann gibt's was!' Ich senkte den Blick und sah zur Seite. Auf meinem Telefontisch hatte ich den zerbrochenen Spiegel gelegt. Ich nahm einige der Scherben in die Hand und versuchte sie wie ein Puzzle zu ordnen. Dabei schnitt ich mir in den Finger. Dunkles Blut tropfte auf das Glas. Abwesend betrachtete ich mich in einer Scherbe. Mein Spiegelbild wurde rot, bis es fast ganz verschwand.

"GA! Du blutest ja!"

Marina packte meinen Finger und wickelte ein Taschentuch darum.

"Ich muss wohl eine Arterie erwischt haben."

Ich drehte mich um und ging weg. Ich würde einen kleinen Spaziergang machen. Dann werde ich mich sammeln können. Nach ungefähr fünf Minuten Weg, bereute ich es, dass ich keine Jacke mitgenommen hatte. Es war äußerst kalt. Ich begann zu zittern. Ich lief vorbei an kleinen Statuen und einem Mondtempel. Aber ich nahm sie kaum wahr. Jeder meiner Gedanken blieb an Moritz hängen. Ich trat auf eine kleine Lichtung mit einer Bank. Ich setzte mich darauf und blickte meine Füße an. Diese Turnschuhe waren schon ziemlich ausgetreten. Ich sollte mir neue kaufen... Was Moritz jetzt wohl gerade tat? Bestimmt war er froh, dass ich nicht bei ihm war. Aber wieso benahm er sich so? Damals, in Sirenzia, hatte er mich geküsst, mir Komplimente gemacht. Ich blickte mich um. Auf dieser Bank waren Jochen und ich zusammen gekommen. Anscheinend hatte ich eine Gabe, die Menschen, die ich liebe, zu verlieren. Ich hatte Marina gesagt, dass ich mich für sie freue. Was hätte ich denn sonst sagen sollen? Für sie sind fünf Jahre vergangen. Für mich bloß fünf Tage. Es hatte ziemlich wehgetan. Und das tut es immer noch. Am liebsten würde ich jetzt hier für immer sitzen bleiben. Vielleicht würde ich ja erfrieren. Ob psychisch oder physisch tot, was gäbe es denn da für einen Unterschied? Ich hörte Schritte hinter mir und fuhr herum. Ich sah Marina kommen.

"Was tust du denn hier?"

Sie rieb sich die Hände.

"Das ist ja echt kalt hier. Frierst du etwa nicht? Komm, wir gehen wieder rein, ja?"

Ich zog mich langsam hoch. Ich folgte ihr schweigend. Sie drehte sich zu mir um.

"Die Handwerker machen jetzt Mittagspause, aber bis Feierabend dürften sie wohl fertig sein. Wollen wir auch was essen? Hast du Hunger?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, nicht wirklich."

"Na gut. Aber ich werde schnell zu Hause was essen. Ist das in Ordnung?"

Ich nickte. Mittlerweile hatten wir das Haus betreten. Sie verabschiedete sich und ging zu ihrem Auto. Ich hörte sie wegfahren. Jetzt war ich also wieder ganz allein in diesem großen Haus. Hunger hatte ich tatsächlich keinen, obwohl ich heute nicht einmal gefrühstückt hatte. Ich beschloss, in Moritz' Zimmer zu fegen, das Fenster zu putzen und staub zu wischen. Es soll ja nicht total verwahrlost aussehen, wenn er wieder da ist. Falls er wiederkommt. Ich würde es verstehen, wenn nicht. Ich betrat sein Schlafzimmer. Viel Arbeit würde es nicht machen, da dieses Zimmer auch dementsprechend klein war. Nach ungefähr einer Stunde war ich fertig gewesen. Ich hatte mich gerade auf den Boden gelegt, um mich auszuruhen, als es klingelte. Wie von der Tarantel gestochen, sprintete ich nach unten, in der Hoffnung, es wäre Moritz. Es waren aber bloß die Handwerker. Sie machten sich sofort an die Arbeit. Das überraschte mich. Das war das erste Mal, dass Arbeiter so fleißig bei der Sache waren. Ich ging in das Bücherzimmer. Dieses Zimmer hatte am Meisten Arbeit beansprucht. Hauptsächlich wegen dem magischen Portal, das in sich zusammengestürzt war. Glücklicherweise war keines der Bücher ganz kaputt gegangen. Allerdings gab es einige, die ich binden musste. Ich hatte diese Bücher zu einem Stapel aufgetürmt. Nun nahm ich das oberste und begann darin zu lesen. Es war ein Buch über Dämonen. Ein weißes Licht ließ mich aufsehen. Meine Augen weiteten sich. Vor mir stand meine verstorbene Tante.

"Meine liebe Penny! Du hast sehr viel durch gemacht und jetzt muss ich mit ansehen, wie du leidest."

Ich öffnete den Mund, um etwas zu fragen.

"Nein, sag jetzt nichts. Ich würde dir gern helfen. Er ist ein sehr netter, junger Mann. Aber leider darf ich dir nur eines sagen: steh zu deinen Gefühlen, dann wir alles gut ausgehen."

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war sie schon wieder verschwunden. Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich legte das Buch wieder zurück und stand auf. Das ging mir jetzt eindeutig zu durcheinander. Als ob ich nicht verwirrt genug wäre. Ich war gegangen, ohne nach vorne zu schauen. Ich war gegen jemanden gelaufen. Ich rieb mir die Nase.

"Oh, Entschuldigung."

Ich hörte nur Gemurmel und jetzt bemerkte ich erst, wen ich angerempelt hatte: Moritz. Ich wollte ihn fragen, wie es ihm ging, da war er schon die Treppe nach oben gegangen. Ich blickte zu Boden. Zu meinen Gefühlen stehen... leichter gesagt, als getan, wenn er sich so benimmt. Ich muss es ihm sagen. Sofort.

"Moritz! Ich..."

"Ja, was gibt's denn?"

"Ich bin in..."

Ich drehte den Kopf dach oben.

"Ich glaube, ich habe in meinem Zimmer etwas gehört. Ich geh nachsehen."

Schon war er verschwunden. Wenn er die Sache so angehen will, dann kann er das ruhig haben. Ich laufe ihm doch nicht hinterher. Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich schrie auf. Wer war das? Wer hat mich so erschreckt?

"Was - Was gibt's denn?"

Mein Herz klopfte wie wild. Wegen diesem Handwerker hatte ich fast einen Infarkt.

"Wir sind fertig. Aber die Fenster dürfen 24 Stunden lang nicht geöffnet werden."

"Ja, ja, schon gut. Und die Rechnung kriege ich ja dann auch."

Ich drehte mich um und ging ins Wohnzimmer. Etwas Fernsehen würde mich ablenken. Ich schaltete den neu gekauften Fernseher an. Doch ich war so müde und das Fernsehprogramm so langweilig, das ich einschlief.

Langsam öffnete ich wieder die Augen. Moritz saß mir auf einem Sessel gegenüber. Ich richtete mich verärgert auf.

"Was tust du da eigentlich?"

"Ich beobachte dich beim Schlafen."

Ich runzelte die Stirn und stand auf.

"Das kann ich gut, nicht wahr?"

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer. Es fiel mir sehr schwer, sein Spielchen mit zu machen, aber ich wollte nicht, dass es so aussah, als würde ich ihm hinterher rennen. Das würde ich keineswegs tun. Selbst wenn ich ihn dafür verlieren würde! Kaum hatte ich diese Worte gedacht, lachte ich über mich selbst. Ich würde ihn niemals verlieren können. Bevor ich ihn in den Armen einer anderen Frau sah, würde ich ihn umbringen. Ich fuhr mir durchs Haar, stieg die Treppe hinauf und ging ins Badezimmer. Skeptisch betrachtete ich mein Spiegelbild. Was ihm wohl an mir nicht gefiel? Ich überlegte einige Zeit, bis ich zu dem Schluss kam, dass es meine Haare sein mussten. Ohne, dass mir richtig bewusst war, was ich tat, griff ich nach der Schere, die zufälligerweise auf dem Waschbeckenrand lag und schnitt mir die Haare etwas länger als schulterlang ab. Die letzte Strähne fiel zu Boden. Ich betrachtete mein Spiegelbild mit leeren Augen. Die Schere glitt aus meiner Hand und landete auf meinen Haaren. Ich versuchte die Tränen, die in mir aufstiegen zu unterdrücken. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Warum hatte ich das getan? War ich denn total verrückt geworden? Verbittert schlug ich die Hände vors Gesicht und lief weinend aus dem Badezimmer in mein Zimmer. Dort warf ich die Tür zu und sperrte ab. Tränen rannen meine Wangen runter. Ich glitt an der Tür nach unten und blieb an Ort und Stelle sitzen. Langsam verlor ich die Kontrolle. Ich schluchzte bitterlich. Nach mehreren Minuten klopfte es plötzlich an meiner Tür. Ich hörte Moritz Stimme.

"Penelope, ist alles in Ordnung?"

"Geh weg! ... Verschwinde!"

"Ich habe die Haare im Badezimmer gesehen und..."

"HAU AB!"

Ich schrie die Worte beinahe. Vor der Tür wurde es still. Kurz darauf hörte ich Schritte, die sich entfernten. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Armen und weinte so lange, bis ich keine einzige Träne mehr hatte. Meine Augen begannen zu brennen. Ich wischte immer wieder darüber, doch es brachte nichts. Es klopfte zaghaft an der Tür. Nun war es Marinas Stimme, die ich hörte.

"Hey! Ist alles in Ordnung? Ich... Moritz hat mich angerufen... Darf ich rein kommen?"

Ich blieb sitzen und machte nicht die geringsten Anstrengungen, die Tür zu öffnen.

"Na gut. Ich habe verstanden. Aber wenn du mit jemanden reden möchtest, stehe ich dir jeder Zeit zur Verfügung... wie früher."

Mit zitternden Fingern drehte ich den Schlüssel um. Ich drückte die Klinke soweit herunter, dass sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Ich rutschte etwas zur Seite. Marina trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie strich mir über die Haare.

"Oh je! Da war wohl die Heckenschere am Werk. Soll ich sie dir zu recht schneiden?"

Ich nickte stumm. Marina hielt die Schere, mit der ich auch schon an meinen Haaren gewesen war in der Hand und begann, die Haare auf gleiche Länge zu schneiden.

"Ich mache mir Sorgen um dich. Du wolltest dir deine Haare doch noch viel länger wachsen lassen. Warum hast du sie dir abgeschnitten?"

Ihre Stimme klang weich und es lag kein Ausdruck von Vorwürfen darin. Marina strich mir ein paar Haare von der Schulter.

"So, ich glaube, jetzt kannst du dich wieder unter Leute trauen. Ist alles klar?"

Ich nickte und zog mir den Pulli über den Kopf. Unachtsam ließ ich ihn auf den Boden fallen. Ich griff mir einen neuen aus meinem Schrank und ging ins Badezimmer. Marina kam mir nach.

"Kann ich noch etwas für dich tun?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, geh ruhig nachhause. Ich komme schon klar."

Sie sah mich etwas zweifelnd an, doch auf ein ermunterndes Nicken meinerseits, ging sie. Sie drehte sich noch einmal zu mir um und verabschiedete sich.

"Du kannst mich jederzeit anrufen."

Ich nickte, doch gleichzeitig wusste ich, dass es nie wieder so werden würde wie früher. Nicht nachdem ich in Sirenzia gewesen bin. Ich ließ Wasser in die Badewanne und stieg, nachdem sie ausreichend gefüllt war hinein. Ich zog die Beine an meinen Körper. Warum sind Jungs nur so kompliziert? Wahrscheinlich war Moritz nur so nett zu mir gewesen, weil er so etwas wie Mitleid für mich empfunden hatte. Ich wollte ihn zwar nicht verlieren, doch andererseits hatte ich keine Lust, mich von ihm wie den letzten Dreck behandeln zu lassen. Ich schüttelte den Kopf. Ach was! Warum sich noch Gedanken machen? Es wird alles so kommen, wie es kommen soll. Ich wusch mich und hüllte mich sofort, nachdem ich aus der Wanne gestiegen war, in meinen Bademantel. Ich ging in mein Zimmer, dort trocknete ich meine Haare und zog mir frische Sachen an. Ich brauchte etwas Ablenkung und so beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. Gedankenverloren stieg ich die Treppe hinunter und tat so, als würde ich nicht bemerken, dass Moritz mich beobachtet. Ich zog mir die Schuhe an und nahm meine Jacke. Ich hörte, dass Moritz wegging und atmete tief durch. Während ich nach draußen trat, versuchte ich jegliche Gedanken an ihn zu verscheuchen. Ich setzte gerade einen Fuß auf die Straße, als er hinter mir meinen Namen rief. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und drehte mich um. Moritz hatte seinen Satz begonnen, im diesem Moment schoss ein Auto mit mörderischem Tempo um die Kurve und genau auf mich zu. Ich wollte zur Seite springen, wenigstens reagieren, doch es gelang mir nicht. Ich stand da wie fest gewachsen. Der Autofahrer trat auf die Bremsen und die Autoreifen quietschten laut. Ein Krachen, ich flog zur Seite und landete auf dem Asphalt. Mir war für einen Augenblick schwarz vor Augen geworden, doch jetzt konnte ich klar sehen. Es kam mir vor, als hätte ich mir die Sache mit dem Auto nur eingebildet, denn mir tat nichts weh. Ich sah in die Richtung des Autos. Was ich dann sah, nahm mir den Atem. Kevin stand breitbeinig da, die Hände auf die Kühlerhaube gestemmt. Das Auto stand nun auf den beiden Vorderreifen. Die Windschutzscheibe war fast vollständig zerbrochen. Langsam ließ Kevin die Kühlerhaube los, so dass die hinteren Reifen des nun stehenden Autos wieder auf dem Asphalt standen. Ich drehte meinen Kopf in Moritz' Richtung, doch ich wurde bereits von ihm umarmt. Mein ganzer Körper zitterte.

"Was bin ich froh, dass dir nichts passiert ist", flüsterte er mir ins Ohr.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

"Natürlich ist mir nichts passiert. Kevin hat mich doch weggestoßen."

"Was? Wieso Kevin?"

"Da steht er doch!"

Ich deutete in Richtung des Wagens. Der Fahrer war gerade dabei, auszusteigen. Doch nirgends war eine Spur von Kevin. Der Autofahrer kniete sich neben mich.

"Sind sie in Ordnung?"

Moritz zog mich nach oben. Ich nickte eifrig.

"Ja, ja, das bin ich. Wissen sie, wo der Mann hingegangen ist, der mich zur Seite gestoßen hat."

"Mann? Da war weit und breit niemand."

Ich drehte meinen Kopf in Moritz' Richtung.

"Aber ich habe ihn gesehen! Ganz sicher!"

Moritz schob mich in die Richtung unseres Hauses.

"Du solltest dich erst einmal hinlegen."

Er wandte seinen Kopf dem Autofahrer zu.

"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich kümmere mich schon um sie. Sie können ruhig weiterfahren."

Ich betrat unser Haus, ging ins Wohnzimmer und ließ mich in einen Sessel fallen. Moritz betrat den Raum.

"Willst du eine Tasse Tee?"

Ich antwortete ihm nicht. Er legte den Kopf etwas schief. Ich starrte geradeaus.

"Was ist los?"

Verwundert blickte er mich an.

"Wie meinst du das? Was soll los sein?"

Ich richtete mich auf.

"Das weißt du ganz genau! Hör auf mit mir zu spielen!"

"Ich spiele nicht mit dir? Wie kommst du überhaupt darauf?"

"Wie ich - WIE ICH DARAUF KOMME?!"

Meine Stimme schien von den Wänden widerzuhallen. Moritz sah mich schweigend an.

"In Sirenzia hätten wir uns fast geküsst. Und dann auf einmal hast du mich so abweisend behandelt. Und vorhin hast du gesagt, du wüsstest nicht, was du ohne mich hättest tun sollen? Ich glaube, du hast ein Persönlichkeitsproblem!"

Ich drehte mich um und wollte wütend den Raum verlassen. In meinem Kopf hämmerte es. Ich musste mich sofort schlafen legen.

"Du hast doch gar keine Ahnung!"

Ich blieb stehen.

"So? Habe ich also nicht? Dann erklär mir bitte, was los ist, damit ich es auch verstehe."

Ich drehte mich in seine Richtung und verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich hatte ich wie immer von nichts eine Ahnung. Das unwissende dumme Mädchen. Mal sehen, was für eine Lüge er mir dieses Mal auftischen würde?

"Ich wollte dich nicht verletzen."

Das war klar! Wie oft hatte ich diesen Satz schon gehört? Mich nicht verletzen. Ha! Dass ich nicht lache. Ich bin doch nicht aus Zucker. Immer hatten mir Leute etwas verschwiegen, nur weil sie mich "nicht verletzen wollten". Mit anderen Worten: sie hielten es nicht für nötig, mich darüber zu informieren. Ich bin doch kein Idiot.

"Ich hatte Angst, dich unglücklich zu machen. Ich wollte dich schützen."

"Schützen. So, so. Mit welchem Hintergrund? Ich werde nicht bedroht. Wovor solltest du mich schützen wollen?"

Ich musste abweisend bleiben. Sonst würde er mitbekommen, dass er mich weich gekocht hat.

"Ich wollte dich vor mir selbst schützen. Ich hatte Angst, dass ich so werde, wie mein Vater. Gefühllos und kaltherzig. Ich wollte nicht, dass du wegen mir verletzt wirst."

Ich senkte den Kopf. Mir standen Tränen in den Augen.

"Außerdem dachte ich, dass ich eine Gefahr für dich darstelle, da ich auch schon meinen Vater umgebracht hatte. Ich habe dich wirklich sehr gern. Jetzt habe ich es wohl geschafft."

Er strich mir eine Träne von der Wange.

"Ich will nicht, dass du weinst. Vor allem nicht wegen mir. Ich werde meine Sachen packen und dann wo anders hingehen. Ich mache dich nur unglücklich."

Er nahm die Hand von meiner Wange und ging an mir vorbei. Ich fühlte mich, als hätte man mich gerade in ein bodenloses Loch gestoßen. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde ich ihn verlieren - und dieses Mal für immer. Ich drehte mich um und lief im nach. Sobald ich ihn erreicht hatte, warf ich mich in seine Arme.

"Geh nicht weg! Du darfst mich nicht alleine lassen!"

Langsam und zögernd legte er seine Arme um mich. Tränen liefen meine Wangen hinunter. Er sollte nicht weg gehen. Niemals. Und allein lassen sollte er mich auch niemals wieder. Ich schmiegte mich an ihn. Langsam wurde seine Umarmung fester. Er drückte seine Wange gegen meine.

"Ich lasse dich nicht mehr allein. Nie wieder."

Er nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich lange. Er hob mich hoch und trug mich in sein Zimmer. Nie wieder würde er mich allein lassen.

Langsam öffnete ich meine Augen. Das Klingeln des Telefons hatte mich geweckt. Warum hatte ich geschlafen? Es war doch Nachmittag. Ich blickte auf die Seite. Neben mir lag Moritz. Ich erinnerte mich wieder. Langsam stieg ich aus dem Bett. Ich hatte Angst, dass er verschwindet sobald ich den Raum verlasse. Ich stieg die Treppe hinunter, sobald ich mir einen Morgenmantel übergezogen hatte. Ich war noch ganz benommen und in meinem Kopf war alles neblig. Ich wollte gerade den Hörer abnehmen, als es aufhörte zu klingeln. Ich runzelte die Stirn und blickte zu dem Spiegel vor mir auf. Ich machte einen Erschreckten Satz nach hinten. Aus dem Spiegel blickte mich Anemones Gesicht an.

"Was - Was - Was - Was soll das?"

"Penelope, du und Moritz müsst sofort nach Sirenzia kommen. Es ist etwas Fürchterliches geschehen!"

Ich wollte noch fragen, was denn passiert sei, doch Anemone war schon wieder verschwunden und ich blickte mein eigenes Gesicht an. Was wohl passiert sei? Ich ging sofort zurück zu Moritz' Zimmer, weckte ihn auf und erzählte ihm davon. Er meinte, wir dürften keine Zeit verlieren. Und so standen wir kurze Zeit später fertig angezogen vor einem magischen Portal. Moritz nahm meine Hand und wir traten beide durch das Tor.



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