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Sirenzia

Land der Hoffnung
von

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Was ist schon ein Kuss?

Meine Schritte hallten wider. Ich konnte nur einige Meter weit sehen, doch eine unsichtbare Lichtquelle zog mich magisch an. Ich musste mich zwingen, ruhig weiter zu gehen. Die Anziehungskraft wurde immer stärker. Ich näherte mich einer Doppeltür. Von Schritt zu Schritt wurde ich immer neugieriger. Wen mochte ich wohl auf der anderen Seite antreffen. Mein Herz begann zu klopfen. Es wurde immer schneller und ich befürchtete, dass es mir jeden Moment aus der Brust springe würde. Die ganze Energie entlud sich mit dem Aufschwingen der Tür. Ein Junge, etwa in meinem Alter, saß am Tischende. Ich kannte ihn. Es war der Junge, den mir die alte Frau gezeigt hatte. Sobald ich das Zimmer betreten hatte, schlossen sich die Türen und er stand auf und bewegte sich in meine Richtung. Er hob meine Hand zu seinem Mund und berührte sie leicht mit seinen Lippen. Sie waren angenehm weich und fast fiebrig warm. Ein leichter Schauer von Erregung durchfuhr mich. Er führte mich zu meinem Stuhl. Ich saß ihm genau gegenüber. Einige Diener brachten Braten mit gebackenen Kartoffeln. Zusätzlich wurde uns Wasser eingeschenkt. Während des Essens sprach keiner. Erst nachdem der Tisch abgeräumt worden war und wir roten Wein erhalten hatten, begann er zu reden. Ich dürfte nicht zu viel davon trinken, denn ich vertrug nicht sehr viel. Er hatte eine weiche, erotische Stimme und sprach nur flüsternd. Dabei musterte er mich genau, als wollte er sich jedes Detail meines Äußeren einprägen. Mir wurde unbehaglich zumute.

"Ich freue mich sehr, dich als meinen Gast begrüßen zu dürfen. Zweifellos fragst du dich jetzt, wie du hier her gekommen bist. Meine Männer hatten von einem Mädchen gehört, dass genau so gut wie ich und mein Vater die Göttersprache beherrscht. Sie fanden dich und die Beschreibung traf sehr genau zu. Deshalb brachten sie dich her. Das Mädchen, das dich frisiert hat heißt Rose und ist von nun an deine eigene Zofe. Aber wie unhöflich. Ich rede hier und du kennst nicht einmal meinen Namen."

Er verbeugte sich erneut und als er sich erhob flüsterte er.

"Moritz, sehr angenehm."

Ein warmer Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich hatte noch nie einen Jungen gesehen, der so gut aussah und dabei so eine Anziehung auf mich ausübte. Er führte mich hinüber zum Kaminfeuer und wir setzten uns gemeinsam auf das Sofa, das davor stand. Es war ein sehr gemütlicher Abend und er erzählte mir viel über sich. Seine Mutter war schon lange tot und sein Vater hatte seitdem eine unbefriedigende Beziehung nach der anderen geführt. Im Moment vergnügte er sich mit einer unbedeutenden Blondine. Ohne jeden Grund versetzte mir das einen Stich ins Herz. Was war bloß los? Verwirrte mich seine Anwesenheit so sehr, dass ich mir irgendwelche Sachen einbildete? Langsam wurde ich müde, obwohl ich erst seit kurzem wach gewesen war.

"Ich möchte mich jetzt verabschieden und zu Bett gehen."

Ich erhob mich lächelnd.

"Natürlich. Es war ein wunderschöner Abend. Ich hoffe, das können wir morgen wiederholen."

Doch anstatt dem erwarteten Handkuss nahm er mich zärtlich in seine Arme und küsste mich. Das war schon zu viel für mich. Ich riss mich los und rannte nach draußen und in mein Zimmer. Mein Herz schlug schnell. Warum benahm ich mich so? Er war ein Gutaussehender Typ und es war mir nicht einmal unangenehm gewesen... Ich setzte mich auf mein Bett. Was nun? Ich ging zum Fenster und der Anblick überraschte mich. Er lebte doch im toten Gebiet. Warum erblühte dann der Garten in allen Farben? Ich beschloss, nach unten zu gehen und mich um zu sehen. Ich stieg die Treppen hinunter und trat durch die offene Tür, die in den Garten führte. Da es bereits sehr spät war, war es auch dementsprechend kalt. Sofort bekam ich eine Gänsehaut. Ich trat auf den kleinen Steinweg hinaus. Es duftete nach Rosen. Ich sah Blumen verschiedenster Art. Bergblumen neben tropischen und der große Teich, den ich bereits sehen konnte, schien mit Seerosen übersäht. Ich ging dort hin und fragte mich, wo ich hier hinein geraten war. Ich hielt die Fingerspitzen ins Wasser. Hinter mir hörte ich Schritte. Ich drehte mich um und erblickte Moritz. Meine Wangen wurden rot.

"Ich hoffe, ich habe dich mit dem Kuss nicht überrumpelt. Du schienst sehr verwirrt."

Ich lachte. Er lächelte und das brachte mich nur noch mehr in Verlegenheit. Er war es tatsächlich wert, ein Gott zu sein. Diese Ausstrahlung. Ich stand auf. Plötzlich begann der Boden zu beben. Ich konnte kaum stehen und klammerte mich an Moritz. Dieser schlang seine Arme um mich und ich fühlte mich beschützt. Ein riesiger Drache schnellte nach oben und dicht an unseren Köpfen vorbei und landete nur wenige Meter von uns entfernt. Er ließ ohrenbetäubendes Gebrüll verlauten. Moritz schob mich hinter sich. Doch ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, beschützt zu werden. Ich wollte ausbrechen. Aber warum ausbrechen? Was war das für ein Gefühl? Ein weiterer Drache schnellte her. Er stellte sich zwischen Moritz und dem Drachen. Es war ein smaragdgrüner Drache, Onirodim. Zum Glück! Ich packte Moritz am Arm und zog ihn zur Mauer. Ein harter Kampf zwischen Onirodim und dem anderen Drachen begann. Wir liefen zur "Gartenmauer" und kletterten drüber. Dabei zerriss ich mein Kleid, doch das war nicht so wichtig. Auf der anderen Seite wartete bereits das Einhorn, mit den Hufen scharrend auf mich. Ich nahm es an den Zügeln. Doch sobald Moritz in die Nähe kam, begann es zu scheuen. Was sollte das? Ich hielt die Zügel fester, damit es nicht Reißaus nahm und bot Moritz an, auf zu steigen. Er schüttelte den Kopf und pfiff eine Melodie. Eine Weile später trat ein schwarzes Einhorn zu ihm. Er schwang sich elegant in den Sattel, nachdem er mich in meinen gehievt hatte. Wir ritten so schnell wir konnten. Hinter uns hörten wir gelegentlich noch ein tiefes Grollen vom Schloss her. Hoffentlich würde Onirodim es schaffen, doch ich mache mir keine Sorgen um ihn. Er würde es bestimmt schaffen. Ich erinnerte mich an Niveks Aussage, dass sich die Behausungen der Drachen im toten Gebiet lagen. Doch wo waren sie? Ich hatte also weder Ahnung noch eine Landkarte. Es blieb mir jedoch nichts anderes Übrig, als in die nächste Stadt zu gehen und dort eine zu kaufen... Kaufen? Moment, ich hatte doch gar kein Geld. Mir fiel gerade auf, dass ich bisher nur einmal bezahlt hatte und das mit Anemones Geld. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte ich sie nicht zurückt lassen sollen. Sie ist mit den Bräuchen hier noch mehr vertraut als ich. Und ich um ehrlich zu sein überhaupt nicht. Ich betrachtete Moritz' Rücken, der vor mir ritt. Ich wusste nicht einmal etwas über ihn. Ich wurde Misstrauisch. Bei unserem Gespräch, schien er bereits alles über mich zu wissen. Wieso ritt er auf einem schwarzen Einhorn? Mir wurde etwas unbehaglich. Er schien meine Blicke gespürt zu haben, denn er drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Worüber hatte ich noch mal nachgedacht? Ich wusste es nicht mehr. War wohl bestimmt nicht wichtig. Ich musste mir jetzt zu allererst darüber im Klaren werden, wie ich zu Geld kommen könnte. Es wäre optimal, wenn ich jetzt einen Schatz oder so finden würde. Meine Finger tasteten noch einmal nach der entzündeten Stelle an meinem Ohr. Da fiel mir plötzlich etwas ein.

"NIVEK! WO IST ER!?"

Ich ließ das Einhorn halten. Es stampfte ungeduldig auf.

"Wo ist er? Wo - ist - er!?"

"Wer denn?"

Moritz hatte auch angehalten und drehte sein Einhorn.

"Jetzt beruhige dich erst und dann sagst du mir, von wem du da überhaupt sprichst."

Ich atmete ein paar Mal tief durch.

"Kevin. Er war bei mir bevor ich in dein Schloss gekommen bin. Er hatte rote Haare, die in alle Richtungen abstehen."

"Ach, du meinst den mit der Sturmfrisur? Ja, der ist in meinem Kerker. Als wir dich gefunden haben, war er auch dort. Er hat sich gegen die Wachen aufgelehnt, obwohl sie ihm gesagt haben, dass keinem von euch beiden etwas passieren wird. Nun, er wird vermutlich noch im Schloss sein."

Ich erstarrte. Ich kannte Nivek zwar genau so wenig wie Moritz, doch ich konnte ihn nicht zurück lassen. Das Grollen war durch die Entfernung zwar leiser geworden, doch es hatte nicht aufgehört. Die Einhörner wurden nervös. Ich glaube, sie können tatsächlich deine Gedanken lesen. Meines ließ sich nur widerwillig drehen, doch sobald ich ihm die Hacken in die Seite gerammt hatte, schoss es davon wie der geölte Blitz. Dass ich mich dem Schloss näherte, verriet mir das immer laute werdende Geheul. Inzwischen hatte Moritz mich eingeholt.

"Was willst du? Geh weg! Das ist meine Sache!"

"Ja, ne, schon klar. Ich will dir nur helfen oder weißt du etwa, wo sich der Kerker befindet? Warum bist du überhaupt auf einmal so zickig? Was hab ich gemacht?"

"Was du gemacht hast? Was du... gemacht... hast!? Wie konntest du ihn nur einsperren!? Ich akzeptiere ja, dass er sich gewehrt hat und du das nicht durch gehen lassen konntest aber warum hast du mir nicht einmal bescheid gesagt???"

Ich schwieg und schaute mürrisch nach vorne. Die Mauern kamen in Sichtweite. Als wir angekommen waren, riss ich hart an den Zügeln des Einhorns und sprang herunter. Moritz hob mich über die Mauer und kletterte selbst hinterher. Ich drehte mich zu ihm und verpasste ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Er starrte mich verständnislos an. Ich runzelte die Stirn.

"Wehe du guckst mir noch mal unter den Rock!"

Mit diesen Worten sprang ich von der Mauer. Ich lief auf die kämpfenden Drachen zu. Onirodim hatte sich gut gehalten, doch nun war ich dran. Ich krempelte die Ärmel hoch. Ich richtete meine Handflächen in Richtung des angreifenden Drachen. Blauer Strahl strömte auf ihn zu. Für einen Augeblick stand er eingefroren in der Luft und begann dann zu schrumpfen bis er nur noch so groß war wie eine Eidechse. Ich wollte zu Onirodim gehen und ihn untersuchen. Aber Moritz hielt mich fest. Ich sah ihn wütend an. Was oll das? Was glaubt er, wer er ist? Irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte ich das bereits einmal von ihm gedacht. Meine Gedanken wurden unterbrochen von einem tiefen und dunklen Knurren. Es drang aus Onirodims Kehle. Er wandte mir seinen Kopf zu. Er hatte einen riesigen Kratzer auf der Stirn, die ganze Schnauze entlang. Die Wunde blutete sehr stark. Eine schleimige grüne Flüssigkeit trat aus der Wunde. Sein Kopf war überströmt davon. Doch was mir mehr Sorgen bereitete war das rote leuchten seiner Augen. Die Dunkelheit hatte ihn. Nun wandte er mir seinen ganzen Körper zu. Er war übersäht mit Wunden. Er stieß einen Furchterregenden Schrei aus und stieß mir eine Windböe entgegen, die bitterlich kalt war. Mir wurde wärmer. Moritz hatte mich in seine Arme genommen und find die ganze Kälte ab. Er atmete durch den Mund und sein Atem gefror in der Luft. Ich riss uns beide zur Seite. Er keuchte etwas.

"Du musst die große Treppe ganz nach unten laufen, ohne abzubiegen. Sie wird nach unten hin immer schmäler werden. Sobald du an ihrem Fuß angekommen bist musst du zweimal nach rechts laufen und dann am Ende des Ganges ist seine Zelle. Dort muss er sein. Ich bleibe hier und halte die Stellung."

Während er mir alles erklärte, war Onirodim näher gekommen. Langsam wurde es gefährlich. Ich sprang auf und wollte gerade hoch laufen.

"Penelope!"

Ich hielt an und drehte mich Moritz zu. Er stützte sich auf sein Knie. Onirodim kam näher. Der Boden bebte leicht. Moritz richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

"Du kommt doch zurück, oder?"

Ich lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Er grinste.

"Gut!"

Mit einem markerschütternden Schrei stürzte er auf Onirodim zu und schleuderte ihm Feuerbälle entgegen. Ich war sehr überrascht. Moritz schaffte es, mit einem Salto über Onirodims Kopf zu springen und hinter ihm zu landen. Er war wirklich unglaublich. Onirodim drehte sich nach hinten und schnappte nach ihm. Ich drehte mich um und lief los. Die Haupttreppe hinunter. Sie wollte kein Ende nehmen. Nach einer Weile wurde sie aber tatsächlich merklich enger. Zum Schluss war sie so eng, dass ich selber kaum noch durchpasste. Ich zwängte mich voran, bis zu einer Holztür, die mit Eisen beschlagen war. Ich drückte die Klinke nach unten. Mist! Abgesperrt! Ich stemmte mich leicht dagegen. Die Tür gab nicht nach. Also gut, dann eben mit Gewalt. Ich nahm mehrere Schritte Anlauf, rannte los und brach durch die Tür. Das Kleid wurde an der Schulter aufgerissen. Damit war es wohl endgültig kaputt. Ich sprang auf und wollte loslaufen, doch ich fiel wieder auf die Knie. Das Schloss bebte. Der Kampf draußen war wohl ziemlich hart. Ich bezweifelte, dass Moritz noch lange standhalten würde. Ich sprang auf und versuchte trotz des bebenden Bodens zu rennen. Zweimal nach rechts hatte er gesagt. Da war die erste Kurve. Ich lief, so schnell mich meine Füße tragen konnten. Ich wollte gerade die zweite Kurve nach rechts nehmen, da stieß mich jemand um. Ich fiel auf meine Hüfte und der andere Jemand landete auf mir. Ich stieß ihn weg.

"Was soll das?"

"Hey, hey, bloß nicht aufregen! Ich habe dich genau so wenig gesehen wie du mich!"

Das war Nivek. Ich fiel ihm um den Hals.

"Zum Glück! Ich wollte dich gerade da raus holen. Wir müssen hier weg!"

"Das sehe ich genau so. Kennst du den Weg?"

"Na klar! Mir nach!"

Er packte meinen Oberarm und hob mich hoch, als würde ich nichts wiegen. Wir liefen so schnell ich konnte.

"Hier geht's raus!"

Ich deutete auf die Tür, die ich aufgebrochen hatte. Er lachte und meinte:

"Das ist kaum zu übersehen!"

Wir traten über die Holzstücke und betraten die Haupttreppe. Doch wir erlebten eine böse Überraschung. Denn jetzt begannen Felsbrocken von der Decke zu fallen. Wir liefen noch schneller, was bestimmt durch das Adrenalin bedingt war. Wir traten ins Freie. Zwar nicht durch die Tür, durch die ich rein gekommen war. Doch das zwei Meter große Loch in der Wand war auch ganz gut. Mittlerweile kämpfte Onirodim nicht mehr. Er hatte sich daran gemacht, das Schloss zu zerstören. Wo war Moritz bloß? Ich konnte ihn nicht entdecken. Es war so finster. Doch bei jedem Windstoß, den Onirodim durchführte, leuchtete für einen kurzen Moment grünes Licht. Da entdeckte ich ihn. Er lag unter einem Pfirsichbaum und war blutüberströmt. Ich lief besorgt hin und schüttelte ihn.

"Moritz? Moritz!? MORITZ!?"

Ich schüttelte ihn, doch er wachte nicht auf. Nivek stand hinter mir und musterte ihn abwertend.

"Den willst doch nicht etwa mitnehmen?"

Ich sah ihn an und aus irgendeinem Grund standen mir Tränen in den Augen. Er rümpfte über Moritz die Nase.

"Du musst wissen, was du tust."

Mit diesen Worten drehte er sich um und lief auf das Loch zu wo die zwei Einhörner regungslos gewartet hatten. Ich hob Moritz auf meinen Rücken. Er war schwerer, als der Anschein vermuten ließ. Nivek saß bereits auf meinem Einhorn und wurde ungeduldig. Ich legte Moritz auf den hinteren Teil seines Einhorns und schwang mich dann in den Sattel. Onirodim hatte von dem Schloss, von dem beinahe nur noch die Grundmauern übrig waren, abgelassen und steuerte auf uns zu. Wir gaben beide den Einhörnern die Sporen und in wenigen Minuten hatten wir das tote Gebiet verlassen. Ich hatte große Mühe, auf dem Einhorn zu bleiben, denn mit einer Hand hielt ich Moritz fest, damit er nicht runter fiel. Wir ritten erst einmal zurück zu Niveks Haus. Ich hatte große Mühe, Moritz nach drinnen zu bringen, denn die Tür war sehr klein und schmal und Moritz war während dem Ritt nicht leichter geworden. Endlich hatte ich ihn ins Bett gelegt und zugedeckt. Ich lief in die Küche.

"Hast du eine Schüssel?"

"Unter dem Waschbecken", erwiderte Nivek mürrisch und sah wieder zum Fenster raus.

Ich nahm mir eine große Schüssel und füllte Wasser hinein. Ich schwankte zu Moritz' Bett zurück. Die Wasserschüssel stellte ich auf dem Boden ab. Ich riss ein Stück Stoff aus meinem Kleid. So wie es jetzt aussah, hatte ich keine große Mühe dabei. Ich tauschte den Stoff ins Wasser und wusch seine Wunden aus. Mittlerweile war Nivek hinter mich getreten.

"Also jetzt mal ehrlich! Ich hätte niemals gedacht, dass jemals SO EINER in meinem Haus ist!"

Meine Hand verkrampfte sich. Das war nicht fair. Er kannte ihn doch gar nicht. Vorsichtig tupfte ich eine Wunde an seiner Wange ab.

"Und du kümmerst dich auch noch um so jemanden. Du weißt doch gar nicht, wer er ist!"

Ich schleuderte den Waschlappen in die Schüssel, sodass sie umfiel. Das Wasser verteilte sich auf dem gesamten Boden.

"Aha, ich kenne ihn also nicht, meinst du. Ich hatte genügend Zeit ihn kennen zu lernen. Er ist ein sehr netter Mensch! Und wenn du es genau wissen willst, habe ich schon mit ihm in einer Wohnung gelebt, bevor ich diese Welt überhaupt gekannt habe."

Ich brach ab. Was hatte ich da gesagt? Ich... das war ein Stück Erinnerung aus meiner Vergangenheit gewesen. Ich hatte mit ihm zusammen gewohnt? Ja, ich erinnerte mich an eine Szene. Wir saßen auf einem Sofa und haben diskutiert. Nur worüber? Es fiel mir nicht ein. Ich bekam Kopfschmerzen. Nivek blickte auf die Seite. Er murmelte kaum merklich:

"Das weiß ich doch."

Ich riss die Augen auf.

"Was? Du... weißt es? Aber... woher?"

Er griff neben sich auf ein Regal und zog ein Buch heraus. Aus diesem holte er etwas, das in Plastik eingeschweißt war. Er hielt es mir entgegen.

"Kevin O'Brian. Geboren am 17.09. in Plymouth, England."

Mir traten fast die Augen aus den Höhlen. Er kam aus MEINER Welt. Moritz auch. Doch warum hatte mir keinen von ihnen mir das gesagt? Mir wurde langsam bewusst, dass Moritz es mit absichtlich verschwiegen hatte, denn er hatte mich so behandelt, als ob wir uns noch nie zuvor gesehen hätten. Aber wahrscheinlich hatte auch er sein Gedächtnis verloren.

"Nein, es ist nicht so wie du denkst."

Kevin neben mir meldete sich zu Wort.

"Hast du etwa? Kannst du etwa?"

Er lachte etwas belustigt.

"Nein, ich kann deine Gedanken nicht lesen, aber man muss kein Genie sein, um die Unzusammenhängenden Brocken, die du von dir gegeben hast, zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Er kann sich an alles erinnern. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Du hast das tote Gebiet selbst gesehen. Alle Tiere dort sind nicht von Anfang an so gewesen. Sie sind erst böse geworden."

Er streckte seinen Arm nach vorn und deutete auf Moritz.

"Und der Schuldige liegt dort. Es hatte genau eine Woche vor seiner Ankunft angefangen. Dieses Schloss in dem er gewohnt hatte, hatte begonnen, sich selbst zu bauen. Der Boden darunter hatte gebebt. Dieser wundervolle Schlossgarten, den du bestimmt zweifellos gesehen hast, ist dadurch entstanden, dass die Pflanzen darin denen außerhalb des Gartens die Energie ausgesaugt hatten Eine Woche nachdem das alles begonnen hatte, war er vom Himmel genau auf den Marktplatz unserer Hauptstadt gefallen. Von Anfang an, hat er nur Ärger gemacht. Er hatte sich bei dem Sturz den Arm verstaucht. Doch niemand konnte ihn verarzten. Jedes Mal als sich ihm jemand näherte schossen Blitze aus seinem Körper und verwundeten den Anderen schwer. Wenige Tage später kam ein Mann an, den jeder als "Gott" verehrte. Seitdem war er in dem Schloss und die Finsternis, wie es die Leute hier nennen, hatte begonnen sich schneller zu verbreiten, als je zuvor. Das was sich hier so unaufhaltsam verbreitet ist keine Finsternis. Nein, ganz sicher nicht. Es ist der pure Verfall und niemand kann etwas dagegen ausrichten."

Er sprach sehr ernst und wurde immer ärgerlicher. Das war erst einmal zu viel für mich. Ich konnte kaum glauben, dass Moritz der Ursprung der ganzen Situation sein sollte.

"Und was ist deine Aufgabe hier? Zweifelsfrei kommst du nämlich aus meiner Welt."

Er lachte wieder. Wagte dieser Typ es tatsächlich, mich aus zu lachen?

"Ich bin sozusagen der lange Arm des Gesetzes der echten Gottheit dieses Planeten. Die Gottheit des Lebens und des Todes, des Erfolgs und Misserfolgs, der Jugend und des Alters. Es ist der Gott Kismu. Er ist schon seit mehreren Jahrhunderten in Vergessenheit geraten. Doch er hat sein Volk nicht vergessen. Er kümmert sich weiter darum. Doch als dieser neue Gott aufgetaucht ist, wurde er sehr wütend. Er sah auch, dass das Land begann zu sterben. Er trug mir auf, den Ursprung dieses Leids entweder fort zu schicken. Falls dies nicht funktionieren sollte, soll ich ihn töten. Weißt du, warum ich eingesperrt gewesen bin?"

Ich zögerte.

"Weil... du dich gegen die Wachen gewehrt hast?"

"Nein. Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und dass ich ihn kenne. Er wurde wütend und sagte, er habe nichts damit zu tun und es sei eine gemeinte Lüge. Ich wollte ihn bannen, doch seine Wachen waren bereits angekommen und sperrten mich ein."

Seine Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen und sein Blick verdüsterte sich.

"Dieses Selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht werde ich wohl nie wieder vergessen!"

Er sah aus, als würde er sich jeden Moment auf Moritz stürzen und ihn erwürgen. Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Und mit einem Mal hatte ich die Idee. Ich klatschte begeistert in die Hände.

"Soll das heißen, dass du beliebig zwischen dieser und meiner Welt hin und her reisen kannst?"

Er nickte, den Blick immer noch auf Moritz geheftet. Ich wollte irgendetwas sagen, ihn irgendwie verteidigen. Doch mir fiel nichts ein. Es sprach alles gegen ihn. Kevin war an sein Bett getreten.

"Ich werde den Auftrag von Kismu hier und jetzt erledigen. Er ließ einen, ungefähr 30 Zentimeter, langen Eiskristall erscheinen. Sein Arm schnellte nach unten und mit ihr der Kristall. Geistesgegenwärtig griff ich nach der Schüssel und hielt sie vor Moritz. Der Kristall bohrte sich durch die Schüssel und blieb nach einem Drittel stecken. Meine Hand begann zu zittern. Glücklicherweise hatten mich meine Reflexe nicht im Stich gelassen. Sonst wäre ich wohl zu langsam gewesen. Ich schleuderte Schüssel, samt Kristall quer durchs Zimmer. Die Schüssel war gänzlich gefroren und zerbrach, sobald sie auf der Wand auftraf. Kleine Eissplitter landeten auf dem Boden.

"Du wirst ihn nicht töten. Das werde ich nicht zulassen! Niemals!"

Ich sprang auf.

"Und wenn du noch ein einziges Mal versuchen solltest, ihm etwas an zu tun, dann denk daran, dass du als aller erstes mich töten müsstest. Und ich werde es dir nicht leicht machen."

Er sah mich an und zog eine Augenbraue hoch.

"Ist das dein letztes Wort?"

Kurzes Schweigen. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, streifte Moritz und kehrte dann wieder zu Kevin zurück.

"Ja."

Meine Stimme klang sicherer als ich mich fühlte. Er machte eine kurze angedeutete Verbeugung.

"So sei es. Ich hoffe, du bereitest dich auf unseren Kampf gut vor. Denn es geht um Leben oder tot. Du kannst hier bleiben, mit ihm. Ich werde keinem von euch etwas tun. Doch sobald deine Kraft vollkommen erwacht ist, werde ich angreifen. Glaub bloß nicht, dass ich Skrupel davor habe, dich zu töten. Du bist nämlich nicht die Erste und wirst bestimmt auch nicht die Letzte sein."

Mit diesen Worten ließ er mich stehen, verließ das Zimmer und warf die Tür ins Schloss. Also so was! Jungen! Aus denen werde mal einer schlau! Ich kratzte mich am Hinterkopf. Dabei sieht er gar nicht wie jemand aus, der über Leichen geht. Ich setzte mich auf die Bettkante. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Hintern vollkommen durchnässt war. Ich stand auf. Pfui. Ich hatte den Impuls, mein Amulett nach vorne zu halten und "Zauberbuch" zu rufen. Genau das tat ich auch. Zu meinem Erstaunen schwebte genau vor mir tatsächlich mein Zauberbuch. Ich nahm es in die Hand und blätterte lustlos darin herum. Ich fand einen Zauber, mit dem ich mir neue Anziehsachen zaubern konnte. Dummerweise hatte ich meinen Zauberstab verlegt. Aber ich hatte eine Idee. Ich tat genau das gleiche wie mit dem Zauberbuch vorhin. Mehr als blamieren konnte ich mich ja nicht. Und siehe da, der Zauberstab erschien tatsächlich. Ich lachte hysterisch. Wahrscheinlich träumte ich das jetzt alles bloß! Sofort zauberte ich mir eine Jeans, ein T-Shirt, Socken und Turnschuhe. Sollten doch alle wissen, woher ich komme! Ich nahm die Sachen auf den Arm. Wo sollte ich mich nur umziehen? Moritz war zwar nicht bei Bewusstsein, aber dennoch männlich. Ich sah mich verzweifelt um. Keine Möglichkeit. Es klopfte an der Tür.

"Herein!"

Kevin trat durch die Tür. Er runzelte immer noch die Stirn.

"Wenn du dich waschen willst oder so, ein paar Meter tiefer im Wald gibt es einen Fluss, in dem du dich waschen kannst."

Mein Blick ging automatisch Richtung Moritz. Kevin lachte höhnisch.

"Keine Sorge. Ihm passiert nichts. Wir haben doch eine Abmachung."

Er ging in die Knie und begann, das Wasser vom Boden zu wischen. Ich beschloss einfach, ihm zu vertrauen. Er lügt mich bestimmt nicht an. Ich legte meine Anziehsachen neben Moritz aufs Bett und kniete mich hin. Ich wollte Kevin helfen, doch dieser hob nur abwehrend die Hand.

"Geh du dich lieber waschen."

Ohne Widerworte erhob ich mich, nahm meine Sachen und verließ das Haus. Kevin hatte Recht, es gab tatsächlich einen Fluss, doch Fluss war leicht übertrieben. Es war viel mehr ein "Flüsschen". Ich hob den Rest meines Kleides an und stieg hinein. Kaltes Wasser umspülte meine Füße. Es war sehr erfrischend. Wieso setzte ich mich so für Moritz ein? Ich schloss meine Augen, damit ich das Rauschen des Baches an meinen Füßen spüren konnte. Warum schrecken mich die Sachen, die Kevin mir erzählt hat nicht ab? Warum glaube ich so felsenfest an seine Unschuld? Warum will ich diese denn unbedingt beweisen? Ich frage mich, was für ein Mensch Moritz tatsächlich ist. Wenn ich mich bloß an mein früheres Leben erinnern könnte. Dann wüsste ich es wahrscheinlich. Ich öffnete die Augen wieder und ging zum Ufer zurück. Ich wusch mir das Gesicht, die Hände, die Arme, die Beine. Das Abenteuer in Moritz' Schloss hatte nicht nur das Kleid in Mitleidenschaft gezogen. An Schultern, Beinen und Armen hatte ich viele kleine Wunden. Ich wusch das bereits getrocknete Blut ab. Was ist, wenn Moritz doch schuld ist? Warum hat er mir nicht erzählt, dass er mich schon kennt? War dann der Kuss, den er mir gegeben hatte dann auch nicht ernst gemeint. Abwesend fasste ich an meine Lippen. Wenn ich an den Kuss dachte, kribbelten sie. Meine Wangen röteten sich. Was denke ich da eigentlich? Ich schüttelte meinen Kopf um jegliche Gedanken dieser Art zu vertreiben. Die Sonne neigte sich. Ich nahm meine frischen Sachen und zog sie schnell an. Ich ließ mich auf den Rücken fallen.

"Puh! Ob ich wohl in der anderen Welt einen Freund hatte? Vielleicht sogar Moritz?"

Ich kicherte. Das schien unwahrscheinlich. Hm, und meine Familie? Bestimmt hatte ich einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester. Wir waren bestimmt eine richtige Bilderbuchfamilie. Ich musste wieder lachen. Eine Bilderbuchfamilie, so was gab es doch bestimmt gar nicht mehr. Oder? Ich wusste gar nichts von der Welt, in der ich 17 Jahre lang gelebt hatte. Warum fühle ich mich Moritz so verbunden? Warum bleibt jeder zweite Gedanke an ihm hängen? Hat es vielleicht nur damit etwas zu tun, dass er der Einzige ist, der mir etwas über mein früheres Leben erzählen kann? Nein, es hat schon angefangen, bevor ich es wusste. Ist es wegen dem Kuss? Ich betrachtete mein Spiegelbild im Wasser. Fühle ich mich ihm nur wegen einem Kuss so verbunden? Ich ließ mich erneut auf den Rücken fallen. So viele Fragen und keine einzige Antwort. Ich schloss die Augen. Meine Mama. Ob sie mir ähnlich sah? Vielleicht träume ich ja mal von ihr...



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