Zum Inhalt der Seite

Equinox

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel VI - Die Macht der Einsamkeit

...und wieder eines! Und im Gegensatz zum vorigen Kapitel ging mir dieses sogar erstaunlich leicht von der Hand, obwohl ich vor diesen Szenen wirklich Angst hatte. Ich frage mich zwar, warum es so lang ist (erst passiert soooo viel und trotzdem ist man nur auf Seite Sieben, und knapp zwölf Seiten später wundert man sich dann, wieso eigentlich plötzlich so viel Zeit vergangen ist... ^^;), aber irgendwie mag ich es. Aus mehreren Gründen. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben und hoffe, dass es sich auch gut lesen lässt. Mehr möchte ich gar nicht dazu sagen, weil ich sonst zuviel verraten würde, und so wünsche ich lediglich noch eine frohe Lektüre und ein bisschen gesunden Wahnsinn für jedermann! ^_^
 

Die Stufe, auf der Shinya nun schon seit geschlagenen zehn bis fünfzehn Minuten saß, war kalt und nass und furchtbar unbequem, doch ihm fehlte die Kraft, um aufzustehen. Oder die Motivation. Oder beides. Sein Körper war wie gelähmt und seine Gedanken drehten sich im Kreis, dass ihm schwindlig wurde. Dabei wusste er eigentlich nur zu gut, dass er irgendetwas hätte tun müssen. Er wusste nur nicht, was. Er konnte ja nicht einmal wirklich begreifen, in welch absurde Lage er da wieder einmal geraten war.

Da waren vier Menschen - vier Menschen, von denen wenigstens einer ihm sogar verdammt am Herzen lag - von einem Augenblick auf den nächsten ganz einfach verschwunden und anstelle einer Treppe befand sich da plötzlich eine anscheinend vollkommen willkürlich umherwandernde und zudem noch äußerst anhängliche Steinmauer hinter ihm. Was übrigens auch der Grund dafür war, dass er nun weder ein noch aus konnte, denn der Weg hinauf ans Tageslicht war blockiert und der verheißungsvolle Lichtschein am Fuß der steinernen Wendeltreppe war aus einer kleinen Höhle gekommen, die weder Durchgänge noch Löcher im Boden, sondern lediglich ein paar halb heruntergebrannte Fackeln zu bieten hatte.

Und überhaupt, es war doch wirklich zum Verzweifeln! Da hatte er sich noch bis vor kurzem gefühlt wie ein sagenhafter Held, nur um wenig später (nämlich jetzt) so hilflos und jämmerlich wie eine Maus in der Falle zu sitzen. Er wusste ja selbst, dass er... vielleicht doch ein klein wenig vorschnell und unüberlegt gehandelt hatte, als er in eine vielleicht nur zufällige Wortwahl seines unsichtbaren Ratgebers gleich eine ganze Welt von Glorie und Triumph und Überlegenheit hineininterpretiert hatte, aber diese Strafe ging doch entschieden zu weit!

Wenn es denn eine Strafe war, denn möglicherweise lief ja auch alles ganz richtig und er musste sogar an genau diesem Ort mit genau diesen Gedanken sitzen, wer wusste das schon? Er jedenfalls nicht, denn immerhin hatte Phil ihn ja zuverlässig aus dem Reich seiner Träume gerissen, bevor er dem wirklich wichtigen Teil der Prophezeiung - er erschrak ein bisschen darüber, mit welch einer Selbstverständlichkeit er das Wort nun schon in Gedanken verwendete - hatte lauschen können. Oder war es am Ende gar sein Schicksal, in diesem feuchten Loch hier elendig verhungern zu müssen, während der Sonnenschein vom Dienst sich aufmachte, um den Planeten von allem Übel zu befreien?

Schlimmer als jede dieser ziellosen Gedankenverirrungen war jedoch die nagende Ungewissheit über das Schicksal seiner Gefährten. Gut, er hatte die Hälfte von ihnen nicht wirklich gemocht und auch die Vorstellung von einem Leben ohne Misty erschien ihm, ehrlich gesagt, nicht unbedingt als unerträglich schmerzvoll, aber trotzdem... er gönnte keinem von ihnen das Schicksal, von einer Felsmauer verschluckt zu werden, lebendig begraben in einem kalten Sarg aus massivem Stein. Ob sie überhaupt noch am Leben waren?

Shinya schüttelte kraftlos den Kopf und versuchte krampfhaft, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Er war an und für sich noch nie ein Mensch gewesen, der sich gerne in Gesellschaft großer Gruppen aufhielt oder mit anderen zusammenarbeitete. Im Gegenteil, er hatte schon so viele glückliche Stunden alleine verbracht und oft genug auch lieber mehr Arbeit verrichtet, als für ein bisschen - möglicherweise minderwertige - Unterstützung den teuren Preis von unliebsamen Kompromissen bezahlen zu müssen.

Nun jedoch hätte er viel darum gegeben, auch nur einen einzigen Menschen, egal welchen, an seiner Seite zu wissen. Er hasste sich dafür, aber sogar Phil wäre ihm in diesem Fall ganz recht gewesen, denn das qualvolle Gefühl, vollkommen auf sich allein gestellt zu sein, lastete derart schwer auf seinen Schultern, dass er meinte, jeden Augenblick unter seinem Gewicht zusammenbrechen zu müssen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war vollkommen ratlos und er sehnte sich so sehr nach irgendeiner Hilfe, dass es ihm schier die Kehle zuschnürte.

Aber warum konnte er das dumme Gefühl nicht loswerden, irgendetwas unendlich Wichtiges vergessen zu haben?

Die grün schimmernden Augen des Katzenjungen folgten einem Wassertropfen, der unendlich langsam von einem der fleckigen Steinfinger hinabrann, zitternd anschwoll und dann schließlich ruckartig zu Boden stürzte, wo er mit einem dumpfen Geräusch zerplatzte. Er ging im Geiste Satz für Satz der kurzen Unterhaltung durch, die er mit der merkwürdigen Stimme geführt hatte, versuchte sich an jedes Wort, jeden Wechsel im Tonfall genauestens zu erinnern, und dann plötzlich musste er lachen, als ihm auffiel, wie unverschämt naheliegend das Gesuchte doch wieder einmal gewesen war.
 

Jeder von euch wird - ganz auf sich allein gestellt - eine Aufgabe zu bestehen haben...
 

Shinya hob den Kopf, und ganz langsam verzogen sich seine Lippen zu einem siegessicheren Lächeln. Er stemmte sich an der glatten Felswand hoch und stapfte in die Mitte der kleinen Höhle, deren feuchte Wände im flackernden Licht der Fackeln zu brennen schienen. Seine Knie waren leicht zittrig, aber er meinte doch zumindest, endlich wieder einen vagen Lichtschein am Ende des Tunnels zu erkennen - nein, er weigerte sich, die Gefahr einer optischen Täuschung diesbezüglich auch nur in Betracht zu ziehen. Stattdessen stemmte er sich die Arme in die Seiten und schob trotzig sein Kinn nach vorne.

"Nettes Spielchen!" Shinyas Worte ließen die Flammen zu seinen Seiten wie kurze, heftige Windstöße erzittern. Für einen Augenblick schien das gedämpfte Licht in der Tropfsteinhöhle heller, blendender zu werden.

Und da glaubte der Katzenjunge, all die verwirrenden, scheinbar unerklärlichen Vorgänge der vergangenen Minuten endlich begreifen zu können. Im Grunde genommen waren sie doch alle vollkommen naiv und verblendet an die ganze Sache herangegangen. Er zumindest. In den schillerndsten, vielleicht auch abstoßendsten und bluttriefendsten Farben hatte er sich die Schrecken ausgemalt, die am Ende der steinernen Wendeltreppe möglicherweise auf ihn warten würden - ohne auch nur eine Sekunde lang überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass ihre Prüfung ja möglicherweise längst schon begonnen hatte. Dies war natürlich keine Sackgasse, dies war lediglich ein Test, der Test an seiner inneren Stärke.

Und bislang, musste Shinya mit einem leisen, beschämten Seufzer feststellen, hatte er auf der ganzen Linie versagt.

"Glaub bloß nicht, dass du mich so leicht drankriegst!", knurrte er einer der Wände entgegen und kam sich dabei zwar ziemlich blöd, aber irgendwie auch ganz schön gewitzt vor. Er war gefangen und er wurde geprüft, so weit alles schön und gut, aber immerhin wusste er um seine Zwangslage und allein schon das machte ihn verdammt noch mal um so vieles besser als diesen hässlichen tropfenden Kerker (er verzichtete bewusst auf die Bezeichnung Grab), der sich da auf Teufel komm raus mit ihm anlegen wollte. Natürlich gab es einen Ausweg und natürlich würde er ihn finden, wenn er es nur wirklich wollte!

"Also gut, ich weiß, dass es hier weitergeht!"

Shinya spürte selber, dass seine Worte nicht halb so überzeugt und überzeugend klangen, wie er das gerne gehabt hätte. Aber wie hätte er sich denn auch wirklich sicher sein können, das Richtige zu tun? Ein leiser Anflug von Scham überkam ihm, als er sich vorstellte, wie unglaublich lächerlich er in diesem Augenblick doch aussehen musste. Er hatte ja durchaus nichts gegen ungewöhnliche Problemlösungen einzuwenden, aber was er jetzt tat, war einfach zu absurd!

So absurd wie anscheinend alles auf dieser Insel, und gerade deshalb musste es ja eigentlich der richtige Weg sein. Außerdem - was hatte er denn schon für eine Wahl? Wenn dies hier wirklich das Ende war, wenn es aus seinem tropfenden, modrig riechenden Gefängnis tatsächlich keine Rettung mehr gab, dann konnte er sich auf diese Weise wenigstens die Zeit bis zu seinem Ende ein wenig verkürzen.

"Du meinst wohl wirklich, ich gebe so leicht auf? Jetzt hör mal zu, ich bin ein Estrella! Ich bin von wem auch immer auserwählt worden, ja? Und jetzt kommt da allen Ernstes so eine kleine Mauer daher und will mich aufhalten? Ach nein, wie komisch! Spar dir deine beschissenen Psychospielchen für jemand anderen, falls du das überhaupt noch kannst, wenn ich hier erst mal raus bin!"

Der Katzenjunge wusste nicht, wen er da nun eigentlich anschrie, aber in jedem Fall half es ihm, denn langsam fühlte er echte Wut in sich aufsteigen.

"Ich finde einen Weg aus dieser verdammten Höhle heraus und ich find auch die andren wieder! Ich weiß, dass ich es kann, hörst du mich? Ich weiß es!!"

Shinyas letzte Worte gingen in einem urplötzlich über ihn hereinbrechenden Klirren unter. In Sekundenbruchteilen schien die Welt um ihn herum in sich zusammenzufallen wie ein Schloss aus Sand, begraben unter einer Sturmwelle. Ein helles Licht flackerte auf und zwang ihn dazu, seine Augen zu schließen und die Hände vor das Gesicht zu schlagen. Einige Sekunden lang verharrte er in dieser Haltung, bis die enervierende Geräuschkulisse erneut einer Stille wich, die aus irgendeinem Grund sogar noch ungleich bedrückender war als die vorherige.

Der Katzenjunge wagte es nicht sofort, seine Augen zu öffnen, und konnte seine Umgebung dann, als er es tat, auch zunächst einmal noch gar nicht richtig wahrnehmen. Grelle Flämmchen tanzten wie betrunkene Glühwürmchen in einem vollkommen unscharfen, konturlosen Bild umher, was allerdings nicht etwa der Grund dafür war, dass Shinya seine Umgebung nicht mehr wiedererkennen konnte. Er war nicht länger von düsterem, kantigem Höhlengestein umgeben, sondern von ungemein hellen und vollkommen glatten Wänden, die auch den schwächsten, kümmerlichsten Lichtstrahl hundertfach reflektieren mussten.

Der Halbdämon schloss erneut die Augen, und als er sie zum zweiten Mal öffnete, klärte sich sein Blickfeld endgültig auf und nahm feste Gestalt an. Er stand vor einer Wand, die aus einem seltsam glänzenden Metall bestand. Diese Wand setzte sich ohne Unterbrechungen zu beiden Seiten von ihm scheinbar bis ins Unendliche fort und war dabei vollkommen gerade und exakt symmetrisch. Nur ein etwa einen Meter breiter Gang trennte die spiegelglatten Mauern voneinander.

Spiegelglatt...

Shinya fröstelte, als ihm schlagartig bewusst wurde, was ihn an dem fremdartigen Mauerwerk so sehr irritiert hatte. Er war sich nämlich vollkommen sicher, dass es sich dabei tatsächlich um Spiegel handeln musste - allerdings um Spiegel, in denen er sich selbst nicht sehen konnte! Aber wie war das möglich? Der Katzenjunge wandte seinen Blick nach oben und nach unten, nur um festzustellen, dass auch die Decke und der Boden aus demselben merkwürdigen Metall oder Gestein oder was auch immer bestanden und nahtlos in die Wände übergingen, sodass mit bloßem Auge kaum auszumachen war, wo nun die Decke anfing und die Wand endete oder umgekehrt.

"Shinya?"

Der Halbdämon spitzte die Ohren. Hatte er wirklich Hoshis Stimme gehört? Alles um ihn herum war so... so seltsam, so... falsch, dass er sich eigentlich überhaupt nicht mehr sicher war, was er noch glauben konnte. Ein beklemmendes Gefühl presste auf seine Kehle, als er sich langsam, fast schon ein wenig ängstlich herumdrehte - und verflog dann schlagartig wieder, als er seine Freundin am Ende des durch und durch von Licht erfüllten Ganges stehen sah. Ihr Gesicht war bleich und ihre dunklen Augen ein bisschen geweitet, aber beides erhellte sich, als Shinya ihren Blick erwiderte. Ein leises Beben lief durch ihre Lippen, und auch ihr Körper schien zu zittern, als sie zögerlich ihre Arme in seine Richtung hob.

"Hoshi! Du... du bist in Ordnung, ja?"

Das Mädchen nickte, auch wenn sie mit jeder Sekunde mehr danach aussah, als ob sie im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen müsste. Obwohl er wusste, dass das nicht unbedingt sensibel war, entwich doch ein erleichtertes Lachen aus Shinyas Brust. Er hatte zwar immer noch keine Ahnung, wo er war und was er zu tun hatte, aber der Gedanke, mit Hoshi gemeinsam ratlos und ängstlich und vielleicht sogar etwas verstört zu sein, erschien ihm doch als durchaus erträglich.

Der Katzenjunge wollte noch irgendetwas sagen, vielleicht etwas Tröstliches, aber dann überkam ihn ganz plötzlich das unbedingte Bedürfnis, den zierlichen Körper der Dunkelhaarigen in seine Arme zu schließen, sie an sich zu drücken und nie wieder loszulassen. Er begann zu rennen, den Blick auf ihre sanften, einsamen Augen gerichtet, und öffnete noch im Laufen die Arme, um sich ihr ohne Rücksicht auf Verluste schlicht und ergreifend um den Hals zu werfen.

"Hoshi!"

Der Aufprall war so hart wie auf blankem Stein, und eine eisige Kälte durchzuckte Shinyas Körper, als er das spiegelnde Glas berührte. Mit einem erschrockenen Aufschrei taumelte der Katzenjunge zurück. Er starrte auf die Wand und direkt in zwei große, grüne Augen, die seinen Blick nicht weniger entsetzt erwiderten - in die Augen seines eigenen totenbleichen Spiegelbildes.

"Nein!" Erst jetzt bemerkte Shinya überhaupt, dass er gestürzt war. Er sprang auf und trat heftig atmend der Spiegelmauer entgegen. "Hoshi, verdammt, wo bist du?"

Der Halbdämon streckte eine zittrige Hand nach seinem eigenen Abbild aus, doch noch bevor seine Finger die des gespiegelten Shinyas berührten, jagte ein eisiger Schmerz durch seine Haut. Auf dem Gesicht des Katzenjungen im Spiegel breitete sich ein höhnisches Lächeln aus.

"Willkommen in deinem Alptraum, Shinya!"

Die Stimme des Spiegelbildes klang alles, nur nicht menschlich - mehr wie zerspringendes Eis. Shinya stieß ein panisches Keuchen aus und wollte seine Hand zurückreißen, doch leider drang dieser Befehl um etliche Sekunden zu spät zu den schon beinahe tauben Fingerkuppen durch. Die beiden Hände trafen sich und noch im selben Augenblick erstarrte Shinyas gesamter Körper. Sein Ebenbild warf den Kopf in den Nacken und gab ein gehässiges, schrilles Lachen von sich, das an den Wänden abprallte und wie ein nadelspitzer Eisregen durch den Gang fegte.

"Wie gefällt dir das, Shinya?"

Ein helles Licht bohrte sich wie glühende Dolche in die Augen des Halbdämons (der diese blendenden Ungetüme übrigens langsam aber sicher zu hassen begann), ein bläulich-weißes Glühen, das gleichzeitig von einer eiskalten Transparenz erfüllt war. Die kalte Helligkeit verblasste zu einem nebligen Schleier, in den sich eine wirbelnde Bewegung mischte, und schließlich konnte Shinya vier Gestalten erkennen, deren Körper wie bizarre Geistererscheinungen in durchscheinendem Blau glommen.

Obwohl es der Situation wohl eigentlich alles andere als angemessen war, spürte Shinya doch eine Welle hysterischer Erheiterung über seinen Körper hereinbrechen, als er endlich erkannte, wer da als finsterer Gespensterreigen um ihn herum tanzte - es waren niemand anderes als Hoshi, Rayo, Noctan und Misty, deren glühende Augen ihn aus maskenhaft starr lächelnden Gesichtern heraus fixierten. Ihren körperlos leichtfüßigen Bewegungen haftete eine spielerisch absurde Anmut an, die es dem Katzenjungen unmöglich machte, seinen Blick von dem unheimlichen Schauspiel abzuwenden.

Hoshi lachte auf. Ihr Lachen war so klar und kalt wie tausend Eisnadeln, die sich unendlich langsam in seine Trommelfelle bohrten.

"Hallo, Shinya! Da bist du ja endlich! Sag, wollen wir nicht ein wenig spielen?" Das Mädchen kicherte, dann neigte sie den Kopf zur Seite und verzog ihre Lippen zu einem zuckersüßen Lächeln. "Hoshi sagt... lauf!"

Shinya war immer noch viel zu geschockt, um sich auch nur einen einzigen Schritt nach vorne oder hinten oder sonst wohin bewegen zu können. Einzig sein Kopf folgte in rastloser, gehetzter Bewegung dem Tanz der eisfarben schimmernden Geister, die einmal seine Gefährten gewesen waren. Der gespenstischen Hoshi schien das ganz und gar nicht zu gefallen, denn sie verzog ihr Gesicht und wirkte einen Moment lang wie ein wütendes kleines Mädchen, das trotz größter Anstrengung von seinen Eltern keine Süßigkeiten hatte erbetteln können. Ein zorniges Blitzen lief durch ihre kalten Augen.

"Ich sagte... lauf!!"

In das klirrend verzerrte Echo der sogar überaus nachdrücklich gesprochenen Worte mischte sich ein anderes Geräusch - ein leises, tiefes Grollen, ähnlich einem weit entfernten Donner, der vom Nahen eines Gewitters kündigte. Wie in Zeitlupentempo drehte Shinya seinen Kopf, während sich ein eiserner Ring um seinen Hals zu legen schien.

Am Ende des Ganges sah er ein klaffendes schwarzes Loch in der Spiegelwand, dessen pulsierende, bewegte Konturen es erst auf den zweiten Blick als lebendiges Wesen auswiesen. Bläulich glänzendes Fell bedeckte seinen riesigen, unförmigen Leib, der ebenso kalt schimmerte wie einer der Spiegel, die ihn umgaben. Das sterile Licht, das den Gang zu Anfang erfüllt hatte, war inzwischen einem leblosen, eisig blauen Schimmer gewichen. Die Augen der Kreatur, deren geschwulstartig verzerrte Gliedmaßen entfernt an einen etwas zu groß geratenen Kampfhund erinnerten, leuchteten als grauenvoll lebendiger Kontrast dazu in einem sehr tiefen Rot, ähnlich dem Blut eines frisch geschlachteten Ochsen.

"Du... du bist doch nur eine Illusion!" Shinyas Ruf brachte Bewegung in den trägen Leib der Bestie. Die blutig leeren Augenhöhlen fixierten den Katzenjungen wie ein hilfloses Beutetier, aber der zwang sich dazu, seinen Blick nicht von dem abstoßenden Untier abzuwenden. "Du bist nur ein Spiegelbild, okay? Du kannst mir nichts tun!"

Shinya hatte eigentlich vorgehabt, seine Stimme gefasst und sicher und sogar ein bisschen bedrohlich klingen zu lassen, aber wieder einmal sollte sein Plan sogar gründlichst scheitern. Jedes einzelne seiner Worte war durchtränkt von einem hysterischen Zittern, das nicht einmal er selbst von sich kannte. Hoshi schien das jedenfalls ganz furchtbar amüsant zu finden, denn sie stieß ein schmerzhaft schrilles Lachen aus.

"Dummchen! Hunde spüren Angst, weißt du das nicht?"

Die Augen des Katzenjungen weiteten sich, als er sah, wie sich das Wesen ihm langsam, beinahe schleppend näherte. Die Nase des Ungetüms zuckte fortwährend, und wenn der Gedanke nicht so unerträglich gewesen wäre, dann hätte Shinya schwören können, dass es ihn witterte.

"Du bist nicht echt...", murmelte er ein ums andere mal wie eine verzweifelte Beschwörungsformel vor sich hin, während er rückwärts kroch, bis er das eiskalte Spiegelglas in seinem Rücken fühlte. "Du kannst mir nichts tun, du bist doch gar nicht echt..."

Das rotäugige Monster schlurfte unbeirrbar weiter auf ihn zu, bis es irgendwann direkt vor ihm stand und Shinya seinen warmen, nach verwestem Fleisch stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte.

"Verdammt noch mal, du bist nicht echt!!"

Die Bestie holte aus und schlug dann blitzschnell ihre Klauen in Shinyas zur Abwehr erhobenen Arm. Einen Augenblick lang war dieser so perplex, dass es vorkam, als ob genau in dieser Sekunde die Zeit ganz einfach eingefroren worden wäre, als ob der entstellte Hund mit den blutigen Augen ebenso zu atmen aufgehört hätte wie seine geisterhaften Mitstreiter und vor allem auch wie er selbst. Dann kehrte auf einen Schlag die Bewegung zurück - und mit ihr der Schmerz. Shinya sah, dass sich eine langer, hässlich gezackter Riss über seinen linken Unterarm zog, aus dem das Blut förmlich hervorquoll. Der zerfetzte grüne Stoff seines Ärmels färbte sich in ein dunkles Rot und auf dem spiegelnden Boden breitete sich beunruhigend schnell eine klebrige warme Lache aus, die vergeblich versuchte, ihr eigenes, bläuliches Spiegelbild zu bedecken.

Die tanzende Hoshi gab erneut ein eisig kaltes, durchdringendes Lachen von sich. Ihre Stimme klang mittlerweile jedoch nicht einmal mehr so klar wie Eis, sondern viel eher wie das misstönende Kratzen einer zerbrochenen Spieluhr.

"Na los doch, Shinya... lauf! Lauf!"

Noch während sie ihren unmelodischen Singsang von sich gab, riss das schwarze Wesen sein Maul weit auf und legte zwei unregelmäßige Reihen messerscharfer, rot verkrusteter Zähne frei.

"Lauf, Shinya, lauf!!"

Ein erneuter feuchtwarmer Schwall übelriechenden Atems schlug dem Katzenjungen mitten ins Gesicht und trieb ihm Tränen in die Augen - ließ jedoch endlich auch die lähmende Starre von seinem Körper abfallen, als er in einer einzigen grauenvollen Sekunde erkennen musste, dass jedes weitere Zögern sein sicheres und ganz und gar nicht nur eingebildetes Todesurteil bedeuten würde.

Mit einem Schrei fuhr er hoch und stürzte blindlings den Spiegelgang hinab, ohne noch einmal zurückzublicken. Anstelle von Blut schien nunmehr pures Adrenalin durch seinen Körper zu jagen, und es ließ ihn rennen, so schnell seine Beine ihn tragen konnten. Die Krallen des Monsters verursachten ein scharrendes Geräusch auf dem Boden, als es enttäuscht oder einfach nur hungrig knurrend die Verfolgung aufnahm. Shinya zwang sich dazu, sein halsbrecherisches Tempo beizubehalten, trotzdem schienen sich die knirschenden Schritte der Bestie nicht im Geringsten zu entfernen - ganz im Gegenteil. Das schnaubende Keuchen hinter ihm schien mit jedem verzweifelten Meter näher zu kommen.

Der eisfarbene Gang war nicht, wie er zunächst fälschlicherweise angenommen hatte, schnurgerade, sondern teilte sich in unzählige Biegungen und Abzweigungen, sodass der Katzenjunge bereits nach kurzer Zeit jegliche Orientierung verloren hatte. Ein Labyrinth, fuhr es ihm durch den Kopf, er war in ein Spiegellabyrinth geraten! Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass es damals auf dem Jahrmarkt von Haída auch solch einen verwinkelten Irrgarten gegeben hatte. Shinya war damals noch sehr klein gewesen und er hatte sich ein bisschen verlaufen und schreckliche Angst gehabt, den Ausgang möglicherweise niemals wiederzufinden und von den anderen Kindern ganz einfach zurückgelassen und vergessen zu werden. Natürlich war dies eine kindische Angst und das Spiegelkabinett eben doch nicht mehr als eine Kirmesattraktion gewesen, die sicher keinem Menschen, der älter war als sieben oder acht Jahre, das Fürchten gelehrt hätte.

Leider befand er sich nun in einer doch etwas anderen Situation. Er war in einem alptraumhaften Labyrinth gefangen, von dem er ja nicht einmal sicher wissen konnte, ob es denn überhaupt einen Ausgang besaß. Den Gesetzen der Natur zufolge musste zwar wirklich alles, das über einen Eingang verfügte, auch irgendwo einen Ausgang oder zumindest ein Ende besitzen, aber wer sagte ihm denn, dass ebendiese Gesetze an solch einem Ort auch gültig waren? Konnten denn Steinwände Treppen steigen und Menschen verschwinden und Höhlen, wenn sie beleidigt wurden, zu Spiegeln werden? Was ihn aber vor allem mehr und mehr beunruhigte, das war sein sogar überaus berechtigter Zweifel daran, ob er den Ausgang, wenn es ihn denn gab, überhaupt noch finden konnte, bevor eine gewisse blutrünstige Bestie ihn einholen und zum Frühstück verspeisen würde. Oder zum Mittagessen. Je nachdem.

Andererseits, vielleicht war dieses verwinkelte Gewirr spiegelglatter Wände ja auch seine letzte, wenn auch nur verschwindend kleine Chance?

Der Gedanke kam Shinya so plötzlich, dass der unvermutete Lichtblick ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht und seine aufkeimende Hoffnung so im Ansatz schon wieder zerschlagen, oder besser gesagt, verspeist hätte. Es war riskant, es war schlecht bis überhaupt nicht durchdacht und es war auch eigentlich gar kein richtiger Plan, sondern mehr eine gar nicht mal sonderlich aussichtsreiche Verzweiflungstat. Aber vielleicht würde er das monströse, blutgierige Hundewesen ja doch noch abhängen können, wenn er nur schnell genug rannte, wenn er nur immer und immer wieder Haken schlagen und die Richtung wechseln würde?

Er musste schleunigst versuchen, den schnelleren Verfolger durch Geschick abzuhängen, denn mit jedem Schritt wich ein bisschen mehr Gefühl aus seinen Beinen und machte einem dumpfen, reißenden Schmerz Platz. Die Luft schien aus tausend winzigen Eiskristallen zu bestehen, die sich wie Nadeln in Shinyas Lungen bohrten und das Atmen zur Qual werden ließen. Und auch das heftige Seitenstechen, das wie ein stumpfer Dolch in der Brust des Katzenjungen wütete, erleichterte seine verzweifelte Flucht nicht unbedingt. Vielleicht war es ein letzter, blasser Hoffnungsfunke, der Shinya dennoch unbarmherzig weitertrieb - vielleicht war es aber auch einfach nur der eiskalte Hauch der Todesangst, der mit jedem Scharren, jedem Knurren und Lechzen, das an seine Ohren drang, wie ein Stromschlag durch seinen Körper jagte.

Irgendwie gelang es ihm sogar, sein Tempo noch einmal zu steigern - eine schier übermenschliche Leistung, von der er sich bei späterem Nachdenken niemals mehr so wirklich hatte erklären können, wie er sie denn überhaupt noch zustande gebracht hatte. Shinyas Füße flogen förmlich über den Spiegelboden hinweg, während er blind um jede Ecke und in jeden Gang hinein stürzte, der zufällig seinen Weg kreuzte. Mehr als nur einmal schlug er sich in seiner irrsinnigen Geschwindigkeit an den Mauern und Kanten an, was ganz besonders die tiefe Wunde in seinem Arm erfreute, aber er presste die Zähne fest aufeinander und lief weiter.

In diesen Minuten ging beziehungsweise rannte Shinya im wahrsten Sinne des Wortes durch die Hölle. Er fühlte sich schon grauenhaft, bevor das beflügelnde Überlebenshormon seinen Körper wieder verlassen hatte - was danach erst kommen würde, wollte er sich einfach nicht vorstellen! Seine Muskeln fühlten sich ganz weich und zittrig an und obendrein schmerzten sie fürchterlich. Sein Magen hatte schon vor geraumer Zeit damit begonnen, gegen die gar nicht mehr enden wollende körperliche Überbelastung zu protestieren und vor seinen Augen flimmerte es, was die Übelkeit auch nicht unbedingt sehr viel besser machte.

Der Katzenjunge litt, aber wenigstens litt er nicht umsonst, denn irgendwann meinte er trotz des heftig in seinen Ohren rauschenden Blutes wahrzunehmen, dass das Geräusch der auf dem Boden scharrenden Krallen langsamer wurde und sich dann nach und nach von ihm entfernte. Ein leises Gefühl des Triumphes erwachte in seiner geschundenen Brust. Vielleicht konnte er es ja tatsächlich noch schaffen, wenn er jetzt nur nicht aufgab!

Der Gedanke hatte sich gerade erst vorsichtig in seine rasenden Gedanken eingeschlichen, als Shinya plötzlich ein leises, aber trotzdem noch unerträglich schrilles Kichern neben sich hörte. Widerwillig wandte er seine Augen in die Richtung des unangenehm misstönenden Geräusches, freilich ohne dabei sein Tempo zu drosseln, und sah die geisterhaft düstere Gestalt von Hoshi, die scheinbar vollkommen mühelos im Spiegel neben ihm herhüpfte.

"Ach Shinya, du Dummchen. Du glaubst doch wohl nicht wirklich, du könntest ihn so abhängen? Du wirst laufen, immer weiter laufen, solange ich es will!"

"Hau ab!", stieß Shinya keuchend hervor, auch wenn jedes Wort ihn... eigentlich überall schmerzte, besonders aber in seinen Lungen. "Er... er kann mich... nicht überall finden!"

"Nicht?" Das Mädchen schlug ihre langen Wimpern einige Male auf und nieder, dann lachte sie. "Aber natürlich kann er das! Es ist ganz einfach. Du legst die Spur und er folgt ihr."

"Die... Spur?"

Obwohl Shinya es nicht tun wollte und auch eigentlich gar nicht mehr wirklich tun konnte, da er ja selbst zum Geradeauslaufen kaum mehr imstande war, wandte er doch den Kopf und warf einen Blick zurück über seine Schulter. Im nächsten Moment verwandelte sich wiederum die Konsistenz seines ehemaligen Blutes, nämlich in zerfließendes Eis, das seinen ganzen Körper schlagartig einfrieren ließ. Hinter ihm zog sich nämlich eine dünne, unregelmäßige, aber doch leider auch unübersehbare Blutspur wie ein roter Faden den gesamten Gang hinab.

"Mein... mein Arm...", ächzte der Katzenjunge. Hoshis bläuliche Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.

"Na, was hab ich dir gesagt? Du wirst laufen, Shinya, lauf nur immer weiter, sonst kriegt er dich! Und weißt du was? Du wirst für immer, immer, immer hier bleiben. Hier, bei mir... bei uns..."

"Nein..."

Auf einen Schlag erlosch auch noch der letzte Funken Kraft, den die verzweifelte Hoffnung in Shinyas Körper entfacht hatte. Seine Beine trugen sein Gewicht nicht mehr. Er kippte vornüber und konnte sich gerade noch mit dem rechten Arm abfangen, bevor er ganz auf dem eisigen Boden aufschlug. Sein Körper sackte zitternd in sich zusammen, und beinahe noch in der nächsten Sekunde vernahm der Katzenjunge ein Geräusch hinter der Biegung des Spiegelganges, das er ohne große Fantasie als das suchende Wittern eines sehr großen Jagdhundes ausmachen konnte. Gleichzeitig begriff Shinya, dass er sterben würde - dass er sterben musste, dass der sichere Tod ihm während seines gesamten Laufes im Nacken gesessen war, bis er ihn nun endlich eingeholt hatte.

Shinya keuchte und versuchte verzweifelt, noch einmal aufzustehen, aber es gelang ihm nicht einmal mehr, sich auf dem Spiegelboden abzustützen, geschweige denn die Beine zu bewegen. Vor seinen Augen flimmerte es, so als blickte er durch eine über und über von schwirrenden Fliegenkörpern bedeckte Glasscheibe. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm jemals zuvor derart schlecht gewesen war und so verwandte er seine letzten Kräfte lieber darauf, möglichst keinen Millimeter seines Körpers mehr zu bewegen, um sich nach Möglichkeiten nicht auch noch von seinem ohnehin schon reichlich kümmerlichen Frühstück verabschieden zu müssen.

Ja, verdammt, er wusste immer noch, dass er sterben würde, aber je öfter er diese Worte durch seinen trüben Gedankensumpf kreisen lies, desto mehr verloren sie an Bedeutung. Er hatte keine Angst. Wie konnte er sich noch fürchten, wenn jede Faser seines Körpers vor Schmerzen schrie und er vor Erschöpfung hätte in Tränen ausbrechen können, wäre das nicht auch eine entschieden zu große Anstrengung gewiesen? Der Kampf war vorbei, und es war ihm gleichgültig. Alles war besser, als weiterlaufen zu müssen!

Um seinen Atem zu beruhigen (ein allzu gieriges Einsaugen der Luft war nicht unbedingt die beste Medizin für das Stechen in seinen Lungen und seinen sich scheinbar pausenlos im Kreise drehenden Magen) begann Shinya im Geiste zu zählen - die Sekunden bis zu seinem Tode, wie er in einem leisen, aber eben wirklich nur sehr, sehr leisen Anflug von Bitterkeit feststellte. In seinem Mund hatte es sich ein widerwärtiger Geschmack von Blut bequem gemacht und sein Hals brannte wie Feuer, aber wenigstens fand das rasende Pulsieren seines Herzens langsam wieder in einen gleichmäßigen Takt zurück und auch das Rauschen in seinen Ohren verklang nach und nach.

Die Rückkehr der Stille war diesmal allerdings keineswegs mehr belastend. Sie erfüllte den Halbdämon mit einer tiefen, endgültigen Ruhe, nach der er sich in diesen fürchterlichen Augenblicken mehr sehnte als nach allem anderen, und irgendwann schrumpften selbst die freundlichen Brüder Schmerz und Erschöpfung wieder auf ein erträgliches Maß zurück. Oder er spürte er sie einfach nicht mehr so recht, weil er sich langsam daran gewöhnt hatte. Oder er war bereits tot. Allerdings hätte er dann ja wohl überhaupt nichts mehr spüren dürfen, was aber nicht der Fall war, und so konnte Shinya wenigstens diese Möglichkeit nach reiflicher Überlegung ausschließen.

Er war also noch am Leben und außerdem war es still, und plötzlich bemerkte der Katzenjunge, dass darin doch eigentlich ein unvereinbarer Widerspruch lag.

Wo war der grausige schwarze Schatten, der ihn die ganze Zeit über verfolgt hatte? Wo war sein Keuchen, sein Hecheln, sein Knurren, wo das unvermeidliche Scharren seiner messerscharfen Klauen auf dem glatten Untergrund? Dass er es nun nicht mehr hörte, konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass die Bestie sich verzogen hatte. Aber warum hätte sie sich verziehen sollen, ohne ihn davor getötet, zerlegt und aufgefressen zu haben?

Verwirrt und angespannt schlug Shinya die Augen auf. Im Grunde genommen rechnete er fest damit, geradewegs in einen weit aufgerissenen, stinkenden Schlund und nur wenige Sekunden später der Totengöttin höchstpersönlich ins bleiche Angesicht zu blicken, aber die Wirklichkeit sollte sich doch als weitaus unspektakulärer herausstellen. Vor ihm lag nichts anderes als ein kalter, beharrlich schweigender Spiegelgang, durch dessen eisiges Blau sich als einziger Farbtupfer eine dünne, glitzernd rote Blutspur zog. Von dem schwarzen Höllenhund und Hoshis tanzendem, kicherndem Geisterspiegelbild fehlte hingegen jede Spur.

Shinya presste einen müden Seufzer zwischen den Lippen hervor und ließ seinen Kopf achtlos wieder auf den kalten, harten Boden zurückfallen. Er war jetzt entschieden zu erschöpft dazu, um sich über all die Rätsel und Absurditäten dieses tödlichen Irrgartens noch länger den Kopf zu zerbrechen. Eine merkwürdig dumpfe Gleichgültigkeit hatte sich in seinem Inneren ausgebreitet und er schaffte es einfach nicht mehr, diese zu hinterfragen oder gar dagegen anzukämpfen. Einige Minuten lang blieb er regungslos liegen und sammelte neue Kräfte. Dann quälte er sich mit einiger Mühe wieder auf die Beine und trottete den eisblauen Spiegelgang hinab.
 

Was auch immer Shinya nun eigentlich vorgehabt hatte - es sollte sich schon bald als vollkommen aussichtslos erweisen. Die unzähligen Abzweigungen der finsteren Spiegelkorridore glichen sich wie ein Ei dem anderen und machten es ihm unmöglich, auch nur ein Mindestmaß an Orientierung zu bewahren. Sein Arm hatte mittlerweile aufgehört zu bluten, das schmerzhafte Stechen und Pochen der Wunde war dem Katzenjungen jedoch sehr wohl erhalten geblieben. Mehr als nur einmal war sein Weg in einer Sackgasse geendet, und manchmal, wenn er gerade neue Hoffnung geschöpft hatte, dem Ausgang vielleicht doch ein Stückchen näher gekommen zu sein, fand er sich im nächsten Augenblick auch schon in einem Gang wieder, in dem eine dünne, eingetrocknete Blutspur ihn wenig angenehm an seine verzweifelte Flucht erinnerte.

Sein einziger Begleiter auf dem langen, ziel- und ereignislosen Marsch durch die endlosen Gänge des Labyrinthes war sein eigenes Spiegelbild, das ihm von jeder einzelnen Wand, ja sogar von Decke und Boden her müde und niedergeschlagen entgegenblickte. Übrigens eine Gesellschaft, auf die er gut und gern hätte verzichten können, da sie weder ermutigend noch unterhaltsam war. Nur ab und an suchten die glanzlosen Augen der geschundenen Kreatur im Spiegel die von Shinya, doch schon ein kurzer Blick auf die hängenden, struppigen Katzenohren, die blutverschmierte Kleidung und das starre, bleiche Gesicht brachte den Halbdämon meist recht schnell dazu, sich wieder von seinem äußerst mitgenommen aussehenden Gefährten abzuwenden - so weit die erdrückende Übermacht der Spiegel dies eben zuließ.

Shinya seufzte zum etwa hundertsten Mal, seit er seine ganz und gar erfolglose Suche nach was auch immer begonnen hatte. Ihm war, als ob ihn jeder schmerzende Schritt seiner mittlerweile fast schon tauben Füße tiefer in einen Abgrund völliger Resignation und Hoffnungslosigkeit hineinführte, doch er konnte sich nicht mehr dazu aufraffen, diesen Pfad zu verlassen und nach einem anderen zu suchen. Überall waren Spiegel, Spiegel, nichts als Spiegel und kaltes Licht und dahinter wieder Spiegel, über und neben und unter ihm, und er wollte sie nicht mehr sehen, er... er wollte sich nicht mehr sehen.

Und überhaupt, was nutzte es ihm denn eigentlich, dass er sich neben seinem Arm nun auch noch die Sohlen und Beine ruinierte? Shinya seufzte erneut und sogar noch ein bisschen mutloser als zuvor und ließ sich dann an einer der makellos glatten Spiegelwände hinabsinken. Er hatte verflucht noch mal genug von dieser Prüfung, von der erdrückenden Stille und von der Einsamkeit, am allermeisten aber von jener erbärmlichen, bleichen Fratze, die da mit ihren leeren, blassen Augen durch ihn hindurchstarrte. Er zog die Knie an seinen Körper und vergrub das Gesicht in den Armen, um seinen eigenen Anblick nicht mehr länger ertragen zu müssen.

Was verlangte man da eigentlich von ihm? Sollte er mit bloßen Händen eine geifernde, mordlustige Bestie erschlagen? Sollte er ohne jedes Hilfsmittel jeden einzelnen der unzähligen Spiegel in tausend Stücke zertrümmern und sich so irgendwie einen Weg ins Freie bahnen? Sollte er immer weiter und weiter und weiter laufen, bis ihm irgendwann die Füße bluteten oder er einfach vor Erschöpfung und Durst tot umkippte? Er wollte sich doch bewähren, aber wie um alles in der Welt sollte er das denn machen, wenn man es ausgerechnet ihm wieder einmal vollkommen unmöglich machte?!

"Shinya gibt au-auf..."

Müde hob der Katzenjunge den Blick und sah nun doch wieder in sein eigenes Antlitz, das ihn jetzt allerdings vollkommen unpassenderweise aus dem Spiegel heraus anlächelte. Dabei war ihm nun wirklich zu allem, nur ganz gewiss nicht zum Lächeln zumute!

"Was willst du?", murmelte er, ohne dass ihn die Antwort auch nur im Geringsten interessiert hätte. Warum konnte man ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen?

"Schäm dich! So etwas tut man doch nicht!" Shinyas Stimme schien auf eine grauenhafte Art und Weise verzerrt aus allen Richtungen an seine Ohren zu dringen. "Los, steh schon auf, oder soll ich dir helfen?"

Das Spiegelbild lächelte nicht mehr länger - es grinste, allerdings auf eine unbeschreiblich düstere und bösartige Weise, die den Katzenjungen nun doch ein kleines bisschen beunruhigte. Diese Beunruhigung schlug im nächsten Augenblick in blankes Entsetzen um, als sein dunkles Abbild ein langes, beilartiges Messer hinter dem Rücken hervorzog. Die Klinge schimmerte in demselben transparent kalten Eisblau wie Spiegel, die den Katzenjungen in diesem furchtbaren Irrgarten gefangen hielten.

"Nein!" Plötzlich war Shinya sogar sehr schnell wieder auf den Beinen - fast ein bisschen zu schnell, denn sein Kreislauf war ja ohnehin schon reichlich mitgenommen, sodass sein eigener Schwung den Katzenjungen beinahe postwendend wieder zu Boden geworfen hätte. "Ich... ich hab's kapiert, ja? Ich such doch weiter, schon klar, aber... aber lass mich wenigstens kurz mal ausruhen, nur... nur ein bisschen!"

"Ein bisschen, ein bisschen!" Die Stimme des Spiegelbildes klang zunehmend schriller, und noch während das Grinsen auf seinem Gesicht zu einer wahnwitzigen Grimasse erstarrte, platzten auch die Äderchen in seinen Augen auf, bis diese von demselben blutigen Rot durchtränkt waren wie die des bestialischen Hundes. "Ich lasse mich nicht gerne belügen, das mag ich nämlich überhaupt gar nicht! Du gibst schon wieder auf, Shinya, ist es nicht so? Es wird schwierig und du gibst auf, ach nein, wie bewundernswert! Ein wahrer Held..."

Er kicherte blechern, und dann stieß er zu, blitzschnell und ohne jede weitere Vorwarnung. Shinya konnte nicht einmal mehr darüber nachdenken, auszuweichen, und sein grauenhaftes Ebenbild hätte ihn wohl ganz ohne jeden Zweifel umgebracht, wäre dies denn wirklich in seiner Absicht gelegen. Oder, wie der Katzenjunge sich bei einem weiteren Blick in die klaffenden Höhlen, bei denen es sich vor gar nicht mal so langer Zeit noch um Augen gehandelt hatte, verbesserte, wenn dies denn wirklich schon in seiner Absicht gelegen hätte. Dass nämlich nichts anderes als sein blutiges Ableben das erklärte Ziel des Spiegelwesens sein musste, daran zweifelte Shinya keine Sekunde lang.

Wahrscheinlich war es nur ganz einfach so, dass es dieses Vorhaben noch eine Weile genießen wollte.

Shinya schluckte schwer, und erst jetzt bemerkte er, dass ein heftiges Brennen durch seine Wange zuckte. Vorsichtig hob seine Hand zu seinem Gesicht und betastete die schmerzende Stelle, und er war wenig überrascht, als er eine warme und leicht klebrige Flüssigkeit an seinen Fingerspitzen fühlte, die sich zudem langsam den Weg über seinen Hals hinabbahnte.

"Das nächste mal treffe ich deinen Hals... oder dein Herz, wenn du so etwas überhaupt besitzt, Dämon!", knurrte der Shinya im Spiegel und stieß ein kaltes Lachen aus. "Du willst dich ausruhen? Bitte... ich kann dir eine Menge Zeit zur Ruhe geben, wenn dir so viel daran liegt. Es ist besser für jeden von uns..."

"Ja... aber..."

"Halt den Mund!" Die Stimme des düsteren Spiegelbildes überschlug sich. Mit einer ungelenken, ruckartigen Bewegung riss er die breite Klinge seines eisigen Messers hoch über seinen Kopf, und diese marionettenhafte Verrenkung hätte sogar durchaus etwas überaus Komisches an sich gehabt, wäre da nicht auch eine unübersehbar immense Kraft gewesen, die dem geplanten Angriff innewohnen musste. Shinya keuchte, und obwohl sich jedes einzelne Haar an seinem Körper schon bei dem Gedanken daran hartnäckig sträubte, vollführte er eine wenig elegante Halbdrehung und sprintete dann aufs Neue den eisig blauen Gang hinab.

Seine zweite Flucht sollte sich als noch ungleich kopfloser gestalten als die vorangegangene. Shinya dachte nicht einmal mehr darüber nach, wie und ob er seinen Verfolger durch geschicktes Haken schlagen abhängen konnte, er stürzte einfach in jeden neuen Spiegelkorridor, den er vor sich auftauchen sah. Aber gerade aus diesem Grund, weil er einfach lief, ohne lange darüber nachzudenken, erreichte er trotz allem noch ein Tempo, das er sich angesichts seiner mehr als nur angeschlagenen Konstitution gar nicht mehr wirklich zu erhoffen gewagt hatte. Die Umgebung des Katzenjungen verschwamm zu einem konturlosen Rausch aus dumpfem Licht und schimmerndem Eisblau, jagte mit drohenden Ecken und Kanten meist nur haarscharf an ihm vorbei - und formte sich dann binnen weniger Sekundenbruchteile zu einem massiven Wall aus blitzendem Silber, der sich beinahe unmittelbar vor ihm auftürmte.

Als Shinya begriff, dass er gerade eben emsig dabei war, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, war es schon längst zu spät. Er war gerade wieder nichts ahnend in eine neue Abzweigung gestürmt, ohne seine Geschwindigkeit dabei auch nur im Geringsten zu drosseln - und prallte dann im nächsten Augenblick auch schon gegen die eiskalte und überaus harte Wand, die ihm leider bereits nach kaum mehr als zwei Metern erbarmungslos seinen Weg versperrte.

Ein betäubender Schmerz trieb ihm die Luft aus den Lungen, sodass statt eines Schreis nur mehr ein leises, ersticktes Wimmern über seine Lippen kam. Seine gesamte Körpervorderseite begann schlagartig zu kribbeln, so als ob eine ganze Kolonie von brennenden Ameisen unter seiner Haut umherwuseln würde, und sein Kiefer schien mindestens auf die doppelte Größe anzuschwellen, sodass Shinya etliche Augenblicke lang ernstlich befürchtete, er könnte zerschmettert oder doch zumindest gebrochen sein. Er wollte vorsichtig nach seinem Gesicht tasten, doch noch ehe es dazu kam brach ein heftiges Schwindelgefühl über seinen Körper herein und er taumelte rückwärts, verlor beinahe den Halt unter seinen Füßen und stützte sich dann im letzten Moment an einer der glatten Spiegelmauern ab.

Er atmete tief durch, blickte benommen auf - und bemerkte erst dann, dass er in eine Sackgasse gelaufen war.

Ein hysterisches Krächzen, das wohl so etwas ähnliches wie ein höhnisches Lachen darstellen sollte, ließ den Katzenjungen wie elektrisiert herumfahren. Und obwohl er es selbst unter Aufbietung all seiner Naivität ja im Grunde genommen überhaupt nicht anders hätte erwarten können, versetzte der Anblick seines dämonischen Gegenstücks Shinya doch einen überaus schmerzhaften Stich in der Brust. Ihm war, als ob ein Schutzwall tief in ihm zusammenbrechen würde, eine Mauer, auf die in leuchtenden, verlogenen Buchstaben das Wort Hoffnung geschrieben worden war. Erst jetzt, als sich die Lippen des Spiegelbildes zu einem boshaft triumphierenden Lächeln verzogen, wurde Shinya schlagartig bewusst, in welch einer ausweglosen Situation er sich tatsächlich befand.

Von dem Schlachtermesser in der blässlich transparenten Haut tropfte Blut, das ebenso rot leuchtete wie die ausdruckslosen Augen der Kreatur.

"Denkst du wirklich, du könntest vor mir davonlaufen?" Er warf sich seinen Zopf über die Schulter und hob erneut die befleckte Klinge. Und obwohl sich Shinya dafür mittlerweile wirklich zu verabscheuen begann, brach doch augenblicklich wieder jene schicksalsergebene Lähmung über seinen ganzen Körper herein. Nicht zum ersten Mal, seit er das Labyrinth auf welchem Wege auch immer betreten hatte, war er in einer Situation, in der er ganz genau wusste, dass er laufen... nein, dass er kämpfen sollte, und er obwohl er diesmal körperlich ganz ohne jeden Zweifel noch dazu in der Lage gewesen wäre... konnte er es doch nicht. Nicht mehr.

Er hatte keinerlei Kraft mehr für eine Prüfung, deren Aufgabe darin bestand, vor einem Schatten fliehen zu müssen, dem er ja doch nicht entkommen konnte, weil er untrennbar mit ihm verbunden war.

Das Spiegelbild lachte, als ob es seine Gedanken gelesen hätte, und fuhr langsam mit einem seiner bleichen Finger über die Klinge der schmutzigen Waffe. Ein Tropfen bläulich roten Blutes sickerte träge aus der durchscheinenden Haut hervor. Der geisterhafte Katzenjunge leckte genüsslich die schillernde Flüssigkeit ab, während seine leeren Augen Shinyas Gesicht fixierten.

Dann kicherte er, riss sein Messer hoch und stach zu.

Der Halbdämon sah das Blitzen der Klinge, als sie den höchsten Punkt über dem Kopf seines dunklen Ebenbildes überschritt. Eine Kette absurder Gedanken raste durch Shinyas Bewusstsein, ohne ihn wirklich zu erreichen, während die rasenden Sekunden des tödlich präzisen Angriffes zu einer unerträglichen, merkwürdig hohlen Ewigkeit zerflossen. Wieder blickte der Katzenjunge seinem sicheren Tod ins Auge, und wieder verspürte er keine Angst. Es war vorbei und das konnte er nicht mehr ändern.

Sein Spiegelbild allerdings schon, denn nur wenige Millimeter, bevor sich seine blutige Waffe in Shinyas Stirn bohrte, hielt er ruckartig inne und bremste die rasende Klinge mühelos ab.

"Aber nein... das wäre doch viel zu einfach, unser schönes Spielchen jetzt schon zu beenden. Genau das wünscht du dir doch, oder Shinya? Dass es endlich vorbei ist... wie erbärmlich du doch bist..." Ein glanzloses Blitzen lief durch die blutroten Augen. "Weißt du was? Ich hole mir lieber deine... Freunde, einen nach dem anderen. Oder, wie du es immer so schön ausdrückst, deine... Gefährten, denn für alles andere bist du ja schon aus Prinzip viel zu einsam und ungeliebt und verstoßen, habe ich Recht? Wenigstens werden die sich ein bisschen wehren. Hoffe ich. Was glaubst du wird Hoshi wohl denken, wenn sie von dir, von ihrem geliebten Shinya erstochen wird? Aber hab keine Angst - du kannst hier bleiben und für immer und ewig in deinem geliebten Selbstmitleid zerfließen, weil du genau so alleine sein wirst, wie es dir lieb ist..."

"Nein!!"

Shinya fühlte sich in etwa so, als ob man ihm in den vergangenen Sekunden wenigstens fünfmal mitten ins Gesicht geschlagen hätte - nicht nur verbal, sondern mit roher körperlicher Gewalt, und das war zwar verflucht noch mal äußerst schmerzhaft, aber es riss den Katzenjungen auch aus der resignierten Trance, die ihn befallen hatte. Was ihn nun erfüllte, war ganz gewiss keine Gleichgültigkeit mehr, sondern Hass. Nicht Wut, nicht Zorn, keine heißblütige Erregung, sondern eisig kalter Hass auf sein Spiegelbild... auf sich selbst... auf diese ganze verdammte Prüfung und auf die Tatsache, dass er aufgegeben hatte und genau wusste, dass er es wieder tun würde, wenn das grausame Spiel auch nur eine einzige Minute lang so weitergehen würde wie zuvor.

Der weiße Stoff seiner fingerlosen Handschuhe konnte nun auch nicht mehr viel dagegen ausrichten, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in die eiskalte Haut seiner Hände bohrten. Aber dieser Schmerz störte ihn rein gar nicht mehr, ganz im Gegenteil, er ließ eine unbändige Kraft durch seine Adern jagen, die sein Herz schneller schlagen ließ, und das nicht etwa vor Angst. Eine Welle lebendiger Hitze lief durch seine erstarrten Gliedmaßen, und plötzlich sickerte etwas zwischen seinen Fingern hervor, ein pechschwarzer, pulsierender Nebel, der sich wie eine zweite, dunkel glühende Haut um seine Hände legte.

"Du rührst sie nicht an! Du rührst mich nicht an!"

Shinya stieß einen Schrei aus, der mit seiner gewohnten menschlichen Stimme nicht mehr auch nur das Geringste zu tun hatte, winkelte seine Arme an und riss sie dann ruckartig wieder nach vorne.

Die Explosion war so gewaltig, dass sie ihn selbst von den Beinen riss und rückwärts gegen einen der kalten blauen Spiegel schleuderte, der noch im selben Augenblick mit einem kreischenden Klirren in tausend funkelnde Stücke zersprang. Eine Welle von schwarzem Licht durchflutete binnen weniger Sekundenbruchteile den gesamten Raum und ließ die massiven, scheinbar unüberwindlichen Wände in ein Meer von eisigen Glassplittern zerbersten. Tiefvioletter Rauch legte sich über das düstere und doch gleißend helle Leuchten und vernebelte die Sicht auf das gläserne Blutbad.

Die Todesschreie der fallenden Spiegel wurden von dem angenehm warmen Schleier verschluckt, aber ihr Sterben war noch längst nicht vorüber. Keine der Scherben erreichte den Boden, sie verblassten noch im Fallen wie ein Traum, der vergeblich versuchte, sich im Kopf eines Erwachenden festzuhalten, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne diesen mit unerbittlicher Sanftheit in die Wirklichkeit zurückzerrten.

Das gläserne Labyrinth war binnen weniger Augenblicke in sich zusammengebrochen.
 

Die Zeit schien stillzustehen, während Shinya durch die Luft geworfen wurde. Er spürte, wie er in die Scheibe eines Spiegels krachte, hörte das Bersten der Wände im gesamten Labyrinth, doch keine der zahllosen Spiegelscherben bohrte sich in seine Haut oder verletzte ihn. Das Nächste was er wieder bewusst fühlte, war ein dumpfer Schmerz im Rücken, als er mit eben diesem auf dem steinharten Boden aufschlug.

Der Katzenjunge schnappte nach Luft und öffnete dann zögerlich seine Augen. Zunächst einmal sah er nichts als violetten Nebel, der in schweren Bahnen die Luft erfüllte, aber als auch dieser langsam verblasste, erblickte Shinya weit über sich eine dunkle, zerklüftete Steindecke. Das Atmen bereitete ihm größte Mühe und er konnte sich auch jetzt schon lebhaft die schwarz und blau und grün und violett befleckte Landschaft von Blutergüssen vorstellen, die in wohl nicht allzu ferner Zukunft seinen Rücken zieren würde, aber gleichzeitig fühlte er sich von einer nie gekannten Kraft durchströmt und lebendiger als jemals zuvor. Aber was hatte er denn überhaupt getan? Hatte er wirklich mit seinen eigenen Händen das Labyrinth vernichtet, wo er sich doch noch vor wenigen Augenblicken den Tod ja förmlich herbeigesehnt hatte?

Und war dieses warme, berauschende Gefühl in seinem Körper... war das Magie?

"Shinya!"

Der Katzenjunge hob langsam und mit einiger Mühe den Kopf nur ein Stück weit an, doch dieses kleine Stückchen genügte vollkommen, um ihn seine Schmerzen auf einen Schlag vergessen zu lassen - zumindest weitestgehend. Und vorläufig. Und oberflächlich. Aber immerhin.

Nur wenige Meter von ihm entfernt stand da nämlich Hoshi, und schon ein einziger Blick in ihre Augen versicherte Shinya mit vollkommener Gewissheit, dass es sich diesmal um die wirkliche, die echte Hoshi handeln musste. Die Erleichterung auf ihrem Gesicht erfüllte ihn mit neuer Kraft, und so kämpfte er sich tapfer wieder auf die Füße und wartete sicherheitshalber noch zwei oder drei Sekunden, bis er sich vollkommen sicher sein konnte, nicht augenblicklich wieder nach vorne oder hinten oder auch irgendwie seitlich umzukippen.

Dann rannte er los und fiel dem Mädchen um den Hals.

"Hoshi... du... du bist wieder da..."

Einige Minuten lang stand er einfach nur da und hielt sie fest, so fest er eben noch konnte. Er fühlte ihre Wärme auf seiner Haut, ihren Atem in seinem Nacken und atmete den Duft ihres dunklen, schimmernden Haares ein. Und obwohl er eigentlich sehr genau zu wissen glaubte, dass es nun vorbei war, wagte er es dennoch nicht, sich auch nur einen einzigen Millimeter weit von ihr zu entfernen, denn da war immer noch diese boshafte Stimme in seinem Inneren, und die flüsterte unaufhörlich, dass Hoshi wieder verschwinden würde, dass sie ebenso zerspringen und sich in dampfendes Nichts auflösen musste wie all die Spiegel, wenn er sie nur jemals wieder losließ.

"Ist ja gut, Shinya. Ich... ich bin ja hier..." Der Katzenjunge spürte, wie ihm Hoshis Finger unendlich sanft über den Rücken strichen. Er drückte sein Gesicht an ihren Hals und wagte es nun endlich, befreit und erleichtert aufzuatmen.

"Ähm... auch auf die Gefahr hin, dich möglicherweise zu enttäuschen... wir sind übrigens auch wieder da."

Shinya blickte auf und sah Noctan und Misty, die neben ihn getreten waren, ohne dass er davon Notiz genommen hätte. Noctan hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während das kleine Mädchen über das ganze Gesicht strahlte, obgleich in ihren Augen auch ein verdächtig feuchter Schimmer lag. Sie öffnete den Mund, presste ihre Lippen dann jedoch wieder fest aufeinander und warf sich Hoshi um die Hüften. Shinya stolperte unweigerlich zurück - und war heilfroh, als sich die Dunkelhaarige daraufhin keineswegs wieder in Luft auflöste, sondern das schluchzende kleine Mädchen mit einem leisen bedauernden Seufzer in ihre Arme schloss.

Der Katzenjunge musste lächeln und sah sich nach Rayo um, der aus einer weiter entfernten Ecke des wahrhaft gigantischen Raumes auf sie zugeeilt kam.

"Hey Leute, ich bin so dermaßen froh, euch alle wiederzusehn, das glaubt ihr nicht!" Shinya schenkte seinen Gefährten... seinen Freunden ein sehr erschöpftes, aber doch auch ungemein glückliches Lachen.

"Ich wäre ja vor allem froh, diese märchenhafte Idylle hier auch irgendwann mal wieder verlassen zu dürfen!" Noctan sah sich leise grummelnd in der riesigen und überaus finsteren Höhle um, in deren Mitte sie nun standen. "Von dieser mysteriösen Belohnung fange ich liebe erst gar nicht an... man ist ja nicht habgierig. Oder anspruchsvoll."

Shinya nickte nur und musterte schweigend die müden, immer noch etwas verängstigt wirkenden Gesichter seiner Mitstreiter. Anscheinend war es ihnen auch nicht viel besser ergangen als ihm selbst, dachte er mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen - und stockte, als sein Blick bei Noctan hängen blieb.

In den violetten Augen des Weißhaarigen lag ein seltsames Flackern und sein Blick wirkte merkwürdig rastlos, ja fast schon... gehetzt. Der Katzenjunge runzelte die Stirn. Vielleicht irritierte ihn der Anblick ja nur deshalb so sehr, weil er derart menschliche Gefühlsregungen von dem jungen Estrella ganz einfach nicht gewohnt war. Aber dennoch konnte er den Eindruck nicht ganz loswerden, dass auf Noctans Gesicht eine seltsame Art von besonders tiefer Verstörtheit lag, die er bei dem natürlich auch ganz schön mitgenommen dreinblickenden Rest seiner Gefährten trotz allem nicht entdecken konnte. Shinya konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was der junge Weißhaarige in dem Labyrinth gesehen hatte, aber anscheinend war es sogar noch schlimmer gewesen als blutrünstige Bestien, durchgedrehte Hoshis und amoklaufende Spiegelbilder.

Der Katzenjunge schüttelte den Kopf und wandte sich rasch wieder von ihm ab.

"Wir... sollten erst mal ne Pause machen, find ich. Keine Ahnung wie's euch da so geht, aber ich brauch jetzt unbedingt eine kleine Stärkung!" Er streckte sich und gähnte demonstrativ.

"Das ist eine gute Idee, dann kann ich mich vielleicht auch ein bisschen um eure Wunden kümmern!", nickte Hoshi und schielte auf Shinyas Arm. "Ach so, und... Shinya..." In ihre großen braunen Augen trat ein ernster Ausdruck. "Warst du das?"

"Meinst du das Labyrinth?" Der Katzenjunge zuckte mit den Schultern. "Ich... ich weiß nicht... aber ich denk mal schon... sieht aus, als ob ich doch auch irgendwie zaubern könnte!" Er verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. "Na wart mal ab, wenn ich das Phil erzähle!"

Hoshi sah zu Boden, und aus irgendeinem Grund hatte Shinya das dumpfe Gefühl, dass sie seinem Blick nicht zufällig auswich.

"Ich weiß nicht... ob das so einfach ist. Denkst du nicht, ich hätte so etwas auch versucht? Dieses Labyrinth muss durch einen sehr, sehr mächtigen Zauber erschaffen worden sein. So mächtig, dass alle Illusionen uns tatsächlich angreifen und verletzen konnten." Sie atmete tief durch und musste sich sichtlich dazu zwingen, Shinya wieder direkt in die Augen zu sehen. "Du hast gerade eben zum ersten Mal in deinem Leben gezaubert, und du hast den gesamten Irrgarten auf einen Schlag vernichtet. Ich habe noch nie in meinem Leben eine derartig mächtige Magie gesehen!"

"Ja, aber... warum dann diese finstere Miene?" Shinya sah das Mädchen lauernd und auch ein wenig verletzt an. Er fühlte seine neu gewonnene Macht immer noch als wohligen Schauer durch seinen Körper jagen - warum also lag auf Hoshis Gesicht nun ein derart sorgenvoller Ausdruck? "Bist du eifersüchtig, weil ich das Ding kaputt machen konnte und du nicht, oder wie?"

Der Katzenjunge wusste, dass er Unsinn redete, und der Ausdruck in Hoshis dunklen Augen tat sein Übriges, um ihn die Worte eigentlich schon in dem Moment bereuen zu lassen, da er sie über die Lippen gebracht hatte. Das Mädchen tat zwar so, als ob es seinen unpassenden Nachsatz ganz einfach überhört hätte, erreichte damit aber lediglich, dass Shinya sich sogar noch ein kleines bisschen kindischer und dümmer vorkam.

"Na ja... du bist immerhin der Krieger der Dunkelheit, vergiss das nicht. Ich weiß ja wohl am besten, dass du keine bösen Absichten hast, aber deine Macht ist und bleibt nun mal tödlich. Und ich denke nicht, dass du deine Magie kontrollieren kannst."

"Moment mal!" Shinyas guter Vorsatz, das Gespräch von nun an auf sachlicher, diplomatischer Ebene fortzuführen, war leider schneller wieder vergessen, als er ihn überhaupt gefasst hatte. "Immerhin hab ich euch gerade eben allen miteinander das Leben gerettet, schon vergessen? Soooo schlecht und tödlich und böse und was weiß ich noch alles kann meine Magie dann ja wohl nicht sein, oder?"

"Nein, aber... du hast doch aus Angst gezaubert, aus Wut, warum auch immer..."

"... und ich habe euch allen damit das Leben gerettet." Der Katzenjunge presste trotzig seine Lippen aufeinander. Hoshi seufzte.

"Bitte, Shinya, versteh mich nicht falsch. Ich weiß, wie sehr du dich... darüber freust... das sehe ich doch! Ich mache mir ja einfach nur Sorgen um dich!"

"Ja, aber ich verstehe nicht warum!" Shinya ließ seinen Blick durch den schwarzbraunen, von dicht verwobenen Schatten erfüllten Steinsaal schweifen. "Phil hat das Zaubern ja auch nicht gelernt! Wenn er es so plötzlich kann, warum sollte ich es nicht genauso gut beherrschen? Nur, weil ich ein halber Dämon bin, ist es das?!"

"Das hat doch damit nichts zu tun!" Hoshi trat direkt vor Shinya hin und sah ihm tief in die Augen. Der Katzenjunge wusste nicht, ob er seine Freundin schon jemals so ernst gesehen hatte, und plötzlich fühlte er sich wieder ebenso kindisch und dumm wie zuvor. "Jetzt hör mal zu: Erstens haben sich Phils Kräfte ja ganz offensichtlich nicht auf natürlichem Wege entwickelt... und außerdem sind das Spielereien im Vergleich zu dem, was du da gerade eben vollbracht hast. Weißt du nicht mehr, Shinya? Du bist der Auserwählte, und daran glaube ich ganz fest, auch wenn das immer noch furchtbar kitschig klingt. Aber wenn du noch einmal die Kontrolle über deine Kräfte verlierst, könntest du vielleicht mehr zerstören als nur Glas, verstehst du?"

"Mann, Hoshi, ich hasse es, dass du immer und mit allem Recht hast, weißt du das eigentlich?" Shinya strich sich sein braunes Haar aus der Stirn und lächelte ergeben. Er war enttäuscht und er spürte auch, dass man ihm das ansah, aber Hoshi war taktvoll genug, um unbefangen und ohne jede Spur von Mitleid in ihren Augen sein Lächeln zu erwidern. "Ich weiß, ich kann meine Magie nicht wirklich kontrollieren. Aber wenn ich Phil und seine Truppe besiegen möchte, dann muss ich wohl irgendwie nen Weg finden, das zu lernen."

Hoshi nickte langsam.

"Kann schon sein. Aber davor solltest du deine Magie auf gar keinen Fall mehr benutzen!"
 

"...und dann hatte Chibi plötzlich gaaaaanz lange Zähne und... und... und hat Misty verfolgt und Misty hatte soooolche Angst!" Das kleine Mädchen schüttelte sich, dass ihre hellblauen Zöpfe wild um ihren Kopf herum flogen.

"Das ist ja noch harmlos!", entgegnete Rayo und hob seinen Zeigefinger. "Ich wurde von einer monströsen Erscheinung auf einem schwarzen Ross gejagt, und von meinem Spiegelbild, ist das nicht wirklich furchtbar? Und am Ende... stellt euch nur vor, am Ende wollte mich Noctan mit einem Messer töten!"

Shinya konnte sich ein Grinsen in Richtung des weißhaarigen Kriegers nicht verkneifen, was ihm mit einem wahrhaft tödlichen Blick quittiert wurde.

"Also, bei mir wurde erst der Gang überflutet und ich hatte schon das Gefühl, ich würde ertrinken!" Hoshi verzog das Gesicht. "Außerdem war da auch noch mein Spiegelbild... und dann hat Shinya... ja, genau du... mir so ein wahnsinniges Vampirmädchen auf den Hals gehetzt! Sie wollte mich gerade beißen, als du den Irrgarten vernichtet hast."

"Das ist ja seltsam!" Der Katzenjunge runzelte die Stirn. "Mir hast du, Hoshi, nämlich so einen widerlichen Mörderhund hinterhergejagt, weil ich erst nicht bei deinem Hoshi-sagt-lauf-Spielchen mitmachen wollte... jetzt kuck nicht so! In dem Labyrinth fand ich das gar nicht lustig. Wie auch immer, dann hat mich natürlich auch noch mein irres Spiegelbild mit so nem halben Beil gejagt, aber da erzähl ich euch ja scheinbar nix Neues..."

"Hey, ich glaub, ich hab's kapiert!", rief Hoshi und klatschte triumphierend in die Hände. "Jeder wurde von etwas gejagt, was er besonders gern hat! Bei Misty war es ihr Tien-Tien, Chibi. Bei mir..." Ihr Lächeln wirkte mit einem Mal ganz hinreißend verlegen. "Bei mir warst es du, Shinya... bei dir gerade umgekehrt... und bei Rayo... nein... doch nicht..."

Shinya sah seine Freundin an, und kaum trafen seine Augen die des Mädchens, da war es um seine Beherrschung geschehen und er brach beinahe synchron mit ihr in lautstarkes Gelächter aus.

"Das... das ist überhaupt nicht komisch!", protestierte Rayo und schüttelte eifrig seinen hochroten Kopf. "Das kann doch nur... nur ein Zufall sein, oder?"

"Ja... ja bestimmt!", kicherte Hoshi und schnappte nach Luft, während Shinya sich auf den Rücken hatte fallen lassen und sich immer noch lachend den Bauch hielt, der ihm das übrigens einmal mehr mit einem empörten Schmerzen und Ziehen dankte. "Aber mal eine andere Frage, was ist dir eigentlich passiert, Noctan?"

"Das geht euch überhaupt nichts an!"

Der Tonfall des Weißhaarigen war derart scharf, dass selbst der Katzenjunge schlagartig verstummte, obwohl er sich bis vor einer Sekunde lang noch vollkommen sicher gewesen war, an seinem gar nicht mehr enden wollenden Lachen ersticken zu müssen. Er wischte sich verlegen eine Lachträne aus dem Gesicht und rappelte sich dann eilig wieder auf.

"Hey, Noctan was is denn..."

"Ich werde mich lediglich nicht an diesem ganzen kindischen Herumgezanke über das schlimmste und schrecklichste und traumatischste Erlebnis beteiligen, das ist!" Die violetten Augen des jungen Weißhaarigen funkelten wütend... nein, eigentlich weit mehr als einfach nur wütend auf, und ein leises, aber doch nicht unbedingt beruhigendes Beben lief durch seine Lippen.

"Ist ja gut..." Hoshi hob abwehrend die Hände. "Du musst uns nicht gleich auffressen!"

"Ach, lasst mich doch einfach in Ruhe...", murmelte Noctan und stand auf. "Ich werde euch schon nicht beim gegenseitigen Bemitleiden stören, keine Angst. Macht nur immer weiter so! Wir haben ja auch schließlich keine anderen Pläne, aber nein, warum sollten wir denn auch weitergehen? Phil und seine Jünger werden uns ja ganz bestimmt nicht die sagenumwobene Belohnung wegnehmen, sondern brav auf uns warten, um dann alles brüderlich mit uns zu teilen. Oh Freude!"

"Danke, Noctan!" Shinya stemmte sich ebenfalls auf die Füße und stapfte an dem Weißhaarigen vorbei, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen. "Kommt, Leute! Lasst uns gehen..."

"Jetzt streitet doch nicht schon wieder! Bitte! Habt ihr vergessen, was die Stimme aus Shinyas Traum gesagt hat? Wir müssen wenigstens versuchen, zusammenzuhalten!"

Shinya seufzte. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

"Ist ja gut, Hoshi. Wir... sollten uns wirklich nicht streiten. Nicht jetzt, wo wir so weit gekommen sind..."

Trotz des mehr oder weniger überzeugt besiegelten Friedensvertrages lag ein düsteres Schweigen über der kleinen Gruppe, als sie durch den scheinbar endlosen Felsensaal wanderte. Der lange, eintönige Marsch führte sie durch ein graubraunes, modrig riechendes Halbdunkel aus Stein und tropfendem Wasser. Das trostlose Lied der patschenden Schritte auf dem feuchten, unangenehm felsigen Boden schien gar nicht mehr verstummen zu wollen und begleitete die kleine Gruppe auf ihrer ziellosen Suche wie ein höhnisches, glucksendes Lachen.

Bis irgendwann, ganz plötzlich, lautlos und vollkommen unspektakulär ein großes, von einem fleckigen Marmorbogen umrahmtes Portal in der Felswand vor ihnen auftauchte. Der Anblick kam derart unvermutet, dass Shinya beinahe einfach an dem hohen, schmucklosen Ausgang vorbeigelaufen wäre. Der Katzenjunge blieb einige Sekunden lang mit offenem Mund stehen, dann schüttelte er den Kopf und ging weiter.

Höchstwahrscheinlich hatten seine Augen ihm angesichts der unregelmäßig gemusterten, feuchtglatten Felswand zuvor ganz einfach nur einen Streich gespielt, sodass er den schlichten Durchgang überhaupt nicht früher hatte bemerken können. Sicher, diese Höhle war gigantisch, düster, und mit einem Mindestmaß an Fantasie betrachtet auch reichlich unheimlich, aber eines war sie doch ganz bestimmt nicht mehr - verzaubert. Dazu war einfach alles ein bisschen zu kalt, zu feucht und ein gewaltiges Stück zu ungemütlich.

"Endlich!" Hoshis Lachen glich einem erleichterten Stoßseufzer und zerschnitt das beklemmende Tuch der Stille, das sich wie ein unangenehm klebriges Spinnennetz um die jungen Estrella geschlungen hatte. "Na kommt schon, nichts wie weg von hier"

Das Mädchen beschleunigte seine Schritte und zog an Shinya vorbei, der dem vermeintlichen Ausgang weit weniger euphorisch entgegeneilte. Der Katzenjunge hielt sich eine Hand an die Stirn und kniff angestrengt seine Augen zusammen, konnte aber dennoch nicht erkennen, was hinter dem Durchgang lag, obwohl dieser ganz eindeutig nicht durch ein Tor verschlossen war. Trotzdem schien die vollkommene, dichte Dunkelheit hinter dem fleckigen Gestein massiver und undurchdringlicher zu sein als jede noch so solide Stahltüre.

Dem Katzenjungen lief ein kalter Schauer über den Nacken und kroch dann wie mit einer Hundertschaft von eisigen, ekelhaft behaarten Spinnenbeinen seinen Rücken hinab.

"Wenn du meinst...", seufzte er, spannte seinen Körper und zwang sich dazu, eilig voranzuschreiten. Wenige Schritte vor der klaffenden Felswunde verlangsamte er jedoch sein Tempo erneut und blieb dann schließlich ganz stehen.

"Worauf wartest du, Shinya?" Hoshi wandte sich zu dem Katzenjungen um und lächelte ihm mit fragenden Augen aufmunternd entgegen.

"Ach, irgendwie..." Shinya brach ab und suchte nach den richtigen Worten, ohne jedoch wirklich fündig zu werden. "Irgendwie... gefällt mir das nicht. Keine Ahnung, aber wenn ich daran denke, was bis jetzt so alles passiert ist, geht mir das hier irgendwie ein wenig zu... einfach. Plötzlich ist da ne Türe und dahinter liegt dann am besten auch gleich noch der Schatz, oder wie? Ich weiß nicht..."

"Wer sagt, dass dahinter ein Schatz auf uns wartet?" Noctan trat vor das konturlose, undurchdringliche Dunkel. "Schön, das Labyrinth ist vernichtet. Aber diese Einladung ist so offensichtlich, dass doch eigentlich nur eine Falle dahinter stecken kann. Wie auch immer, mich soll's nicht stören."

"Misty will aber keine Falle mehr!" Das kleine Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und hockte sich demonstrativ auf den kalten Felsboden. "Dieses Labyrinth hat Misty Angst gemacht und diese Höhle mag Misty auch nicht und überhaupt will Misty nicht, dass ihre Freunde schon wieder weg sind!"

"Auch gut." Noctan zuckte mit den Schultern. "Dann bleiben wir eben hier und warten, bis wir verhungert sind."

"Misty will nicht verhungert sein!"

"Misty muss auch nicht verhungern!", seufzte Hoshi, nicht ohne einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Weißhaarigen zu schicken. "Und natürlich leg ich auch keinen Wert darauf, dass wir wieder voneinander getrennt werden und der ganze Ärger hier von vorne beginnt. Aber ganz offensichtlich gibt es ja nur den einen Weg."

"Was uns folglich zu welchem Entschluss bringt?"

"Jetzt denk mal scharf nach, Noctan!" Shinyas linkes Katzenohr durchlief ein ungeduldiges Zucken. "Es gibt genau einen einzigen Weg und wir wollen hier raus. Jetzt wird's aber verdammt knifflig, was da wohl zu tun ist."

"Shinya! Jetzt hörst du dich aber selbst schon an wie er!", raunte Hoshi dem Halbdämon kopfschüttelnd zu und fuhr dann in lauterem Tonfall fort: "Das Problem ist ja wohl offensichtlich. Wir können schlecht hier bleiben, aber wenn wir weitergehen, lässt sich ein gewisses Risiko halt nicht vermeiden. Und deshalb..." Sie hob ihren Zeigefinger. "Deshalb müssen wir unbedingt vorsorgen, damit wir uns nicht schon wieder verlieren!"

"Sag mal, ist das neuerdings dein Beruf, in Rätseln zu sprechen?" Noctan strich langsam sich durch sein schneeweißes Haar.

"Mir ist allerdings auch nicht ganz klar, von welchen Maßnahmen du da sprichst, Hoshi." Rayo wischte sich mit einer unwilligen Bewegung über seine Stirn, als ein kleiner Wassertropfen ihm ausgerechnet mitten zwischen die Augen stürzte. "Aber ich nehme an, du wirst es uns jetzt gleich erklären, oder?"

"Na, so schwer ist das doch nicht!" Die Lichtmagierin neigte den Kopf zur Seite und griff mit einem verschmitzten Lächeln nach Shinyas Hand. "Seht ihr? Und schon bleiben wir zusammen!"

"Das meinst du aber hoffentlich nicht ernst!" Noctan zog die Augenbrauen hoch und bedachte das Mädchen mit einer Spur von Entsetzen in seinem Blick. "Wir halten uns bei den Händchen wie Schulkinder und haben uns alle lieb, und siehe da, die Magie dieser uralten, heiligen Stätte löst sich in Wohlgefallen auf und wir leben glücklich bis ans Ende unsrer Tage. Dass wir nicht eher darauf gekommen sind..."

"Sehr komisch!" Shinya stieß ein leises, tadelndes Knurren in Richtung des Weißhaarigen aus, bevor er sich wieder dem Portal aus Marmor und Finsternis zuwandte. "Aber eigentlich hast du ja Recht und Hoshi sowieso - wir hätten wirklich früher draufkommen können. Wenn wir uns berühren, können wir uns ja wohl nicht einfach so verlieren. Irgendwie logisch, oder?"

"Genau!", nickte Misty eifrig, war binnen weniger Augenblicke wieder auf den Beinen und hängte sich mit zu allem entschlossener Miene an den Arm der Lichtmagierin.

"Euer Familienglück rührt mich beinahe zu Tränen, aber ich glaube immer noch nicht, dass..."

"Wir können es ja in jedem Fall erst einmal ausprobieren, bevor wir es verurteilen, meinst du nicht?", fiel Rayo dem jungen Weißhaarigen ins Wort, warf sich sein langes, hellblondes Haar über die Schulter und ergriff dann in betont kooperativer Weise Shinyas freie Hand. "Lasst uns gehen!"

"Aber ihr..."

"Noctan!" In Hoshis Stimme trat ein Tonfall strenger Ungeduld, ganz so, als ob sie eigentlich keinen legendären Krieger, sondern vielmehr ein kleines, trotziges Kind vor sich stehen hätte. "Hör endlich auf, dich hier als sonst was aufzuspielen, ja? Sonst kommen wir in hundert Jahren noch nicht weiter, und wenn wir bis dahin nicht gestorben sind, dann können wir nämlich wirklich dabei zusehen, wie Phil und seine Lakaien sich unsere Belohnung unter den Nagel reißen! Verstehst du meine Worte?!"

"Ich danke Euch für diese Zurechtweisung, Herrin. Verzeiht, wenn ich nicht vor Euch auf die Knie falle und... ach, was soll das eigentlich..." Der Weißhaarige verdrehte wieder einmal seine violetten Augen, dann stapfte er auf Rayo zu und packte mit einem Ruck dessen Hand, sodass der junge Adlige beinahe das Gleichgewicht verlor und mit einem erschrockenen Keuchen nach vorne stolperte. "Worauf wartet ihr noch?"

"Auf dich", knurrte Shinya entnervt und richtete seine grünen Augen auf den finsteren Durchgang, der ihn blind und schweigend um Eintritt bat. "Na dann, Leute, im Gleichschritt Marsch! Wagen wir's..."

Mit dem ersten Schritt, den Shinya auf das bogenförmige Loch zutrat, brach er gleichzeitig einen unsichtbaren Bann, der ihn die ganze Zeit über mit Fesseln aus ängstlichem Zweifel zurückgehalten hatte. Seinen Freunden schien es nicht anders zu gehen - mehr oder weniger in Reih und Glied, dafür aber umso zielstrebiger gingen sie auf das Portal aus dicht verwobenen Schatten zu und traten dann ohne weiteres Zögern auf die andere Seite.
 

Die Schwärze, die sie erwartete, war vollkommen und umfing Shinya wie eine schwere, warme Decke, aus der er sich nicht befreien konnte. Dennoch verspürte er keinerlei Furcht mehr, während er durch die absolute Dunkelheit schritt. Im Gegenteil - einige kurze, flüchtige Augenblicke lang stieg sogar das unbeschreiblich schöne Gefühl in ihm auf, nach einer langen, anstrengenden Reise endlich wieder heimzukehren. Er spürte den leichten Druck von Hoshis Hand an seiner eigenen, und unweigerlich stahl sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen.

Der Katzenjunge war beinahe ein wenig enttäuscht, als zu seiner Rechten ein Funke aufglomm und sich dann rasch zu einer tiefvioletten, flackernden Flamme entzündete, die in einem hohen silbernen Pokal loderte. Nur wenige Sekundenbruchteile später entbrannte ein zweites Feuer in tiefem, glühendem Rot, dessen kreisrunder Träger golden blitzte. Shinya blieb kaum Zeit, dieses wundersame Schauspiel zu bestaunen, als der Dunkelheit zu seiner Linken auch schon zwei weitere Flammen entstiegen, von denen eine die Farbe des leuchtendsten Sommerhimmels trug, die andere ein vollkommen reines Weiß. Zuletzt glommen die Schatten nur wenige Meter vor ihm auf, gerieten in Bewegung und verdichteten sich dann zu einem pechschwarzem Feuer, das die weite Öffnung des Silberpokals in ein kaltes, lebloses Licht tauchte.

Und erst jetzt konnte der Katzenjunge die vagen Konturen des Raumes ausmachen, in dem er stand. Der Boden war hart und grau wie Stein, wobei sein Muster und seine Beschaffenheit viel eher an längliche Holzbalken erinnerten. Auch wenn die Wände immer noch im Dunkeln lagen, konnte Shinya doch ohne jeden Zweifel sagen, dass sie rund waren, was ihn an ein Turmzimmer denken ließ. Der Halbdämon wandte seinen Blick nach oben, doch an Stelle einer Decke breitete sich etwa zwei Meter über ihm ein bläulich schwarzer Baldachin aus Dunkelheit aus. Nur hier und dort flackerte schwach und scheinbar unendlich weit entfernt ein winziger, silberner Leuchtpunkt auf und vermittelte so die trügerische Illusion, unter einem merkwürdig verschwommenen, in Fetzen hinabhängenden Sternenhimmel zu stehen.

"Ihr habt es also tatsächlich geschafft..." Shinya spürte einen Anflug von Verwunderung in sich aufsteigen, als er bemerkte, dass es ihn weder überraschte noch erschreckte, die ihm mittlerweile so vertraute Stimme auch an diesem fremdartigen Ort zu vernehmen. Umso mehr verblüffte es ihn, als auch Hoshi ihren Kopf hob und sich mit großen, ängstlich suchenden Augen in dem runden Zimmer umsah.

"Hey! Was soll das?" Der Katzenjunge ignorierte die fragenden Blicke seiner Freunde, denen seine viel eher wütende als erstaunte Reaktion ganz offensichtlich sogar noch ungleich merkwürdiger vorkam als ihm selbst.

"Shinya, was hat das zu bedeuten?", raunte Hoshi ihm zu. "Wer spricht da überhaupt? Ich... ich sehe hier niemanden!"

Der Halbdämon blieb ihr eine Antwort schuldig und richtete sich stattdessen wieder an die körperlose Stimme.

"Wir sind doch wohl als Erste hier angekommen, ich meine, vor Phil und seinem Gefolge, richtig? Also, wo ist unsere Belohnung?"

"Bist du dir so sicher, dass ihr zuerst hier eingetroffen seid, Shinya?" In den gewohnt ruhigen Klang der Stimme mischte sich ein leiser Unterton liebevollen Spottes.

"Ja! Ich meine, ich... ich denk doch mal. Jedenfalls hab ich die anderen in der Halle da draußen nirgendwo gesehen!"

"Und wer sagt dir, dass die beiden Wege das gleiche Ziel haben?"

"Aber dann..." Mit einem Mal hatte Shinya das Gefühl, dass sich ein Ring aus kaltem Metall unerbittlich langsam um seinen Hals legte und dass sein Atem in gefrorenes Wasser verwandelt wurde. Er schluckte. "Bin ich jetzt nur zu blind oder zu blöd dazu, diese seltsame Belohnung zu sehen, oder... oder..."

"Oder ihr habt den falschen Weg genommen. Das möchtest du doch sagen, nicht wahr, Shinya?"

Jedes einzelne der Worte drückte ihm wie ein zentnerschweres Gewicht auf seine Brust. Einige Sekunden lang schien die schwarze Flamme vor seinen Augen zu verschwimmen, während die Luft um ihn herum plötzlich einen ganz furchtbar bittereren Nachgeschmack von Enttäuschung mit sich führte. Auch wenn die Stimme noch gar nicht wirklich ausgesprochen hatte, dass er sich oben auf der Lichtung vor den beiden Höhlen tatsächlich komplett und für alle Zeiten zum Affen gemacht und mit stolz geschwellter Brust die falsche Entscheidung getroffen hatte - allein die bloße Vorstellung davon, dass all seine Mühen, die Angst und die Verzweiflung, die ihn zwischen den spiegelnden Mauern des Labyrinthes gequält hatten, nun vollkommen umsonst gewesen sein sollten, war weit mehr, als er jetzt noch ertragen konnte.

Schlimmer und quälender war lediglich noch das unbestimmte und doch unbeirrbar in ihm aufkeimende Gefühl, verraten worden zu sein.

"Einen Augenblick bitte, was soll das heißen - wir haben den falschen Weg genommen?" Noctan stieß Rayos Hand von sich und trat einen Schritt nach vorne. Seine Augen strichen unentwegt, beinahe hektisch nervös über seine finstere Umgebung und das Licht der farbigen Flammen. "Dürfte man als Normalsterblicher vielleicht auch mal erfahren, was hier eigentlich gerade gespielt wird? Komm verdammt noch mal raus und sag es mir ins Gesicht, dass wir gerade vollkommen umsonst durch diese ganze verfluchte Hölle gegangen sind!"

"Habt ihr denn gar nichts begriffen?" Einem leicht entnervten Seufzer der Stimme folgte ein mildes, verzeihendes Lachen. "Nein... wie solltet ihr auch?"

"Ja, genau! Wie sollten wir auch? Wir armen, niederen Kreaturen!" Noctan stieß wütend die Luft zwischen seinen Zähnen hervor. "Aber vielleicht bin ich ja auch wieder mal der Einzige hier, der das dumme Gefühl nicht loswird, dass da irgendjemand ist, der sich über ihn lustig macht..."

"Das ist keineswegs meine Absicht", fuhr die Stimme in unverändert warmem Tonfall fort, allerdings deutlich ernster als zuvor. "Denkt doch einmal nach! Innere Stärke, Macht des Geistes... wo ist da der Unterschied? Ist es nicht im Grunde genommen dasselbe?"

"Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!" Shinya fuhr sich durch sein braunes Haar und schüttelte leicht hilflos den Kopf. "Wenn es das Gleiche ist... dann... war's dann etwa egal, welchen Weg wir gehn würden?"

"Du hast es erkannt, Shinya. Die Prüfungen, die euch erwarteten, mochten durchaus verschieden sein, aber das lag nicht am Weg, sondern vielmehr an den Geprüften."

"Ja, aber... warum hast du mir das nicht gleich gesagt?"

"Ich bin nicht mehr dazu gekommen, erinnere dich. Unsere Verbindung wurde durchtrennt..."

"Phil!" In Hoshis Stimme schwang ein zorniges Beben mit. "Dieser Idiot musste dich ja unbedingt aufwecken! Oh, ich könnte ihn..."

"Ich glaub's ja nicht!" Ein wütendes Knurren stahl sich über Shinyas Lippen. "Der is ja wohl so was von eine Plage! Aber... Moment mal..." Der Katzenjunge schob langsam eine seiner Augenbrauen nach oben, während sich ein Ausdruck von Misstrauen auf sein Gesicht legte. "Wenn es von Anfang an egal war, in welchen Eingang wir gehn würden, heißt das... Phil und sein Anhang kriegen jetzt auch eine Belohung? Nich ernsthaft, oder?"

"Ob sie ihrem Labyrinth entfliehen konnten, das vermag ich dir nicht zu sagen. Aber sollte es ihnen gelungen sein... ja, dann werden sie ebenso wie ihr eine Belohnung erhalten. Gerechterweise, wie ich meine. Die Zwillingshöhlen sind ein heimtückischer, gefährlicher Ort, aber sie haben noch niemals ein Versprechen gebrochen. Wem ein Preis für seine Mühen gebührt, der soll ihn erhalten."

"Aber das ist nicht fair!"

"Wieso nicht, Shinya?" Der sanftmütige Tonfall war in die Stimme zurückgekehrt, und der Katzenjunge wusste nicht mehr, was er ihr entgegnen sollte. Stattdessen stieß Noctan nun auch ihn ein Stück weit zur Seite und ergriff das Wort.

"Es ist ja wirklich schön, dass hier jeder Held zu seinem Schatz kommt, nur... die Prinzipientreue dieser heiligen Stätte in Ehren, aber bislang habe ich von unserer großartigen Belohnung leider noch nicht allzu viel gesehen!"

"Du scheinst ja richtig misstrauisch zu sein, Krieger des Mondes." Wieder schwang Spott in den Worten der körperlosen Stimme mit, allerdings fehlte nun der fast schon zärtliche Tonfall, der ihr bislang eigen gewesen war. "Aber selbstverständlich trägst du deine Ungeduld zu recht in dir. Eure Prüfung liegt hinter euch, auch wenn ihr sie... auf andere Art und Weise bestanden habt, als ich es zunächst angenommen hatte. Shinya, du hast es geschafft, deine Angst zu bezwingen. Und Noctan, du solltest deine Wut nicht gegen mich richten, weil dir dasselbe nicht gelungen ist. Immerhin seid ihr alle noch am Leben, so nehmt denn eure Belohnung hin."

Die violetten Augen des jungen Weißhaarigen weiteten sich und wurden für einen Moment von einem selbst für seine Verhältnisse noch beängstigenden Blitzen durchzuckt, doch gerade als er seinen Mund öffnete, um zu einer Antwort anzusetzen, lief ein Beben durch die finsteren Mauern des runden Schattenzimmers. Das flackernd bunte Licht, das sie bislang sanft und dämmrig eingehüllt hatte, flammte nun auf und steigerte sich zu einer gleißenden, unangenehmen Helligkeit, die noch im nächsten Moment von einer erdrückenden Hitzewelle begleitet wurde.

Der vielfarbige Lichtblitz schmerzte in Shinyas Augen, aber dennoch gelang es ihm nicht, seinen Blick von den wie ein Mensch im Todeskampf zuckenden und zornig auflodernden schwarzen Flammen vor ihm zu nehmen. Es schien, als ob im Inneren des zerstörerischen Elementes etwas heranwachsen würde; ein dunkler, dickflüssiger Klumpen, der stetig an Masse zunahm und sich wie schmelzendes Metall träge in die Länge zog. An- und abschwellende Beulen wanderten wie lebende Geschwülste in der schwarz glühenden Materie umher, formten sie und erstarrten schließlich.

Als das Feuer sich wieder beruhigte und zu seinem ruhigen, flackernden Dasein als warme, dumpfe Lichtquelle zurückkehrte, hatte sich aus dem wabernden Klumpen lebendiger Schatten eine prächtige Lanze geformt, die an ihren Enden glänzende, mondsichelförmige Klingen aus pechschwarzem Stahl trug. Wie von unsichtbarer Hand getragen schwebte die beinahe zierlich wirkende Waffe über den unschuldig vor sich hinglühenden Flammen.

"Nehmt sie nur. Sie gehören euch."

Die Worte der körperlosen Stimme rissen Shinya aus der Trance, die ihn beim Anblick des bizarren Schmiedevorgangs befallen hatte. Er nickte nur stumm und trat langsam einen Schritt auf das sanft glühende Metall zu. Dann jedoch stockte er.

"Waffen? Warum eigentlich... Waffen? Sind die jetzt... für diese letzte Schlacht, von der hier irgendwie ständig die Rede ist, oder wie hab ich das zu verstehen?"

"Ihr werdet sie schon sehr bald brauchen, glaubt mir. Zögere nicht, sie an dich zu nehmen, Shinya. Sie haben lange genug auf eure Ankunft gewartet."

"Gewartet?" Der Katzenjunge runzelte die Stirn, hakte aber nicht weiter nach, als die Stimme ihm nicht mehr antwortete. Er atmete tief durch und griff dann mit einem Ruck nach der Waffe. Erst im letzten Augenblick fiel ihm dabei auf, dass er dabei wieder einmal nicht mitgedacht hatte - doch ehe er noch reagieren konnte, hatten sich seine Finger auch fest schon um den schwarzen Stahl gelegt. Der allerdings wieder Erwarten nicht glühend heiß, sondern im Gegenteil nur gerade so weit angewärmt war, dass er sich überaus angenehm halten ließ. Shinya nahm die Lanze nun vollständig in beide Hände und erlebte bereits die zweite Überraschung binnen weniger Sekunden, als er feststellte, dass sie so leicht war, als bestünde sie vielmehr aus dünnem, zerbrechlichem Holz, nicht etwa aus massivem Stahl.

"Eine Zweililienlanze!", raunte Rayo hinter ihm. Der Halbdämon drehte sich zu dem jungen Adligen um und sah ihn mit großen Augen an.

"Aha."

"Siehst du die beiden Klingen an ihren Enden? Dadurch unterscheidet sich eine Zweililienlanze von einer normalen Lanze. Gut geführt ist sie deshalb noch ungleich tödlicher, allerdings habe ich bislang nur äußerst wenig Menschen getroffen, die diese Kunst beherrschen... aber das müsstest du doch eigentlich wissen, oder nicht?"

"Ja... ja, klar!" Shinya winkte ab und schenkte dem Blondschopf ein etwas zu breites Grinsen. Erst jetzt bemerkte er, dass auch Rayo eine Waffe an sich genommen hatte, ein mächtiges Zweihandschwert, auf dessen Klinge fein geschwungene Runen in tiefrotem Licht glommen. Der junge Adlige wog den Zweihänder prüfend in der Hand, trat dann einen Schritt zurück und vollführte einige spielerische Hiebe gegen einen unsichtbaren Gegner. Shinya musste sich eingestehen, dass der Anblick ihn erstaunte, ja beinahe sogar ein wenig erschreckte. Die flüssigen, sicheren Bewegungen zeigten nur allzu deutlich die Routine, die Rayo im Schwertkampf haben musste - und das hatte der Katzenjunge seinem Gefährten nun wirklich nicht zugetraut!

"Also, das ist wirklich... sehr, sehr schön", mischte sich nun Hoshi ein und sah sich leicht verloren nach ihrem unsichtbaren Ansprechpartner um, "aber was genau soll ich jetzt damit machen?" Shinya sah, dass das Mädchen einen langen, silbrig weiß schimmernden Stab in den Händen hielt, der in seiner transparenten Zartheit fast schon gläsern wirkte. An seinem Ende baumelte ein kleiner rotvioletter Kristall in einer herzförmig anmutenden Fassung umher.

"Keine Sorge, Lichtkriegerin. Du wirst es beizeiten erfahren."

"Wird Misty das dann auch bei... bei... bei diesen Zeiten da erfahren?", fragte die Kleine schüchtern und schielte ein wenig ängstlich auf ein kreisrundes, hellblau glänzendes Wurfeisen, an dessen Griff zwei silberne Glöckchen baumelten und das sie mit leicht zittrigen Fingern möglichst weit von ihrem Körper entfernt hielt.

"Oh, welch ein Glück!" Noctan stieß ein sarkastisches Lachen aus. "Da ich hier ja offensichtlich der Einzige bin, der zu wissen scheint, was eine Waffen eigentlich ist, wird diese mystische letzte Schlacht dann wohl zu einem lustiges Glücksspiel werden, ob ich nun von Freund oder Feind aufgespießt werde..."

"Was soll das heißen, der Einzige?" In Rayos tiefblaue Augen trat ein zorniges Flackern. "Ich weiß sehr wohl, wie man ein Schwert zu führen hat, und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, gewiss auch besser als du!"

"Aber natürlich, Hochwohlgeboren!" Noctan trat einen Schritt auf den jungen Adligen zu. In jeder seiner Hände hielt er einen silbern glänzenden Kampfdolch, dessen Griffe mit tiefviolett glühenden Edelsteinen geschmückt waren. "Warum wollen wir es nicht einfach ausprobieren?"

"Ja, warum nicht?" Der junge Adlige hob das Runenschwert an, ging in Kampfstellung und funkelte dem Weißhaarigen drohend entgegen.

"Noctan! Rayo! Das... das meint ihr ja nun hoffentlich nicht ernst!" Hoshi trat eilig zwischen die beiden Estrella und schwang ein wenig hilflos ihren weißen Stab. "Dafür haben wir diese Belohnung ja wohl ganz bestimmt nicht erhalten!"

"Wieso nicht?" Noctan warf sich sein langes Haar über die Schulter zurück, ganz so, wie es eigentlich sonst nur Rayo zu tun pflegte. Seine Lippen hatten sich zu einem eisig kalten Lächeln verzogen, und mit einem Mal war sich Shinya vollkommen sicher, dass dieser Kampf nicht einfach nur einer seiner besonders misslungenen Scherze und Provokationen war, sondern purer Ernst. Irgendetwas an dem Weißhaarigen war... anders, seit sie das Labyrinth auf solch gewaltsamem Wege verlassen hatten, und diese kaum zu beschreibende Veränderung erschreckte ihn viel zu sehr, als dass er noch irgendeinen sinnvollen Beitrag zur Schlichtung des langsam aber sicher eskalierenden Streites hätte beitragen können.

"Ja, aber..." Die Dunkelhaarige verstummte, als sie der Blick von Noctans vollständig erkalteten Augen traf. Offensichtlich war Shinya nicht der Einzige, dem auffiel, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht so mehr war, wie es bis vor kurzem noch gewesen war und vermutlich auch besser hätte bleiben sollen.

"Diese Waffe gehört mir", fuhr Noctan in einem erschreckend emotionslosen Tonfall fort, "also warum sollte ich mir vorschreiben lassen, zu welchen Zwecken ich sie benutzen werde? Immerhin ist dies das Beste, das wir seit... heh?"

Die eisige Leere im Blick des Weißhaarigen wich einem Ausdruck fassungslosen Entsetzens, als der schimmernde Stahl in seiner Hand plötzlich in einem diffusen, weißlichen Licht glühte, langsam seine Konturen verlor und sich dann schließlich binnen weniger Sekunden vollkommen geräuschlos und ohne größere Effekthascherei in Luft auflöste. Der gleiche lautlose Zersetzungsvorgang brach beinahe gleichzeitig auch über die übrigen Waffen herein, und ehe Shinya sich versah, griffen seine Hände ins Leere.

"Was ist denn jetzt los?!", stieß er mit einem leisen Keuchen hervor und starrte auf seine bloßen Finger. Dann hob er ruckartig den Kopf und stapfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. "Hey, das is jetzt aber nich fair! Ich weiß, wir sollten uns vertragen. Ich weiß, wir sollten eine Gruppe sein und wir sind's nicht. Aber was kann ich dafür, dass..."

"Wie üblich. Shinya, der Unschuldsengel! Verzeih unsere Unwürdigkeit." Noctan schickte ein abfälliges Schnauben in Richtung des Katzenjungen. Da war wieder diese Kälte in seinem Blick, und plötzlich drängte sich Shinya von irgendwoher die Frage auf, wie oft der Weißhaarige in seinem jungen Leben wohl schon getötet hatte; denn dass er es getan hatte, und das weit öfter als nur einmal, war für ihn spätestens seit den letzten drei oder vier Minuten keine Vermutung mehr, sondern eine Tatsache. Trotzdem war er wieder einmal viel zu wütend und aufgebracht, als dass er sich noch von irgendeinem Mörder der Welt hätte einschüchtern lassen, und so stemmte er sich die Hände in die Seiten und trat Noctan mit zornig glühenden Augen entgegen.

"Ich denk, du bist grad wirklich der Letzte, der sich hier über irgendetwas aufregen darf! Ich hab die Prüfung bestanden, ich, nicht ihr und schon gar nicht du! Ich hab diese Belohnung verdammt noch mal verdient, und ich..."

"Seid ruhig!!"

Der Ruf der körperlosen Stimme klang scharf wie ein frisch geschliffenes Messer und hallte schmerzhaft in Shinyas Ohren nach. Instinktiv zog er seine Schultern hoch und duckte sich ein wenig, und obwohl er seinen Blick nicht mehr zu heben wagte, verriet ihm doch die schlagartig eingekehrte Stille, dass es seinen Gefährten nicht anders gehen konnte als ihm selbst. Er hätte nicht einmal wirklich sagen können, was genau ihn nun so sehr eingeschüchtert hatte - normalerweise reagierte er auf lautstarke Zurechtweisungen gleich welcher Art eher mit Trotz als mit wirklichem Schrecken - aber es mussten tatsächlich mehrere Sekunden verstreichen, bevor er es überhaupt wieder wagte, Luft zu holen.

"Seht ihr? Ist doch gar nicht so schwer!" Ein genervtes Ausatmen ließ die bunten Flammen ängstlich aufflackern. "Wenn ihr mit eurem kindischen Gezanke und den Schuldzuweisungen und vor allem mit diesem hochmütigen Kräftemessen endlich fertig seid, dann kann ich es euch ja vielleicht auch einmal erklären."

"Er-klären?" Shinya brachte möglichst geräuscharm seinen begonnenen Atemzug zu Ende und meldete sich dann schüchtern wieder zu Wort. "Ähm... was denn?"

"Zum Beispiel, dass dies keine gewöhnlichen Waffen sind!" Die Stimme seufzte leise und fuhr dann in versöhnlicherem Tonfall fort: "Was ihr in den Händen gehalten habt, sind die Seelen der Estrella, deren Lichter schon vor langer Zeit erloschen sind."

"Und das soll im Klartext was heißen?" Noctan betrachtete kurz seine bleichen Hände, dann strich er sich die Haare aus dem Gesicht und blickte auf. "Und wieso wurden uns die Waffen wieder weggenommen? Sind wir etwa derer nicht würdig?"

"Ich habe sie euch nicht weggenommen. Und außerdem bleibt uns nicht mehr viel Zeit, ihr haltet euch schon viel zu lange an diesem Ort auf. Also hört gut zu: Stirbt ein Estrella, so wird seine Seele zu einer Waffe. Eine ganz außergewöhnliche Waffe, denn ihr müsst sie nicht ständig mit euch tragen. Sie wird euch begleiten und dann beizeiten zu Diensten stehen."

"Das klingt, als ob diese Dinger... denken könnten!" Shinya kratzte sich am Kopf und wackelte mit den Katzenohren.

"Glaubt mir, das können sie auch!" Wahrscheinlich sogar besser als ihr, sprach die Stimme zwar nicht wirklich aus, aber Shinya hörte es trotzdem. "Diese Waffen lassen sich nicht beherrschen - im Gegenteil. Sie werden euch nur dann erscheinen, wenn es wirklich vonnöten ist. Ihr könnt sie niemals zu einem Kampf zwingen, aber wenn, dann werden sie euch besser verteidigen als jede andere Waffe es jemals tun könnte."

"Ja, aber... was müssen wir denn dann machen, wenn wir sie brauchen?" Hoshi warf einen hilflosen Blick ins Leere. "Ich verstehe das nicht! Sie werden doch wohl nicht plötzlich auftauchen, oder etwa doch? Und außerdem, was nützt mir das? Ich habe noch niemals eine Waffe geführt!"

"Sorgt euch nicht. Wenn es so weit ist, dann werdet ihr wissen, was ihr tun müsst. Haltet eure Begleiter in Ehren und kehrt zurück, es ist mehr als nur höchste Zeit dazu. Ich wünsche euch viel Glück, junge Krieger..."

"Ich... ich will aber noch nicht gehen!" Shinya stieß ein empörtes Schnauben hervor und trabte wild entschlossen an der pechschwarzen Flamme vorbei - nur um bereits einen halben Meter weiter vor einer kahlen, steinernen Wand zum Stehen zu kommen, die ihn stumm und unverwandt anblickte. "Ich meine, ich hab doch noch so viele Fragen! In... in diesem Labyrinth... also... hab ich da echt gezaubert? Also kann ich das doch? Und außerdem, was soll dieses Dies... Dies Ultima sein und wohin müssen wir jetzt überhaupt gehen? Hallo?"

Die einzige Antwort, die Shinya erhielt, war das leise Prasseln des bunten Feuers, und obwohl die Vorstellung davon, wie er so dastand und in trotziger Wut eine Mauer anbrüllte, ihm schon jetzt die Schamesröte ins Gesicht trieb, dachte er überhaupt nicht daran, so einfach aufzugeben.

"Hey, ich hab dich was gefragt! Antworte endlich, verdammt noch mal! Du kannst doch nich so einfach abhauen!"

"Shinya... sie ist fort."

Hoshis Stimme sollte wohl eigentlich einfach nur sanft und beschwichtigend klingend, aber ihre unaufgeregte Endgültigkeit traf den Katzenjungen wie ein Tritt in die Kniekehlen, der ihn um ein Haar ins Stolpern gebracht hätte. Natürlich wusste er ja selbst, dass die Stimme nicht mehr antworten würde, egal wie lange er sich noch vor seinen Freunden blamierte. Und trotzdem... Shinya wusste selbst nicht, warum ihm dieser Gedanke plötzlich derart fürchterlich, ja beinahe unerträglich erschien.

Erst jetzt, als sein unsichtbarer Ratgeber lautlos wieder verschwunden war, wurde dem Halbdämon überhaupt erst bewusst, wie tief er dessen Präsenz die ganze Zeit über in sich gefühlt hatte. Es war zwar eigentlich von vorne bis hinten einfach nur absurd, doch allein die stumme Gegenwart des merkwürdigen Unsichtbaren hatte ihn mit einem Gefühl von Sicherheit erfüllt, das jetzt einer seltsam kalten inneren Ernüchterung gewichen war. Und auch das kreisrunde Zimmer mit seiner Sternenhimmeldecke und den brennenden Pokalen hatte sogar ein sehr großes Stück von seinem Zauber eingebüßt.

"Wir können hier ja doch nichts mehr erreichen", seufzte Hoshi, und Shinya nickte nur, obwohl ihm eigentlich überhaupt nicht danach zumute war. Der Katzenjunge schlurfte mit hängenden Schultern zu seiner Freundin zurück und ergriff ihre Hand. Dann blickte er auf und zwang sich zu einem Lächeln, das schlimmer gar nicht mehr hätte missglücken können.

"Kommt, Leute. Lasst uns gehen."

Aus irgendeinem Grund folgte selbst Noctan ohne größere Gegenwehr, lediglich von einem leisen, unwilligen Murren begleitet, Shinyas stummer Aufforderung und ergriff aufs Neue Rayos Hand. Nachdem Misty sich schließlich mit einem inbrünstigen Seufzer der Erleichterung wiederum an Hoshis Arm geheftet hatte, setzten sich die jungen Estrella langsam und schweigend in Bewegung und traten nun schon zum zweiten Mal durch das alles verschluckende Schattenportal.
 

Ein warmer Nachtwind wiegte sanft die blaugrünen Palmenblätter in den Schlaf, während aus der Ferne das Rauschen des Meeres ein leises, beruhigendes Schlaflied sang. Die Vögelchen waren verstummt. Die Natur schlief. Einzig das türkisblau schimmernde Wasser aus dem Inneren des Berges plätscherte unaufhörlich in den kleinen Steinbrunnen, während das silberne Mondlicht in weichen, konturlosen Schlieren auf seiner Oberfläche tanzte und zerfloss wie Fäden geschmolzenen Silbers. Über dieses stille Bildnis vollkommener Ruhe hatte der klare, tiefblaue Sternenhimmel seine samtene Decke ausgebreitet.

Über Shinyas Lippen huschte ein Lächeln. Er hatte kaum einen einzigen Atemzug von der frischen, klaren Nachtluft eingesogen, da erwachte in ihm eine tiefe, wärmende Zufriedenheit, die jede negative Empfindung in seinem Innen mühelos beiseite wischte.

"Wir... wir haben's geschafft... wir haben die Prüfung bestanden!"

"Ja, das haben wir wohl..." Noctans Blick fixierte einen Moment lang das flüssige Mondlicht, das aus dem weißen Gestein des Berges sprudelte. Das tiefe Violett seiner Augen reflektierte den silbrigen Schimmer und ließ sie beinahe transparent wirken. Dann wandte der Weißhaarige sein Gesicht dem Katzenjungen zu und die amethystfarbenen Augen verdunkelten sich wieder. "Aber in einem entscheidenden Punkt sind wir keinen Schritt weitergekommen: Was jetzt?"

"Eine gute Frage..." Shinya ließ seinen Blick über das wogende Pflanzenmeer schweifen. Die großen gefächerten Blätter verloren im bläulichen Dunkel der Nacht jegliche Konturen und verschwammen zu einem grünlich schimmernden See.

"Waffen nützen uns vorerst wohl herzlich wenig, wenn wir nicht einmal ein Ziel vor Augen haben, meint ihr nicht?" Rayo stieß einen unwilligen Seufzer aus und legte seinen Kopf in den Nacken. Shinya fühlte einen Anflug von kalter, nagender Wut in sich hochsteigen. Die ungeduldige, seltsam distanzierte Arroganz in den Worten des jungen Adligen gefiel ihm ganz und gar nicht. Immerhin wusste er doch offensichtlich genauso wenig wie der unwürdige Rest von ihnen, was sie als nächstes tun sollten - was gab ihm also das Recht, sich durch den stummen Vorwurf in seinen Worten wieder einmal ein gewaltiges Stück weit vom gemeinen Estrellavolk abzusetzen?

"Gut, dass du's sagst, ich hätt's sonst auch gar nicht gemerkt, weißt du?", grummelte er unwirsch und schickte einen strafenden Blick zu dem Blondschopf hinüber, der diesen mit sichtlicher Verwirrung entgegennahm und sich dann kopfschüttelnd von dem Halbdämon abwandte.

Noch im selben Augenblick begriff Shinya, wie ungerechtfertigt seine Zurechtweisung gewesen war. Langsam benahm er sich ja wirklich schon wie Noctan! Dabei war er sich im Grunde genommen sehr wohl darüber im Klaren, dass Rayos beiläufig eingeworfener Satz ihn nur deshalb so sehr verletzte, weil der junge Adlige mit seinen Worten zielsicher ins Schwarze getroffen hatte. Der Gedanke hatte sich schon lange wie ein hartnäckiges, Blut saugendes Insekt in Shinyas Kopf festgesetzt - aber erst jetzt begriff der Katzenjunge das ganze Ausmaß seines Problems.

Eigentlich war seine Reise doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er war kopflos und ohne sich auch nur den Ansatz eines Planes zurechtzulegen in einer Nacht- und Nebelaktion davongelaufen, und wenn er ehrlich war, hatte er doch die ganze Zeit über nichts weiter als unverschämtes Glück gehabt. Jetzt jedoch, als eine Entscheidung gefragt war und es nicht einfach irgendwie weiterging, war er mit seinem Latein am Ende.

"Misty hat eine Idee!", platzte das kleine Mädchen strahlend in seine trübsinnigen Gedanken. "Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, wohin Misty gehen soll, wenn sie mal nicht mehr weiter weiß!"

"Sieh an! Ein Lichtblick am Ende des Tunnels!" Noctan verzog abfällig das Gesicht. "Hätte unsere Retterin in der Not denn womöglich auch die Güte, uns mitzuteilen, was für ein geheimnisvolles verheißenes Land das nun sein soll?"

"Mistys Großmutter hat immer von der alten Stadt Lluvia erzählt!" Die Kleine schien den triefenden Sarkasmus in Noctans Stimme wieder einmal nicht zu bemerken, jedenfalls klang ihre Stimme mit jedem Wort noch ein wenig begeisterter. Ihre hellblauen Augen leuchteten sogar in der Dunkelheit der Nacht.

"Lluvia?" Rayo bemaß das Mädchen mit einem überraschten Blick. "Aber das ist doch nur eine Legende!"

"Was denn für eine Legende?", mischte sich Shinya nun wieder ein. "Werd ich dann vielleicht auch mal eingeweiht?"

"Oh Gott, ich dachte, die kennt echt jeder", lächelte Hoshi und sprach dann eilig weiter, als sie sah, dass der Katzenjunge bei diesen Worten schmerzlich das Gesicht verzog. "Pass auf: Lluvia soll einst eine unglaublich schöne Stadt gewesen sein, in der nur Magier lebten, und alle Kinder, die dort geboren wurden, besaßen ebenfalls die Gabe der Magie. Doch irgendwann gingen die Herrscher der Stadt und der Insel, auf der sie lag, zu weit und ließen sich mit irgendwelchen Mächten ein, denen sie nicht gewachsen waren. Zur Strafe wurden alle Bewohner Lluvias mit schweren Plagen geschlagen, mit Seuchen, Unwettern, Heimsuchungen und so weiter. Viele starben, die anderen sind wohl geflohen. Heute ist die Geschichte so ziemlich die beliebteste Mahnung, vor allem an junge, noch lernende und potentiell erst einmal übermütige Magier. Glaub mir, jeder Lehrer und Dorfältester hat diese Legende für seine Schüler auf Lager!

"Und da wollen wir hin?" Shinya blickte Hoshi zweifelnd an. "Mal angenommen, es wäre nicht nur eine kluge Geschichte, die sich irgendein alter Magier ausgedacht hat, um seinen Schützlingen Angst einzujagen... was sollten wir da?"

"Nun ja... man sagt, dass wenige Menschen, die ein besonders reines Herz hatten, die Unglücke überlebten und noch heute die Stadt bevölkern... aber das denke ich eher nicht. Klingt einfach ein bisschen zu sehr nach erhobenem Zeigefinger, oder? Ich glaube eher, dass wir dort andere wichtige Dinge finden könnten... vielleicht alte Bücher, Artefakte oder so was. Wo sonst, wenn nicht in einer Magierstadt?" Die Dunkelhaarige lächelte aufmunternd. "Misty, deine Großmutter hätte dich bestimmt nicht grundlos dort hingeschickt, oder wenn es gefährlich wäre... ja, ich glaube, es kann nicht schaden dort hinzugehen!"

"Das stimmt aber nicht!" Die kleine Blauhaarige verschränkte die zierlichen Ärmchen vor ihrer Brust. "Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, Misty, hat sie gesagt, in Lluvia, da lebt eine Weise, die weiß aaaaalles, was Misty mal wissen will. Und Großmutter hat ganz bestimmt schon gewusst, dass Misty euch treffen wird. Großmutter weiß nämlich alles!"

Shinya nickte ergeben und ließ seinen Blick dann wieder gen Nachthimmel schweifen.

"Etwas Anderes oder Besseres wird uns ja sowieso nicht mehr einfallen, also gehen wir halt in diese komische Stadt..."

"Sicher. Obwohl wir weder wissen, wie wir diese ominöse Märchenstadt nun finden können, noch, ob sie überhaupt existiert und dort womöglich irgendetwas lauert, das sich jetzt schon darauf freut, uns nicht nur um-, sondern dabei auch noch irgendwie weiterzubringen... warum nicht?"

"Irgendwie war das klar, dass so was jetzt kommen musste." Der Katzenjunge knurrte leise. "Als ob du jemals mit irgendetwas einverstanden gewesen wärst, das irgendeiner von uns gesagt oder vorgeschlagen hat. Aber mittlerweile wissen wir's ja eh schon alle, also kannst du doch eigentlich in Zukunft auch die Klappe halten!"

"Danke - gleichfalls." Noctan durchbohrte Shinya mit einem bitterbösen Blick, den dieser allerdings so gut es eben ging zu ignorieren versuchte.

"Wie auch immer... wir sollten uns sowieso erst mal noch ausruhen und morgen können wir dann von mir aus weiterreden, so lang ihr wollt. Ich weiß ja nicht, wie's euch geht, aber ich für meinen Teil bin verdammt müde!"

Prompt stahl sich ein Gähnen über seine Lippen, und als der Katzenjunge sich die tränenden Augen gewischt hatte und in die Runde blickte, da konnte er in den erschöpften Gesichtern seiner Mitstreiter ausnahmsweise einmal keinerlei Widerwillen erkennen. Und so wartete Shinya auch gar nicht mehr lange auf Antwort, sondern tauchte lieber gleich in den schlafenden Palmenwald ein, bevor sich womöglich doch noch von irgendwoher Protest regen konnte.

Schweigend zog er durch die dunstigen, weichen Nebelschwaden blauen Lichtes, die zwischen den Stämmen und Pflanzen emporstiegen. Die Nacht war wunderschön, unbeschreiblich schön, aber Shinya konnte sich nicht mehr wirklich daran erfreuen. Er war heilfroh, als sich vor ihm endlich eine kleine Lichtung auftat, die wie ein gut geschützter Burghof zwischen den grünen Wällen verborgen lag. Auf dem verhältnismäßig hohen und weichen Gras tanzte das silberne Mondlicht wie auf einer ruhigen Meeresoberfläche.

Shinya schickte noch ein letztes kurzes Stoßgebet zum samtenen Himmel hinauf, dass Phil und sein Gefolge nicht auch ausgerechnet diesen Weg wählen würde, während er sich mit einem erleichterten Seufzer auf die wogende Decke hinabsinken ließ. Er hatte sich kaum richtig hingelegt, da fielen ihm auch schon die Augen zu, so als ob sich seine Lider und Wimpern in tonnenschweres Blei verwandelt hätten. Doch kurz bevor ihn der süße, wohlige Schlaf übermannte und seinem völlig erschöpften Körper nach viel zuvielen Stunden pausenloser Aufregung und Anstrengung endlich seine wohl verdiente Ruhe gönnte, fiel dem Katzenjungen plötzlich etwas auf. Etwas, das er noch nie bemerkt oder für wichtig gehalten hatte, und auch in diesem Augenblick zwischen Träumen und Wachen wusste er nicht, wieso er ausgerechnet jetzt daran denken musste.

Die körperlose Stimme gehörte einer Frau.
 

Ende des sechsten Kapitels



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  TiaChan
2006-04-24T01:58:29+00:00 24.04.2006 03:58
Frohes orthodoxe Ostern! ^_^

Diesmal ist das Kapitel irgendwie erstaunlich schnell zu Ende gegangen. ^^; Ok, nicht unbedingt rein zeitlich gesehen, ich habe schon ein paar Tage gebraucht um es zu lesen, aber so lese ich die Sachen eben, die ich mag. (Wobei ich, wie ich zugeben muss, auch nicht erst heute damit fertig bin, sondern schon vor ein paar Tagen und heute nur endlich wieder dazu komme, einen Comment zu schreiben. ^^;;) Aber normalerweise, während ich die letzten paar Seiten eines Kapitels lese, bin ich mir dessen auch bewusst, dass es die letzten drei, zwei, eine Seite ... öhm sind/ist. [wie auch immer ^^;] Das sechste Kapitel bin ich irgendwie durchgerast ohne kurz vor dem Ende noch mal nachzuschlagen, wie viele Seiten es noch sind, und es traf mich sehr überraschend. Naja, ich habe es diesmal einfach so gern gelesen, dass ich keine Zeit hatte, um Seiten zu zählen. Ich habe ja schon geschrieben, dass es mir doch etwas schwer fiel, die letzten zwei Seiten des fünften Kapitels zu lesen – weil das Comment-Schreiben zu einem Kapitel, das ich irgendwann mal, vor einem Monat (O_O geht die Zeit schnell...) angefangen hatte zu lesen.... das ist nicht so schön. Danach war ich jedoch glücklich, wieder gleich viel lesen zu können. ^^ Ich hatte zwar immer noch einiges zu tun, war aber nicht mehr sooo sehr im Stress und hatte wieder ein ganzes Kapitel vor mir. ^___^
(.... hmm.... hab ich morgen wieder ^^ auch wenn da wieder das Semester anfängt)

Wie auch immer, es hat mich selbst gefreut, dass ich es doch gern wieder lese, auch wenn ich wusste, dass das bei den letzten Kapitel-fünf-Seiten nicht am Inhalt, sondern an äußeren Umständen lag.

Irgendwie habe ich diesmal auch so viele Schreibfehler gefunden.... habe ich noch gezielter danach gesucht? Glaube ich eigentlich nicht – dafür habe ich mich zu sehr auf den Inhalt gefreut. Naja, aber die wollte ich dir ja so zeigen, also fange ich jetzt wieder mit dem Comment an.

Als Erstes wieder mal ein Satz, den ich waii fand. =^.^= Nachdem Shinya wieder einfällt, dass die Stimme ihn eigentlich darüber vorgewarnt hat, dass sie die Prüfung jeweils allein bestehen müssen, schreit er ja die Wand an: „(...) ich bin ein Estrella! Ich bin von wem auch immer auserwählt worden, ja?“ – dieses „von wem auch immer“, schon abgesehen, von der Frage am Ende! ^.^ Eigentlich ist das vielleicht gar nicht so lustig und waii, denn der arme weiß ja wirklich nicht, was dieses „du bist auserwählt“ genau zu bedeuten hat und wer diese komische Stimme ist und ob er überhaupt auf der richtigen Seite ist – wird ja alles oft genug ausdiskutiert. Aber diesen in diversen Büchern und Filmen oft alles sagenden Satz auf diese Weise zu verändern.... das macht es doch irgendwie einfach nur waii. ^.^

In diesem Kapitel gab es einige Stellen, die ich seit dem letzten Lesen ganz vergessen hatte und die mir hier entweder erst gleich nach dem Lesen wieder bekannt vorkamen oder kurz davor wieder einfielen. Auch einige Sachen, von denen ich noch wusste, dass sie irgendwann mal irgendwo in Equinox vorkommen, aber nicht mehr wusste, wann und wo genau.
So auch bei diesem Hund und bei der Psycho-Hoshi – an Hoshi habe ich mich gut erinnert und vage auch daran, dass irgendwo mal ein Hund-Ungeheuer vorkam, aber ich wusste nicht mehr, in welchem Kapitel und überhaupt an welchem Punkt in der Geschichte.
Was mir bei dem Hund auch aufgefallen ist, war dieser Satz: „Das rotäugige Monster schlurfte unbeirrbar weiter auf ihn zu, bis es irgendwann direkt vor ihm stand und Shinya seinen warmen, nach verwestem Fleisch stinkenden Atem im Gesicht fühlen konnte“. Im Gesicht?! Wie groß ist das Viech eigentlich?! O_O Ist es wirklich so groß wie Shinya selbst? Das hier ist jetzt keine Kritik, ich bin nur ... überrascht. ^^; Weil ich’s wohl anders in Erinnerung hatte. Naja, wenn ich „Hund“ lese, denke ich wohl... nein, wenn ich „sehr großer Hund“ lese oder „zu großer Hund“, denke ich schon an etwas sehr Großes, was auch mal größer ist als ein normaler Hund, ohne Probleme auch größer als Misty oder so, aber irgendwie doch meistens nicht so groß wie ein... Teenager, der in zwei-drei Jahren keiner mehr ist. ^^; Naja, aber wie schon oben geschrieben, es ist keine Kritik, sondern das war meine Vorstellung. Wieso sollte das Monster nicht so groß wie Shinya sein oder sogar noch größer? Ist ja kein normaler Hund sondern ein ... Monster eben.
Aber so oder so – mir tut Shinya da wirklich leid. Naja, es gibt wohl allgemein keinen Menschen, der gern so einem Ungeheuer begegnen möchte, aber wäre ich ein Estrella, ist es gut möglich, dass ich in diesem Labyrinth, wo sich jeder seinen Ängsten stellen muss, auch diesem Hund begegnen würde. =^^;;=
Irgendwie machen die ganzen Katzeneigenschaften von Shinya ihn mir immer sympathischer. ^^;;
(*drop* Und ich bin doch mehr Kater als man’s manchmal glauben kann – in dem Zusammenhang hab ich glaub noch nie an meine Angst vor Hunden gedacht. Aber ich soll hier nicht wieder über mich diskutieren, sondern einen Equinox-Comment schreiben, also weiter. ^-^;)

Ich finde, bei der Szene mit dem Spiegelbild sieht man sein ... Unsichersein und Minderwertigkeitsgefühl – noch bevor das Gespräch anfängt oder sich das Spiegelbild zur Psychoversion zu ändern beginnt. Und zwar in dem Absatz in dem es heißt: „Sein einziger Begleiter [...] war sein eigenes Spiegelbild [...]. Übrigens eine Gesellschaft, auf die er gut und gern hätte verzichten können, da sie weder ermutigend noch unterhaltsam war“.
Über diesen Satz habe ich noch im Nachhinein irgendwie viel nachdenken müssen. ^^; Und ich fragte mich am Ende, ob es von dir auch beabsichtigt war oder ich schon manche besonders hartnäckige Schullehrer nachahme und zu viel reininterpretiere. Allerdings interpretiert es sich einfach zu gut hier rein. Mein erster Gedanke dazu war: „Aha, er hält sich selbst für keine ermutigende oder unterhaltsame Begleitung – das ist wohl mal wieder seine Selbsteinschätzung, die einem Menschen nicht unbedingt hilft, Freunde zu finden“. Dann fragte ich mich ... ob ich eben nicht doch zu viel reininterpretiere, denn es ist ja sein Spiegelbild, seine Kopie, die er da für langweilig hält und nicht unbedingt er selbst. Es ist ja immer ein Unterschied, ob man irgendwo allein ist oder jemanden dabei hat, den man nett findet. Wenn man zu zweit ist, versucht man, einander noch gegenseitig bei guter Laune zu halten und so wird auch eine schlimme oder sogar auswegslose Situation manchmal doch etwas aufgelockert. Und auf jeden Fall langweilt man sich nicht so zwingend wie wenn man irgendwo ewig lang allein rumlaufen darf. Und mit einem eigenen Spiegelbild redend (solang es nicht anfängt, zu antworten und sich anders als man selbst zu verhalten) kommt man sich doch blöd vor und nur irgendwie.. noch verzweifelter, nach dem Motto: „Toll, jetzt rede ich mit meinem eigenen Spiegelbild um mich aufzuheitern, ach, ich bin doch wirklich verloren!“ ^^;
Und doch finde ich diese Bemerkung in diesem Fall – gerade wenn sie bei Shinya steht – trotzdem irgendwie darauf hindeutend, dass er nicht nur sein Spiegelbild so langweilig findet, wenn er allein ist, sondern im Allgemeinen von sich selbst nicht so viel hält.

Bäh, ich hab das Gefühl, ich laber wieder. ^^;
Aber ich glaube, dass Shinyas Entwicklung, von der auch du so gern redest, jetzt wirklich viel mehr in den Vordergrund gerückt ist. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das nun wirklich nur an der veränderten Version liegt oder... weil du eben das Thema öfter ansprichst. ^^; Aber beim Lesen des ersten Equinox habe ich es ja anscheinend irgendwie... ganz übersehen? Und jetzt habe ich sogar das Gefühl, dass es eines der wichtigsten Themen der Geschichte ist. Es fällt einfach auf und ist die ganze Zeit da, egal was sie machen. Und bei der ersten Prüfung, die sie machen, macht er auch gleich einen wichtigen Schritt dieser Entwicklung – und rettet auch noch die ganze Gruppe genau damit, er allein. Ich glaube also, es wäre mir wirklich auch dann aufgefallen, wenn du nicht darüber sprechen würdest. Und im Endeffekt habe ich in der Geschichte ja auch nicht danach gezielt gesucht. Es gibt viele Sachen, auf die ich neugierig und gespannt bin. Aber irgendwann beim Lesen war da plötzlich ein „Aha! Ich glaube, ich weiß, was Yu-chan meint, wenn sie davon spricht, denn es IST da und fällt auf“, und das kommt jetzt in jedem Kapitel wieder. ^_^ Ich find’s sehr gut, weil Shinya damit irgendwie... jetzt wirklich zum Hauptcharakter wird. Ich meine, Ok, er war es schon sowieso, er ist der Auserwählte, er ist derjenige, aus dessen Sicht die Geschichte meistens geschrieben ist, der auch, glaub ich, am meisten machen muss, zumindest von den Dunklen auf jeden Fall – und die Hellen sind ja sowieso zwar auch sehr wichtig, aber keiner von ihnen ist der Hauptcharakter, das steht einfach fest, weil sie nun mal „die Bösen“ sind, die Gegenspieler – zumindest im Verlauf der Geschichte, was am Ende kommt, weiß ich ja noch immer nicht (irgendwie erwarte ich da wirklich ALLES O_O nein, erwarten ist das falsche Wort, ich rechne mit allem und weiß überhaupt nicht, was da passiert.... wann bin ich nun endlich soweit? >_<)... aber wenn es weiter so geht wie bis jetzt und Shinyas Entwicklung weiterhin in so ziemlich jedem Kapitel zu bemerken ist... dann können ihn auch Rayo und Noctan nicht mehr in den richtig Hintergrund rücken lassen, egal was sie machen, und auch die Hellen nicht, egal wie viele eigene Kapitel sie haben (<-- hach, an die freue ich mich auch schon ^-^).
[Gomen, falls es jetzt wieder etwas zu pathetisch klingt. ^^;;;;;]

Wäääh, und bei dem Absatz da oben sind mir gleich noch ein paar Sachen aufgefallen, die ich schreiben möchte. *seufz* ^^;
Aaaalso, erstens, im letzten Comment habe ich von „Shinya und Phil“ als Auserwählten, die Estrella anziehen, gesprochen.... aber nach einigem Nachdenken bin ich mir inzwischen doch nicht sicher, ob ich’s ganz richtig verstanden habe. Ist es nicht im Endeffekt doch nur Shinya? Also nicht Phil? (Ich glaube... diese Frage hatte ich auch mal bei dem Lesen der ersten Version, zumindest irgendwo im Kopf, nicht ausgesprochen..... ach, ich sollte aufhören mit diesen Déjà-vues, einiges stimmt ja vielleicht, aber es kann genauso gut einiges eingebildet sein – ich habe nämlich allgemein, mal abgesehen von Equinox oder auch von Lesen überhaupt gern Déjà-vues. Ich sehe eine Sache und fünf Minuten später denk ich: „Das kommt mir doch bekannt vor, wo hab ich das schon gesehen?“, auch wenn die richtige Antwort „genau hier, noch vor fünf Minuten“ ist! ^^; Wirklich fest steht aber, dass ich die Frage – über Shinya und Phil – jetzt habe, so.)

Und noch mal zum Ende der Geschichte.... na ja, ich bin natürlich auf das Ende mehr gespannt als auf den eigentlichen Verlauf der Geschichte – aber ist man das nicht immer, wenn man ein Buch liest? Wenn es ein gutes Buch ist, will man doch zwar nicht, dass es zu Ende ist, aber man will trotzdem wissen, so schnell wie möglich, wie es ausgeht – und dann liest man am Ende noch Tage und Nächte durch, egal wie früh man am Morgen aufstehen muss. ^^; Obwohl es natürlich keinen Sinn macht, das Ende gleich zu lesen – davor muss noch alles andere kommen. (Gut, es gibt auch Menschen, die so was machen... aber ich gehöre nicht dazu ^^;)

Und auch bei Equinox muss ich nicht nur die ergänzte Version lesen, ein paar Sachen habe ich auch vergessen, nicht einmal in der Zeit, in der du die Geschichte überarbeitet hast, da bestimmt auch, aber schon beim Lesen damals wusste ich gegen Ende nicht mehr alles, was am Anfang noch wichtig war. Ich weiß genau (und das ist jetzt kein Déjà-vue ^^;), dass ich damals u.a. deswegen die Geschichte noch mal ganz lesen wollte, wenn das letzte Kapitel da ist, weil ich wirklich das Gefühl hatte, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
Vielleicht habe ich so etwas in diesem Kapitel auch gefunden. ^^; Ich wusste nämlich (ob schon damals weiß ich nicht, aber jetzt auf jeden Fall) überhaupt nicht mehr, dass Shinya doch mal gezaubert hat! Von Phils Todesmagie im Kontrast zu Shinyas... Nicht-zaubern-können ist ja in der Geschichte ständig die Rede. Aber dass Shinya doch nicht erst am Schluss plötzlich etwas bekommt oder sogar alles einfach so ohne Magie regelt, sondern seine Magie schon relativ am Anfang der Geschichte einmal einsetzt, wusste ich nicht mehr.

Und hier... fange ich doch wieder auf, Theorien über das Ende aufzustellen. ^-^ Ich merke, dass ich doch nicht gar nichts ausdenke, auch beim letzten Lesen habe ich mir ein bisschen Gedanken darüber gemacht.... was jedoch auf jeden Fall stimmt, ist, dass es mir klar ist, dass das nur ein paar Ideen sind, herausgepickt aus einem Alles, mit dem ich, wie es ein paar Zeilen (oder auch Absätze?) weiter oben steht, am Ende rechne. Ich möchte, dass es unvorhersagbar ist und es ist für mich unvorhersagbar.

Naja, dass Shinyas Magie jedoch noch mal zum Vorschein kommt, darauf könnte ich wetten. ^-^ Aber das ist auch nicht schwer zu erraten.

Oh, und die meisten Theorien, die ich mir damals beim Lesen ... oder auch kurz nach dem provisorischen „Ende“ (20. Kap. ^^;) zusammengebastelt [gibt’s das Wort so eigentlich?] habe, können gar nicht stimmen. ^^; Und jetzt bin ich so gemein und schreibe meine Gedanken dazu auf. Und du kannst bestimmt nicht behaupten, dass es dich nicht interessiert, was wir dazu denken ^^; Nur habe ich schlechtes Gewissen, wenn ich das schreib, weil es schlimm sein muss, wenn du wieder darauf antworten willst. ^^;; Gut, dass du diejenige bist, die Equinox geschrieben hast, so kann ich mir zumindest sicher sein, dass du mir nichts verrätst. ^^;;
Aaaalso, ein ganz absurder Gedanke von mir war mal, dass alle bei der letzten Schlacht sterben und damit genug Schlimmes passiert ist, um das Gleichgewicht wieder auszugleichen. ^^;; Dass nicht alle sterben.... hast du im Endeffekt schon verraten, weil du manchmal von den Charas nach Equinox sprichst – vor allem von Rayo. Andererseits würde es zu dir auch nicht passen – eine Geschichte, bei der alle sterben. ^^; Also dummer Gedanke von mir. (Ganz und ausschließlich absurd war es jedoch nicht, angesichts des „Hoshi, werden wir sterben?“ – oder so ähnlich, aber so habe ich den Satz im Augenblick im Kopf, der noch in einem der Kapitel der alten Version vorkam ^^)
Allerdings frage ich mich immer wieder, ob am Ende nicht irgendwas Schlimmes passiert, was dann so das Gleichgewicht ausgleicht. Ich weiß nicht mehr, seit wann sich der Gedanke in meinem Kopf breitgemacht hat, dass das Gleichgewicht deswegen gestört ist, weil das Gute überwiegt, aber irgendwie bin ich mir da jetzt sicher. Stand es irgendwo in Equinox? Hast du’s mal gesagt? Oder habe ich mir das selbst ausgedacht? Keine Ahnung. Ach ja, und vermutlich ist Noctans Tod ja doch nicht das einzige Schlimme, was uns am Ende erwartet. Andererseits... vielleicht finden sie ja auch im letzten Kapitel heraus, dass sie irgendwas zusammen machen mussten und nicht gegeneinander kämpfen..... hmm... aber das glaube ich wieder weniger. Ich denke nicht, dass sie die Waffen bekommen haben, um zusammen einen Endgegner zu besiegen. ^^; Außerdem wäre damit der Waage nichts Schlimmes hinzugefügt. Was ich eher glaube, ist, dass die Helle Gruppe zwar die wunderschöne nur gute Welt vor Augen hat, dabei jedoch ohne sich dessen bewusst zu sein für Shinyas Ziel arbeitet. Das ist wieder dieses „Phil will töten um eine heile Welt zu schaffen, was sich widerspricht“. Und im 20. Kapitel tötet er ja auch noch. Abgesehen von dem armen Rayo und den anderen Dunklen, die bis dahin sicher auch traurig über Noctans Tod sind, tötet Phil seinen Gegenestrella. Ich glaube, das war nicht im 20. Kapitel angesprochen, aber dafür irgendwo in der Geschichte und so kann man’s sich doch irgendwie zusammenreimen. ^^; Auch wenn ich nicht so ganz verstehe, was es für Phil jetzt bedeutet, aber ich nehme an, das muss auch schlimm sein. So, das sind meine Gedanken für heute. ^^; Ich glaube schon, dass ich immer noch behaupten kann, sie sind ziemlich abstrakt und sollten sie nicht stimmen, bin ich auch nicht enttäuscht, denke ich. ^-^ Aber um meine Meinung zum Ende sagen zu können, muss ich es wohl lesen. ^^; Und davor das alles, was davor noch kommt.
Oh, zum Schluss dieses Thema.... noch eine der früheren Ideen von mir, die auch irgendwie... lächerlich ist: Rayo ist ja wütend und fängt an, wild in der Gegend Feuer rumzuzaubern. Die Estrella verbrennen alle dabei, und weil Shinya ja nicht dabei war, überlebt er als einziger. Weil er von den Dunklen ist, haben sie damit gewonnen. ^^;
Ähnelt etwas vom Grundgedanken her deinem „Witz“ mit verbrannter Noctan-Leiche, aber diesen meinen Gedanken hatte ich wirklich schon kurz nach Lesen des 20. Kapitels. ^^;;; Naja, an dieses Ende glaube ich jedoch auch nicht.

So, und um zurück zum 6. Kapitel zu kommen: Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwarzes Licht aussehen soll. *drop* Gomen, das ist jetzt ein recht plötzlicher Übergang zu einem Thema... das man schon als Kritik bezeichnen kann. ^^;;;
Ich weiß nicht, beim Lesen damals dachte ich nicht daran, aber diesmal habe ich mich plötzlich gefragt, wie schwarz leuchten soll und wie damit Shinyas Magie aussehen soll. Naja, oder ist es eine alles verschlingende Dunkelheit, die um seine Hände herum entsteht? So ein bisschen wie ein schwarzes Loch sogar vielleicht.... nur ein Licht, das andere Sachen erleuchten kann, das einen Weg in der Dunkelheit weisen kann, kann ich mir nicht in dieser Farbe vorstellen.

Naja, hoffentlich kann es als Wiedergutmachung zu dieser Kritik wirken, wie genial ich die Gespräche danach fand. Nachdem Shinya das Labyrinth zerstört hat, hatte ich wieder Angst, dass du eine wichtige Szene, die mir im Kopf geblieben ist, ausgelassen haben könntest. Einfach weil sie wieder so lange davor über andere Sachen reden. Zuerst kann ich es mir nicht vorstellen, dass man sie weglässt und freue mich nur darauf, und dann lese ich und lese und lese und überlege mir, ob du nicht doch Gründe gehabt haben kannst, sie wegzulassen. In diesem Fall fielen mir plötzlich soooo viele Gründe ein: Was ist wenn Yu-chan das zu Slapstick-artig fand? Was ist wenn es zu deutlich ist und zu viel verrät? Aber ich will die Szene auf jeden Fall haben, sie muss da sein!! >_<
Naja, aber sie war ja da. ^_^ Als ich sah, dass ich mich dem Ende des Absatzes nähere, dachte ich wirklich schon, das war’s, sie ist weg, denn wenn sie nicht in diesem Absatz kommt, kommt sie nicht mehr – und wie fängt der nächste Absatz an? Mit Mistys Erzählung von dem Labyrinth und von Chibi. ^__^ *freu* Bevor ich anfing, das Kapitel zu lesen, wusste ich’s eigentlich nicht mehr – wie so vieles in diesem Kapitel – aber dann fiel es mir ein... keine Ahnung, nachdem Shinya das Labyrinth zerstört hat? Irgendwo da auf jeden Fall, denn ich konnte mich noch darauf freuen und dann denken, dass es weg ist. Aber Rayo HAT im Labyrinth Noctan gesehen. ^_____^ Das Thema Rayo und Noctan ist endlich da! *Champagner aufmach und feier* =^.^= Und das gleich so lustig: „... und bei Rayo... nein... doch nicht...“ ^__^ Das sind wieder Worte, die ich nach dem Lesen noch mehrmals wiederholt hab. ^^; Ich glaub, ich hab sie sogar mal noch mal ausgesprochen, als ich mit Alex über was ganz anderes geredet hab, weil sie mir plötzlich einfielen. Er war zwar etwas verwirrt, aber er weiß ja sowieso, dass seine Schwester irgendwie komisch ist mit ihrem „Sonntagsgrinsen“ (<-- ein Wort, das er erfunden hat, um meinen Gesichtsausdruck, den ich anscheinend sonntags nach den RPGs den ganzen Tag lang hab) und... anderen Übertreibungen, wenn es um Mangas geht. ^^; Oder eigentlich nicht nur um Mangas. *drop*

Naja, wie auch immer, ich finde es auch gut, dass Noctan einem da noch nicht so verdächtig vorkommt. Rayo kann ja behaupten, was er will – Ist es ihm selbst eigentlich überhaupt da schon bewusst? Wann verliebt er sich eigentlich überhaupt genau in Noctan? Ich habe ja versucht, schon Hinweise zu suchen, sobald er auftaucht, aber da konnte ich nichts finden. Das im Labyrinth ist wirklich das erste, was ich darauf hinweist. Aber wirklich, war es ihm selbst auch klar? Hätte er es überhaupt erzählt, wenn er es wüsste? Er hatte eben das Pech, das gleich als zweiter zu erzählen, auch noch nach Misty, bei der es nicht ein Mensch ist, sondern ein Tien-Tien, in das sie zumindest sicherlich nicht verliebt ist, und bei dem... für einen Außenstehenden auch ein Vergleich mit einem Ungeheuer sich einfach eher anbietet – ist ja ein Tier. Von anderen Erzählungen konnte er also nicht darauf schließen, dass man im Labyrinth jemanden sieht, den man besonders mag und dass seine Erzählung wie ein Geständnis ist. Aber trotzdem – würde er es nicht zumindest ahnen, dass er es nicht weitererzählen sollte, wenn es ihm bewusst wäre, was ihm Noctan bedeutet? Oder vielleicht wird es ihm selbst da erst klar, nachdem Hoshi es allen erklärt? *seeeeuuuufz* Irgendwie kann man über diese Stelle doch so viel philosophieren, dass einem der Kopf zerplatzt. ^^; Wie’s wirklich ist, weißt wohl nur du... wenn du’s überhaupt festgelegt hast.
Naja, jedenfalls verrät auch Rayos roter Kopf, dass es ganz sicher kein Zufall ist. Noctan dagegen ist an dieser Stelle absolut nicht verdächtig – und ich bin mir ziemlich sicher, dass er es mir vor allem auch beim ersten Lesen nicht war. Man fragt sich wirklich, was er dort gesehen hat, aber er erzählt es nicht. Und die Tatsache, dass er es nicht erzählt, muss überhaupt nicht heißen, dass es Rayo war. Das heißt eigentlich nur, dass... es Noctan ist. Er würd’s vielleicht auch so nicht erzählen – schließlich hat es ihn ziemlich beunruhigt, er macht ja auch von allen Estrella den verstörtesten Eindruck. Und ein Noctan spricht nicht von etwas, was ihn so beunruhigt und verstört. Erst recht nicht, wenn er weiß, dass die anderen dann wissen, was er mag und wovor er Angst hat.
Wobei ich mich eigentlich... jetzt nach diesem zweiten Durchlesen erst recht frage, was er dort gesehen hat. ^^; War es überhaupt Rayo oder noch nicht? Noctan hat ja von diesen fünf, soviel ich verstanden habe, auch am meisten erlebt – auch Schlimmes. Wie es Shinya auffällt, hat er schon Menschen getötet – und auch ihm wichtige Menschen verloren. *neugierig bin* >.<

Ach je, und schon so bald nach diesem Gespräch hätten die zwei fast einen Kampf angefangen! Passt ja auch irgendwie im Endeffekt zu ihnen beiden, sie... sind einfach so unmöglich. *drop*
Andererseits... ist „unmöglich“ ein einfach so daher gesagtes Wort, das ein typisches Beispiel von „es leicht haben, zu reden“ ist. Man kann sie ja auch verstehen – beide.
Yu-chan, die Geschichte ist einfach genial, weißt du das? Und ich glaube, ... ich mag Shinya sehr, ich finde es sehr interessant, wie er sich entwickelt und es ist richtig, dass seine Entwicklung sich teilweise so sehr im Hintergrund abspielt. Aber meine Lieblingscharaktere bleiben wohl doch die zwei Nebencharaktere Noctan und Rayo. ^^ Wie sie es schon waren. Waaah, und ... das ist jetzt mir selbst neu. ^^; Ich dachte, es dauert doch noch etwas, bis ich Noctan mit Sicherheit wieder als Lieblingscharakter bezeichnen kann. *drop* Der Arme hat doch eigentlich gar nichts getan, wofür ich ihn hassen oder auch nur... weniger mögen könnte. ^^; Aber es war nicht nur mein Misstrauisch-Sein, sondern auch die Tatsache, dass die Geschichte sich so verändert hat und ich andere Charaktere – wie Shinya und Will – plötzlich viel interessanter finde als früher. Jedoch kann ich das jetzt sagen: Ich mag immer noch ... oder eigentlich doch wieder Noctan am liebsten. ^^ Und die Rayo-und-Noctan-Geschichte diesmal bewusst von Anfang an zu beobachten, ist wirklich toll!! *mag* Ich bin auch schon seeeeeeeehr gespannt auf die Hellen-Kapitel, aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass kein Will der ganzen Youma-Welt Noctan schlagen kann. ^-^; Mal ausnahmsweise etwas, was ich wirklich sicher sagen kann.

Und wieder zurück zu diesem Kapitel – ich habe es auch mit Spannung verfolgt, wer jetzt wessen Hand nimmt. *drop* Wie das klingt – wer wessen Hand nimmt.... wie im Kindergarten, dabei kann es hier doch so wichtig sein, gerade weil es kein Kindergarten mehr ist: Wessen Hand nimmt Rayo? Und wessen Hand nimmt Noctan?
Naja, Rayo kann es sich wohl wirklich nicht leisten, jetzt auch noch Noctans Hand zu nehmen, nach ihrem Gespräch über das Labyrinth. Noctan dagegen hat noch gar nichts verraten, ist außerdem einfach genervt und kann doch durchaus die erstbeste Hand ergreifen, nachdem er sich schon dazu überreden lässt, Händchen haltend durch die Gegend zu laufen.... er kann doch wirklich einiges verbergen, wenn er sich ... wie ein Noctan eben verhält. Wobei.... andererseits verhält er sich wohl gerade deswegen wie ein Noctan. -.- Weil er so verschlossen ist oder es sein will.

Und doch ist die Tatsache, dass er hier Rayo und nicht... oje, Misty wählt (fällt mir jetzt erst auf, dass es Misty ist ^^;), ein Minigeständnis irgendwie. ^-^; Ich weiß nicht, ob es auffällt, wenn man’s nicht weiß, und, wenn man darüber nachdenkt, ist Misty für Noctan auch keine richtige Alternative. Aber doch hat Rayo vor ein paar Minuten erzählt, dass er ihn im Labyrinth gesehen hat, und Hoshi hat allen erklärt, was es bedeutet. Dass Noctan bald danach Rayos Hand wählt.... das bedeutet doch etwas. ^^ (Wie gesagt, auch wenn man das vielleicht nur merkt, wenn man’s schon weiß.)

Ach ja.... und Noctans Genervt-Sein erreicht an dieser Stelle doch auch irgendwie schon die Grenzen, oder? Abgesehen davon, dass er mit Rayo zu kämpfen bereit ist, er widerspricht sich eigentlich die ganze Zeit: „[...] aber nein, warum sollten wir denn auch weitergehen? Phil und seine Jünger werden uns ja ganz bestimmt nicht die sagenumwobene Belohnung wegnehmen?“, schon wenig später jedoch: „Wer sagt uns, dass dahinter ein Schatz auf uns wartet? [und nicht eine Falle]“, sofort aber wieder: „Dann bleiben wir eben hier und warten, bis wir verhungert sind.“ Ich find’s toll, dass sich hier auch Misty ins Gespräch mit einmischt und diese Widersprüchlichkeit betont – ein Kind, das nicht weitergehen will, weil da eine Falle sein könnte, aber auch nicht hier bleiben will, weil es nicht verhungern will. Und so verhalten sich hier auch Noctans Aussagen – unrational wie die eines Kindes. Wobei er es hier ja auch selbst zu merken scheint, denn er beendet diesen „Aufstand“ mit den Worten „ach, was soll das eigentlich...“ ^-^

Ach ja, und wie er Hoshi, Shinya und Misty mit einer Familie vergleicht, das finde ich cool. ^^ Sooo weit entfernt von der Wahrheit ist es ja auch nicht. ^^; Über den Ausdruck „Phil und seine Jünger“ wiederum habe ich mir Gedenken gemacht – obwohl auch er wirklich lustig und.. irgendwie passend ist. ^^; Aber.... ist der Begriff „Jünger“ nicht etwas ... zu biblisch für Youma? Ich glaube, es kamen in der Geschichte noch ein paar Begriffe aus unserer Welt vor, an denen ich mich ähnlich gestört habe. Wenn du willst, kann ich auch sie suchen, aber doch habe ich’s nicht erwähnt, weil ich’s nach nochmaligen Überlegen weniger schlimm fand. Es kann ja immer noch Parallelen in der Geschichte gegeben haben – irgendwo, auf irgendeine Weise. Aber Jünger klingt für mich nach einer ... youmaschen Christus-Sekte. ^^; Oder ist der Begriff in der deutschen Sprache gar nicht sooo christlich und ich weiß es nur nicht?

Oh, und in diesem Kapitel kommt ein ähnlicher Satz vor wie im ersten Kapitel. Nach dem Gespräch mit der Stimme: „Erst jetzt, als sein unsichtbarer Ratgeber lautlos wieder verschwunden war, wurde dem Halbdämon überhaupt erst bewusst, wie tief er dessen Präsenz die ganze Zeit über in sich gefühlt hatte“. Hier klingt es nicht unbedingt soooo nach schon immer wie das „stets“ im ersten Kapitel, das mich immer noch stört, wie ich zugeben muss. ^^; Das war doch nicht so gemeint, dass Shinya die Präsenz schon immer spürte, oder? Das tat er nur, wenn er mit der Stimme sprach, oder? Naja, in diesem Kapitel kann man das auch so verstehen. Allerdings.... kommt es mir jetzt so vor, als sollte es etwas sein, was der Leser noch nicht weiß. Dabei ist es im ersten Kapitel auch schon so gewesen, es ist dem Leser an dieser Stelle also nicht ganz neu. Aber vielleicht sehe das ja doch nur ich so, keine Ahnung. ^^;

Dann... war ich wieder etwas überrascht, wie schnell die Geschichte doch vorangeht. Zuerst alle Estrella, dann der Hund UND Hoshi in einem Labyrinth und jetzt auch schon bald Lluvia. Einzelne Teile von Equinox, an die ich mich noch erinnere, kommen alle so schnell nacheinander. Naja, andererseits ist es schon das Kapitel 6, und das 7. Kapitel endet auf dem Weg nach Lluvia, das werde ich nie vergessen. ^-^ (Ich geb’s ja zu, hier war ich so neugierig, dass ich sogar schon nachgeschaut habe, ob es wieder an dieser Stelle endet – sehr untypisch für mich. Aber irgendwann hat mich auch jemand... war das nicht Yoko? Ach, weiß nicht mehr, ist auch unwichtig... verunsichert: das 7. Kapitel ende anders, also muss es ein anderes gewesen sein – aber nein, ich habe die Zahl nie vergessen. =^^= Oje, „Sieben ist die Zahl“ ^^;) Von daher sollte ich mich darüber nicht wundern. Naja, und dass einzelne „Bruchstücke“ der Geschichte, für die ich sie halte so schnell nacheinander kommen, heißt wohl nur, dass ich mich doch besser an die Geschichte erinnere als ich dachte? Und außerdem sind 6 Kapitel von 20 gar nicht so wenig wie es mir irgendwie erscheinen will.

(Wah, mein Computer hat sich gerade ausgeschaltet! O_O *vom Bett zum Schreibtisch umzieh* Der schaltet sich ja manchmal aus, wenn er überhitzt ist... Es lebe das Zwischenspeichern! ^^;)
Hach, und Kommis Schreiben macht doch Spaß. ^.^ Bei dem 5. Kapitel war das eben nur... dass es das ganze sich so in die Länge gezogen hat, und dann hatte ich keine Notizen und wusste nicht mehr so genau, was ich gedacht hatte, und dann war ich in der Zeit auch sooooooo unbeschreiblich müde.
Während dem Lesen von Kapitel 6 habe ich dagegen wieder schon mal einzelne Sätze für den Comment im Kopf ausformuliert – und überhaupt, wenn man ein gutes Buch liest.. oder auch nur einen Kapitel davon – oder einen Mangaband – will man doch mit jemandem Eindrücke austauschen! Diesmal befürchte ich sogar, nicht alles aufschreiben zu können. ^^;; So viel ist das. Als sie aus der Höhle herauskommen, denkt Shinya von sich und den anderen im Gegensatz zu Rayo als „vom gemeinen Estrellavolk“ – den Ausdruck fand ich auch lustig. ^.^ Oder Mistys „Wird Misty das dann auch bei... bei... bei diesen Zeiten da erfahren?“ – das ist soooo waiii!

Ach ja, und als Misty gerade von Lluvia erzählt, antwortet ihr Noctan doch sehr sarkastisch und dann kommt da dieser Satz: „Die Kleine schien den triefenden Sarkasmus in Noctans Stimme wieder einmal nicht zu bemerken [...]“. Ehrlich gesagt, habe ich mich beim Lesen gefragt, ob Misty überhaupt versteht, was er sagt. ^^;; Sarkasmus muss sie ja als Kind erst recht nicht verstehen. Naja, aber Noctan ist es wohl nicht besonders gewohnt, mit Kindern umzugehen. ^^;;
Wo wir beim Thema sind: Wie alt ist Misty eigentlich? Habe ich das überlesen oder wird es nirgends erwähnt? ^^

So, und mit diesem etwas chaotischen Schluss beende ich heute den Kommi. Wir sehen uns spätestens am Mittwoch, wobei ich mich frage, ob du das hier davor noch lesen können wirst.... ach, ich will, dass das Internet dort endlich funktioniert, auch auf meinem Potamû. Ich glaube, dann lasse ich ihn wirklich endlich dort – das Hin- und Herfahren tut ihm wirklich nicht gut. Und... mir auch nicht, so schwer wie er ist. ^^;


na ja, jedenfalls
mata Mittwoch, miau!
Kater


Zurück