Der Traum
Der Traum
Den Rückweg brachten sie schweigend hinter sich , jeder seinen eigenen
Gedanken nachhängend. Nach dem "Tod" des Vampirs war das Prickeln auf Lydias Stirn verschwunden , doch sie konnte sich noch gut an dieses Gefühl erinnern , als würden tausende von Ameisen über ihre Stirn krabbeln , jedoch in einem genauen Muster. Mit der rechten Hand fuhr sie sich noch einmal über die Stirn , doch sie konnte nichts Auffälliges ertasten. Stumm betraten sie das Anwesen und Lydia unterdrückte ein halbherziges Gähnen.
Für den heutigen Tag hab ich genug erlebt. Ich brauch erstmal ne Mütze voll
Schlaf..., schoss es ihr durch den Kopf und so begab sie sich leicht wankend
zu ihrem Zimmer. Gähnend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und streifte ihre
Stiefel an der Bettkante ab , den Mantel hatte sie schon über den Stuhl
geworfen. Angezogen wie sie war , schlüpfte sie unter die Bettdecke und
schlief kurz darauf ein. Sie war sich sicher , dass sie von den Ereignissen
dieses Tages träumen würde und sie behielt recht. Abstruse Träume zogen sich durch ihren unruhigen Schlaf , die sich langsam auflösten und zu einem anderen viel bedeutungsvolleren Traum wurden. Es war dunkel , doch sie konnte noch schemenhaft die Wände , den Boden und die Decke erkennen. Es schien alles so groß zu sein , doch das lag nur daran , dass sie so klein war. Ihre nackten Füße lugten unter dem Saum einer grauen Kutte hervor und tapsten nun weiter über die kalten Steine des dunklen Ganges. Ihr Herz klopfte. Sie durfte eigentlich um diese Zeit nicht mehr hier sein. Sie würde bestimmt Ärger bekommen , doch das war ihr egal. Sie wollte endlich weg von hier. Die strengen Blicke und die harschen Worte hatten ihr sanftes Wesen zu sehr erdrückt. Sie wunderte sich , dass sie noch in der Lage war Liebe und Zuneigung zu empfinden , wo sie doch in einer so unwirtlichen und strengen Umgebung lebte. Sie blieb vor einer großen Tür mit seltsamem Symbol stehen. Es war ein kleines V , über dem noch ein kleiner Punkt schwebte. Ihre kleine Hand fasste sich an die Stirn und fühlte über die erst vor kurzem verheilte Wunde , die genau die Form dieses Zeichens besaß. SIE hatten sie damit gezeichnet , damit SIE sie immer wieder erkennen
konnten. Sahen wer sie war , aber vor allem was sie war.
"Angelus" , murmelte das kleine Mädchen und streckte sich um mit dem Finger das Zeichen auf dem Holz der Tür nachzufahren. So wurde sie hier unten nur genannt. Sie war das Angelus-Mädchen. Das Gefühl aufgestauter Enttäuschung , Trauer aber auch Angst stieg wieder in ihr auf und sie schlug mit aller Kraft , die ihr kleiner Körper besaß nach dem Zeichen. Das Holz barst und zahllose Splitter folgen durch die Luft , doch keiner traf sie. Sie hörte eilige Schritte und wusste , dass SIE bald hier sein würden. Mit einem Ruck drehte sie sich um und lief den kalten Gang entlang. Fort von der Tür , fort von den Schritten. Sie wollte nur noch fort. Sie spürte feuchtes Gras unter ihren Füssen , spürte wie die Kälte an ihren Beinen hinauf kroch , doch sie störte sich nicht weiter daran. Sie lief , lief ohne sich umzusehen , hörte nur IHR wütendes Rufen , scharfe Befehle und das Bellen der Suchhunde. Sie lief so schnell ihre kleinen Füße sie tragen konnten. Der Wind zerrte an der rauen Kutte und spielte mit den Strähnen ihrer langen , nachtschwarzen Haare. Zugern hätte sie es getan. Sich dem Wind hingegeben , doch eine innere Angst hielt sie zurück. Innerlich hatte sie es immer noch nicht akzeptiert , dass sie nun anders war , nicht mehr das unschuldige Mädchen mit den grünen Augen , nein , SIE hatten sie verändert , hatten sie zum "Angelus" gemacht. Die Stimmen kamen näher. Alle Vorsicht und ihre innere , warnende Stimme missachtend , tat sie , was sie für richtig hielt. Ihre müden Füße federten vom Gras ab und ihr leichter Körper fiel den Steinhang hinab. Sie breitete die Arme aus und spürte einen stechenden Schmerz im Schulterbereich , doch das war nichts Neues für sie , sie kannte diesen Schmerz. Ihr Fall wurde abrupt gebremst und der Wind trug sie sanft den Fluss hinab , der das stille Kloster umfloss , fort von ihrem Gefängnis hinaus in eine neue Welt. Mit der Zeit würde sie es vergessen , nur das Zeichen auf ihrer Stirn würde bleiben und von ihrer Vergangenheit zeugen. In ihrem Unterbewusstsein erkannte Lydia , dass sie es tatsächlich vergessen
hatte , bis heute. Nun war ein Teil ihrer Vergangenheit zurückgekehrt , doch
er brachte eine Menge Fragen mit sich , auf die sie gerne eine Antwort
gewusst hätte , doch stattdessen fühlte sie nur eine unwissende Leere in
sich. Andere Träume folgten , die sie schon schnell wieder vergaß , weil sie
so unbedeutend waren. Irgendwann tauchte sie aus der Gemütlichkeit des
Schlafes auf und drehte sich auf die andere Seite , wobei sie die Decke über
ihren Kopf zog.
Was hat mich denn geweckt ? frage sie sich und zur Antwort ertönte erneut
das simple , aber nicht zu überhörende Klopfen , dem eine wohlbekannte
Stimme folgte.
"Aufstehen , Miss McRough . Das Frühstück steht bereit" , informierte sie
Walter. Mit einem verschlafenen Grummeln setzte sie sich im Bett auf und ihr vom Schlaf verschleierter Blick wanderte hinüber zu der schlichten Uhr auf dem Regal gegenüber an der Wand. Das Klopfen war nicht mehr zu hören und Lydia nahm an , dass Walter es aufgegeben hatte sie weiterzuwecken. Mit einem herzhaften Gähnen schlug sie die wohlig warme Bettdecke zurück und stand leicht schwankend auf. Ihr ganzer Kopf schien ein einziger Schmerz zu sein. Noch nie hatte sie so schlimme Kopfschmerzen gehabt wie heute , aber vor allem konnte sie sich nicht erklären was sie ausgelöst hatten. Ihr Schritte festigten sich allmählich auf dem Weg zum Badezimmer und sie beschloss den restlichen Schlaf mit kühlem Wasser aus der Dusche zu vertreiben. Nachdem sie geduscht hatte , war ihr Verstand endlich wach und sie begann über den Traum von letzter Nacht nachzudenken. Als ihr Blick über ihr Spiegelbild flog , blieb ihr Blick an ihrer Stirn haften , die rot verschmiert war. Mitten auf der Stirn befand sich eine frische Wunde , deren Form ihr vage bekannt war. Es war das Zeichen , das sie damals von IHNEN erhalten hatte , das sie als "Angelus" kennzeichnete.