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Willkommen in der wunderbaren Welt des Wahnsinns!

von

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Hi Leute ^^

Bitte nicht erschießen, ich weiß, dass der Titel meiner Story ziemlich daneben ist; als ich ihn ersonnen hatte, waren wohl gerade meine wahnsinnigen fünf Minuten (okay, eher meine wahnsinnigen fünf Millennien) am Start. Na ja, passt dann ja auch wieder irgendwie...

Diese Geschichte ist eine Sidestory zu meiner Geschichte "Songs Of Blood And Darkness". In ihr wird näher beleuchtet, wie Cecilia (bzw. Nightmare), ein im Verlauf der oben genannten Story noch auftauchender Vampir, den Kuss empfing und erste Schritte in der Welt der Dunkelheit machte. Unterstützt wird sie dabei von einem Malkavianerklüngel, das zumindest teilweise in meiner Geschichte "Joy In Small Places" schon mal einen Auftritt hatte *sich bewusst sei, dass sie jetzt schon zum zweiten Mal ganz schlimme Eigenwerbung gebracht hat* Außerdem wäre da noch Jane, die sich auf die im Clanbuch: Malkavianer beschriebene Seuchenbraut (d.h. Malkavs Geliebte/ Kind, die als erstes mit der Weitergabe seiner Gaben anfing) bezieht.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen ^.~
 

~~~ ; ~~~
 

I can feel that darkness is coming close

In my dreams I can see the destruction

Feel the violence around us

We're filled with shadows

If we could see the light

We'd be free

But we're blind

Prisoners of our own insanity
 

Missmutig lugte Cecilia in den Himmel. Grau und trüb - passend zu ihrer Laune. Die letzten paar Nächte hatte sie nicht gut geschlafen, und der bevorstehende Besuch bei ihrer Mutter stimmte sie auch nicht gerade fröhlich. Wer ging schon gerne in eine Irrenanstalt?

Am besten, sie brachte das hier möglichst schnell hinter sich. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte der jungen Frau, dass ihr Zug auch bald kommen musste. Und tatsächlich: Nur wenig später lief qualmend die alte Dampflokomotive in den Bahnhof ein. Nun war Eile angesagt, denn der nächste Zug, der diese Strecke befuhr, würde erst am nächsten Tag kommen und Cecilia hatte keine Lust, noch eine weitere Nacht in der staubigen kleinen Pension zuzubringen.

Nachdem sie eingestiegen war, ließ Cecilia sich im nächstbesten leeren Zugabteil nieder. Wenigstens war es hier einigermaßen ruhig, und wenn sie Glück hatte, konnte sie noch ein paar Stunden Schlaf nachholen. Also stopfte sie sich als provisorisches Kissen ihren Wollmantel in den Nacken. Der war zwar abgegriffen und kratzig, aber machten die Sitze der zweiten Klasse zumindest etwas bequemer...

Der Schaffner riss Cecilia aus ihren Gedanken. Ruppig erkundigte er sich nach dem Fahrschein der Neuangekommenen und stempelte ihn, nachdem er sich misstrauischen Blickes von ihrer Gültigkeit überzeugt hatte, ab.
 

~~~ ; ~~~
 

Dunkelheit umgab sie, bedeckte den Raum um sie herum. Unfähig ihre Arme oder Beine zu bewegen, war alles, was sie tun konnte, verzweifelt nach Details ihrer Umgebung zu forschen. Ein beißender Gestank lag in der Luft, beinahe wie der Geruch von Desinfektionsmittel. Sonst war da nichts.

...

Ob sie allein war? Nein, da war irgendwer - irgendetwas.

Ein leises Kratzen wie von Schritten sagte ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Zumindest ein kleines Erfolgsgefühl in diesem Meer aus Ungewissheit. Dann sah sie die Augen, und der Triumph schwand.

Tote, eisblaue Dinger, die ein beunruhigendes Glimmen enthielten.

Sie fingen ihren Blick ein, schienen alle ihre angestauten Emotionen - positive wie negative - auf sie zurückzuwerfen. Die Gefühle drifteten durch ihr Hirn, fanden ein Brennpunkt, lösten einen Orkan von Stimmen los. Erst leise, dann immer lauter drangen imaginäre Gesprächsfetzen an ihr Ohr und unwillkürlich musste sie erschaudern. Auch wenn sie die Bedeutung der Wörter nicht verstand, so schienen diese doch eine gleichsam erhabene wie auch verstörende Melodie zu formen.

Diese Melodie, dieser Rhythmus, pulsierte durch ihren Körper, ließ ihn sich unter der Kakophonie der auf sie herabstürzenden Harmonien verkrampft hin und her winden. Der Misston überschwemmte ihren Geist, ließ ihre fleischliche Hülle innerlich in Flammen stehen. Durst versengte ihre Gedanken, und alles Wasser der Welt wäre nicht in der Lage gewesen, ihn zu löschen.

Ein blasser, fast schon weißer Arm presste sie nach unten, zurück auf die Liege. Es musste einfach eine Liege sein, an die sie da gefesselt war. Wie sonst waren die Schmerzen zu erklären, die davon stammten, dass Lederriemen ihr in die Haut schnitten?

Immer wieder stellte eine leise, verdächtig normal klingende Stimme in ihrem Kopf ihr diese Frage, während sie sich vergeblich abmühte, von den Qualen mental wegzurobben. Vor ihren Empfindungen zu fliehen, wie sie das schon so oft - eigentlich immer - getan hatte.

Beinahe wie im Fieberwahn nahm sie wahr, wie ihr eine Hand beruhigend übers Gesicht strich, einige vor Angst und Anstrengung vergossene, seltsam rote Schweißperlen entfernte.

Schlagartig hörten die dumpfen Sprechgesänge in ihrem Kopf auf, wichen einer fast schon morbiden Stille. Ihr Zucken verebbte, dafür machte sich nagende Ungewissheit breit. Ungewissheit darüber, was mit ihr los war, wie sie den Durst stillen konnte. Ob sie den Durst überhaupt stillen konnte.

Sanft strich eine Fingerspitze über ihre Lippen, hinterließ eine süßlich-metallisch schmeckende Flüssigkeit. Gierig leckte sie diese ab, um noch mehr von dem Nektar zu erhalten, der Tilgung ihres Begehrens versprach. Ihr Wunsch wurde gewährt als ein Handgelenk hart gegen ihren Mund gepresst wurde.

Erst als sie die empfindliche Haut an der Pulsader durchstieß und sich ein warmer Schwall ihre Kehle benetzte, erkannte sie die Flüssigkeit als das, was sie war: Blut.
 

~~~ ; ~~~
 

Kalter Schweiß lief Cecilia die Stirn hinab, als sie erwachte. Schon wieder dieser Traum! Warum war sie eigentlich in Kur gefahren, wenn es ihr doch keine Linderung bereitete? Ganz einfach: Weil der Küstenort ganz in der Nähe der Anstalt gelegen hatte und es sowieso nicht mehr schlimmer werden konnte.

Die nächste Haltestelle war Ashburry, ihr Zielbahnhof. Hatte sie doch tatsächlich fast zwei Stunden durchgeschlafen... Natürlich war im Sanatorium "Inner Life" keiner auf die Idee gekommen, sie abzuholen; das hieß dann wohl, sie würde die restlichen 1 ½ Kilometer Weg den Hügel hochlaufen dürfen.
 

Müde, verschwitzt und verdammt wütend kam Cecilia oben an. Hätte sich nicht ein Farmer ihrer erbarmt und sie einige Meter auf seinem Kleinlaster mitgenommen, sie hätte es wahrscheinlich nicht überlebt. War ja schon ein Wunder gewesen, dass er sie ob ihres Aussehens nicht für einen entflohenen Patienten des Sanatoriums gehalten hatte... Na ja, die würden sich wohl kaum freiwillig wieder zurückkarren lassen.

Als Cecilia die Blicke des Pflegepersonals sah, entschloss sie sich, doch lieber langsam mal hineinzugehen, wurde sie doch angeschaut, als sei sie tatsächlich aus der Anstalt entsprungen; in diesem Augenblick konnte sie gut verstehen, warum einige Patienten überhaupt den Ausbruch versuchten...

In der Eingangshalle saß eine mürrisch dreinblickende, alte Krankenschwester und studierte die hiesige Tageszeitung. Da Cecilia bei einer lauten Äußerung wohl mit einer Konfrontation rechnen musste, räusperte sie sich leise. Keine Reaktion. Cecilia räusperte sich etwas lauter. Immer noch keine Reaktion. Schließlich versuchte sie es mit einem zaghaften "Verzeihung" und erntete prompt einen bösen Blick. "Ja, was wollen Sie?", die Stimme der Krankenschwester klang noch geladener, als ihr Gesichtsausdruck das hätte vermuten lassen. Unsicher begann Cecilia mit einer Hand an ihrer Perlenkette herumzuspielen: "Mein Name ist Cecilia Carpenter, ich komme um meine Mutter Helen zu besuchen." Mit verkniffener Miene wies die Schwester auf einer Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift "Zum Besucherzimmer" stand.
 

Die Tatsache ignorierend, dass besagte Tür nur außen Griffe zum Öffnen hatte, schritt Cecilia den giftgrünen Linoleumflur hinab. Sie musste zugeben, dass diese ganze Einrichtung ziemlich erbärmlich war, aber für mehr hatte sie nun mal nicht genug Geld. Durch den frühen Tod ihres Vaters hatte die Familie sich ohnehin nicht viel leisten können, und seit ihre Mutter eingewiesen worden war, war es endgültig aus und vorbei mit dem süßen Leben.

Ihre Mutter wartete schon auf sie. Gehüllt in einen verdreckten, rosafarbenen Morgenmantel saß die Frau da, ihre Haare wirr, die zitternden Arme abgestützt auf einen grauen Plastiktisch. Unwillkürlich musste Cecilia an die Zeit denken, als die Arme noch nicht gezittert, sie stattdessen fest umschlossen und vor der Welt geschützt hatten. Damals, als noch alles in Ordnung gewesen war...

Aus großen, verängstigten Augen wurde sie gemustert: "Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?" Unschlüssig blieb sie stehen. Ja, was wollte sie eigentlich hier? Ein leises Seufzen erklang: "Cecilia, meine kleine Cecilia..." Durch diese Worte ermutigt ging Cecilia einen Schritt auf ihre Mutter zu: "Ja Mum, ich bin es!" "Verschwinde, rotäugiger Kobold, raus aus meinem Kopf! GEH!", nur knapp konnte sie einem Schlag ausweichen.

Während zwei Pfleger und eine Krankenschwester in den Raum stürmten und ihre Mutter mit einer Spritze ruhigstellten, stellte Cecilia nüchtern fest, wie entwürdigend es doch war, wenn ein erwachsener Mensch einem Kind gleich tobend und heulend durch den Raum sprang.
 

"Keine Sorge, Miss Carpenter, ein paar Elektroschocks und ihrer Mutter geht es wieder gut.", der ältliche Arzt fand das offenbar lustig, den er brach in schallendes Gelächter aus. Seit den letzten zehn Minuten betete Cecilia inständig, dass endlich jemand kommen und ihn zurück in seine Gummizelle sperren würde; wie konnte man einen derartigen Psychopathen bloß als Stationsleiter in einer Irrenanstalt einsetzen?

Unbeeindruckt fuhr der Doktor fort: "Sie hatte es nicht leicht, ihre Mutter. Erst der Selbstmord ihres Vaters, und dann..." "Dann kommt die einzige Tochter zur Welt und ist ein Albino.", beendete Cecilia den Satz. Seltsam, aber die Leute schienen sich nie zu fragen, wie es für ein kleines Mädchen war, als Abnormität mitten im Nirgendwo aufzuwachsen...

"Richtig, richtig.", dem Mann war das Thema offenbar unangenehm, denn er wechselte es schnell, "Äh... Darf ich Sie durch meine Station führen - als kleine Entschuldigung für ihre Unannehmlichkeit sozusagen?" "Warum nicht." War ja jetzt eh egal; dank diesen Idioten hatte sie den Zug verpasst, und der nächste kam erst morgenfrüh. Offenbar war die Äußerung des Arztes mehr scherzhaft gemeint gewesen, denn er verzog in stummem Erstaunen eine Augenbraue. Dennoch hielt er ihr die Tür seines Büros auf und führte sie auf den Flur hinaus.

Dort schlich ein leise vor sich hin grummelnder Patient im Kreis herum, und zwei andere saßen auf dem Boden und spielten irgendein Kartenspiel, bei dem es offenbar Ziel war, sich möglichst viele Karten in den Mund zu stopfen und zu verschlucken. Erst als sie vorbeigehen wollte fiel Cecilia ein vierter Anwesender auf, der mit geschlossenen Augen im Schatten kauerte. Dieser Patient verwirrte sie so sehr, dass sie stehenblieb um ihn näher zu mustern; im Gegensatz zu den übrigen Insassen des Sanatoriums sah dieser Mann gepflegt, entspannt, ja geradezu normal aus. Nichts deutete auf den ersten Blick darauf hin, dass der Braunhaarige irgendwelche geistigen Störungen aufwies.

Natürlich war das, was sie hier dachte, kompletter Schwachsinn. In den meisten Fällen war es doch schließlich so, dass das abnormale Aussehen erst durch die würdelose Behandlung kreiert wurde, welche die psychisch Labilen in den Anstalten erfuhren. Und dennoch verwunderte es Cecilia, mit welcher Ruhe besagter Mann die Augen aufschlug, sie kurz musterte und dann seine ganze Aufmerksamkeit auf den Doktor neben ihr richtete. Der warf der jungen Frau einen nach Anerkennung heischenden Blick zu: "Ah, wie ich sehe haben Sie Balthasar bemerkt!" Der Sitzende warf dem Arzt einen strafenden Blick zu, doch dieser sprach ungeniert weiter: "Er ist einer unserer härtesten Fälle, hat er doch die Psychose entwickelt, er sei ein Vampir. Schwachsinnig, was?"

"Ah, wie ich sehe sind sie immer noch nicht tot umgefallen, Doktor Doyle! Er ist einer unserer härtesten Fälle, hat er doch die Neurose entwickelt, seine Umwelt mit seinem sinn- und geistlosen Geschwätz in den Wahnsinn treiben zu müssen. Nervtötend, was?", es gelang Balthasar nahezu perfekt, den näselnden Tonfall des Mediziners nachzuahmen und nur knapp konnte Cecilia sich verkneifen, laut loszulachen. Doch als sie Doyles wütenden Blick sah, wich ihr derartiges Bedürfnis schlagartig, wusste sie doch im selben Moment, was nun kommen würde. "Nun Balthasar, ich denke, wir sollten völlig neue Wege in Ihrer Therapie einschlagen. Wir werden Sie von nun an gezielt dem Sonnenlicht aussetzen...", ein gehässiges Grinsen machte sich auf dem Gesicht vom Doktor breit.

Merkwürdigerweise schien das den Anderen noch zu erheitern, denn mit einem leisen Kichern stand er auf und stellte eindrucksvoll zur Schau, dass er einen guten Kopf größer als der Arzt war: "Glauben Sie wirklich, ich würde etwas derartiges zulassen? Dann sind Sie nicht nur hässlich, sondern auch dumm, eben ganz der Versager, den Ihre Mutter in Ihnen sah. Nicht wahr, Stu?" Bei den letzten Sätzen hatte Doktor Doyle seine Hände an die Schläfen gepresst und angefangen, sich in stummer Pein hin und her zu winden. Anscheinend weckte die Erwähnung dieses Spitznamens üble Erinnerungen, denn als er fiel, entwich dem Doktor ein panisches Japsen. Noch ehe Cecilia richtig begreifen konnte, was hier eigentlich los war, war der Mediziner längst über alle Berge.

Selbstgefällig grinsend schaute Balthasar ihm hinterher: "Oh, scheint als hätte ich ihn an seine Vergangenheit erinnert... Wie steht es eigentlich mit der Ihrigen, Miss?"
 

Immer noch fragte Cecilia sich, was da gerade abgelaufen war. Normalerweise drehten Leute nicht einfach so durch, jedenfalls nicht wegen einer solch nichtigen Provokation. Der Arzt schien zwar vorher schon eine Macke gehabt zu haben, aber dass er gleich so heftig reagierte...

Und dann diese resignierten Blicke der Pfleger, als sie Balthasar mitgenommen hatten... Beinahe so, als ob der öfter so etwas anstellen würde - und das bei einem Großteil der hier Arbeitenden auch klappte. Ein Gedanke, der es für Cecilia nicht gerade angenehmer machte, dass sie heute in einer der Personalunterkünfte übernachtete.

Das war ihr zugegebener Maßen mehr als unrecht, aber in der näheren Umgebung gab es keine Hotels oder Pensionen; zumal sie bezweifelte, sich etwas derartiges überhaupt leisten zu können. Also hatte sie die Zähne zusammengebissen und das Angebot, hier zu schlafen, dankend angenommen.

Nun saß sie im Speisesaal, umgeben von den Insassen der Anstalt, und versuchte die neugierigen Blicke der Anwesenden zu ignorieren, indem sie in ihre Schüssel voller Haferschleim starrte. War ja klar gewesen, dass man sie zum restlichen "Abschaum der Gesellschaft" stecken würde...

Wenn sie sogenannten "Normalen" jemanden fanden, der auch nur Millimeter von ihren Normen abwich, brachten sie demjenigen nur zwei Gefühle entgegen: Mitleid und Abscheu. Und als weißhaarige, blasshäutige Frau mit blutroten Augen wich man definitiv von den Normen ab. Zumal da noch diese andere Sache war... Es war nicht das erste Mal, dass sie derartig seltsame Träume hatte. Als sie kleiner gewesen war, hatte sie öfter solche Dinge vorausgesehen, einer der Gründe, warum ihre Mutter wahnsinnig geworden war. Wie wollte man auch sonst damit fertig werden, dass seine kleine, ohnehin schon monströs anmutende Tochter laufend Unglücke prophezeite und damit richtig lag?

Aber warum dachte sie jetzt eigentlich darüber nach? Sie hatte sich doch geschworen, nie wieder einen Gedanken daran zu verschwenden, sich nie wieder die Schuld für das, was passiert war, zu geben! Schlagartig fühlte sie heftige Kopfschmerzen, beinahe so, als würde jemand mit einem glühenden Schürhaken in ihrem Kopf herumstochern...
 

Direkt nach dem Essen verkrümelte Cecilia sich in ihre Unterkunft. Die Migräne war nicht mehr so schlimm, aber im Untergrund immer noch vorhanden. Mittlerweile schien sie sich wie eine giftige Viper durch ihr Hirn zu winden, bereit, jeden Augenblick aufs neue zuzuschlagen.

Seufzend ließ die junge Frau sich auf das steinharte Bett sinken. Ein Königreich für ein Aspirin... Und ein weiteres dafür, endlich von hier wegzukommen. Genervt schloss sie die Augen; sie wollte einfach nur nachhause, zurück in ihr herrlich verregnetes Zuhause, wo niemand ihr auf die Nerven ging und sie auch nicht ständig gezwungen war, andere Menschen um sich herumzuhaben.

Ein Kratzen aus der hintersten Zimmerecke ließ sie auffahren. Verdammt, was war das? Scheinbar eine Ewigkeit lang starrte sie in die Dunkelheit, versuchte dabei, das leise Grauen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu verdrängen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als etwas kühles, feuchtes ihr Gesicht streifte. Erneut erklang ein leises Schaben, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Cecilia konnte nicht begründen, warum dieses einfache Geräusch sie derart einschüchterte, zu irrational war das im Untergrund lauernde Gefühl einer Bedrohung.

Minutenlang saß sie zusammengekauert da, ergab sich ganz der eigenen Hilflosigkeit. Dann wurde diese Emotion durch eine andere überlagert: Blanke, kalte Wut. Wut auf die Gesamtsituation, Wut auf sich. Sie hatte sich doch bei ihrem Wegzug aus ihrem Heimatkaff geschworen, sich nie wieder einschüchtern zu lassen, nie wieder Opfer zu sein! Sollten all ihre Bemühungen diesbezüglich jetzt wegen etwas derart kindischem zunichte gemacht werden? Wohl kaum.

Also stand sie auf, zündete die auf dem Nachttisch befindliche Petroleumlampe mit einem Streichholz an und hielt die nun brennende Lampe der sie umgebenden Finsternis entgegen.

Und ebenso bedächtig, wie Cecilia all dies tat, bahnte sich das Licht einen Weg durch die Schatten, drängte diese langsam zurück. Schließlich reichte es sogar bis in die Ecke, aus der die Geräusche gekommen waren. Wenige Augenblicke konnte sie den nächtlichen Ruhestörer sehen, ehe die durchs nicht richtig abgedichtete Fenster kommende Zugluft die Lampe zum Verlöschen brachte und die Dunkelheit sich erneut über sie herabsenkte. Sekunden, die ausreichten, dass sie sich dumm und kindisch vorkam: In der Ecke saß nichts weiter als eine Ratte. Dick, struppig, mit gelben Zähnen - aber eben nur eine Ratte.
 

Mehr als übermüdet wachte Cecilia am nächsten Morgen auf. Trotz der Erkenntnis, wie blöd sie sich am vorherigen Abend aufgeführt hatte, war ihr der Schlaf lange Zeit verwehrt geblieben; zu sehr hatte das ständige Gefühl, aus der Finsternis heraus beobachtet zu werden, sie durcheinandergebracht. Hinzu kamen irgendwelche seltsamen Träume von Feuer und herumwabernden Schatten, die sich ihren Weg durch kreischende Menschenmassen bahnten. Wahrscheinlich einfach eine Nachwirkung der gestrigen Begebenheit, die ihr Gehirn in Form wirrer Bilder verarbeitet hatte, aber dennoch beunruhigend...

Das einzig erfreuliche, was der heutige Tag zu bieten hatte, war ihre Abreise. Weg von hier, weg von den Schatten der Vergangenheit, solange bis ihr schlechtes Gewissen sie wieder hierher zu ihrer Mutter treiben würde. Und das würde lange auf sich warten lassen, sehr lange.

Diesen Gedanken nachhängend wäre Cecilia auf dem Flur beinahe in einen der Patienten hineingelaufen, der aus unerfindlichen Gründen dort herumschlurfte. Bei genauerem Hinsehen erwies sich die braunhaarige Gestalt als Balthasar; bei genauerem Hinhören leider auch: "Oh, Miss Carpenter, wie ich hörte verlassen Sie uns heute schon wieder! Auf bald!" Cecilia wollte gar nicht wissen, woher er plötzlich ihren Namen kannte, viel eher wollte sie hier möglichst schnell weg; der Kerl war ihr unheimlich. Deswegen entgegnete sie auch nur schroff: "Das denke ich nicht; ich werde hier in nächster Zeit nicht mehr auftauchen." "Glauben Sie das wirklich?", die von ihm nur gehauchte Frage brachte sie zum Zittern.
 

So kam es, dass ihre Abreise eher einer Flucht als einem Aufbruch glich. Jede Minute, die sie auf den Zug warten musste, erschien Cecilia wie eine halbe Ewigkeit, zu drängend war der Wunsch, möglichst schnell eine große Distanz zwischen sich und diesen Ort zu bringen. Und noch immer konnte sie den Grund ihres Fluchttriebes nicht näher definieren, wollte es eigentlich auch gar nicht. Zu beklemmend war dafür das mögliche Ergebnis ihrer Erklärungsversuche.

Als dann endlich der Zug in den Bahnhof einlief, sandte Cecilia Tausende von Danksagungen gen Himmel. Keine Sekunde länger hätte sie es hier ausgehalten, und offenbar wusste das dort oben jemand. Doch noch immer spukte ein nicht zu benennendes Unwohlsein in ihrem Schädel herum, war die letzte Unbill noch nicht ausgeräumt. Irgendetwas stand noch bevor; irgendetwas, was so nicht hätte passieren dürfen...

Ihr Gefühl ignorierend, stieg Cecilia ein, war das doch die einzige Möglichkeit heute noch aus diesem Kaff zu verschwinden. Offenbar gab es eine Menge Menschen, die genauso dachten wie sie, denn die Wagons quollen regelrecht über vor Leben. Beinahe schien es, als würden in Relation zum üblichen Personenverkehr dieser Gegend ganze Landstriche auswandern...

So dauerte es auch relativ lange, bis Cecilia ein leeres Abteil fand. Auf Gesellschaft legte sie nun wirklich keinen Wert, würde man sie doch nur wieder anstarren wie eine seltene Tierart im Zoo. Außerdem wollte sie in der gegenwärtigen Situation sowieso viel lieber mit ihren Gedanken allein sein.

Desinteressiert aus dem Fenster schauend, beobachtete sie, wie der Zug aus dem Bahnhof auslief, die umliegende Moorlandschaft durchquerte. Wieder mal war sie hierher gepilgert, nur um dann in aller Eile zu fliehen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob wirklich dieser seltsame Balthasar sie vertrieben hatte, oder ob das wie immer nur ein Vorwand gewesen war, um sich nicht mit ihrer Mutter und damit verbunden auch ihrer Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen.

Plötzlich bildete sich eine Gänsehaut in ihrem Nacken und sie fing an zu schwitzen. Als ihr Blick hinaus auf den Gang fiel, hatte sie das Gefühl, in einem Meer aus Panik zu ertrinken; der glatzköpfige Mann, der vor ihrem Abteil stand, löste Beklemmungszustände in ihr aus, die denen der vergangenen Nacht recht nahe kamen, sie beinahe noch übertrafen. Cecilia wusste nicht, ob ihr Gemütszustand durch die groben, unfreundlichen Gesichtszüge des Mannes oder durch die auf seinen kahlen Schädel tätowierte schwarze Hand ausgelöst wurden, doch es schien ihr, als wäre der Teufel höchstpersönlich auf die Erde gekommen um sie heimzusuchen. Ihr Herz setzte einen Moment aus, als ihre Blicke sich trafen, vermeinte sie doch ein kurzes Aufglimmen in seinen kleinen, bösartigen Augen zu bemerken. Dann drehte der Mann sich hastig weg, setzte seinen Weg durch die Eisenbahnwagons eilig fort.

Cecilia wurde durch einen gewaltigen Druck weggeschleudert, prallte unsanft gegen die Wand des Abteils, die sich zu ihrem großen Schrecken immer weiter nach rechts verschob. Dies alles geschah innerhalb weniger Sekunden, und trotzdem konnte sie alles überdeutlich, beinahe wie in Zeitlupe wahrnehmen: Das Kreischen des Metalls, der aufsteigende Staub und der Dreck, die gemeinschaftlich die Luft verpesteten und das Atmen schier unmöglich machten, das panische Geschrei der übrigen Fahrgäste, welches sich mit den Schmerzenslauten der Verwundeten mischten, die Hitze des ausgebrochenen Feuers... Kurz bevor die Lokomotive explodierte, meinte Cecilia, aus den Rissen in der Wand Schatten hervorkriechen zu sehen, die sich langsam ihren Weg zu ihr bahnten. Dunkelheit senkte sich über sie herab, und sie konnte spüren, wie an den Rändern ihres Bewusstseins auch schon die nahende Ohnmacht auf sie lauerte...
 

Langsam bahnte sich die Realität einen Weg durch den Nebel aus Finsternis, holte sie jäh in die Umklammerung der Wirklichkeit zurück. Als Cecilia sich aufzusetzen versuchte, vergrößerte sich die in ihr tosende Pein noch um ein Vielfaches. Mit viel Mühe schaffte sie es schließlich sich aufzurichten, nur um gleich darauf wieder keuchend nach hinten zu sinken. Jeder Versuch aufzustehen wurde von reinem, scharfen Schmerz unterbunden. Er betäubte die junge Frau, brachte die Finsternis der Ohnmacht zurück, nur um sie direkt darauf Sternchen sehen zu lassen.

Doch außer ihren körperlichen Beschwerden ergab sich noch ein anderes Problem: Um sie herum sah es aus wie nach einem Bombenangriff, überall lagen Schrott und Leichenteile verstreut.

Aus der Ferne waren zwei leise Stimmen zu hören, die sich angespannt zu unterhalten schienen. Sofort schöpfte Cecilia neue Hoffnung: Wenn sie die Leute irgendwie auf sich aufmerksam machen könnte, wäre sie gerettet. Aber in der Dunkelheit der sie nun umgebenden Nacht war es durchaus möglich, dass die sie nicht bemerken würden und einfach so an ihr vorbeiliefen. Also sammelte die Verletzte alle Kraft, die sie aufbringen konnte, und rief so laut es ihr in ihrem gegenwärtigen Zustand möglich war um Hilfe.

Augenblicklich verstummten die Stimmen und schnelle Schritte näherten sich ihrer Position. Cecilia wollte sich schon voller Erleichterung bei ihren Rettern bedanken, da sah sie, wem die eine Stimme gehört hatte: Vor ihr stand eben jener glatzköpfige Mann, den sie auch schon vor dem Zugunglück gesehen hatte. Dieser starrte sie ebenso fassungslos an wie sie ihn.

Eine schlanke, schwarzhaarige Frau mit der unverkennbaren Aura von Autorität trat in Cecilias Gesichtsfeld: "So so, Fergison, es ist also vollkommen unmöglich, eine derartige Explosion zu überleben, was? Dann erkläre mir doch bitte das hier." "Aber, Herrin..." "Kein aber! Sie lebt noch - und das obwohl sie nur ein gottverdammtes Sethkind ist. Was glaubst du bewirkt deine lächerliche Spielerei dann wohl bei einem über 1500 Jahre alten Malkavianer?" "Aber er hat doch geschlafen!" "Ja, aber seine zahlreichen Ghule nicht! Die sind nicht so unfähig wie du!"

Irgendwie fühlte sich Cecilia gerade mit der Gesamtsituation überfordert; nicht nur, dass sie nicht verstand, von was hier geredet wurde, es war außerdem auch verdammt beunruhigend zu sehen, wie ein erwachsener Mann sich zitternd vor einer gut zwei Köpfe kleineren Frau auf dem Boden herumwand. Auch, wenn es bei der unsympathischen Ausstrahlung der Schwarzhaarigen durchaus zu verstehen war...

Als hätte sie ihren Gedanken gehört, fuhr die Frau herum, wobei ihre schwarzer Mantel sich dunklen Schwingen gleich im Wind aufbauschte: "Aber für die Bestrafung deiner Verfehlungen bleibt mir später noch genug Zeit; jetzt werde ich mich erst mal um unsere unfreiwilligen Augenzeugin kümmern!" Die braunen Raubtieraugen der Fremden blitzten gierig auf bei diesen Worten, und als sie sich zu ihrem Opfer hinabbeugte, hatten sich bereits lange Fangzähne ihren Weg durchs Zahnfleisch gebahnt.

Mit der Kraft der Verzweifelung rutschte Cecilia so schnell nach hinten weg, wie es ihr mit den gebrochenen Beinen möglich war, auch wenn sie genau wusste, dass dieser erbärmliche Fluchtversuch nichts bringen würde. Nichts als zusätzliches Amüsement für die Kreatur vor ihr...

Schon war die Schwarzhaarige wieder über ihr und riss Cecilias Haupt an den Haaren nach hinten. Die junge Frau hatte das Gefühl, sich gleich erbrechen zu müssen, wobei sie nicht wusste, ob das von den Schmerzen oder der Furcht herrührte. Doch noch bevor sie dieser Frage weiter nachgehen konnte, legte sich auch schon eine Hand um ihren Hals und drückte langsam zu.

Verzweifelt versuchte Cecilia, sich zumindest durch Kratzen zur Wehr zu setzen, doch immer bedrückender nahm sie die Dunkelheit hinter ihren Augen wahr. Unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, hörte sie auf zu kämpfen, sah einfach zu ihrer Mörderin hoch, vermeinte hinter ihrem Rücken herumwabernde Schatten zu sehen.
 

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Langsam glitt sie durch einen schwarzen Tunnel, um sich herum nur Stille. Seltsamerweise wirkte das in keiner Weise beunruhigend, vielmehr empfand sie ein tiefes Gefühl des Friedens und der Zuversicht.

Allmählich wurde die Dunkelheit von einem sanft zunehmendem Licht abgelöst. Angenehm warm flutete es über sie hinweg, spendete Geborgenheit. Immer mehr wurde es ein Teil von ihr, wurde sie ein Teil von ihm, bis keine Angst, keine Zweifel existierten. Wie einst die Arme ihrer Mutter umfing Helligkeit sie, versprach Sicherheit und Schutz.

Und dann plötzlich Schmerz. Nicht die nichtigen Qualen, die sie zu Lebzeiten gekannt hatte, nein, harter, purer Schmerz. Er floss durch sie hindurch, verbrannte sie mit seiner Kälte; zerfetzte das sie umgebende Licht, bis nur noch die Abwesenheit davon vorhanden war. Nichts schützte sie mehr, und so fiel sie, als einziges Geräusch ihre eigenen Schreie im Ohr.
 

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Im selben Moment, in dem sie den Mund zu einem lautlosen Schrei öffnete, fühlte Cecilia eine warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabtropfen. Der leicht metallische Geschmack frischen Blutes machte sich auf ihrer Zunge breit, und als die junge Frau entsetzt die Augen aufriss, blickte sie in das bleiche, fast schon weiße Gesicht eines seltsam alterlos wirkenden Fremden. Dieser bedeutete ihr mit einem an die Lippen gelegten Zeigefinger, sie solle ruhig sein, und aus ihr selbst unerfindlichen Gründen gehorchte Cecilia. Sie empfand es nicht einmal als Zwang, viel eher kam es einer Verpflichtung gleich, die es um jeden Preis einzuhalten galt. Die sie um jeden Preis einhalten wollte.

Einem weiteren stummen Befehl folgend, stand Cecilia auf. Nur am Rand nahm sie wahr, dass der Schmerz aus ihren Beinen gewichen waren, beinahe so, als wären sie nie da gewesen. Sie war schon geneigt, ihre ganzen bisherigen Erlebnisse als bloße Einbildung abzutun, doch dann drehte sie sich um und sah wieder die Überreste des Zugabteils hinter sich. Noch immer schwelten in der Entfernung einige kleinere Feuer, noch immer lag der Gestank von teilweise verbrannten Leichen in der Luft. Nein, die Explosion war kein Alptraum gewesen.

Und auch ihr fleischgewordener Alptraum war sehr real. Ein Zittern durchlief Cecilias Körper, als sie die schwarzhaarige Frau - die Bestie - samt ihrem glatzköpfigem Helfershelfer auf sich zukommen sah.

Panisch drehte Cecilia sich zu ihrem Finder um und blickte in ein von langen, weißen Haaren eingerahmtes, stoisch ruhiges Gesicht. Wollte er sie an die Beiden ausliefern?

Irrsinnige Fluchtgedanken schossen in der jungen Frau empor. Sie wollte wegrennen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst, und eigentlich waren ihre Feinde auch schon viel zu nahe. Gleich würden sie Cecilia ergreifen und das zuende führen, was ihnen beim ersten Mal misslungen war...

Und dann gingen sie einfach an ihnen vorbei. Wenige Zentimeter trennten sie vom Zusammenstoß, und doch zuckten ihre Feinde nicht mal mit der Wimper, als sie vorüberzogen. Dabei hörte Cecilia, wie die Frau irgendetwas von "inkompetenten Versagern" und "Mission fehlgeschlagen" vor sich hinmurmelte.

Der Weißhaarige schien nicht im Mindesten überrascht von ihrem Verhalten. Vielmehr wartete er geduldig, bis die Beiden am Horizont verschwunden waren, ehe er Cecilia durch eine auffordernde Handbewegung andeutete, ihm zu folgen. Ganz ohne ihr Zutun setzte die junge Frau sich schwankend in Bewegung, immer hinter dem seltsamen Kerl hinterher.
 

Sie konnte nicht genau sagen, wie lange es dauerte, bis sie weitab der Unglücksstelle auf die Straße stießen, doch noch immer war der Himmel von einem samtenen Schwarz überzogen. Einzig der bleiche Mond spendete ein wenig Helligkeit auf ihrem Weg...

Plötzlich stoppte ihr weißhaariger Führer aus unerfindlichen Gründen, starrte angespannt in die Finsternis vor ihnen. Noch immer hatten sie kein einziges Wort gewechselt, hatte sie keine Ahnung, was hier eigentlich vor sich ging.

Auf einmal durchdrang greller Lichtschein die Dämmerung, kam immer weiter auf sie zu. Geblendet schloss Cecilia die Augen, überließ ihren restlichen Sinnen die Führung. Das erste, was sie wahrnahm, war das sanfte, gleichmäßige Schnurren eines aufheulenden Motors, dazu der Geruch von Leder und von Benzin. Irgendwie beruhigend...

Als sie die Augen aufschlug, war das Automobil kaum noch zweihundert Meter von ihr entfernt. Wie in Trance beobachtete Cecilia, wie es immer näher kam. Gleich würde es sie überfahren und trotzdem verspürte sie nicht das Bedürfnis auszuweichen. Wahrscheinlich war das alles doch sowieso nur ein Traum. Ein dämlicher, verstörender Traum. Und anscheinend hatte es ihr weißhaariger Begleiter ja auch nicht nötig vorm unvermeidlichen zu flüchten.

Millimeter vor ihnen kam der Wagen zum Stehen. Erst jetzt hatte sie Zeit dazu, die nachtblaue Nobelkarosse als einen Bentley zu identifizieren; erklärte zumindest, weshalb sie nicht überfahren worden waren... Kein Besitzer eines solchen Automobils hatte gerne das Blut von zwei abgewrackten Unfallopfern auf seiner Kühlerhaube kleben, selbst dann nicht, wenn es sich bei dem Unfall selbst um etwas so außergewöhnliches wie eine explodierte Lokomotive handelte.

Die Vordertür ging auf und ein Mann in der Uniform eines Chauffeurs stieg aus. Zuerst dachte Cecilia, er würde sich nur darüber aufregen wollen, was sie um diese Uhrzeit hier mitten auf der Landstraße zu suchen hätten, doch stattdessen verbeugte er sich nur kurz in Richtung ihres Begleiters, um dann anschließend die Tür zum hinteren Teil der Limousine aufzuhalten; mit einem kurzen Nicken deutete der Weißhaarige ihr an einzusteigen.

Kaum saßen sie, da setzte sich der Wagen auch schon in Bewegung.

"So, da wären wir also...",trotz ihres ruhigen, melodiösen Klanges lag eine gewisse Schärfe in der Stimme des weißhaarigen Unbekannten, eine Tatsache, die das allgemeine Unwohlsein Cecilias noch verstärkte. Ein Unwohlsein, hervorgerufen von dem Fakt, dass sie weder wusste, mit wem sie es zutun hatte, noch wohin sie fuhren, noch ob das, was sie glaubte gesehen zu haben, auch tatsächlich passiert war. Zu irreal waren ihre Wahrnehmungen, zu schemenhaft ihr Wissen.

"Oh, verzeih, ich habe mich in der Tat noch nicht vorgestellt, aber du wirst mir zugestehen müssen, dass bisher wohl kaum eine angemessene Atmosphäre dafür war, Kind. Mein Name lautet Arthur, Arthur McCaine. Was in Anbetracht der Dinge wohl Ironie des Schicksals ist..." Unwillkürlich zuckte Cecilia zusammen; für einen Moment war es ihr beinahe so vorgekommen, als hätte der Fremde... "Als hätte ich deine Gedanken gelesen? Nun, das liegt wahrscheinlich daran, dass ich genau das getan habe. Ist eine meiner Spezialitäten, musst du wissen.", zufrieden beobachtete McCaine, wie die Gesichtszüge der jungen Frau gefroren, "Es müsste dir eigentlich auch liegen, bei den Fähigkeiten, die du vor deinem Tod offenbart hast."

Die selbe Übelkeit, die sie schon im Würgegriff der Schwarzhaarigen befallen hatte, machte sich in Cecilias Magen breit. Sie wollte am liebsten die Wagentür aufreißen und aus dem fahrenden Auto springen, doch stattdessen blieb sie regungslos sitzen, brachte nur mit zitternder Stimme einige Worte hervor: "Was meinen Sie mit "vor meinem Tod"?"

Ihr Gesprächspartner betrachtete sie gleichsam erheitert wie interessiert: "Kind, ich hätte dich bei Weitem nicht für so naiv gehalten. Du hast doch gespürt, wie dich etwas aus der süßen Umarmung des Sensenmannes gerissen hat, und ebenso hast du gesehen, wie diese alte Lasombrahexe, sich verändert hat, als sie deine Seele ins Reich der Toten beförderte! Du hast ihre Fangzähne ebenso geschaut wie ihre Schattenkrone, also tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich bin, was du bist!"

Tief in ihrem Inneren wusste Cecilia, worauf McCaine hinauswollte, aber noch konnte - wollte - sie es einfach nicht begreifen: "Sie wollen mir tatsächlich erzählen, ich sei ein Vampir? Ein Wesen aus irgendwelchen erbärmlichen Mythen, mit dem man kleine Kinder ins Bett treibt wenn sie nicht schlafen wollen? Sie sind doch verrückt!"

"Mein Geisteszustand hat wohl kaum etwas mit der meiner Aussage zugrundeliegenden Wahrheit zu tun. Aber du willst Beweise, Leute wie du wollen immer Beweise...", mit diesen Worten zog McCaine einen Revolver aus seinem Mantel und richtete ihn auf Cecilia. Erstarrt sah sie die Waffe an. Also doch; dieser Kerl war verrückt, richtig wahnsinnig. Und jetzt würde sie gleich sterben - erschossen von einem Geisteskranken.

Als der weißhaarige Irre mit einem andächtigen Gesichtsausdruck den Abzug betätigte, schloss Cecilia gequält die Augen. Sie legte nicht unbedingt Wert darauf, bei ihrer eigenen Exekution zuzuschauen.

Wie in Zeitlupe spürte sie, wie die Kugel durch ihren Brustkorb in die Lunge eindrang, ihren Körper wieder durch den Rücken verließ; die Wucht des Aufpralls schleuderte sie nach hinten ins weiche Leder des Sitzes. Ironisch: Im Dreck der Gosse geboren, würde sie jetzt in einer Nobelkarosse verrecken, ersticken an ihrem eigenen Blut.

Sie wartete darauf, keine Luft mehr zu kriegen, Blut zu husten, oder etwas anderes der Situation angemessenes zu tun, doch irgendwie blieb die akute Atemnot aus. Wenn sie ehrlich war: Sie verspürte eigentlich nicht mal das Bedürfnis zu atmen... Alles, was sie fühlte, war ein stechender Schmerz in ihrem Torso, und nicht mal der war ausgeprägt genug, um daran zu sterben.

Mit zusammengekniffenen Augen sah Cecilia an sich hinunter, öffnete extra ihren durch ein Einschussloch verunstalteten Wollmantel. Bis auf eine blutbefleckte Stelle in ihrer Bluse war da nichts zu sehen, was in irgendeiner Form auf eine eventuelle Verletzung ihrerseits schließen ließ. Zitternd fuhr sie mit dem Zeigefinger durch das Schussloch im Stoff, befühlte vorsichtig ihre Wunde. Sie schloss sich bereits...

Schlagartig fühlte sie Wut in sich aufsteigen wie eine brodelnd heiße Dampfwolke, die jeden rationalen Gedanken einfach in Asche verwandelte. Wie konnte dieser Bastard es wagen... Ohne ihre Bewegungen noch bewusst steuern zu können, ballte Cecilia ihre Faust und rammte sie McCaine mit voller Wucht ins Gesicht. In diesem Moment zählte es nicht, dass sie Gewalt verabscheute und nicht annährend stark genug war, um sich im Ernstfall verteidigen zu können, alles was wichtig war, war den Triumph über diesen Mistkerl zu empfinden, den süßen Geschmack seines Blutes auf ihrer Zunge zu spüren.

Das Knacken von Knochen riss sie in die Wirklichkeit zurück. Geschockt bemerkte sie, dass McCaine noch immer vollkommen ruhig dasaß, allerdings mit einer seltsam zur Seite hin abgeknickten Nase, aus der ein dünner Rinnsal von Blut sein Gesicht hinablief. Entsetzliches Bedauern flackerte in ihr auf, beinahe so, als hätte sie gerade jemanden, der ihr sehr nahe stand, etwas Abscheuliches angetan.

Ein leises Jammern entrang sich ihrer Kehle, und als McCaine beruhigende Worte flüsternd seine Arme um sie schlang und anfing, sie wie ein kleines Kind hin und her zu wiegen, konnte sie fühlen, wie die ersten Tränen in ihr aufstiegen. Weinend sah sie dabei zu, wie sein Riechorgan sich langsam aber sicher wieder in die richtige Position verschoben, wie der Blutschwall langsam versiegte.

Dabei nahm sie nur am Rand wahr, wie eine einzelne Träne auf ihren Handrücken tropfte, warm und seltsam rot. Ein kurzer Sinneseindruck nur, aber er allein reichte aus, um ihr endgültig die Wahrheit ins Bewusstsein zu rufen: Sie war nicht tot. Aber leider auch nicht mehr lebendig.
 

Nach einer etwa dreistündigen Fahrt stoppte der Bentley und die sich öffnende Wagentür gab den Blick frei auf einen Gebäudekomplex, der mit seinen vergitterten Fenstern und seiner grauen, heruntergekommenen Fassade mehr an ein Gefängnis denn an eine Pflegeanstalt erinnerte.

Im Grunde behagte es Cecilia kein bisschen, schon wieder Gast im Sanatorium zu sein, aber in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und damit mangelte es wohl an Alternativen. Mit klopfendem Herzen folgte sie ihrem Erschaffer in die Eingangshalle des zu dieser späten Uhrzeit nur noch schwach beleuchteten Grundstückes. Eigentlich war es ja zu jeder Uhrzeit schwach beleuchtet, schließlich konnte "der irre Abschaum" dann weniger sehen und kam gar nicht erst in Versuchung, das Pflegepersonal anzugreifen...

Zu Cecilias Erstaunen saß dort ausnahmsweise keine der üblichen, verbittert wirkenden Schwestern, sondern ein schlanker, braunhaariger Mann mittleren Alters. Kaum hatte er ihr Ankommen bemerkt, da sprang er hinter der Anmeldung auf und kam freudestrahlend auf sie zu: "Sir, da sind Sie ja wieder! Und die junge Miss haben Sie auch wieder mitgebracht, ganz wie ich es vorausgesehen habe!"

Nur mit Mühe konnte Cecilia sich ein gekünsteltes Lächeln abringen: "Balthasar, man hat Sie also freigelassen..." "Nicht ganz, mein Kind; er war nie wirklich hier eingesperrt. Schließlich gehören er und die meisten vom Pflegepersonal zu der Ghuldienerschaft meines kleinen Refugiums.", ein fröhliches Kichern entrang sich McCaine, als er sah, wie Balthasars Brust bei diesen Worte vor Stolz ein ganzes Stück anschwoll, "In der Tat ist er sogar der Ghul, der mir am längsten dient und somit den höchsten Rang innehat."

Auf einmal ergab der Vorfall mit Dr. Doyle einen Sinn; wahrscheinlich hatte sich der durch ihre Anwesenheit sicher gefühlt und gedacht, sich endlich mal einen Scherz über seinen Vorgesetzten erlauben zu können. Dummerweise hatte Balthasar ihm dann auf irgendeine Weise das Gegenteil bewiesen... Unwillkürlich erschauerte Cecilia bei dem Gedanken, schien diese Disziplinarmaßnahme der Reaktion des Arztes nach ziemlich schlimm gewesen zu sein.

Erst in diesem Moment registrierte sie, dass die beiden Männer neben ihr schlagartig verstummt waren und nun reglos hinter sie starrten. Unwillkürlich drehte sie sich um, um zu sehen, was dieses Verhalten hervorgerufen hatte.

Der Anblick der Frau, die gerade aus dem zum Besucherzimmer führenden Flur heraustrat, nahm Cecilia viel zu sehr in Anspruch, als dass sie sich gefragt hätte, wieso sie den Drücker für die Tür nicht gehört hatte. Lockiges, ebenholzfarbenes Haar wogte fließend über porzellanfarbene Haut, ließ die Fremde beinahe wie eine Puppe erscheinen, die sich nur ganz zufällig bewegen konnte. Dazu im Kontrast standen jedoch ihre traurigen blauen Augen, die erahnen ließen, dass hinter dieser Frau mehr steckte als eine gedankenlose Marionette.

Die sanfte, nachdenklich klingende Stimme der Schwarzhaarigen verstärkte diesen Eindruck noch: "Wie ich sehe, bist du früher als erwartet von deiner Reise zurück, Arthur."

Wie ein schuldbewusstes Kind wand der Angesprochene sich hin und her: "Äh... Ja." Als die Frau nichts sagte, sondern ihn nur abwartend ansah, fuhr er nervös fort: "Es... Es war nicht meine Schuld, oh nein. Elisabeth hat einen ihrer Diener beauftragt, den Zug zu sabotieren, und die Ghule, die Ihr mir zu meinem Schutz mitgegeben habt, konnten es nicht mehr rechtzeitig verhindern. Ich hatte Glück, dass ich überlebt habe..." Ein Lächeln, dass wohl beruhigend wirken sollte, offenbarte lange, elfenbeinfarbene Reißzähne: "Ich mache dir keinen Vorwurf, auch wenn du die Gute mit deinem letzten Streich wirklich zu etwas derartigem provoziert hast; muss eben ein Anderer die Abwicklung des Geschäfts überwachen. Und so nutzlos scheint deine kurze Reise ja auch nicht gewesen zu sein, sehe ich doch ein neues Gesicht an deiner Seite."

Damit richtete die unbekannte Dame ihre Aufmerksamkeit auf Cecilia: "Wie heißt du mein Kind?" "Ich... Äh...", in diesem Moment verfluchte die junge Frau sich für ihre Unfähigkeit, einen klaren Satz zu formulieren. Überraschend kam ihr ausgerechnet Balthasar zu Hilfe; beherzt machte er einen Schritt aus dem Hintergrund, trat sowohl vor Cecilia als auch vor McCaine: "Ihr Name lautet Cecilia Carpenter und der Herr hat wirklich gut daran getan, sie zu infizieren. Wart Ihr es nicht, die begann, Malkavs Geschenk weiterzugeben?" "In der Tat. Und auf welche Weise kann sie deiner Meinung nach von Nutzen für den Clan sein, Arthur?" Sichtlich unglücklich darüber, dass die allgemeine Aufmerksamkeit sich wieder ihm zuwendete, antwortete McCaine: "Nun, sie war verfügbar, als ich Unterstützung benötigte und... und als mein Geist nachts in ihrem Zimmer umhergewandert ist, habe ich gesehen, dass sie im Schlaf Visionen hat!"

Wut stieg in Cecilia auf; für McCaine war sie also auch nur ein Mittel zum Zweck...

Scheinbar hatte die Frau ihre aufkeimende Bitterkeit bemerkt, denn kurz blinzelte sie ihr verschwörerisch zu, ehe sie weitersprach: "Eine Traumseherin also; das könnte in der Tat nützlich sein. Du wirst mir jedoch zustimmen, dass sie zunächst begreifen lernen sollte, was sie nun ist und wie die Gesellschaft, in der sie sich von nun an bewegt, funktioniert. Und wer könnte ihr das besser erklären als ich?"

Zwar schien McCaines Mimik sich langsam wieder zu entspannen, doch trotzdem vermeinte Cecilia ein gewisses Unbehagen aus seiner Stimme heraushören zu können. "Wie Ihr wünscht.", halbherzig verbeugte der Weißhaarige sich, ehe er seine Aufmerksamkeit seinem Schützling zuwandte, "Von nun kümmert sich..." "Jane." "...Von nun an wird sich Jane um deine Ausbildung kümmern, bis sie dir gegenteiliges mitteilt.", geflissentlich tat McCaine sein bestes, weder in Cecilias Richtung, noch in die der anderen Frau zu sehen.
 

Eine Reihe von verschiedenen Emotionen wallte in Cecilia auf, als sie Jane durch die Gänge des nächtlichen Sanatoriums folgte. Dabei war Wut ebenso vertreten wie Neugier, Einsamkeit ebenso wie Angst. Warum wurde sie eigentlich hin und her geschoben wie das Waisenkind, das keiner will?

"Er mag dich." "Hm?", beinahe wäre die junge Frau geradewegs in ihre neue Aufpasserin hereingelaufen, als diese vor einer in der Dunkelheit kaum erkennbaren Metalltür stehenblieb. Kichern bremste Jane sie ab: "Arthur. Er mag dich." Sie sagte das in einem Tonfall zu Cecilia, der diese ärgerlich aufschnaufen ließ; hielt die sie etwa für ein kleines, dummes Kind?

Besänftigender fuhr Jane fort: "Schau mich nicht so böse an, ich meine das ernst! Ich kenne meinen... "Enkel" gut genug um zu wissen, dass er nicht einfach so in den Zimmern von fremden Frauen herumschleicht; für gewöhnlich kommt er nicht mal in ihre Nähe, geschweige denn, dass er sie beißen würde. Aber bei dir war das anders... Aus irgendwelchen Gründen hast du ihn so sehr beeindruckt, dass er bei dir eine Ausnahme gemacht hat, mir am liebsten an die Kehle gesprungen wäre, als ich den Wunsch geäußert habe, dich zu unterrichten." "Oh, lassen Sie mich raten, wahrscheinlich war es die Tatsache, dass wir beide Albinofreaks sind...", in Anbetracht der Janes Wesen zugrunde liegenden Erhabenheit fiel es Cecilia schwer, diese sarkastischen Worte zu äußern, doch dennoch tat sie es. Im nächsten Moment hasste sie sich selbst dafür, doch es war zu spät.

"Vielleicht.", Janes schmale Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, "Aber in Anbetracht deiner Worte glaube ich eher daran, dass es an dem dir innewohnenden Feuer liegt. Und jetzt hier rein, die Sonne geht bald auf!"
 

Der Raum hinter der Metalltür musste einst als Operationssaal gedient haben; zumindest würde das die halbverrostete, mit Ledergurten ausgestattete Metallliege in seiner Mitte erklären.

Mit einem Quietschen schlug die Tür hinter ihr zu und das Einschnappen eines Schlosses war zu vernehmen. Im selben Moment gingen die flackernden Neonröhren - die einzige Lichtquelle in diesem fensterlosen Zimmer - aus, ließen Cecilia allein mit der Dunkelheit. Dunkelheit, die keineswegs friedlich und trostspendend war, sondern vielmehr unheilverkündend und bedrohlich. Millionen von Augen schienen sie aus der Finsternis heraus zu beobachten, Millionen von Stimmen sie zu verlachen.

Sie wusste, dass das nicht sein konnte, dass sie sich gerade wie ein kleines Kind verhielt, und trotzdem... Der Wahn war einfach da, ließ Cecilia unter seinem Gewicht schluchzend zusammenbrechen.

In diesem Moment schlossen sich warme Arme um sie, wischte eine dazugehörige Hand nicht nur die Tränen aus ihrem Gesicht fort, sondern scheinbar auch all die Jahre der Einsamkeit und der Isolation, die sie zu Lebzeiten erlitten hatte.

Heiser drang McCaines - Arthurs - Stimme an ihr Ohr: "Ich werde dir jetzt nicht erzählen, dass alles in Ordnung ist, denn das ist es nicht, aber wenn du willst, bleibe ich bei dir..."
 

Als Cecilia am nächsten Abend aufwachte, war sie allein. Wahrscheinlich hätte sie gedacht, sich alles nur eingebildet zu haben, wäre der Ort an dem sie aufwachte nicht ein kalter, harter Fliesenboden gewesen. Zu wissen, dass die geschehenen Ereignisse nicht bloß ihrer eigenen Phantasie entsprangen, war gleichsam beruhigend wie beängstigend.

Beruhigend, weil es hieß, dass sie doch nicht langsam wahnsinnig wurde.

Beängstigend, weil es beinhaltete, dass sie jetzt eine Kreatur der Nacht - ein Vampir - war.

Und dann war da noch Arthur.

Cecilia war sich nicht sicher, unter welchen der beiden Punkte ihr Erschaffer fiel. Einerseits hatte sie als er auf sie geschossen hatte gesehen, wie kaltschnäuzig und emotionslos er sein konnte, und eigentlich hätte ihr das Furcht bereiten sollen, doch dann waren da auch wieder diese Momente wie gestern Abend, als er zu ihr gekommen war und sie zu beruhigen versucht hatte...

"Ah, ist Dornröschen wieder aus ihrem Schlaf erwacht?", Janes lächelndes Gesicht schob sich in ihr Gesichtsfeld, "Schön, dann können wir ja mit der ersten Lektion beginnen. Ich habe mich entschlossen, dir zunächst einmal das Grundsätzliche beizubringen: Wie man trinkt." "Bitte?", irritiert sah Cecilia sie an. Also das bekam sie ja wohl noch alleine hin! "Wart es ab; und jetzt komm, folge mir!"

Vorbei an zahlreichen Zellen ging es durch die schimmelnden Eingeweide des Sanatoriumsleibes, bis sie schließlich im Speisesaal standen. Wie auch schon an dem Abend, an dem Cecilia hier gespeist hatte, waren auch heute wieder sämtliche Patienten hier versammelt worden, um ihr Essen einzunehmen - dieses Mal waren jedoch noch Arthur, sowie zwei weitere Männer und eine Frau zugegen. Grüßend hob Jane die Hand in ihre Richtung, was von den Anderen mit einem kurzen Nicken quittiert wurde.

"Die Familie hat sich eingefunden - gut.", diese Worte kamen so leise über die Lippen der Schwarzhaarigen, dass Cecilia sie beinahe nicht vernommen hätte. Etwas lauter fuhr Jane fort: "Geh und such dir jemanden aus, dessen Blut dir deiner würdig erscheint."

Erstarrt stand die junge Frau da, starrte fassungslos den Boden an. Das konnten sie nicht von ihr verlangen, das konnte nicht war sein...

Doch, konnte es. Sie war jetzt eines dieser Wesen, die sie umgaben, eines dieser Raubtiere in Menschengestalt. Das hatte nun mal diese Konsequenzen.

Langsam sah sie auf, sah durch die sie umgebenden Menschenmassen hindurch, bis da nichts mehr war. Nichts außer dem leisen, verlockenden Ruf des Blutes. Allgegenwärtig hämmerte er durch sie hindurch, brachte sie unter der Wucht ihres Dranges zum Beben.

Wie von einer unsichtbaren Macht fühlte Cecilia ihren Kopf zur Seite gedrückt, ihren Blick auf etwas vor sich fokussiert. Ein magerer Knabe, kaum dreizehn Lenze alt, die knochigen Arme um seinen Oberkörper geschlungen als wolle er sich von seiner eigenen Existenz überzeugen.

Mitleid stieg in ihr auf. In seiner Mischung aus Unschuld und Verzweiflung wirkte der Junge plötzlich ungeheuer anziehend auf Cecilia, schien regelrecht nach ihr zu rufen. Ohne darüber nachzudenken setzte sie sich in Bewegung, kam Schritt für Schritt näher auf ihn zu.

Sanft legte sie eine Hand auf seine Wange, streichelte kurz darüber, beinahe als wolle sie sich für das Kommende entschuldigen. Dann ertönte das Geräusch von reißendem Stoff, als Cecilia unbeherrscht den Hemdkragen des Jungen zur Seite zerrte. In diesem Moment fühlte sie nichts, kein Bedauern, keine Reue, nur ihren alles verschlingenden Durst. Ein Durst, der durch kein Wasser, keinen Wein dieser Welt gestillt werden konnte, dem nur süßer, roter Lebenssaft Einhalt gebot.

Die Augen andächtig geschlossen, versenkte Cecilia langsam ihre Zähne im Hals des Jungen. Schon im nächsten Augenblick konnte sie sein Blut auf ihren Lippen schmecken, hörte sie seinen heftig pochenden Herzschlag. Beinahe schien es, als würde die Intensität ihrer Empfindungen mit jeder vergehenden Sekunde größer werden, als verschmelze die ganze Welt zu einem Crescendo aus Formen und Farben. Unbeschreiblich war ihr Hochgefühl, zum ersten Mal fühlte sie sich richtig lebendig - nein, mehr als das. Dann hörte sie das Schluchzen.

Nein, eigentlich dröhnte es durch ihren Körper, brachte ihre Nerven zum Brennen, als eine Reihe von Erinnerungen in ihr aufstiegen, die unmöglich ihre eigenen sein konnten. Erschreckend real sah sie, wie ihr Opfer von einigen älteren Jungen über ein schlammiges Feld gejagt wurde, hörte das Keuchen, roch den Schweiß, fühlte den Regen auf ihrer Haut. Gleich würden sie ihn haben...

Von jäher Panik ergriffen, stieß Cecilia den Knaben von sich. Noch ehe er taumelnd zum Stehen kam, war sie bereits aus dem Saal geflohen. Nur weg von hier.
 

Kaum war sie in ihrem Zimmer angekommen, fand sie sich auch schon über dem in den Boden eingelassenen Metallabfluss wieder. Doch auch die Tatsache, dass sie minutenlang Blut und Asche erbrach, konnte nichts daran ändern, dass sie sich nackt und schutzlos und schmutzig fühlte. Sie hatte dem Jungen seine Erinnerungen - einen Teil seines Geistes - herausgesaugt...

Kühle Hände legten sich unter Cecilias Kinn, stützten ihren Kopf ab. Ohne hinzusehen wusste sie, dass es sich nur um Arthur handeln konnte. "Was willst du?" Lächelnd ließ ihr Erzeuger sie los, griff neben sich und hielt ihr eine Karaffe mit Wasser hin: "Ich wollte nur nachsehen, wie es dir geht."

Diese Frage verursachte ein Stechen in Cecilias Brust. Um Zeit zu schinden besprenkelte sie zunächst Gesicht und Haare mit dem ihr angebotenen Nass, ehe sie eine Hand in das Gefäß eintauchte, um aus der hohlen Hand ein wenig Wasser zu schlucken. Schließlich, als sie bereits mehrere Minuten gegurgelt hatte, musste sie wohl oder übel antworten: "Ich... Verdammt noch mal, ich habe dem Jungen ein Stück seiner Seele gestohlen. Und noch schlimmer: In dem Moment, als ich es getan habe, war es mir vollkommen egal."

"Es ist vollkommen normal, dass du dich die ersten paar Male beim Trinken mies fühlst. Aber halt dir bitte vor Augen, dass die Aufnahme von Blut für dein Überleben notwendig ist - und nur von Blut, du musst den Menschen von dem du trinkst weder töten, noch stiehlst du ihm einen Teil seiner Seele." "Und warum habe ich dann Erinnerungen des Jungen in meinem Schädel gehabt? Sag's mir!", angriffslustig starrte Cecilia zu Arthur hinauf, versuchte vergeblich, das beengende Gefühl in ihr drin in echten Zorn umzuwandeln.

Mitleidig sah Arthur sie an: "Das ist also dein Problem... Es ist alles in Ordnung, Liebling, von Zeit zu Zeit nehmen einige von uns etwas derartiges wahr. Hope, meine Erzeugerin, hört diese Stimmen auch - wenn du willst kannst du mit ihr darüber reden."

"Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass ich mich um das Küken kümmere, Arthur.", wie ein Messer schnitt Janes - für sie ungewohnt scharfe - Stimme durch die Luft. Der Angesprochene zuckte unwillkürlich zusammen, brachte jedoch zumindest genug Willenskraft auf, um nicht auf der Stelle herumzufahren. Stattdessen drehte er sich ganz langsam und bedächtig um: "Ich wollte ihr nur helfen, Ahnin."

Missbilligung flackerte in blauen Augen auf, ließen diese wie im Fieberwahn leuchten: "Nun, ohne dich hätte sie keine Hilfe nötig, Kind. Und jetzt geh!"

Mit deutlichem Widerwillen verbeugte sich Arthur, ehe er den Raum verließ; vorher warf er allerdings Cecilia noch schnell einen aufmunternden Blick zu. Irritiert runzelte diese die Stirn; was war hier eigentlich los?

"So, du hörst also die Stimmen im Blut." Der Satz verriet, dass Jane vorher schon gelauscht haben musste, eine Tatsache, die für Cecilia das Fass zum Überlaufen brachte: "Ja und, was geht es Sie an? Sie führen sich ja geradezu auf, als wären Sie meine Mutter!" Die Ältere blieb gelassen: "Oh, das bin ich ja auch. Außerdem bin ich auch noch Schwester, Großmutter, Urgroßmutter und Geliebte, denn genau darum geht es hier für dich: Um Familie. Du und ich haben nicht damit gerechnet, dass du in sie aufgenommen werden würdest, aber das ändert nichts daran, dass du jetzt ein Teil von ihr bist. Das bringt Pflichten und Aufgaben mit sich, und eine meiner Aufgaben ist es nun mal, das Wohl der Familie zu sichern - also auch deines. Erzähl mir jetzt von den Stimmen."

Verwirrt von der schieren Masse der Worte, schilderte Cecilia tatsächlich alles, was sie beim Trinken empfunden hatte. Ihr Zorn war durch das Gefühl von etwas Altem verdrängt worden - nein, die Beschreibung war falsch, nicht "alt", sondern ehrwürdig...

Während der ganzen Zeit, in der sie sprach, hörte Jane aufmerksam zu, betrachtete sie nachdenklich. "Nun, das hört sich wirklich recht ähnlich zu Hopes Beschreibungen an. Warum tauschst du dich nicht mit ihr aus?"

Wofür war das jetzt bitte gut gewesen? Diente es einfach nur dazu, die unzweifelhaft ältere Blutsaugerin ihrer Autorität zu versichern oder hatte es doch irgendeinen verschrobenen, für andere Augen nicht erkennbaren Zweck? Auch ein Blick in Janes schönes, doch maskenhaftes Gesicht brachte keine Erkenntnis.

So blieb Cecilia nur die Möglichkeit, widerstandslos zu folgen, wenn sie die Lösung des Rätsels erfahren wollte. Und so ging es durch die endlos scheinenden Korridore in ein ihr bisher unbekanntes Kaminzimmer, zurück zu ihrer neuen "Familie".

Eine Familie, die aus lauter seltsamen Eigenbrötlern zu bestehen schien: Während der eine der beiden Männer - ein gedrungen gebauter, ältlicher Gentleman mit einem prachtvollen, graumelierten Schnauzbart - sich unaufhörlich mit einem imaginären Tanzpartner im ¾ - Takt wiegte, presste der andere eine uralte hölzerne Maske an sich - was man ihm bei seinem pockennarbigen Gesicht aber durchaus nicht verdenken konnte. Hope - ein mageres, beinahe schon klappriges Ding, mehr Kind als Frau - kniete derweil in einem Sessel vor dem Kaminfeuer und frisierte eine Porzellanpuppe, murmelte dabei zufrieden einen leisen Singsang vor sich hin.

Fasziniert beobachtete Cecilia, wie die Bürste das rote, seidig glänzende Haar der Puppe teilte und erschauderte unwillkürlich, als eine Bruchstelle an der Schläfe des schneeweißen Gesichtchens zum Vorschein kam. Ein dumpfes Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, dass das gar nicht gut war...

Mit einem stolzen Grinsen war Hope ihrem Blick gefolgt: "Ist zerbrochen, als ich sie gegen den Schädel eines Sethskindes geschlagen habe." "Ach ja?", selbst in ihren eigenen Ohren hörte sich Cecilias Stimme seltsam dünn an, "Nun, ich hatte eigentlich gehofft, du könntest mir etwas über die Stimmen im Blut erzählen."

Schlagartig wich alle Selbstgefälligkeit aus Hopes Gesicht; stattdessen machte sich ängstliche Anspannung breit: "Ich mag sie nicht, sie machen mir Angst! Sie sollen aufhören... Ich habe versucht, sie rauszuschneiden, aber sie wollen einfach nicht aufhören!" "Ist ja gut! Alles in Ordnung, Herzchen!", beruhigend wuschelte Jane ihr durchs Haar und für einen kurzen Augenblick vermeinte Cecilia eine feine rote Narbe an der Stelle ausmachen zu können, an der auch die Verstümmelung der Puppe zu finden war, "Solange ihr kein Blut von den Lebenden trinkt, ist alles normal. Morgen werden wir euch auf dem sanatoriumseigenen Friedhof einen Leichnam ausgraben, an dem ihr euren Durst stillen könnt..."

Die Vorstellung, die Ruhe eines Toten auf eine derart morbide Weise zu stören, löste Ekel in Cecilia aus; und doch gierte ein kleiner Teil von ihr, der bereits die Regeln und Beschränkungen ihres alten Lebens abgestreift hatte, danach das Blut zu kosten. Nur einen einzigen Schluck...

Gequält stöhnte sie auf; allein die Vorstellung hatte bereits einen unerträglichen Hunger in ihr ausgelöst.

"Oh, hat das Kätzchen Hunger?", ein schwarz-weißes, von einem überdimensionalen Grinsen verzerrtes Gesicht schob sich in ihr Blickfeld. Hätte Cecilia nicht gewusst, dass es sich dabei lediglich um eine Maske handelte, wäre sie wahrscheinlich schreiend weggelaufen; so beäugte sie ihren Gegenüber nur skeptisch. "Scheint so, als würde Bruno dich mögen! Normalerweise spricht er nicht mit Leuten.", schon wieder ging Jane dazwischen.

"Und weshalb die Maske?" Der ältere Herr tanzte sich seinen Weg zu ihr: "Hat irgendetwas mit seiner Kindheit zu tun; sein Vater hat ihn geschlagen, sobald er den Mund geöffnet hat, oder so ähnlich... Konstantin Moore, sehr erfreut Sie kennenzulernen, meine Teuerste!"

"Nun, ich denke, das geht Cecilia genauso. Aber jetzt entschuldigt uns zwei bitte, ich habe ihr noch ein paar Feinheiten zu erklären...", eilig zerrte Jane sie weg.

Erst als sie wieder in Cecilias Unterkunft waren, ließ sie ihren Arm los. "Was sollte das? Zuerst schicken Sie mich zu den Anderen und dann mischen Sie sich jedes mal ein, wenn einer von ihnen mit mir zu reden versucht - das ergibt keinerlei Sinn!", schmollend ließ sich Cecilia auf die Liege in der Raummitte sinken. "Oh doch, das tut es - zumindest aus meiner Sichtweise. Ich wollte, dass du mit meinen Kindern redest, ihre Eigenarten feststellst. Aber das heißt keineswegs, dass du dich mit ihnen anfreunden sollst; emotionale Nähe ist ein Luxus, den man sich nur sehr selten erlauben sollte."

Ah, daher wehte also der Wind!

"Warum? Damit Sie die Kontrolle über mich behalten können?" Verächtlich schnaubte Jane auf: "Wenn du denkst, ich hätte die Kontrolle über irgendetwas, dann bist du eine Närrin! Sieh mich doch an: Denkst du wirklich, mein Herr hätte mir wegen meiner Führungsqualitäten den Kuss geschenkt? Ich erinnerte ihn einfach an die eine, die er nicht haben konnte! Doch auch ich selbst bin nicht besser: Obwohl ich wusste, dass die meisten daran zerbrechen würden, gab ich seine Gabe weiter, weil ich ihn für die in ihr liegende Wahrheit liebte." "Und was hat das mit mir zu tun?" "Du willst es wissen? Dann lass es mich dir zeigen!", unsanft presste Jane Cecilia auf die Liege und noch ehe sie sich zur Wehr setzen konnte, hatte die Ältere die Lederriemen schon um ihre Arme und Beine geschlossen, hinderte sie so an der Flucht, "Keine Angst, ich werde dir nur zeigen, was ich einst gesehen habe. Doch zur besseren Konzentration..." Jane schloss die Augen und mit einem kurzen Flackern ging das Licht aus.

Dann ertönte das Geräusch von Schritten - von näherkommenden Schritten. Irgendwoher kannte sie das...

Als plötzlich eisblaue Augen vor ihr aufglühten, wusste sie, woher: Der Traum! Das hieß... Gleich würden die Stimmen...

"Höre die Worte deiner Brüder und Schwestern, eingebettet in die Erinnerung unserer Familie! Erkenne die Wahrheit und teile ihr Wissen über das, was war und das, was sein wird!", wie ein Strom heißer Lava tropfte Janes Geist in ihren Verstand, sammelte sich in einem bestimmten Teil ihres Gehirns. Schien dort eine Tür zu öffnen - oder doch eher ein schwarzes Loch? - durch das sich EIN Bewusstsein schob, geschaffen aus vielen Bewusstsein.

Das Gefühl der Gedankenstränge, die sich wie glühende Schürhaken in ihren Kopf bohrten, sie zu einem Teil dieser Entität machten, ließ sie sich vor Schmerz winden und gleichzeitig nach mehr gieren. Zu intensiv waren die auf sie einprasselnden Empfindungen und trotzdem reichten sie immer noch nicht aus, um ihren Wissensdurst zu stillen. Konnten es gar nicht, entzog sich doch die Bedeutung der Eindrücke ihrer Wahrnehmung...

"Du bist neugierig... Das ist gut! Das ist sogar sehr gut, erleichtert es doch den Zugang zu dem, was du sehen sollst. Und es gibt ein Mittel, um deine Aufnahmefähigkeit noch weiter zu steigern...", beruhigend strich ihr Jane übers Gesicht, brachte ihr Zittern so zum Verebben - doch den Durst stillte es nicht.

Erst als Janes linke Hand vorsichtig ein wenig Blut auf ihren Lippen verteilte, sie es ablecken konnte, wurden ihre Gedanken ruhig, fokussierter. Als sich dann noch ein porzellanfarbenes Handgelenk auf ihren Mund presste, ihr somit den Weg auf die Pulsschlagader - und damit verbunden auf den Lebenssaft der anderen Vampirin - freigab, schienen die fremden Worte sich langsam zu dechiffrieren. Gaben ihr den Blick frei auf Erinnerungen, die weit vor ihrer Geburt gesammelt worden waren...
 

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Vor ihr auf dem Boden kauerte ein zitternder Mann, die Haare wirr, das Gesicht mit Schmutz verkrustet. Schmutz, durch den sich einzig und allein die dünnen Spuren von einzelnen, roten Tränen bahnten...

"Ihr habt nach mir schicken lassen, Herr?", sanft und melodiös entglitten die Worte ihrem Mund. "Sag mir Sklavin...", die Stimme des Hockenden klang gebrochen und kraftlos, "Sag mir, dass ich ein Monster bin." "Wie könnte ich, ich, die schmutzigste von allen? Eine Sünderin bin ich und eine Hure, also wie könnte ich über das Wesen eines so hohen Herren wie Euch urteilen?"

Zum ersten Mal sah der Mann auf: "Sage so etwas nicht! Du verkaufst nur deinen Körper, aber ich, ich habe mein Herz verkauft! Habe die verraten, die mich geschaffen hat, die ich liebte, nur um mein eigenes unwürdiges Leben zu retten!" "Dann habt Ihr es aus denselben Gründen getan, aus denen ich mein Fleisch im Tempel feilbiete..." Ein bitteres Lachen entrang sich seiner Kehle: "Das sagt ausgerechnet die, die ich zur Stillung meines Durstes zerreißen wollte! Wir sind wahrlich gleich..." "Nein, das sind wir nicht. Aber trinkt soviel Ihr wollt von mir, ist dies doch zumindest ein ehrlicher Handel und nicht nur eine der vielen Illusionen, die ich den Männern gebe...", einladend schob sie ihr rabenschwarzes Haar zur Seite, so dass ihr Hals nun frei lag.
 

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Immer weiter wurde Cecilia in den wirbelnden Wahn gezogen, bis sich schließlich ein neues Bild offenbarte. Wieder Jane, wieder der Mann - ihr aller Vater Malkav, wie einige der Stimmen ihr zuflüsterten...
 

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Ineinander verschlungene Körper, vereint in der Heiligkeit des Blutes. Verlangend presste sich sein Mund auf ihren Hals, saugte ihr den Lebenssaft aus.

Gefangen im Taumel ihrer Sinne erzitterte sie, als die Ohnmacht sich langsam von den Rändern ihres Bewusstseins aus an sie heranschlich. In diesem Moment war er das einzige, was sie davon abhielt in die Dunkelheit hinabzufallen, seine Augen ihr Fixpunkt. Augen, in denen der Fieberwahn des Durstes einem anderen Ausdruck wich: dem der Entschlossenheit.

Während er immer weiter trank, ritzte er mit einem Fingernagel die Haut unterhalb seiner Pulsadern auf, so dass ungezügelt Blut hervorströmte. Lockend hielt er ihr sein Handgelenk unter die Nase und ohne darüber nachzudenken, kam sie diesem Ruf nach, schloss den Kreislauf.

Unbändiger Schmerz überflutete ihre Sinne, als ihr Körper starb. Kurz bevor sie das Gefühl hatte, ihr Schädel würde explodieren, hob ihr dämonischer Liebhaber den Kopf, raunte ihr ein heiseres "Zillah" ins Ohr.
 

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Erneut ergoss sich ein Schwall Blut in Cecilias Mund, zeigte ihr das Ende dieser Geschichte. Die selben Protagonisten, doch diesmal nicht in der Kulisse eines uralten Tempels, sondern in der Einsamkeit einer riesigen, mit bunten Bannern geschmückten Halle...
 

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"So verstehe doch, ich kann dich nicht in meiner Nähe ertragen!", er schaute sie nicht einmal an, als er das sagte, "Jedes mal wenn ich dich sehe, muss ich an das denken, was ich dir angetan habe..." "Was habt Ihr mir denn angetan? Ihr habt mir lediglich die Einsicht geschenkt, Dinge so zu sehen wie sie sind!", ihre sonst so ruhige Stimme klang zittrig, verzweifelt. "Ich habe dich verflucht, so zu sein, wie ich bin! Und das habe ich nicht einmal um deinetwillen getan, sondern weil ich nur SIE in dir sah!"

"Ja und, was macht das? So viele vor Euch haben nur ihre Illusion von mir geliebt, es macht mir nichts!" "Aber das ist es ja: Ich liebe nicht die Illusion, ich liebe dich! Deswegen tut es weh, deswegen kann ich dir nicht länger in die Augen schauen! Geh, bitte...", mit gebrochenem Blick sah er sie an - dem Blick, den sie schon einmal bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte.

Langsam nickte sie: "Wie Ihr wünscht, Herr. Ich werde noch heute Nacht verschwinden, hinausziehen in die Welt, um Euer Geschenk weiterzugeben. Wenigstens in den Augen Eurer Kinder kann ich Euch dann noch sehen..."

Mit schmerzenden Augen sah er ihr nach, wie sie den Raum verließ, die Gestalt gestrafft. Seine Prinzessin der Schmerzen trug die aus ihrem eigenen Leid geflochtene Krone mit hocherhobenem Haupt...
 

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"Nun weißt du, was ich dir sagen wollte: Liebe bringt uns dazu, andere zu verletzten - selbst wenn wir es nicht wollen, selbst wenn es die sind, die wir lieben. Im Gegenteil, wir verletzen gerade die, die wir lieben! Und wenn du das nicht begreifen kannst oder willst, dann solltest du mit Arthur darüber reden." , langsam löste Jane ihre Fesseln.

Ihre Worte nahm Cecilia nur verschwommen war; allein die Tatsache, wie alt Jane offenbar war, wirkte viel zu einschüchternd...

"Hörst du mir eigentlich zu? Geh zu Arthur und verschaffe euch beiden Klarheit, ehe es dir geht wie mir und unserem Vater!", mit sanfter Gewalt schob Jane sie aus dem Raum, sichtbar darum bemüht, die für sie übliche Fassade von Beherrschtheit und Unnahbarkeit zu waren, "Na los, Kindchen!"

Wie im Traum gehorchte Cecilia der Anweisung der - für sie nicht mehr ganz so arrogant wirkenden - Frau. Ihrer Mutter, Schwester und Freundin, um Jane etwas freier zu zitieren...

Dieses Gefühl war einfach in ihr aufgetaucht, ohne dass sie seinen genauen Ursprung erklären konnte¹. Und dennoch erschien es ihr so bedeutend, dass sie dem Wunsch entsprach, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Nicht so recht wissend, was sie da eigentlich tat, stolperte sie durch die Gänge, ständig auf der Suche nach Arthur.

Keine Tür blieb ungeöffnet, kein Raum undurchsucht. Und doch fand sie keine Spur von ihm, einfach nichts.

Sie wollte das Unterfangen schon aufgeben und in ihrer üblichen, trotzigen Art schmollend zu Jane zurückkehren, da erblickte sie eine Tür, die ihr vorhin nicht aufgefallen war. Einladend ragte sie in der Wand vor Cecilia auf, schien sie regelrecht zu locken...

Na ja, sie hatte schon so viele Zimmer begutachtet, da schadete dieses sicher auch nichts mehr; die Zellen der Patienten lagen ja sowieso in einem anderen Flügel...

Ihr schlechtes Gewissen beruhigend, öffnete Cecilia die Tür mit zitternden Händen. Mit einem unangenehmen Ächzen schwang das Hindernis auf, gab den Blick frei auf einen weitere dunkle Unterkunft. Dies allein wäre nicht bemerkenswert gewesen, doch im Gegensatz zu all den anderen Räumen zuvor war dieser nicht leer, enthielt im Gegenteil sogar eine Unzahl von Dingen: Neben einigen schlicht gehaltenen, geschmackvollen Möbeln und schweren, roten Samtvorhängen, waren vor allem Bilder zu finden. Überall lagen Leinwände - große, kleine, leere volle. Auf Tischen, Stühlen, Schränken, ja selbst auf dem Boden machten sie sich breit. Ein unfertiges Exemplar stand auf einer Staffelei mitten im Raum.

Der Anblick dessen, was darauf zu sehen war, war atemberaubend: Umgeben von Dunkelheit, saß eine nackte Frau mit dem Rücken zu einem zerbrochenen Spiegel, die Beine angezogen, Arme und Kopf auf den Knien abgestützt. Trotz der Risse im Glas war an einigen Stellen des Spiegels noch vage Reflektionen zu erkennen, die bei genauerer Betrachtung das Gesicht eines Mädchens ergaben.

Doch das war es nicht, was Cecilia so verwirrte. Vielmehr raubte ihr die Tatsache, dass sowohl das Gesicht der Frau als auch das des Mädchens ihr eigenes waren, ihr die Luft. Zwar nur jüngere Ausgaben ihrer selbst, aber dennoch...

"Wie ich sehe, hast du mein Atelier gefunden. Wie gefallen dir meine Werke?", Arthurs Stimme erklang seltsam brüchig hinter ihr.

Cecilia fuhr herum, sah ihren Erzeuger in einem Ohrensessel direkt neben der Tür hocken. Unwillkürlich entspannte sie sich: "Es ist... ungewöhnlich. Gleichsam traurig wie beunruhigend, und doch scheint der Darstellung ein gewisser Friede innezuwohnen."

Ein bitteres Lachen entrang sich Arthurs Kehle: "Friede? Wie soll in dem Bildnis einer zerstörten Vergangenheit Friede liegen?" "Nun, die Frau auf dem Bild - ich - ich habe dieser Vergangenheit den Rücken zugewandt, den Blick in die Zukunft gerichtet." "Eine Zukunft, die in Finsternis liegt!?" "Nein, das sieht man doch gar nicht! Die Gegenwart ist es, die schwarz um mich herum liegt, nicht die Zukunft."

Schweigen trat ein, bis Cecilia schließlich wieder das Wort ergriff: "Jane hat gesagt, ich solle uns beiden Klarheit verschaffen. Was meinte sie damit?" "Ah, endlich!", mit einem reuigen Lächeln senkte Arthur den Blick, ehe er sich langsam von seinem Sitzplatz erhob und auf sie zukam, "Ich bin nicht so gut wie du glaubst. Genau genommen bin ich das abscheulichste Monster von allen. Hope wählte mich damals nicht wegen meiner Talente aus, sondern weil ich ein vom Weltschmerz geblendeter Narr war, der die Realität nicht sehen wollte. Ich schäme mich, das zu sagen, aber meine eigenen Beweggründe, dir den Kuss zu geben, waren nicht viel ehrenhafter." "Was... Was meinst du damit?", verwirrt sah Cecilia ihren Erschaffer an.

Ein bitteres Lächeln legte sich auf Arthurs Züge: "Bevor ich mich im Sanatorium niedergelassen habe, bin ich einfach so herumgewandert, weißt du. Dabei kam ich gerade zu Anfang meiner Reise durch so manches Dorf... Und in einem davon sah ich SIE; ein kleines Mädchen noch, und doch schien sie mir so ähnlich. Obwohl ich damals kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte, keimte in mir das Verlangen auf, sie um jeden Preis in meinen Besitz zu bringen. So heftig war mein Wunsch nach Nähe zu ihr, dass ich ihr einziges noch lebendes Familienmitglied in den Wahnsinn trieb, nur damit sie gezwungen wäre, ab und zu in unserer Heilanstalt - der einzigen in mehreren hundert Meilen Umgebung - aufzutauchen. Begreifst du nun?"

Cecilia konnte das eben gesagte nicht verstehen, wollte es nicht verstehen. Vielleicht war es die selbe Art Unverständnis, die Jane damals Malkav entgegengebracht hatte?!

"Die ganze Zeit über wollte ich es dir sagen, wollte, dass du mich für mein Handeln bestrafen kannst! Doch jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, fand ich dich am Boden. Mit jedem Mal, in dem ich dich tröstete, dich in meinen Armen hielt, wurde mein Hass auf mich immer größer..."

Wahrscheinlich hätte Cecilia ihn auch hassen sollen, aber aus ihr selbst unerfindlichen Gründen konnte sie es nicht. Sie fühlte sich betrogen, enttäuscht, aber dennoch empfand sie noch immer eine verdrehte Art von Liebe für Arthur. Sein Geständnis schmerzte mehr als alles andere in ihrem Leben, doch bis zu einem gewissen Grad konnte sie ihn verstehen. Allein die Vorstellung, für den Rest der Ewigkeit vollkommen allein zu sein...

Aber Arthur würde es nicht akzeptieren, wenn sie ihm vergab. Die Leere in seinen Augen sagten ihr, dass er sich selbst nie würde verzeihen können, also wie könnte er es einem Anderen glauben? Die einzige Möglichkeit, ihm Frieden zu bringen, war ihn zu bestrafen. Und seiner Meinung nach gab es nur eine würdige Strafe...

Cecilia hörte auf, sich von ihrem Erzeuger wegzubewegen, kam ihm im Gegenteil nun sogar näher. Als sie nahe genug war, bohrte sie ihre Zähne in seine Kehle, begann zu trinken. Trank und trank, spürte, wie Arthur immer schwächer wurde. Schließlich - es würde nur noch wenige Augenblicke dauern - schlossen sich tröstend seine Arme um sie, wischten seine Hände ihr zum letzten Mal die Blutstränen weg. "Danke...", die Worte hallten in der Neugeborenen wieder, ohne dass sie wusste, ob sie oder ihr Erzeuger sie gehaucht hatten.
 

Die Anderen stellten ihr keine Fragen, und Cecilia war dankbar dafür. Zu schmerzhaft war der endgültige Tod Arthurs für sie, zu irreal der Gedanke, ihn von nun an nicht mehr um sich zu haben. Alles, was sie bis jetzt an diesem Ort gehalten hatte, war fort, das Band unwiederbringlich zerrissen. Cecilia zog die einzig logische Konsequenz daraus und kündigte nach zwei Wochen des sinnlosen Herumlungerns an, dass sie weiterziehen würde.

Noch am selben Abend brachten Jane und Balthasar sie zum Ausgang, während die anderen ihr stumm von einem der vergitterten Fenster aus zuwinkten. Zum Abschied schloss die andere Frau sie noch einmal in ihre Arme: "Ich habe mich getäuscht: Durch die Liebe verletzen wir nicht nur andere, sondern auch uns selbst. Er fehlt dir, nicht?"

Andere hätten jetzt ihren Schmerz verleugnet und heroische Sprüche geklopft, aber das war Cecilia nicht möglich. Nicht als Malkavianer und ebenso wenig als der Mensch, der sie einst gewesen war. So konnte sie nur nicken und mit sturer Gelassenheit verfolgen, wie die Tore der Irrenanstalt sich für sie öffneten und Balthasar einladend in Richtung Nacht gestikulierte: "Willkommen in der wunderbaren Welt des Wahnsinns! Bitte stellen Sie sich darauf ein, den letzten Rest Vernunft hinter sich zu lassen, denn dort draußen gibt es keine Wärter, die Sie vor den Exzessen kranker Gehirne beschützen können. Von nun an sind Sie allein."

Eine Erinnerung stieg in Cecilia hoch: Ein weißhaariger Mann beobachtete ein ebenfalls weißhaariges Mädchen, ein leises Lächeln auf dem Gesicht. Unwillkürlich musste auch sie lächeln; sie war nicht allein, Arthur war bei ihr. Für immer.
 


 

¹ BLUTSBANDE!!! *lacht hysterisch* ^.^
 

~~~ ; ~~~
 

Oh je, irgendwie ist das Ganze ziemlich ausgeufert; wenn ich mir allein schon die Textpassage mit den Erinnerungen von Jane/ Malkav anschaue... Weia -_-

Andererseits ist es meiner Meinung nach aber auch so, dass die Beziehung von den beiden zueinander bis zu einem gewissen Grad eine Art Spiegel zu der von Cecilia und Arthur ist. Ich mag das irgendwie...

Aber wie auch immer: Letztendlich würde mich eure Meinung zu meiner Story interessieren. Was hat euch gefallen? Was nicht so? Sollte ich diese Geschichte lieber gleich wieder löschen, oder besteht vielleicht doch noch Hoffnung für mich? Fragen über Fragen, und nur ihr könnt sie beantworten ^.~

Wenn ihr also Lob, Kritik oder sonst etwas zu sagen habt, dann lasst es mich wissen! Sofern das Ganze nicht in Flames ausufert, bin ich dankbar für jeden Verbesserungsvorschlag.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2004-10-22T22:20:40+00:00 23.10.2004 00:20
Nachtrag nochmal extra zum ende:
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Gänsehaut-
-auf meinem Rücken könnte man im moment Klavier spielen.
Von: abgemeldet
2004-10-22T22:17:27+00:00 23.10.2004 00:17
Wow! >o< hat was von dem Terry Pratchett style...
Die Zug-explosion am Anfang hat mir net so gefallen, man wird etwas plötzlich aus der morbiden grundstimmung der ersten seiten rausgeworfen,aber im grund hast du das ja dann doch beibehalten,...NAJA, ich schätz mal, des is geschmackssache.
*i*love*vampire*stories***********************


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