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Bottom of the death valley

+Epilog up+ COMPLETE
von

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嗜癖

Chapter 6

嗜癖

(Sucht)
 

*Daisuke Andou*
 

Dein Funke, nur eine flackernde Flamme im Sturm, umgeben von schwarzem Meer…

Schäumend brechen die Wellen über dir zusammen, zerstören den schützenden Fels, löschen das Licht…
 

***
 

In einem niedlichen kleinen Restaurant in einer gemütlichen Ecke bei Kerzenschein saßen sie und unterhielten sich. Des einen Haare leuchteten blau im warmen Licht der Flamme, des anderen Schopf strahlte in warmem Purpur. Kaoru und Toshiya hatten sich in den letzten Wochen des Öfteren getroffen und waren einen Trinken gegangen. Doch heute war die Stimmung anders, wesentlich gedrückter.

Mit leiser ernster Stimme brachte der Leader den Bassisten gerade auf den neusten Stand der Dinge und erzählte von Kyos Dilemma. Der sonst so fröhliche Blauschopf schwieg betreten und ließ nur hier und da ein leises Geräusch des Entsetzens verlauten.

"Oh mein Gott", meinte er schließlich, als Kaoru geendet hatte. "Das ist ja schrecklich. Und du hast die beiden einfach allein gelassen, wegen mir? Du hättest doch einfach was sagen können, dann hätten wir unser Treffen verschoben. Ich wusste doch nicht-"

Kaoru hob besänftigend eine Hand, um Toshiyas Redefluss zu stoppen, und lächelte.

"Keine Panik, Toshiya. Das ist schon okay. Ich glaube die beiden brauchen einfach ein wenig Zeit für sich."

Nun gänzlich verwirrt legte der Bassist den Kopf schief.

"Wie jetz? Zeit für sich?!"

"Nun, sagen wir es so: Unser Big Red hat eine kleine Schwäche für unser kleines Sorgenkind."

"Ernsthaft?" Ungläubig weiteten sich die braunen Augen Toshiyas.

"Aber..."

//.. aber ich dachte doch du wärst in Die verliebt. Doch wieso lächelst du dann, während du mir davon erzählst?//

"Und...und Kyo? Erwidert er Dies Gefühle?"

Kaoru seufzte. "Das ist Kyo, von dem wir hier reden. Wer kann schon genau sagen, was in ihm vorgeht? Ich kann es jedenfalls nicht. Ich hoffe nur, dass er, wenn das alles überstanden ist, Die nicht das Herz bricht."
 

***
 

Stille war über ihnen zusammengebrochen und hüllte sie ein.

Kyo hatte die Augen geschlossen, doch Die wusste, dass er nicht schlief.

Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum.

Wieso wusste der Sänger von seinen Gefühlen? Hatte Kaoru etwas verraten? Oder war es tatsächlich so offensichtlich?

Immer wieder drehten sich seine Gedanken im Kreis, während Kyos Frage noch immer hinter seinen Schläfen widerhallte.

//Wieso? Wieso liebte er ihn?

Ihn, der so unnahbar und abweisend war. Der kaum ein freundliches Wort für ihn übrig hatte und ihm meist die kalte Schulter zeigte. Was hatte ihm nur so den Kopf verdreht?

Angefangen hatte es mit seiner Stimme. Er hatte vorgesungen und Die komplett überrascht.

Der Gitarrist hatte bis zu jenem Zeitpunkt nur die erstarrte Fassade des Gelbschopfes zu Gesicht bekommen, die jedoch auf einmal unter seinem Gesang dahin zu schmelzen begonnen hatte. So viele unterdrückte Emotionen hatten in seiner Stimme gelegen, so viel Schmerz und Gefühl.

Es kam so unerwartet wie die darauf folgenden Sehnsüchte, die langsam in Die erwachten.

Er hatte angefangen Kyo zu beobachten. Er wollte ihn verstehen, wollte wieder hinter seine Masken blicken, doch was er fand war erschreckend. Kyos Leben schien von Drogen, Gewalt und Schmerz zerfressen, sein Optimismus war gänzlich erloschen. Je tiefer er bohrte, umso größere Abgründe taten sich auf und Die erkannte schnell, dass Kyo ein Gefangener seines eigenen Lebens war.

In diesen Sumpf hineingewachsen trug er keine Schuld für seinen Absturz. Er war ein Opfer. Nicht fähig auszubrechen.

Doch je erschreckender die Fakten waren, umso mehr bestärkten sie den Rotschopf in seinen Gefühlen.

Es war wohl Kyos Stärke, die ihn beeindruckt hatte, die Stärke, die den kleinen Sänger nicht aufgeben, nicht den Verstand verlieren ließ.

Er hatte es geschafft eine Mauer aufzubauen, die ihn von der Grausamkeit der Welt abschottete. Aber zugleich war er auch abgestumpft. Gleichgültigkeit war über ihm zusammengebrochen, beherrschte ihn. Seine Umwelt nahm er kaum noch wahr. Mitmenschen ignorierte er, verachtete er.

Er wusste, dass ihn keiner dieser fröhlichen Menschen je verstehen könnte.

Ihnen gegenüber fühlte er sich so nieder, so dreckig. Sein Funken war grau, während die Welt um ihn in schillernden Farben leuchtete.

Er färbte seine Haare, ein künstlich leuchtender Funken. So unecht wie seine Fassade.

Denn innerlich war er längst zerbrochen.

Die wusste es, war Zeuge geworden.

Kyo verachtete die Menschen nicht nur, er hatte Angst vor ihnen. Angst vor ihren Taten. Angst vor Gefühlen und ihren Folgen.

Und der Rotschopf ahnte, fürchtete den Grund.

Innerlich drängte die Frage, der Wunsch nach Wahrheit. Er musste es wissen!

Sanft ergriff er eine seiner kleinen Hände.

"Kyo?"

Die Augen des kleinen Sängers öffneten sich nicht, dennoch ließ er ein knappes fragendes "Mh?" verlauten.

Die ließ seinen Blick noch einmal über die verkrampften Gesichtszüge des Kleineren wandern.

Er schluckte.

"Wurdest du... also... haben dich... hat dich irgendwer...falsch angefasst. Hat man dir Sachen angetan, die du nicht wolltest?"

Erwartungsvoll presste der Rotschopf die Lippen zusammen. Eigentlich wollte er die Antwort nicht hören, wollte die Verbrechen nicht wissen, die man an seinem kleinen Schatz schon begangen hatte.

Kyos Augen waren inzwischen aufgesprungen. Starr blickten sie zur Decke.

Dies Herz krampfte sich zusammen. Eigentlich war dieses Schweigen schon Antwort genug.

Dann, irgendwann, drehte Kyo seinen Kopf zur Wand, weg von Die.

"Als ich klein war und mich noch nicht wehren konnte... haben sie es oft getan... Zum Dealen war ich noch nicht zu gebrauchen... Eigentlich war ich nur eine Last... Nishimura dachte, es wäre leicht verdientes Geld... Er hat mich gezwungen."

Leise geisterten seine Worte durch den Raum, brachen eiskalt über dem Gitarristen herein.

Kraftlos lief er seinen Kopf auf die Bettkante sinken. Stumme Tränen gruben sich ihren Weg über seine Wangen. Es tat so weh, zu wissen, dass man machtlos war, dass man all den Schmerz und die Qualen nicht lindern konnte.

"Warum heulst du schon wieder?"

Kyo hatte ihm sein Gesicht wieder zugewandt. Seine Augen wirkten so leer und reglos, wie tot.

"Jetzt willst du mich nicht mehr, nicht wahr. Weil ich dreckig und abgenutzt bin."

Ausdruckslos suchte er Dies Blick. Seine Worte waren so gleichgültig, eiskalt gesprochen, obwohl er Die gerade eines seiner wohlbehüteten Geheimnisse anvertraut hatte.

Ungläubig weiteten sich Dies Augen. "Red keinen Unsinn!" Resolut schüttelte er den Kopf. "Kyo, du bist mir das Wichtigste auf der ganzen Welt."

Kyos Augen weiteten sich ungläubig, ehe seine Gesichtszüge wieder in Ausdruckslosigkeit erstarrten.

Dies Worte stoben wie Blätter im Wind an ihm vorbei, welkendes Laub, tote Gefühle.

"Wieso ich?"

"Weil... weil du ein wunderbarer Mensch bist."

Kyo machte ein verächtliches Geräusch. "Mit dieser Meinung stehst du wohl allein da."

"Was interessiert mich die Meinung anderer? Kyo, für mich bist du das Wunderbarste, was es gibt."

Ehrlich begegnete er dem leeren Blick des Kleineren. Doch dieser wandte sich ab. "Du bist krank."

Trotzig drehte er seinen Kopf wieder zur Wand.

"Bitte Kyo, zieh dich nicht in dein Schneckenhaus zurück. Ich will für dich da sein."

"Hör auf damit!"

"Ich werd dir nicht wehtun."

"Sei still."

"Kyo..."

"NEIN!"

Erschrocken zuckte der Rotschopf zusammen.

"Kyo? Wieso willst du dir nicht helfen lassen? Du schaffst das nicht allein."

Schweigen.

"... Weißt du", begann Kyo nach einer Weile leise. "Ich dachte immer du wärst ein verwöhntes Einzelkind, dem alles in den Arsch geschoben wird. Jemand, der bei allen beliebt ist und ständig nur auf Parties abhängt und sich sinnlos die Kante gibt. Ich konnte dich deswegen von Anfang an nicht leiden."

"Kyo, was..."

"Aber", unterbrach er ihn. "... eigentlich bist du wie ich. Du versteckst dich genauso hinter Lügen und einem unechten Lächeln. Du bist genauso falsch wie ich und trotzdem brauchst du keine Hilfe. Also wieso glaubst du, dass ich welche brauch."

"Das ist doch etwas total anderes. Mein Vater demütigt und schlägt mich, okay, fein, aber das ist doch nichts im Vergleich zu den Qualen, die du durchstehen musstest. Kyo, du wurdest als kleines Kind vergewaltigt!"

Der Kleine zuckte zusammen. Er hatte ihm noch immer den Rücken zugewandt, doch seine verkrampfte Haltung verriet seinen Gesichtsausdruck.

Die biss sich auf die Lippe. Er hatte es nicht so hart sagen wollen.

"Kyo, ich... ich erwarte nicht, dass du meine Gefühle erwiderst. Und ich werde garantiert nichts von dir verlangen. Ich werde nicht über dich herfallen oder etwas tun, was du nicht willst. Ich möchte nur, dass du mir vertraust und dir von mir helfen lässt."

Minutenlang herrschte Stille ehe Kyo leise fragte: "Was kannst du schon tun?"

Ein lautloses Seufzen entrann der zugeschnürten Kehle des Gitarristen. Vorsichtig ließ er sich auf der Bettkante nieder und strich über den schmalen Rücken des Anderen.

"Ich kann für dich da sein, wenn du dich einsam fühlst und dir die Decke auf den Kopf fällt. Und ich hör dir zu, wenn du jemanden zum Reden brauchst."

Der Gelbschopf rührte sich nicht.

"... Meinetwegen, wenn du dich dann besser fühlst!"

"Kyo, es geht hier nicht um mich, sondern um DICH. DIR soll es endlich besser gehen."

Gleichgültig starrte er an die Wand.

"Was auch immer..."
 

***
 

Leise drehte sich der Schlüssel im Schloss und Licht brach durch den schmalen entstandenen Spalt. Tastend wanderten seine Finger über die Wand auf der Suche nach dem Lichtschalter. Flackernd trat die Lampe ihre Nachtschicht an.

Ein langer schlanker Schatten fiel in den erleuchteten Flur.

Alles war still.

Auf Zehenspitzen schlich er in sein Schlafzimmer. Zwei Gestalten hoben sich fahl in der Dunkelheit ab. Die eine lag zusammengerollt in seinem Bett, während die andere wachend davor hockte. Ein ehrliches Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.

"Hey", grüßte er die zweite Gestalt, deren Finger immer wieder abwesend über den Arm des Schlafenden strichen. "Wie geht es ihm?"

Müde hob der Angesprochene seinen Kopf vom Bett. "Besser... Aber das schlimmste steht ihm noch bevor."

Der Ältere nickte verständnisvoll. Langsam trat er auf die kniende Gestalt zu, legte ihr seine Hand beruhigend auf die Schulter.

"Er schafft das, Die. Er ist stark."

"Mh." Der Rotschopf nickte kaum merklich. Und dennoch wusste er tief in sich drinnen, dass Kyos Stärke allmählich versiegte. Er war kein Übermensch. Vielmehr war er ein kleines Kind, dem man nie eine sorgenfreie Kindheit gegönnt hatte, der nie Liebe erfahren hatte und stets nur mit Gewalt und Leid konfrontiert worden war. Wie sollte so ein Mensch die innere Stärke bewahren, wenn er jeden Tag mehr gebrochen wurde?

Liebevoll ließ er seine Augen über das schlafende Gesichtchen wandern.

Die glaubte, dass es noch nicht zu spät war. Er konnte ihm zeigen, was es hieß ein glückliches Leben zu führen. Er würde Kyo die schönen Dinge des Lebens zeigen und ihm Liebe, Wärme und Geborgenheit schenken.
 

***
 

Ein nervöses Zucken riss ihn aus seinem Dämmerzustand. Vergeblich versuchte er seinen Verstand zu klären. Seine Umgebung war warm und weich. Ein Bett. Ja, er lag in Kaorus Bett. Die war da. Er saß neben ihm, streichelte abwesend immer wieder über seinen dünnen Arm. Ein angenehmes Gefühl.

Was war es dann, was ihn nicht ruhen ließ?

Was zerrte an ihm? An seinem Verstand?

Seine Kehle war so trocken. Seine Gelenke taten weh.

Unruhig blinzelte er die Tränen weg, die das grelle Licht hervorgelockt hatte.

Welcher Tag war heute? Wie lange hatte er geschlafen?

Er fühlte sich so orientierungslos und fremd, als würde er über sich schweben.

Und immer wieder spürte er dieses Ziehen, diese Sehnsucht nach etwas, etwas besonderem.

Was war es?

Er musste es haben! Er brauchte es.

Es sollte aufhören, dieses nervige Gefühl, dieses Ziehen, als zerrte etwas an seinem Verstand.

Erschöpft schloss er die Augen, versuchte zu ignorieren und zu schlafen.
 

***
 

Reglos saß er da, starrte auf den kleinen Körper neben sich.

Kyo wachte hin und wieder auf. Seine Augen wurden von Mal zu Mal glasiger.

Die wusste, dass es hart und grausam werden würde. Doch er musste stark sein, für Kyo, für sie beide.

Er durfte keine Schwäche zeigen, denn das würde Kyo nur entmutigen.

Abwesend wanderte sein Blick aus dem Fenster. Er blinzelte, einmal mehr brannte das Salz in seinen Augen, kämpfte sich in die Freiheit.

Nein, er würde nicht schon wieder weinen.

Er hatte in letzte Zeit genug Wasser vergossen. Nutzloses Wasser.

Er wollte stärker sein, wollte vor Kyo keine Schwäche mehr zeigen, wollte sein Halt sein.

Zärtlich strichen seine Finger über den weichen Stoff der Bettdecke, die Kyos kleinen Körper verbarg.

Nachdenklich betrachtete er das kleine Gesichtchen, erkannte die vielen Sorgenfalten, die es trotz der jungen Jahre schon zierten.

Der kleine Sänger hatte schon so viel leiden müssen.

Die hatte Wut gesehen, Resignation und Schmerz. Aber eines war ihm bis heute verborgen geblieben.

Vorsichtig zeichnete er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand eine imaginäre Linie von Kyos rechtem Auge über seine Wange, als wolle er den Verlauf einer fallenden Träne nachmalen.

//Kyo... warum weinst du nie?//
 

***
 

Ein Kreischen riss ihn aus der Dunkelheit. Erschrocken flogen seine Augen auf. Er zitterte. Wieso zitterte er?

Alles bewegte sich gegen seinen Willen. Seine Arme und Beine, nichts wollte still halten.

Wieso hatte er keine Kontrolle?

Er fühlte sich so schwach.

Unterdrückt.

Fahrig wanderten seine Augen umher. Es war bereits wieder dunkel. Mehrere Stunden mussten vergangen sein, oder Tage?

Er wusste es nicht und das machte ihm Sorgen.

"Sssh Kyo", hörte er eine leise Stimme nah an seinem Ohr. "Ich bin bei dir. Hab keine Angst."

Sein Kopf lag in Dies Schoß. Lange Finger strichen fürsorglich durch sein Haar, beruhigten ihn ein wenig.

Doch eine Frage hämmerte hinter seinen Schläfen.

Wer hatte geschrieen?

War er es am Ende selbst gewesen?
 

***
 

Stimmen. Da waren Stimmen. Aber woher kamen sie?

Sprach da wirklich jemand? Oder bildete er sich das alles nur ein?

...

Nein... da war jemand...

Wieso konnte er seine Augen nicht öffnen? Wieso waren seine Lider so schwer?

Was stimmte nicht mit ihm?

Angst.

Hatte er Angst?

Nein, da war etwas anderes? In ihm? Dieses Ziehen. Dieser Schmerz.

Es tat weh.

Diese Sehnsucht nach dem Unbekannten. Was war es?

Was hielt ihn hier gefangen an diesem verwirrenden Ort?

Sperrte ihn ein in diese Hilflosigkeit.

Er wollte raus, musste irgendwas tun gegen diese Ohnmacht.

Ein leises Stöhnen erkämpfte sich die Freiheit.

"Wie geht es ihm?"

Wieder diese Stimme.

"Nicht gut."

Jemand berührte ihn, streichelte seine Wange. Sehnsüchtig streckte er sich der Wärme entgegen, drückte sich gegen die schützende Hand.

Alles drehte sich, selbst die Schwärze hinter seinen versiegelten Lidern.

Ihm war so schlecht. Und dieses Ziehen, diese Schreie in seinem Kopf, dieser Lärm und der Druck, es brachte ihn schier um den Verstand. Sein Körper lechzte nach mehr. Mehr... mehr.....

Stöhnend bäumte er sich auf. Heißer Atem entwich seinen zusammengepressten Lippen.

Schweiß hatte sich auf seiner Stirn angesammelt.

"D-die?"

"Ja", kam die beruhigende Antwort. "Ich bin bei dir."

"Es tut so weh!"

Traurig schlug der Rotschopf die Augen nieder. "Ich weiß", hauchte er hilflos.

Er konnte Kyo den Schmerz nicht nehmen. Alles, was er vermochte, war für ihn da zu sein und ihm Kraft und Mut zu spenden.
 

***
 

Dunkelheit… schwer hing sie in der Luft… ummantelte ihn

..

.

Einsamkeit drückte ihn immer tiefer zu Boden, nahm ihm die Luft zum Atmen

..

.

Kälte umschloss ihn, strich eisig über seine Haut, flüsterte tote Botschaften in seine Ohren…

..

.

Übelkeit, ein schleimiges widerliches Gefühl bemächtigte sich seines Körpers, zwang ihn zum Würgen…

..

.

Schreie hallten durch seinen Kopf, prallten gegen den Knochen seines Schädels

..

.

Schmerz umnebelte seinen verlorenen Geist

..

.

Angst trieb ihn schier in den Wahnsinn

..

.

Dieser fürchterliche Druck

..

.

So viele Stimmen

..

.

Ein Kreischen

..

.

Bilderfetzen

.

Verzweiflung

.

Qualen

.

Furcht

.

Allein

Verloren

Dunkel

Rot

Blut

Schmerz

Dreck

Ekel

Tod
 

Kein Halten mehr
 

Nur Bersten
 

***
 

Würgend beugte er sich über den kleinen Eimer, der neben dem Bett stand. Seine Eingeweide brannten. Sein Kopf schrie.

Immer und immer wieder verweigerte sein Schließmuskel ihm den Dienst, zwang ihn seinen Mageninhalt erneut zu Tage zu befördern, doch alles, was sein Magen noch hergab, war bittere Galle. Sein schwacher Körper bebte vor Erschöpfung. Allein Dies starker Halt verhinderte Kyos Absturz.

Zitternd ließ er sich zurücksinken, klammerte sich verzweifelt an Die, welcher ihn schützend festhielt und sanft hin und herwiegte.

"Hier. Trink einen Schluck." Er hatte ein kleines Wasserglas vom Nachttisch genommen und hielt es ihm an die Lippen.

Kyo schüttelte schwach den Kopf. Ihm war noch immer schlecht und er würde ohnehin nur alles verschütten.

Doch Die ließ nicht locker. "Komm schon, Kyo. Du musst wenigstens etwas trinken, wenn du schon nichts festes drin behalten kannst."

Resigniert öffnete der Sänger seine Lippen einen Spalt und erlaubte dem Rothaarigen somit, ihm etwas von dem klaren Wasser einzuflößen.

Kühl und lindernd rann es seine Kehle hinab, brachte ihn jedoch im gleichen Moment zum Husten.

Seufzend stelle der Rotschopf das Glas wieder ab und hüllte Kyo in eine wärmende Umarmung.

Er fühlte sich schrecklich.

Kyo so sehen zu müssen war eine der härtesten Prüfungen, die ihm das Leben je auferlegt hatte. Wie gerne würde er einfach zu Kyos Boss stürmen und ihm die notwendigen Drogen abknöpfen, nur damit der kleine Gelbschopf nicht mehr leiden musste.

Aber das war keine Lösung.

Kyo musste weg von den Drogen, endgültig. Er hatte lange genug in diesen Kreisen verkehrt, wenn auch unfreiwillig und dennoch hatte es nur dazu beigetragen sein Leben langsam aber sicher in einen Trümmerhaufen zu verwandeln.

Doch bald würde es vorbei sein. Nicht mehr lange.

Er musste nur noch ein paar Tage durchhalten. Sie beide mussten es.

Ein leises Stöhnen riss ihn aus seinen Gedanken.

Kyo hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und sah zu Die hinauf, in dessen Armen er mehr oder weniger lag.

"Welcher Tag ist heute?" Seine Stimme zitterte.

"Mittwoch", antwortete Die tapfer.

Kyo starrte ihn einen Moment schweigend an ehe er fragte: "Warum bist du dann nicht in der Schule?"

Die verdrehte die Augen. "Das ist im Moment doch völlig unwichtig. Also mach dir darüber keine Gedanken.“

„Aber…dein Vater.“

„Der kriegt davon nichts mit“, beruhigte der Gitarrist ihn. „Ich fälsch einfach eine Entschuldigung, ok?“

Sanft strich er ihm einige Haarsträhnen aus den Augen und lächelte leicht. Machte sich Kyo etwa Sorgen? Wer hätte das gedacht?

„Mh.“ Mit der Antwort zufrieden gestellt lehnte er seinen Kopf wieder gegen Dies Brust und schloss die Augen.

Der Gitarrist war so schön warm und weich. Seine Anwesenheit war beruhigend, ließ ihn für einen Moment den Schmerz verdrängen und gab ihm ein längst verloren geglaubtes Gefühl von Geborgenheit.

Langsam begann er wieder wegzudämmern, doch etwas brannte in seinem Schädel, hielt ihn davon ab wieder ins Land der Schwärze zurück zu kehren.

Lautlos seufzend kuschelte er sich tiefer in die Umarmung.

„Die?“ Leise und brüchig durchbrach Kyos Stimme die Stille.

„Mmh?“

„Erzähl mir was von dir!“

Überrascht blickte der Rothaarige auf seinen kleinen Freund hinab. Er sollte etwas von sich erzählen? Aber was wollte Kyo denn jetzt hören?

Er hatte sich doch sonst auch nie für ihn interessiert.

„Irgendwas“, fügte Kyo leise hinzu, als er Dies Verwirrung merkte. „Weil… ich festgestellt hab, dass ich dich überhaupt nicht kenne.“

Flüchtig lächelnd schlang Die seine Arme um Kyos Oberkörper und zog ihn näher zu sich. Sanft bettete er seine Wange in Kyos Haaren.

„Hm… vielleicht sollte ich damit anfangen, dass ich eigentlich gar kein Einzelkind bin, weil du doch dachtest, dass ich ein verwöhntes Einzelkind wär.“

Er konnte Kyos verwirrtes Gesicht schon beinahe sehen, auch wenn er ihm nicht direkt ins Gesicht blicken konnte.

„Ich hab…“, er brach ab, sammelte sich einen Moment und sprach dann ruhig weiter. „Ich hatte einen Bruder. Er war sechs Jahre älter als ich und der ganze Stolz meiner Eltern. Jahrgangsbester. Überall beliebt. Er schien eine strahlende Zukunft vor sich zu haben...“

„Was ist mit ihm passiert?“ hakte Kyo vorsichtig nach.

Traurig schloss Die die Augen, als sich alte, verdrängt geglaubte Erinnerungen erneut vor seinem inneren Auge abzuspielen begannen.

Kyo glaubte schon keine Antwort mehr zu bekommen, als der Rotschopf schließlich mit leiser, aber fester Stimme erklärte: „Er hat Drogen genommen.“

Verlegene Stille breitete sich über ihnen aus bis der Gitarrist irgendwann fort fuhr. Er wollte es endlich jemandem erzählen. Jahrelang hatte er geschwiegen, verdrängt.

„Mit gerade einmal achtzehn Jahren ist er dann gestorben. Als er so alt wie ich jetzt war.“

Unbewusst kuschelte er sich enger an den kleinen warmen Körper vor sich.

„Meine Mutter hat das nicht verkraftet. Sie hat meinen Vater verlassen. Naja und mein Vater hat zu trinken begonnen. Er war nicht immer so, weißt du. Aber er gibt sich wohl die Schuld daran, dass

Miya Drogen genommen hat. Seit seinem Tod versucht er verkrampft mich zu einem zweiten Miya umzukrempeln, bei dem er diesmal alles richtig machen kann. Aber ich bin nicht wie mein Bruder. Ich tanze aus der Reihe und das macht ihn wahnsinnig. In der Schule bin ich eher mittelmäßig, außer Gitarre spielen hab ich im Gegensatz zu meinem Bruder nicht grad viele Talente mit denen er vor seinen Arbeitskollegen oder Nachbarn angeben kann, diese ganze Band-Sache geht ihm ziemlich gegen den Strich, denn er meint es ist Zeitverschwendung, meine Haarfarbe regt ihn auf, meine Freunde sind ihm zu weiblich und so weiter und so fort. In seinen Augen bin ich wohl eine einzige Verfehlung.“ Er seufzte und öffnete seine Augen, richtete sie starr geradeaus auf eine kahle weiße Wand. „Ich glaube ihm wäre es lieber, wenn ich anstelle von Miya gestorben wäre.“

Stillschweigend hatte Kyo die Worte in sich aufgesogen, hatte Die kein einziges Mal unterbrochen auch wenn er seinen Vater nach dem Gehörten am liebsten an die entlegensten Orte gewünscht hätte.

Wer hätte gedacht, dass Dies farbenfrohes Leben so viele Grauschattierungen beinhaltete?

Eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren, jeder an den anderen gedrängt, wie frierende Tiere, die sich gegenseitig zu wärmen versuchten.

„Ich hätte dir vielleicht lieber etwas positives aus meinem Lebens erzählen sollen“, meinte Die irgendwann verlegen.

Kyo lehnte seinen Kopf zurück, um zu Die aufzusehen. „Nein. Schon okay… Ich bin nur… erstaunt wie wenig ich von dir weiß.“

Die schenkte ihm ein flüchtiges Grinsen, ein wenig gequält.

„Eigentlich bist du der einzige, der das jetzt weiß.“

Überrascht zog Kyo eine Augenbraue in die Höhe.

„Du meinst, du hast das nicht mal Kao erzählt?“

Der Rotschopf nickte.

„Aber.. er ist doch dein bester Freund. Er muss das doch mitgekriegt haben.“

„Mein Bruder starb bevor ich Kao kennen gelernt habe. Kao weiß nicht, dass ich jemals einen Bruder hatte.“

Verwirrung breitete sich über dem gelben Haupt aus.

Die hatte ihm soeben etwas anvertraut, was er niemand anderem je erzählt hatte.

Vertraute er ihm wirklich so sehr?

Waren seine Gefühle wirklich so ernst gemeint?

Kyo konnte sich das immer noch nicht vorstellen, konnte es nicht verstehen?

Wie man ihn lieben konnte.

Er wusste, dass er Dies liebevolle Art und seine Zuneigung überhaupt nicht verdient hatte. Er konnte ihm nichts zurückgeben.

Wieso also hielt der Gitarrist noch immer an ihm fest?

„Und warum hast du es ihm nie erzählt?“

Der Rotschopf ließ ein leises Seufzen verlauten.

„Ich… ich red nicht gern über solche Sachen. Ich mag es nicht, wenn Leute mich deswegen anders behandeln. Ich wollte nicht Kaorus Mitleid, ich wollte seine Freundschaft, eine ehrliche Freundschaft. Und da ich weiß, dass Kaoru ein sehr fröhlicher Mensch ist hab ich mich bemüht auch immer fröhlich zu sein bis es selbstverständlich wurde.“

Er lächelte zaghaft.

„Man muss das Leben halt nehmen wie es ist und das Beste draus machen. Ich mag mein Leben wie es ist, auch wenn es nicht immer rosig aussieht. Aber ich hab viele Freunde, auf die ich mich verlassen kann, ich lache viel und habe Spaß, ich genieße meine Freiheit ohne große Einschränkungen und wenn es Probleme gibt, dann schaff ich sie aus dem Weg. Und am wichtigsten: Ich hab mir meinen Traum erfüllt. Die Musik bestimmt mein Leben und dass ich Mitglied einer Band voller solcher toller Menschen sein kann macht mich einfach nur glücklich. Dich kennen gelernt zu haben macht mich glücklich. Ich hab keinen Grund traurig zu sein und andere damit zu belasten.“

Er lächelte, zufrieden mit sich und seiner kleinen Rede. Ja, er war wirklich nicht traurig. Auch wenn seinem Vater ab und an die Hand ausrutschte, auch wenn er ihn beschimpfte und verfluchte, im Grunde waren das kleine Probleme im Vergleich zu denen von Kyo.

Stille legte sich über den kleinen Raum. Eine angenehme Stille, in der jeder seinen Gedanken nachhing.

„Hattest du ihn gern?“ Es war Kyo, der als erster wieder das Wort ergriff.

„Wen? Meinen Bruder?“

Kyo nickte stumm.

„Ja. Zwar gab es immer diese kleinen Differenzen. Wir waren sechs Jahre auseinander und er war immer der Liebling aller. Ich hab mich oft vernachlässigt gefühlt, aber ich gab eher meinen Eltern und nicht Miya die Schuld. Miya war immer fröhlich und aufgeweckt. Er war ein guter großer Bruder. Wenn ich mal wieder vergessen wurde kam er zu mir und hat mich aufgeheitert, denn er hat mich nie vergessen.

Ich glaube es tat ihm Leid, dass er alle Aufmerksamkeit abbekam und ich nur im Schatten stand und er versuchte es auszubügeln, indem wenigstens er mir eine Familie zu sein versuchte.“

Er seufzte leise.

Unbewusst hatte er sich enger an Kyo gekuschelt, den Halt um den schmalen Körper in seinen Armen verstärkt, als würde er sich an ihn klammern.

„Ich konnte nie verstehen, wieso er überhaupt Drogen genommen hatte“, fuhr er leise fort.

„Er hatte immer alles, was er wollte, war der Beste in allem, was er tat und hatte mit achtzehn Jahren schon Unmengen an guten Beziehungen. Er war der Stolz unserer gesamten Familie und mein Vater gab vor allen Leuten mit ihm an. Aber heute denk ich hab ich es verstanden.“

Er schwieg einen Moment, als suchte er nach den passenden Worten. Kyo wartete geduldig, gab ihm die Zeit, die er brauchte. Er spürte, dass Die schon viel früher darüber hätte reden sollen, anstatt es nur in sich hineinzufressen und zu verdrängen.

„Es war wohl der Druck, mit dem er nicht umgehen konnte. All die Erwartungen, die auf ihm lagen. Unsere Eltern erwarteten, dass er immer der Beste bleiben würde, in allen Dingen herausragend. Fehltritte konnte er sich nicht leisten. Richtige Freunde auch nicht. Zwar mochte ihn jeder, weil er freundlich und lustig war, aber es gab auch viel Neid. Außerdem hatte er nie Zeit für sich, Zeit für Freundschaft. Ich glaub er war nie einfach mal aus, ins Kino oder mit Freunden tanzen. Alles was er tat war lernen. Daran muss ein Mensch ja kaputt gehen.“

Wehmütig vergrub er sein Gesicht in Kyos Haaren.

„Meine Eltern hätten es merken müssen. Sie sind selbst Schuld. Sie haben ihn zu dem gemacht, was er geworden war. Er starb einsam, ohne je gelebt zu haben. Ein Musterleben, was die Hölle war.“

Langsam drehte Kyo seinen Kopf, sah Die tief in die Augen.

„Aber du lässt dich nicht manipulieren.“

Resolut schüttelte der Rotschopf seinen Kopf.

„Nein. Ich lebe mein Leben allein, ohne dass mir mein Vater dazwischen redet. Ich lasse mir nicht die Musik verbieten oder vorschreiben, wer meine Freunde sind.“

Ein laues Lächeln hatte sich aufs Kyos Lippen gelegt und verweilte dort für einen Moment.

„Weil du stärker bist, als dein Bruder.“

Die blinzelte leicht.

„Vielleicht“, meinte er leise und brach den Blickkontakt. Wieso wurde ihm auf einmal so heiß? Seine Wangen glühten regelrecht. Musste er gerade jetzt erröten?

Peinlich berührt wandte er sich etwas ab.

Und alles nur, weil Kyo plötzlich beschlossen hatte mal menschlich zu sein und vernünftig mit ihm zu reden ohne ihm an die Kehle zu springen.

„Die?“

„Hm?“ kam die beschämte Antwort, den Kopf immer noch zur Wand gedreht, um den roten Wangen die Intensität zu nehmen.

„Es tut mir Leid, dass du das jetzt noch mal durchmachen musst.“

Überrascht weiteten sich Dies kleine, ausnahmsweise mal nicht schwarz geschminkte, Augen.

Mit so einem Satz hätte er nicht im Entferntesten gerechnet.

Scheu suchte er wieder Kyos Augen, verlor sich in ihnen.

Was sollte er darauf erwidern. Ihm fehlten die Worte. Er war erstaunt und gerührt zugleich.

„Das.. ist doch nicht deine Schuld. Also hör auf dich zu entschuldigen!“

Resigniert senkte Kyo die Lider.

„Doch es ist meine Schuld. Ich hätte dich da nicht mit hineinziehen dürfen.“

Erstaunen wich Wut.

„Kyo, hör endlich auf damit!“

Ein fragender Blick.

„Du hast keine Schuld, wie oft soll ich das noch sagen? Ich stecke aus freien Stücken in der ganzen Misere mit drin. Also wag es nicht noch einmal mir zu widersprechen!“

Ein kleines Grinsen, dann wieder trauriger Ernst.

„Du wurdest wegen mir verprügelt und hattest eine Gehirnerschütterung.“

Schweigen.

„Kyo. Bitte hör auf. Verstehst du nicht? Die ganze Angelegenheit ist zu groß für dich, zu schwer, um sie allein zu tragen. Ich will dich beschützen. Bitte lass es zu!“

Blasse Lippen pressten sich zu einem blutleeren Strich zusammen.

„Und wer beschützt dann dich?“

Ein zaghaftes Lächeln.

„Mach dir mal keine Sorgen, Kleiner.“

„Kleiner?“ Mürrisch zog Kyo die niedliche Nase kraus und entlockte Die ein weiteres flüchtiges Lächeln. Er seufzte geschlagen und ließ sich abermals gegen Die zurücksinken, den Kopf gegen die starke Brust des Gitarristen gelehnt.

Eine weitere Schmerzenswelle kündigte sich bereits an, zog an seinen Sinnen, drohte über ihm zusammenzubrechen und gegen seinen geschändeten Geist zu branden. Die letzten Schutzwälle würden fallen.

Halt suchend krallte er sich in Dies Hand, vergrub sein Gesicht in der schützenden Umarmung.

Die nächsten Stunden erfuhr er, was wahrer Schmerz bedeutete.
 

***
 

Drei Tage waren bereits vergangen, Tage voller Schmerz und Qual, in denen Die kaum gegessen oder geschlafen hatte. Kyos Zustand hatte sich nur sehr langsam wieder verbessert, die Krämpfe und die Übelkeit ebbten allmählich ab. Das Licht am Ende des pechschwarzen Tunnels kam näher und Hoffnung keimte in den von Sorgen geplagten Geistern der Bandmitglieder auf. Auch Shinya, dem Kyos lange Abwesenheit nicht entgangen war, hatte man schließlich eingeweiht.

Er war mehr als geschockt gewesen und hatte immer wieder ungläubig den Kopf geschüttelt und auf das kleine bemitleidenswerte Geschöpf in Kaorus Bett hinabgestarrt.

Jetzt saßen sie alle in Kaorus provisorischem Wohnzimmer. Die hatte müde den Kopf an Kaorus Schulter gelehnt und die Augen geschlossen. Im Moment bedurfte es nicht einmal mehr seiner schwarzen Schminke, denn die dunklen Ringe unter seinen Augen sprachen schon für sich.

Toshiya lehnte zur Linken des Bandleaders und spielte abwesend mit dessen Fingern, die auf dem Oberschenkel des Bassisten lagen. Shinya schlürfte Gedanken verloren seinen Tee.

„Ich muss dann noch mal nach Hause“, durchbrach Dies leises Murmeln schließlich die Stille.

„Was?“ fragte Kaoru verwirrt.

„Muss was holen“, erklärte der Rotschopf leise.

„Jetzt? Hat das nicht Zeit bis später?“

Spielerisch kitzelten die roten Haare seines Freundes an sein Ohr, als dieser den Kopf schüttelte. „Kyo hat danach gefragt.“

Seufzend blickte der Leadgitarrist an die Decke.

„Soll ich dich fahren?“

Wieder ein Kopfschütteln.

„Nein, schon gut. Ich brauch eh mal frische Luft.“

Erschöpft erhob sich der schmächtige junge Mann und streckte sich.

„Ich bin bald zurück.“

Er krallte sich seine Jacke, hob die Hand zum Abschied und verließ das kleine Apartment.

Wie lange hatte er jetzt eigentlich nicht mehr geraucht?

Mit zitternden Fingern klaubte er sich eine Zigarette aus seiner Kippenschachtel und zündete sie an.

Einen tiefen Zug später spürte er, wie sich die Anspannung allmählich von seiner Seele löste, die Ketten brach, die sich um sein Herz gelegt hatten.

Erleichtert atmete er tief durch. Die kalte Luft brannte klar in seinen Lungen, vertrieb den Nebel in seinem Kopf und die bleierne Müdigkeit in seinen Knochen. Hastig beschleunigte er seine Schritte. Er wollte zurück sein, wenn Kyo erwachte, wollte ihm ein Lächeln schenken, ihm sagen, dass es bald überstanden war, dass es nicht mehr lange dauerte, dass er nicht allein war.

Ein flüchtiges Lächeln schlich sich auf seine trockenen Lippen, setzte sich für einen Moment dort fest und erwärmte Dies Gemüt.

Ja, bald war es geschafft. Kyo hatte die ganze Nacht friedlich geschlafen ohne einmal aufzuwachen. Das war ein gutes Zeichen.

Amüsiert ertappte er sich dabei, wie er eine leise Melodie zu summen begann.

Seichter Wind wirbelte durch seine roten Haare.

Zum Glück wohnte er nicht allzu weit von Kaoru entfernt. Schon eine Viertelstunde später stand er vor dem Haus, welches viele Jahre sein Zuhause und gleichzeitig sein Gefängnis gewesen war.

Innerlich unzählige Stoßgebete zum Himmel schickend, dass sein Vater auf Arbeit war, schob er das quietschende Tor auf und lief die wenigen Meter bis zur Haustür.

Als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte stockte er. Die Tür stand bereits einen kleinen Spalt breit offen.

Verwirrt streckte er die Hand aus und schob das trostlose Holz nach innen in den düsteren Flur.

War sein Vater schon so besoffen, dass er nicht einmal mehr die Tür richtig schließen konnte?

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen trat er ein.

Chaos begrüßte ihn.

Auf dem Fußboden verstreut lagen mehrere leere Bierflaschen, unzählige zerknüllte Zettel bedeckten den Teppich wie Hagelkörner, Klamotten lagen bunt verteilt.

Hatte sein Vater jetzt vollkommen den Verstand verloren? Es kam ihm vor, als hätte ein Sturm durch die Wohnung gewütet.

Auf Zehenspitzen stakste er durch den Flur Richtung seines Zimmers und auch hier begrüßte ihn kein besseres Bild.

War sein Vater wirklich so wütend gewesen, dass er alles verwüstet hatte.. oder..?

Entsetzen machte sich in seinem Kopf breit, als ein weiterer Gedanke ihn traf.

Ein Einbruch?!

Hatte man Kyo bei ihm gesucht?

Aber woher wussten sie von ihm? Woher kannten sie seine Adresse?

Hatte man den kleinen Sänger etwa beobachten lassen?

Tausende Fragen stoben durch sein Innerstes, wühlten ihn auf.

Fahrig fuhr er herum, versuchte das Chaos zu überblicken und einen Anhaltspunkt zu finden, der die Verwirrung lichten würde.

In einer Ecke entdeckte er Kyos Hemd, welches er achtlos dort hingeschmissen hatte und welches dort immer noch lag.

Mit wenigen Fingergriffen hatte er das kleine Gedichtbuch, nach dem Kyo gefragt hatte, aus der Brusttasche des Hemdes gezogen. Das Papier hatte sich aufgrund des Regens gewellt und an einigen Stellen war die Tinte verlaufen. Die seufzte leise und schob das Buch in einer beiläufigen Bewegung in seine Hosentasche.

Wehmütig ließ er seinen Blick durch das verwüstete Zimmer schweifen. Das waren seine heiligen vier Wände gewesen, sein Zufluchtsort. Wie würde sein Vater reagieren, wenn er erfuhr, dass einer seiner Freunde Grund dafür war, dass man hier eingebrochen hatte?

Sein Vater…

Was, wenn die Einbrecher ihn überrascht hatten?

Was, wenn er gar nicht mehr lebte?

Verärgert über seine eigenen Gedanken schüttelte der Rotschopf den Kopf.

„Unsinn“, murmelte er leise.

Sein Vater war bestimmt wohlauf. Wahrscheinlich saß er gerade in seinem Büro in der Klinik und verwünschte sein einzig gebliebenes Familienmitglied, weil es eine Verfehlung war.

Müde strich sich Die durchs Gesicht.

Was für eine grausame Woche.

„Na wen haben wir denn da?“

Erschrocken fuhr Die herum und erstarrte.

Das war gar nicht gut…
 

***
 

Auf wackeligen Füßen tapste er aus dem Schlafzimmer. Er fühlte sich ausgelaugt, aber besser, als noch vor wenigen Stunden.

Suchend ließ er seinen Blick über die Gesichter der im Wohnzimmer Versammelten wandern, ehe er leise fragte: „Wo ist Die?“

Erschrocken sah Kaoru auf.

„Kyo!“ Überraschung machte sich auf seinen Gesichtszügen breit, gefolgt von Erleichterung und Freude.

„Wie geht’s dir?“

Genervt verzog der kleine Blondschopf das Gesicht. „Geht. Wo ist Die?“ wiederholte er seine Frage etwas ungeduldig.

„Oh, der wollte nur schnell nach Hause. Irgendwas für dich holen.“

Mit einem irritierten Blick auf die Uhr, fügte er hinzu: „Er müsste eigentlich schon längst zurück sein.“

Überrascht weiteten sich Kyos gerötete Augen.

„Nach Hause?“

„Keine Angst“, beruhigte ihn der Leader, als er den besorgten Blick des kleinen Sängers sah.

„Der taucht schon wieder auf.“

Er lächelte aufmunternd, als ein Piepsen seitens seines Handys seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Flink huschten seine Finger über die Tasten. „Ist von Die“, erklärte er und öffnete die Nachricht. Langsam wanderten seine Augen über die digitalisierten Zeichen, sogen sie in sich auf und versuchten zu begreifen.

„Oh Gott“, drang es fassungslos über seine Lippen und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.

„Was ist?“ sprach Kyo die Frage aus, die wohl allen auf der Seele brannte.

Langsam hob Kaoru den Kopf.

„Sie.. sie haben Die…“



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Kommentare zu diesem Kapitel (44)
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Von:  Zerocchi
2005-05-22T21:15:19+00:00 22.05.2005 23:15
*seufzt* ich warte mit dem Schlusskommentar bis zum schluss *grins*
Von:  Inuchi
2005-05-21T14:26:32+00:00 21.05.2005 16:26
ah~~~
O___O~
das kapitel war so toll...__. *wein* mit kyo und die...so wai~
und wie er dann nachher über n berg war..und dann gefragt hat..wo ist die?! das war..irgendwie..wai..
und ah~~
;Ö; *weiterlesen muss*
Von: abgemeldet
2005-01-31T14:42:53+00:00 31.01.2005 15:42
O___O
Diese fanfic ist wirklich total toll ...
Hab se fast alles auf einmal gelesen, weil ich mich nihct losreißen konnte ~~
Du musst unbedingt schnell weitermachen ^^!!
Ich bin jetzt süchtig danach musst du wissen *___*
Also ... *dich anfeuer*
°______° *Dackelblick*
Chu Cutey
Von:  Sandra
2004-12-16T00:26:58+00:00 16.12.2004 01:26
hi again ^^
alsu, es waren In Convent und Max first love XDD
allerdings steht derzeit Kyodai II mit deiner hia in konkurrenz ^^"
aber.. es sind auch beide wirklich gut (ich sollte mal n kommi schreiben o_o)
ich liebe diese story.. mach weiter, ne??

und denk dir nichts wegen dem thread.
ich kenne absolut niemanden, der sich wahrlich dir~en~grey die musiker vorstellt.
das wäre dumm..
also, lass dich nich unterkiegen, draran, dass der thread eigentlich noch nicht besonders lang ist (ich mein.. es geht um fics.. und dir en grey..o_ô), sieht man, dass das kein fic leser wikrlich ernst nimmt.
+patpat+ san-chan~
Von: abgemeldet
2004-12-09T10:15:56+00:00 09.12.2004 11:15
wai is des chap schön... zwar auch traurig aber naja. ich mag die FF unheimlich gut. hat man ja gemerkt, ne? sorry, dass ich dich so gedrängelt habe. *toto wirklich sorry is*
ich bin so gespannt wie das jetzt weitergeht. aber sag mal, weisst du schon ob es ein happy end geben wird oder doch net? *toto is immer so neugierig*

ich ind das so cool wie du immer die gefühle beschreibst die kyo da hat, man kann sich des echt gut ausmalen wie er nu leidet, und die ebenso. ich wünschte ich könnte auch so schreiben...

so, mach weiter so. *toto sich für dich stark mach*

mata ne, toto!!!!!!
Von: abgemeldet
2004-12-08T15:08:10+00:00 08.12.2004 16:08
ich bin froh,dass Kyo übern berg ist und hoffe doch ganz stark, dass man Dai jetzt nicht das gleiche auch noch antut! das ist doch die gelegenheit für Kyo seine "wahren" gefühle für Dai zu entdecken... *weiterspinn* und ich pflichte pis-chan bei: vergiss Kao nicht! Toshiya und er passen doch gut zusammen... *happy ends liebt*

Also,schreib bitte schnell weiter und viel Erfolg beim Kanji pauken!
Von: abgemeldet
2004-12-06T15:12:22+00:00 06.12.2004 16:12
WOW
das fällt mir zuerst zu dieser wunderbaren FF ein =)
als ich sie gelesen hab hab ich am ende urr geweint, weil's jez aus is bzw. weil ich angst hatte du würdest lang brauchen bis du weiterschreibst *gg*
gott sei dank hast du weitergeschrieben *hihi*
ich finde diese FF wirklich soooo schön und total super geschrieben =)
bin schon auf's ende gespannt, wie ich mich kenn werd ich wasserfälle heulen *lol*
muss dir jedenfalls ein großes lob aussprechen! mach weiter so, ich freu mich schon auf den nächsten teil!!
lg *bussi* :)
Von: abgemeldet
2004-12-04T12:51:30+00:00 04.12.2004 13:51
Ou man ist das Traurig..
*schnief* bitte weiter~
Es ist einfach so genial geschrieben, so unglaublich detailiert dargestellt.. Es ist richtig nachvollziehbar, wie kyo diesen Schutzwall um sich aufrecht zu halten versucht, allerdings genauso nachvollziehbar, wie Die immer wieder kleine Löcher darein schlägt um diesen Wall zum einstürzen zu bringe~
*smilu*
weiter~ wirklich genial!
Von: abgemeldet
2004-12-01T21:05:57+00:00 01.12.2004 22:05
Sooo... habe es heute geschaft die anderen Teile zu lesen und ich muss mal wieder sagen: Erstklassig!
Wie du die Gefühle und Situationen beschreibst ist echt schön, ich sitze immer wie gebannt vorm Pc, zucke zusammen seufze, grinse oder bin kurz vom heulen -_____-;; Und das kriegen bei mir echt nur ein paar Autoren hin ^^""

Ein Lob an dich wie du den Entzug beschrieben hast! da ich selber schon viele erfahrungen damit machen musst, saß ich hier nur nickend... Der Schmerz... alles geil beschrieben ^^

Da ich, wenn ich weiter schreibe, mich nur wiederholen werde.. höre ich hier jetzt lieber auf ^^"""
Ach ja, bevor ich es vergesse...

Wie konntest du nur an dieser Stelle aufhören??????? O.ö

baibaiki, Ata
Von:  Majin
2004-12-01T13:00:35+00:00 01.12.2004 14:00
Der Teil war wieder einmal exzellent ... *schwärm* Also ich finde es macht absolut gar nichts, dass du diesmal nicht so viele Metaphern drin hast, dei Schreibstil ist trotzdem unglaublich gut und zuviel ist ja auch nicht immer passend... ^^

Die Handlung nimmt eine meiner Meinung nach gaaaaanz tolle spannende Richtung an.. *hrhr* yaaay ääääkschn!!! Das Kapitel hat mich total begeistert... und wie Die und Kyo miteinander geredet haben fand ich wundervoll beschrieben... *träum* EInfach toll...

A~aber.. das Ende war am allertollsten... jedoch muss ich sagen.. *dich böse anfunkel*

Wie kannst du das nur tuuuuuun?!?!? So einene widerlich bösen Cliffiiiieeeeeee *haare raufend im dreieck springt* Neeeeeiiiiiinnnnnn!!! Willst du mich ins Grab bringen... *heulend zusammen bricht*

Ich liebe solche Szenen und ich bin suuuuper neugierig und sowieso und überhaupt hab ich ne Gänsehaut bekommen, schon als Dai feststellte, dass die Tür geöffnet war... wuuaaaahhhh.. hilfe... ich dreh durch... Ich mekr ja dass du nciht so viel Zeit hast aber.. bitte... BITTE ..B.I.T.T.E.eeee~~~~~~eeeeee!!!1 Lass dir nich soooo viel zeit mit dem nächsten chap, jaaaaaaa? *bambiblick aufsetzt*

*knuff*
Majin


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