Mutproben und andere Geschichten
6. Mutproben und andere Geschichten
Ich starrte auf die Uhr. Warum wurde es nicht endlich Mitternacht??? Mein
Beutel stand fix und fertig im Schrank. Meine Cousine hatte es geschafft mir
eine Flasche Whisky mitzubringen. Das würde reichen! Ich glaubte nicht, dass
einer von uns in der Lage wäre das allein auszutrinken. Danke Rui! Sie war
die einzige, die mich hier besuchte. Der Rest meiner sogenannten Familie
hatte sich in den 3 Monaten, die ich schon hier war nicht einmal blicken
lassen. Und da sag mal einer Blut wäre dicker als Wasser! Meine Familie
musste da ja ziemlich dünnes Blut haben!!!
Endlich! Der Zeiger rückte weiter. Es war jetzt 10 Minuten vor 12. Ich hatte
Zeit eingerechnet um den Schäferhund des Hausmeisters zu bestechen und ein
wenig eher da zu sein als die anderen. Corri mochte mich sehr und außerdem
hatte ich einen großen Knochen dabei, den mir auch Rui mitgebracht hatte. Es
hing sogar noch ein bisschen Fleisch dran.
Leise öffnete ich die Tür und spähte auf den Gang. Niemand zu sehen. Also
dann mal los! An der Treppe musste ich sehr vorsichtig sein, die knarrte
nämlich furchtbar laut an manchen Stellen. Im Erdgeschoss angekommen,
schlich ich mich zur Küche. Dort hatten wir ein Fenster offen gelassen, als
Ausgang für unsere Partygäste. Es war ziemlich klein und zum ersten mal
freute ich mich nicht größer als 1.62 Meter zu sein.
Draußen im Hof lag Corri. Er freute sich mich zu sehen und wedelte mit dem
Schwanz. Was für ein toller Wachhund!!! Wenn er was zu fressen hatte, konnte
jeder, der wollte, ein- und ausgehen. "So mein Süßer, hier ist dein
Schmiergeld. Dafür lässt du die anderen in Ruhe, klar?" Ein freudiger
Blick als ich ihm den Knochen gab, war mir Antwort genug. Corri würde alle
passieren lassen.
Gespannt lugte ich um die Ecke. Man konnte nie sicher sein, ob der
Hausmeister nicht volltrunken irgendwo rumlag. Das kam doch ziemlich oft vor
und ich hatte nicht vor über diese Schnapsleiche zu stolpern. Plötzlich
legte mir jemand von hinten die Hand auf den Mund. Vor Schreck hätte ich
fast geschrieen! Doch zum Glück war es nur Shin. "Wenn du das noch mal
machst, bring ich dich um!!!" Shin deutete mir an ruhig zu sein. Leise
gingen wir zur Turnhalle und quetschten uns durch einen kleinen Türspalt.
"In 3 Minuten beginnt die Party. Wir müssen noch einiges vorbereiten.
Der Hausmeister wird uns nicht stören. Der liegt stockbesoffen am
Eingangstor." "Sehr gut! Hast du das Radio mit, Shin?"
"Klar!" Er grinste mich an. Ich wusste, was er fragen wollte.
"Ja, ich hab den Whisky mit! Hoffentlich hat morgen keiner einen
Kater..."
Shin sah zur Tür. Sara hatte es auch geschafft. "Ich hab alles dabei:
Chips, Cola, Kerzen und Popcorn." "Klasse! Dann müssen wir nur
noch auf die anderen warten!"
Es dauerte nicht lange und einer nach dem anderen betrat die Turnhalle.
Innerhalb von 5 Minuten waren wir vollzählig.
"Let the party start!" rief Shin und schaltete das Radio ein. Um
die Lehrer brauchten wir uns keine Gedanken zu machen. Die Turnhalle war
außerhalb der Sicht- und Hörweite des Hauptgebäudes. Uns würde niemand
bemerken.
Alle hatten Spaß. Unsere Musik war ja auch um Lichtjahre besser als die der
Lehrer. Whisky, Cola und Chips erledigten das übrige. Wir hatten wieder
unsere Kostüme an, schließlich war ja Halloween!
Nach circa einer Stunde kam Miko auf die bekloppte Idee Flaschendrehen zu
spielen. Sie hatte wahrscheinlich die Hoffnung Sanji dadurch etwas näher zu
kommen. Naja, warum nicht? Konnte ja ganz lustig werden.. Shin schien davon
nicht so begeistert. "Is' ja wie im Kindergarten..."
maulte er. Ich zog ihn einfach zu den anderen. Zum Drehen nahmen wir die
leere Whiskyflasche. Ja, die war leer und deshalb war auch die Stimmung echt
gut!
Dass es die Kerle nur darauf angelegt hatten einen Kuss von einem Mädchen zu
ergattern, wurde sehr schnell klar. "Der Nächste hat die Ehre mich zu
küssen!!!" lallte Tomo. Er hatte ein paar mal zu oft ins Glas
geschaut!!! Doch wen erwischte es? Shin! Der arme Kerl lief knallrot an und
murmelte nur "Muss das sein?" "Komm schon! Stell dich
nicht so an! Du hast doch sonst kein Problem damit." Sanji grinste ihn
voll an, doch Shin blickte sehr düster drein. Jetzt musste er wohl sein
Geheimnis preisgeben...
"Doch das hab ich... oder denkst du ich bin schwul?" Den anderen
klappte die Kinnlade runter. "B-bist du nicht???" "Nö, hab
ich doch nie behauptet, oder?" "Aber die Mizuka hat
doch..." "Was die Mizuka den ganzen Tag so redet, darf man nicht
immer ernst nehmen." Tomo schien seeeehr erleichtert. "Na dann
geht's ja!" Und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen.
Shins Ohren sahen aus als würden sie gleich Feuer fangen! Alle mussten
lachen. Sorata, unser 2-Meter-Riese schlug ihm schallend lachend auf die
Schulter, so dass Shins Kopf nach vorne sauste. "Mann, Kunde! Das
hättest du ja auch mal früher sagen können! Aber 'n bisschen lag's ja
auch an uns. Wir hätten dir einfach mal zuhören müssen, nich' wahr,
Leute?" Die anderen nickten ein wenig betreten. Shin versuchte zu
lachen und rieb sich die Schulter. Sorata hatte einen ziemlichen Schlag
drauf. Ich freute mich für ihn. Endlich hatten ihn die anderen akzeptiert.
"Okay, der Nächste bekommt von Tojokaze einen richtigen
Zungenkuss!!!" Sorata grinste und drehte die Flasche.
"He du Idiot!!! Würdest du mich mal bitte fragen, bevor du sowas
machst???" Ich spürte wie ich knallrot wurde. "Is' doch
nur ein Spiel." Ich wollte etwas erwidern, doch dann kam die Flasche
zum Stillstand. Der Auserwählte war.....Shin! Hatte der Junge einen Magneten
in der Hosentasche oder warum war der so oft dran??!!!
Verdammt! Ich nahm mir fest vor Sorata nachher umzubringen. Shin saß mir mit
hochrotem Kopf gegenüber.
"Na Los! Worauf wartet ihr denn?" 12 Augen starrten uns an.
'Okay, bringen wir's hinter uns! ' dachte ich nur.
Langsam beugte ich mich rüber. Ich hatte das unweigerliche Gefühl im
Erdboden versinken zu müssen. Shin kam mir ein Stück entgegen. Als unsere
Lippen sich berührten, hörte ich nur Sanji neben mir zischen "Nicht
vergessen: Zungenkuss!!" Dieses blöde Aas! Ich hatte keinen blassen
Schimmer, was ich tun sollte. Shins Vampirzähne stellten ein ziemliches
Problem dar. Irgendwie hatte ich 10 Sekunden lang einen völligen Blackout,
denn als ich die Augen wieder öffnete, saß mich wieder auf meinem Platz.
Alle um uns herum johlten und grinsten. Verflucht! Ich hatte soeben meinen
Vorsatz Nummer 1 gebrochen: Küsse niemals deine Kumpels! Shin starrte in das
Dunkel der Turnhalle. Ich würde ihm nie wieder in die Augen sehen können!
"Halloooo! Geht's jetzt weiter? Saku? Was ist los?" Sara
winkte mir mit der Hand vor den Augen herum. "Sag mal, träumst
du?" "Wie? Nene, bin wach...Okay, der Nächste sagt mir, warum er
hier im Heim ist." Etwas Besseres fiel mir im Moment nicht ein, aber
an den Blicken der anderen bemerkte ich, dass ich soeben ein ungeschriebenes
Gesetz gebrochen hatte: Frage niemals warum!
Es erwischte Miko. "Na gut!" Ich war ein wenig überrascht, dass
sie bereit war zu antworten. "Als ich 12 war, hab ich ziemlich oft
geklaut. Meine Eltern haben nichts mitgekriegt, bis ich erwischt wurde. Sie
waren echt sauer und irgend so ein Kindertherapeut hat ihnen gesagt, dass
ich in professionelle Behandlung gehören würde. Deshalb bin ich hier...Warum
seid ihr hier? Sanji?"
Sanji hob den Kopf. Er war überrascht, dass Miko ihn ansprach.
"Ich... äh...naja...Ich war als Kind hyperaktiv. Meine Mutter musste
sich um meine 5 Geschwister kümmern und hatte keine Zeit um sich besonders
um mich zu kümmern. So 'ne Tante von der Fürsorge hat ihr dann geraten, mich
hierher zu geben." "Das ist ja fast wie bei mir!" Yui
meldete sich zu Wort. "Ihr wisst doch, dass ich sehr viel rede und
darum bin ich hier. Zur Besserung, damit ich ruhiger werde. Ich ging meinen
Eltern wohl sehr auf die Nerven..."
Irgendwie fiel es ihnen leichter darüber zu reden als ich geglaubt hatte...
"Ratet mal, warum ich hier bin!" Sorata lachte laut. "Da
müsstet ihr doch leicht drauf kommen!" "Hast du jemanden taub
geschrieen?" Shin hielt sich die Ohren zu. Sorata hatte eine wirklich
laute Stimme! "Ne...Ich hab meinen Deutschlehrer verprügelt, weil er
meine Freundin blöd angemacht hat. Was denkt ihr, warum die Erwachsenen alle
so Schiss vor mir haben?! Ich hab jedem Lehrer Dresche angeboten, der sie
geärgert hat. Bloß leider fand sie das gar nicht gut...hat mich nämlich
verlassen. Da bin ich dann freiwillig hierher gekommen." Freiwillig?
Der Typ war wirklich nicht ganz dicht! "Tojokaze, warum hast du den
Kunden damals eigentlich verprügelt?" Ich schreckte hoch. Okay, nun
war ich fällig. Selbst schuld, ich hatte ja damit angefangen!
"Ryo war ein Kleindealer an meiner alten Schule. Ich hab ihm gesagt,
wenn er noch einmal meiner Freundin versucht so 'nen Scheiß
anzudrehen, würde ich ihn verpfeifen." "Aber deshalb hättest du
ihn doch nicht gleich zusammenschlagen müssen!" Sara sah mich
verständnislos an. Ich wuschelte ihr durch die Haare. "Ging nicht
anders...Er drohte damit dem Direx zu sagen, dass ich selber mal sowas
genommen hatte. Außerdem meinte er noch, dass es ihm scheißegal wäre, wenn
jemand an dem unreinen Zeug krepieren würde. Seine Drogen waren wirklich
gefährlich, er stellte sie nämlich selbst her. Als er das gesagt hatte, ist
es bei mir irgendwie durchgeknallt.....tja, erwischt wurde ich auch noch und
den Rest kennt ihr ja."
"Schwarzer Robin Hood für Schüler!" witzelte Tomo. "Ey,
Okumura! Warum bist du hier?" "Weil so ein blödes Aas von
Oberschüler und seine Freunde mich loswerden wollten, um die Schule schön
unter Kontrolle zu haben. Da hab ich gestört! Deshalb haben sie das Gerücht
in die Welt gesetzt, ich wäre schwul." "Das kann doch nicht
alles sein!!!" Sorata war voll fertig. Shin zuckte mit den Schultern.
"Wie du siehst, doch. Es war ein katholisches Jungeninternat. Da
reicht sowas aus. Meine Tante hätte mir sowieso nie geglaubt."
"Und deine Eltern?" Miko war jetzt auf einmal übelst freundlich
zu Shin. "Die sind seit 5 Jahren tot."
"So wie meine....die sind vor 12 Jahren gestorben..."
"Aber Tomo, da warst du doch noch ein Baby!!!" Yui sah ihn
erschrocken an. "Ja, na klar... Sie waren auf Geschäftsreise und das
Flugzeug ist abgestürzt. Ich war bei meinem Kindermädchen. Mein Onkel sollte
sich nach ihrem Tod um mich kümmern. Doch der kann mich nicht leiden. Wegen
mir war das Testament meines Vaters geändert worden und ich wurde als
Alleinerbe eingesetzt. Onkel Sanjoi hasste mich so sehr, dass er mich
hierher geschickt hat." Tomo war kurz davor zu heulen. Yui legte den
Arm um seine Schulter. "Wenn der so 'nen Aufriss macht, dann war
dein Vater doch bestimmt nicht arm." Mann, Sorata!! Der Kunde hatte
das Taktgefühl eines Walrosses! Doch trotzdem musste Tomo lächeln.
"Hast du schon mal was von CAO ELECTRONICS gehört?"
"Waaaas? Du bist der Erbe von Cao??? Ich dachte, dass mit deinem Namen
wäre nur Zufall!!!" Sorata stand kurz vor einem Herzinfarkt.
"Ja, der bin ich. Aber bis ich 18 bin, verwaltet Onkel Sanjoi das Geld
und die Firma. Wenn ich volljährig bin, ist er fällig!" "Richtig
so, Tomo! Bei Geld hört die Verwandtschaft auf!" Ich weiß, es ist ein
blöder Spruch, aber irgendwie passte er doch.
"So Sara-chan! Du bist die Letzte. Erzähl mal!" Miko stupste sie
an. "Sara? Schläfst du schon?" Der kleine Engel schüttelte den
Kopf. "Nein, ich schlafe nicht. Bei mir gibt es nicht viel zu
erzählen. Meine Mutter wollte mich nicht. Großmutter hatte ihr verboten
abzutreiben oder mich zur Adoption freizugeben, aber als Omi vor 2 Jahren
starb, hat sie mich einfach ins Heim gesteckt. Die Leute hier fragen ja nie
nach einem Grund..." "Wieso hasst dich deine Mutter so,
Sara-chan?" "Papa hat sie verlassen, als er erfahren hat, dass
sie schwanger war. Er war die Liebe ihres Lebens. Das hat sie mir immer
vorgehalten....sie hat mich wirklich gehasst...Hier! Das ist das Einzige,
was ich von ihr habe." Sie zog den Ärmel ihres Kleides hoch, so dass
man eine längliche Brandwunde erkennen konnte. "Da hat sie mal mit
einem Bügeleisen nach mir geworfen."
Betretenes Schweigen breitete sich in der Runde aus...