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Encanto de Isla Orchila

chap 4 und 5 online!
von

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Insel der Orchideen

Die Black Pearl schob eine mächtige Bugwelle vor sich her, ihre Segel standen voll im Wind und die Möwen, die um den Hauptmast kreisten, begrüßten kreischend den neuen Morgen.

Angelina schlug die Augen auf. Sie blinzelte ein paar Mal, um sich zurecht zu finden und erhob sich dann. Ihre nackten Füße kamen sacht auf den kühlen Holzbohlen auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nur ein dünnes, weißes Männerhemd trug, das ihr gerade mal bis zu den Oberschenkeln reichte. Gestern Nacht hatte sie sich einfach irgendetwas aus dem kleinen Schrank, der im Zimmer stand, geholt ohne darauf zu achten, was. Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen, ging zu dem Schrank hinüber und riss die Türen auf.

Es befanden sich ausnahmslos Hemden, Jacken und Mäntel darin, die allem Anschein nach Jack gehören mussten, da Angie unter ihnen auch seinen Hut fand. "Das darf doch...", sie ließ den Satz unbeendet und stürmte aus der Kajüte, in Richtung Deck.

"Jack?", Angie stieß die Türen, die an Deck führten, auf und sah sich um, "Jack!" Er stand am Ruder und zeigte keine Reaktion. Sie ging von hinten auf ihn zu und tippte ihm energisch auf die Schulter. Immer noch keine Reaktion. Angelina stieß hörbar Luft aus. "Warum schlafe ich in deiner Kajüte? Warum, Jack?"

Er drehte sich langsam um und sah sie eine Weile stumm an. Sie hob fragend die rechte Augenbraue und erwiderte seinen Blick. "Weil kein anderes Zimmer mehr frei war."

"Ich hätte bei Anna-Maria schlafen können!"

"Sie schläft mit den Männern unter Deck."

"Dann hätte ich auch dort geschlafen!"

"So, hättest du?", er warf einen amüsierten Blick zu Anna-Maria und sah dann wieder Angie an und musterte sie von oben bis unten, da sie immer noch eines seiner Hemden trug, "In diesem Aufzug?"

"Diesen 'Aufzug' hätte ich nicht an, wenn ich nicht in deinem Zimmer geschlafen hätte! Ich komme mir vor wie eine von deinen... deinen nächtlichen Triebbefriedigungen!", die Empörung, die in ihrer Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Auf Jacks Gesicht breitete sich hingegen ein breites Grinsen aus, "Allerdings, du befriedigst meinen Trieb." Angie öffnete fassungslos den Mund um etwas zu sagen, aber Jack kam ihr zuvor: "Meinen Trieb, dir zu sagen, dass du ab heute gerne unter Deck schlafen kannst." Dafür erntete er lautes Gelächter von der Crew.

Anna-Maria klopfte Angelina auf die Schultern. "Der Captain wollte dir nur nicht zumuten, gleich deine erste Nacht an Bord bei diesen rauflustigen Kampftrinkern zu verbringen.", sagte sie leise. "Aber wo hat Jack dann eigentlich geschlafen?", fragte Angie. "Na hier neben dem Steuer, wo denn sonst?", meinte Anna-Maria augenzwinkernd und verschwand dann - ein fröhliches Liedchen pfeifend - unter Deck.

"Zieh dir lieber mal was an, Schätzchen, du hältst die Männer von der Arbeit ab.", raunte Gibbs und warf grinsend einen Blick auf ihre nackten Oberschenkel. Angie drehte sich, leicht errötend, um und ging zurück in die Kajüte, wo ihre Hose und die Jacke über die Lehne des Stuhls, der in einer Ecke stand, gehängt waren.
 

Als sie wieder nach draußen ging, war die Crew bereits wieder vollauf beschäftigt. Sie zupfte ihre blaue Jacke zurecht und ging zu Jack hinüber, der immer noch am Steuer stand. "Wo fahren wir eigentlich hin?"

"Hab ich dir doch gestern Abend schon gesagt: Wo der Wind uns hintreibt.", erklärte Jack, ohne sie anzusehen. "Dann könnte dir vielleicht ein Kompass weiterhelfen.", sagte Angie und drückte ihm ihren alten Kompass (der, der nicht nach Norden zeigte) in die Hand. Jack starrte das leicht ramponierte Gerät an. Angie lachte leise, ging zu Cotton und half ihm dann, eines der kleineren Segel einzuholen.

Jack fixierte immer noch den Kompass und ließ ihn langsam aufschnappen. Da war die in der Mitte befestigte Nadel und die sich drehende Scheibe auf dem die vier Buchstaben N, E, S und W aufgezeichnet waren. Die Scheibe wirbelte wild im Kreis herum, bis sie sich schließlich bei Südosten einpendelte. 'Er zeigt nicht nach Norden.', dachte Jack und warf einen beunruhigten Blick zu Angie, die in luftigen Höhen am Achternmast hing und das Segel mit einem Tau festzurrte, 'Wie zum Teufel kommt sie an diesen Kompass?'

"Jack, was ist los? Du schaust gerade so, als hätte dir jemand einen Schatz unter der Nase weggeschnappt.", rief Gibbs, der gerade die Takelage herunterkletterte. Jack sah auf und brauchte eine Weile, um aus seinen Gedanken zurückzukehren. Gibbs stand schon neben ihm, als er endlich antwortete: "Nichts, ich hab nur gerade was wiedergefunden, was ich schon lange gesucht habe..."

"Ah ja? Was denn?", bohrte Gibbs nach. Jack hielt stumm den Kompass hoch. "Wo hast du denn den auf einmal wieder her?"

"Gefunden, hab ich doch grade gesagt.", meinte Jack barsch und ließ das Gerät in seiner Manteltasche verschwinden. Gibbs zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts mehr und ging wieder an die Arbeit. Jack sah noch einmal zu Angelina bevor er sich wieder aufs Steuer konzentrierte. Zumindest versuchte er das.
 

Gegen Mittag stand die Sonne genau über der Black Pearl, die Crew befand sich größtenteils unter Deck, wo es einigermaßen kühl war und somit herrschte eine himmlische Stille auf dem Schiff. Nur das Rauschen des türkisblauen Meers, das Kreischen der Möwen, das flattern der Segel im Wind und das Knarren der Planken und Taue war an Deck noch zu hören.

Angelina hatte ihre Arme auf die Reling gelegt und blickte ins Wasser hinab, welches so klar war, dass man den glitzernden, weißen Sand am Grund sehen konnte. Ab und zu ließ sich ein silberner Fischleib erkennen und ein paar Muscheln glänzten wie perlmuttfarbene Smaragde im Sonnenlicht.

Angie schloss für einen Moment die Augen und atmete die salzige Meerluft tief ein. Plötzlich bemerkte sie das Geräusch von Stiefeln auf den Planken. Es kam näher, bis es neben ihr stoppte. "Was gibt's, Jack?", fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. "Ich wollte mit dir reden...", murmelte er und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. "Geht es um den Kompass? Hör mal, du kannst ihn haben; ich weiß dass er nicht richtig funktioniert, aber er ist auch schon ziemlich alt.", erklärte sie, während sie ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah. "Ja, es geht um den Kompass, allerdings in anderer Weise.", Jack wich ihrem Blick aus. "Und in welcher Weise?"

"Naja, ich... der gehörte mal...", er zögerte, bis ein lauter Schrei die Ruhe auf dem Schiff zeriss: "JACK!" Anna-Maria beugte sich weit über den Rand des Aussichtskorbs, "Dort!", sie wies mit der Hand nach Achtern. Angie und Jack wandten ihre Köpfe gleichzeitig in diese Richtung und erkannten, was Anna-Maria so beunruhigte. "Schon wieder?", entgeistert starrte Angie auf die rabenschwarze Wolkenmauer, die den Horizont verdunkelte. Jack war indessen schon zum Heck gelaufen, um besser sehen zu können, "Das sieht ziemlich übel aus.", stellte er fest, drehte sich um und sah Angelina an, "Eine Seekarte, schnell!"

Sie machte auf dem Absatz kehrt, eilte in Jacks Kajüte und suchte aus dem ganzen Stapel Karten - der auf dem Tisch verstreut lag - eine Seekarte heraus, die ihre aktuelle Umgebung zeigte. Nachdem sie eine gefunden hatte, stürmte sie wieder aus dem Zimmer und mobilisierte, bevor sie zu Jack zurückkehrte, die Mannschaft - die sich im Esszimmer befand.

"Hier.", keuchte Angie und hielt Jack die Karte hin, der sie ihr abnahm und mit den Augen gründlich inspizierte. Die Crew hatte sich inzwischen um ihn herum versammelt und wartete sein Urteil ab. Jacks Miene verfinsterte sich mit jeder Sekunde, in der er auf die Karte sah. "Jetzt spann uns nicht so auf die Folter!", raunte Gibbs ungeduldig. Jack ließ die Karte sinken und deutete stumm mit dem Finger auf eine kleine Insel in der Nähe des 12. nördlichen Breitengrads. "Jack, das ist nicht dein Ernst?!", Gibbs Stimme zitterte leicht. "Wir haben keine Wahl. Das ist die nächste Insel.", erklärte Jack ernst.

Angie verstand im ersten Moment kein Wort. Sie sah Anna-Maria, die neben ihn stand, verwirrt an. "Wenn uns das da hinten...", sie wies mit dem Kopf auf die Gewitterfront, welche immer näher rückte, "...erreicht, sollten wir festen Boden unter den Füßen haben, ansonsten wird's ganz schön ungemütlich."

"In Ordnung. Aber was hat Gibbs gegen Jacks Entscheidung?"

"Nicht nur Gibbs hat da was dagegen. Ich - und ich verwette meine Stiefel darauf - der Rest der Crew auch."

"Warum denn?", Angie begriff immer noch nicht. Anna-Maria riss Jack seufzend die Karte aus der Hand und zeigte ihr die Insel, die er ausgewählt hatte. Sie war nicht sehr groß und mit kleinen, verschnörkelten Lettern beschriftet. Isla Orchila stand dort. Entsetzt sah Angelina Jack an und er erwiderte ihren Blick entschlossen. Sie schüttelte langsam den Kopf und wie zum Trotz nickte der Captain.

Dann rollte er die Karte zusammen, schritt nach vorne zum Hauptmast und blieb dort stehen, während er seine - teils entsetzte, teils fassungslose - Crew abwartend ansah. "Worauf wartet ihr eigentlich? In die Brassen, na los! Faules Pack!", rief er und verschwand dann in seiner Kajüte. Kaum war er verschwunden, wurde aufgeregtes Geflüster und Gemurmel unter der Mannschaft laut. "Das kann er nicht machen!"

"Alles nur nicht die Isla Orchila!"

"Keine zehn Kanonen bringen mich dazu, auch nur den großen Zeh auf diese Insel zu setzen!", meinte Gibbs aufgebracht und sogar Cottons Papagei gab seinen Senf dazu: "Dunkle Geschichten, Dunkle Geschichten..."

Die einzige, die nichts dazu beitrug, war Angelina. Sie stand ein wenig abseits der Diskussionsrunde und biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Schließlich fasste sie sich ein Herz und rannte Jack hinterher.
 

Die Tür zu Jacks Zimmer flog auf und Angelina stürmte hinein. Jack saß an seinem Schreibtisch und sah auf, als sie so hereinplatzte. "Hör mal, das - kannst - du - nicht machen! Das kannst du einfach nicht tun! Du kennst die Geschichten oder? Du weißt, was man über die Isla Orchila sagt! Also erzähl mir nicht, dass du ernsthaft vorhast, auf dieser Insel an Land zu gehen!"

Jack stieß hörbar Luft aus und legte die Feder, die er in der Hand gehalten hatte, beiseite: "Haben dich die anderen geschickt, um mir das zu sagen?"

"Nein, haben sie nicht, wieso?"

"Weil ich dir sonst nicht gesagt hätte, was ich dir jetzt sage.", erklärte Jack und wies auf sein Bett. Angie setzte sich im Schneidersitz hin und sah Jack dann fragend an. Dieser drehte seinen Stuhl zu ihr, sodass er sie direkt anschauen konnte. "Also... du musst wirklich verstehen, ich will einfach nicht riskieren die Black Pearl in einem Jahrhundertsturm zu verlieren."

"Tatsächlich? Aber du willst riskieren, dass die gesamte Crew auf der Isla Orchila draufgeht?!"

"Die Black Pearl ist mein Ein-und-Alles, mein Baby, mein Schatz!"

"Und wir bedeuten dich gar nichts. Sehr aufmerksam, Danke!"

"Das hab ich doch garnicht behauptet! Aber ich erwarte auch nicht, dass du das verstehst; du hattest noch nie ein eigenes Schiff, für das du alles - wirklich alles - tun würdest."

"Hat sich aber so angehört. Und, nein, ich verstehe das nicht, du bist ja regelrecht in dieses Schiff vernarrt!"

"Ja.", gab Jack schließlich zu. Angie blieb der Mund offen stehen. "Du meinst das Ernst, oder?", fragte sie nach einer Weile leise. Er sah sie mit seinen dunkelbraunen Augen an, in denen trotz des Hundeblicks der Charme und die Verschlagenheit nur so sprühten. Entrüstet sprang sie auf: "Du hast eindeutig ein psychisches Problem!", rief sie wild gestikulierend. Nun stand auch Jack auf und machte einen Schritt in ihre Richtung. "Ich? Ein psychisches Problem? Ich glaube du verwechselst da etwas, Liebling!", er sah sie eindringlich an, doch Angie gab nur ein abfälliges "Pff!" von sich. "Siehst du, manche Leute sind von einem anderen Menschen besessen, andere von einem Schatz und ich eben von meiner Black Pearl. Ist das etwa verboten oder illegal? Ich denke nicht...", sagte Jack gedämpft. "Verboten nicht, aber irgendwie... krank. Wie kann man ein Schiff vergöttern?"

"Ganz einfach. Es die einzige Sache, für die ich je gekämpft habe, die einzige Sache, die mir je wirklich etwas bedeutet hat. Ich habe sie mir hart erarbeitet, ich hatte sie an eine Bande von verwesenden Pestbeulen verloren und ich habe sie mir aus den kalten, toten Händen meines meuternden 1. Maats wiedergeholt.", Jack beendete seine Geschichte mit einem vielsagenden Blick und zum ersten Mal in ihrem Leben, wusste Angelina nicht, was sie sagen sollte.

Nach einer langen Pause - in der beide nur schweigen voreinander standen und sich gegenseitig ansahen - rührte sich Jack und murmelte, mehr zu sich selbst als zu Angie: "Tut sich da draußen eigentlich mal was?", öffnete die Türe und verschwand nach draußen. Angelina sah ihm gedankenverloren nach. Trotz seiner vielen Macken und Verrücktheiten war er doch ein liebenswürdiger Chaot mit dem Charisma einer ganzen spanischen Tanzschule. Angie musste unwillkürlich grinsen und folgte dem Captain nach draußen.
 

Die Crew stand immer noch untätig herum und diskutierte lautstark. Erst als Jack sich vor ihnen aufbaute, kehrte Ruhe ein. "Missachtet ihr etwa meine Befehle? Ihr wisst, dass ihr damit gegen den Code verstoßt, oder? Das ist Meuterei.", sagte er ernst, aber in gemäßigtem Ton. Anna-Maria trat vor: "Wir reden gerade über deine, entschuldige Captain, vollkommen verrückte Idee auf der Isla Orchila an Land zu gehen."

"Ihr enttäuscht mich. Eurem eigenen Captain bringt ihr kein Vertrauen entgegen... sehr traurig."

"So war das nicht gemeint, Jack! Aber du musst doch zugeben, dass jeder, der nicht vollends übergeschnappt und wahnsinnig ist, diese Insel meidet wie die Katze das Wasser!", schaltete Gibbs sich ein. Jack warf einen besorgten Blick zu den schwarzen Wolkenbergen, hinter ihnen immer näher kamen. "Ich werde die Black Pearl nicht aufs Spiel setzen, nur weil meine Crew aus lauter abergläubischen, ängstlichen Landratten besteht und die anscheinend auch noch die Entscheidungen ihres Captains in Frage stellt.", Jack schien damit die Diskussion zu beenden. Keiner sagte mehr ein Wort und alle machten sich an ihre Arbeit. "Holt das Fock ein und spannt das Hauptsegel!", rief Jack und kehrte dann endlich zum Steuer zurück.

Angelina half Anna-Maria und Cotton beim hieven des Focks (einem kleineren Segel am Vorschiff). Dabei hörte sie die dunkelhäutige Frau die ganze Zeit murmeln: "Das ist nicht gut. Verdammt, das ist garnicht gut..."
 

Angelina hatte viele Geschichten über die Isla Orchila gehört und eine war furchterregender als die andere.

Viele Seefahrer und mutige Männer waren in dem tückischen Gewässer um die Isla herum ums Leben gekommen. Dort gab es reißende Strudel und scharfkantige Felsen, die plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen schienen; Riffe und Sandbänke ließen selbst Schiffe mit wenig Tiefgang auflaufen und selbst wenn man es bis zum Strand geschafft hatte, blieb da noch der Fluch, der auf der Isla Orchila lastete. Es hieß, die Toten hatten sie mit einem Bann belegt, wonach jeder, der einen Fuß auf diese Insel setzt, einen grausamen Tod sterben soll. Und bis jetzt war noch keiner, der es je gewagt hatte, zurückgekehrt.

Allein das verschaffte Angie ein flaues Gefühl im Magen, als die Black Pearl Kurs auf die Orchideeninsel, wie sie auch genannt wurde, nahm. Was sie aber noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass Jack anscheinend nicht die geringsten Bedenken hatte, die Nacht auf der Isla Orchila zu verbringen.

Sie warf einen Blick zu den Wolken, die sich hinter ihnen auftürmten und langsam, aber stetig näher kamen. Ein grellweißer Blitz zuckte durch die tiefgraue Wolkenwand, Sekunden später grollte ein Donner heran. Der Wind wechselte von backbord zu achtern und Jack ließ die Segel am Heck setzen, damit sie die starke Brise ausnutzen konnten.
 

Allmählich rückte die Isla Orchila näher, Angelina - die vorne am Bug stand - konnte schon die Palmen am Strand erkennen. Jedoch hatte der Captain nicht vor, direkt darauf zu zusteuern, sondern einen Bogen um die Insel zu fahren und das Schiff auf die windgeschützte Seite zu bringen.

"Lina!" Angie drehte sich um und sah Jack an, der gerufen hatte. "Du musst auf den Baum klettern und nach Untiefen Ausschau halten!", raunte er. Sie nickte nur, ging nach vorne und erklomm die Reling. Der Schiffsbaum war der lange Pfeiler, der an der Spitze des Bugs weit nach vorne ragte und an dem die Taue des Seitensegels des Vorschiffs befestigt waren.

Angelina hangelte sich an den Seilen entlang um auf dem schmalen Stamm nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Sandalen rutschten auf dem Holz, das von der salzigen Gischt ganz nass war. Sie festigte ihren Stand an der Spitze des Schiffsbaumes und hielt sich nur mit einer Hand an einem Tau fest, um möglichst viel sehen zu können.

Das Wasser unter der Black Pearl war glasklar und von einer hellen türkis-grünen Farbe und der weiße Sand darunter schimmerte wie Seide. Kleine, silbrige Fischschwärme huschten vorbei, aber weit und breit waren keine Sandbänke oder dunkle Riffe zu sehen. "Lina?", rief Jack, um sich zu erkundigen. "Nichts!", antwortete sie, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden. Um sie herum rannte die Crew hin und her, setzte und hievte Segel, zog an den Tauen und zurrte die Seile fest.

Angie behielt den Horizont im Auge, wo sie etwas verdächtiges entdeckt hatte - nämlich eine schwarze, gezackte Silhouette. Sie beobachtete dieses Etwas, wie es langsam näher kam. Plötzlich erkannte sie, was es war. Sie wirbelte herum, um Jack zu warnen, hatte aber in ihrem Übereifer nicht mehr an das glatte Holz gedacht, das sich unter ihren Füßen befand und rutschte aus. Instinktiv krallte sich ihre rechte Hand in das grobe Tau, unter ihr war nur noch Wasser, ihre Beine fanden keinen Halt mehr und sie segelte kreischend durch die Luft auf die Schiffswand zu. Sie kniff die Augen zu, bereit für den Aufprall, die warme karibische Luft rauschte an ihren Ohren vorbei und...

Nichts. Sie hing immer noch in der Luft, soviel war sicher, denn das Tau - an dem sie hing - schwang hin und her. Angie riss die Augen wieder auf und erstarrte. Zwei Millimeter vor ihrer Nasenspitze befand sich der Schiffsrumpf. Sie atmete den Geruch des Holzes ein und griff mit der anderen Hand nach dem Seil, da ihre Rechte bereits drohte abzurutschen. Das grobe Tau schnitt ihr ins Fleisch, doch sie biss die Zähne zusammen, stützte ihre Füße an der Schiffswand ab und begann, sich langsam nach oben zu hangeln.

Plötzlich griff eine kräftige Hand ihren Oberarm und zog sie mit einem gewaltigen Ruck hoch. Ehe sie wusste, was geschah, landete sie wieder an Deck. Neben ihr lag ein schwer atmender Jack, der sie mit zusammengekniffenen Augen ansah. "Danke...", murmelte Angie erstaunt, die selbst noch nach Luft rang und Jack antwortete ernst: "Das nächste Mal bist du gefälligst etwas vorsichtiger, Lina! Ich kann schließlich nicht immer auf dich aufpassen." Er erhob sich und sah auf sie herab, dann wandte er sich ab und kehrte zum Steuer zurück. Angie rappelte sich auf und rannte ihm hinterher. Ihre Knie fühlten sich immer noch merkwürdig wackelig an, "Captain!" Jack drehte sich auf dem Absatz um. "Felsformation voraus!", rief Angelina in einem beinahe militärischen Ton und zeigte mit dem Finger auf die Silhouette die sie zuvor gesichtet hatte. Jack folgte ihrem Arm und nickte dann. "Hart Backbord! Setzt das Bramsegel, Cotton und Gibbs unter Deck an die Luken!", befahl er und die Crew gehorchte.

Angie kehrte indessen wieder zum Schiffsbaum zurück, diesmal noch genauer darauf achtend, nicht wieder herunterzufallen.
 

Sie behielt den scharfkantigen Felsen im Auge, der nun zur ihrer rechten lag. Doch kaum hatte die Pearl elegant an dem Hindernis vorbei gesteuert, tauchte schon das nächste Problem auf. Angie hatte eine Stelle im Wasser etwa 200 Meter vor dem Schiff entdeckt, die heller war als alles andere. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können, drehte dann ihren Kopf Richtung Deck und brüllte: "Sandbank etwa eine Achtelmeile voraus!"

"Beidrehen, legt die Riemen aus!", rief Jack laut und drehte am Steuer. Vorne spürte Angie, wie die Black Pearl sich langsam noch weiter nach backbord drehte. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie sich zu beiden Seiten des Schiffs die langen Ruder ausbreiteten. Die Sandbank kam näher, Angelina bemerkte, dass es sehr knapp werden würde und lehnte sich deshalb noch ein wenig weiter vor, um die Wasserlinie der Steuerbordseite im Auge zu haben.

Tatsächlich rauschte der Rumpf der Pearl nur wenige Meter an der Sandbank vorbei. Erleichtert richtete sich Angie wieder auf. "Lina, wie sieht's aus?"

"Freie Fahrt, Captain!"

"Gut, holt die Riemen wieder ein und hart Steuerbord!"

Die Mannschaft legte sich noch ein letztes Mal ins Zeug, denn schon war der schneeweiße Strand der Isla Orchila wieder in Sicht gekommen.
 

Das seichte, karibische Wasser spritzte unter ihren Füßen auf, als die Crew der Black Pearl die Beiboote verließ, mit denen sie vom Schiff aus bis zum Strand gerudert waren.

Gemeinsam zogen sie die Boote an Land, sodass sie vor der Flut sicher waren und packten die Sachen, die sie vom Schiff mitgenommen hatten, zusammen. Während Jack munter drauflos stapfte, zum Palmenhain hin, sah die Crew voller Unbehagen zurück zur Black Pearl. Angelina seufzte bei dem Gedanken, was sie in dieser Nacht alles erwarten würde, denn die Wolken verdunkelten inzwischen den gesamten Horizont und verdrängte das letzte Tageslicht. Es blitzte nun fast in regelmäßigen Abständen und tiefe Donner rollten heran.

"Komm.", Anna-Maria legte ihr die Hand auf die Schulter, bevor sie sich auf den Weg ins Innere der Insel machte. Angie folgte ihr, sowie auch der Rest der Crew - zwar etwas widerwillig, aber pflichtergeben - in das dichte Gebüsch.



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