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A complicated Lady

Das ungewöhnliche Leben der Anthea Cook (Teil 2: Antheas erste Jahre)
von

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Kapitel 4

"Nein, nein, und nochmals nein!"
 

Bettys helle Stimme überschlug sich fast vor Empörung, während sie in Antheas Ankleidezimmer auf und abging. Wenige Meter entfernt von ihr, hinter dem hohen, ledern gepolsterten Stuhl, in welchem das kleine Mädchen mit baumelnden Beinen saß, stand Liz und beugte sich geduldig über das Kunstwerk von Frisur, das sie auf Antheas Kopf entstehen ließ.
 

"Ich sagte dir doch schon, dass du nichts dagegen tun kannst." erwiderte sie mit der ihr eigenen, stoischen Gelassenheit, welche ihre Freundin nicht selten an den Rand des Wahnsinns trieb. "Es ist nun einmal der ausdrückliche Wunsch seiner Lordschaft des Herzogs, dass Lady Anthea noch in der folgenden Woche an den königlichen Hof gebracht wird."
 

Betty hielt einen Moment lang im Gehen inne. Kopfschüttelnd stemmte sie die Arme in ihre Wespentaille und ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen.

"Der Herzog, pah! Als ob John Dudley ein Recht hätte, sich in Antheas Erziehung einzumischen, so wenig, wie er sich sonst um sie schert! Soweit ich mich erinnern kann hat er noch vor einigen Wochen klar und deutlich betont, dass allein mir und den Zofen die Aufgabe zustünde, das Kind zu umsorgen! Mir allein hat er damals das Sorgerecht für die kleine Lady Cook übertragen, und demnach habe ausschließlich ich als ihre Erzieherin zu entscheiden, was für das Mädchen gut ist und was nicht! Und ich sage, es ist nicht in Ordung, ein Kind ihres Alters in eine verlogene, böswillige und heuchlerische Gesellschaft von affektierten Adligen zu geben! Sie werden der Kleinen nicht mal die Möglichkeit lassen, sich zu einem natürlichen, aufgeschlossenen Menschen zu entwickeln! Es ist einfach zu früh, Liz, verstehst du, viel zu früh... Anthea ist noch keine Fünf, sie ist ebenso leicht zu verwöhnen wie zu verderben und zu verziehen, und man wird bei Hofe keine Gelegenheit ungeschehen lassen, sie zu verderben!"
 

Während Betty sich immer mehr erhitzte und Liz vergeblich versuchte, den wütenden Redeschwall einzudämmen, hatten sich Antheas Gedanken wie kleine Vögel auf und davongemacht und waren in jene bunte, herrliche Traumwelt entschlüpft, die das Einzige war, welches sie mit ihrem kindlichen Verstand begriff.
 

Sie träumte von den Pferden, die Robert ihr geschildert hatte, und von den zahllosen Süßigkeiten und Leckereien, die es bei Hofe in Hülle und Fülle geben sollte...Sie träumte auch von den bunten, blumenreichen Gärten, in denen es sich mit Sicherheit noch um Einiges besser herumtoben ließ als auf den ihr bekannten Rasenflächen rund um Dudleys Palais.
 

Anthea verstand nicht, was die Worte "heuchlerisch" und "affektiert" bedeuteten, welche ihre Erzieherin so zornig gebrauchte, noch weniger verstand sie, warum Betty sich so aufregte. Im Gegensatz zu der entsetzten Gouvernante hatte das kleine Mädchen sich diebisch gefreut, als man ihr eröffnete, dass sie in absehbarer Zeit dem König vorgestellt werden sollte. Obgleich ihr naives Gemüt mit dem Begriff König noch nicht allzu viel anzufangen vermochte, so hatten ihre scharfen Ohren doch bemerkt, dass alle Erwachsenen mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung von diesem seltsamen Menschen sprachen, und seit Robert ihr kürzlich erklärt hatte, dass der König die oberste Macht im Reich besitze, sah sie einen riesigen, furchteinflößenden Mann vor sich, der einen langen, dunklen Mantel trug und einen schwarzen Bart besaß, ähnlich wie die bösen Zauberer in den Geschichten, die John Dudleys jüngster Sohn ihr ständig erzählte.
 

Natürlich hatte Anthea keine Ahnung, dass man in eine Königsfamilie hinein geboren werden musste, und dass man, gleich in welchem Alter, das Königreich durch Erbschaft erlangen konnte. So konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass der englische König kein großer, schwarzbärtiger Riese war, sondern ein dürrer, blasser und schwacher Knabe von vierzehn Jahren, dessen Krone ihm schwer auf dem rotblonden Haupt lastete und der von seinen Ministern für deren persönliche Zwecke und Ziele missbraucht wurde. Sie wusste auch nicht, dass die hochmütige und oberflächliche Hofgesellschaft mit verächtlichem Blick auf sie herabsehen würde, sobald man erfuhr, dass sie Thomas Seymours uneheliche Tochter war.
 

Nein, in jenem Augenblick, da Anthea ihr schmales, fein geschnittenes Gesichtchen mit den großen, hungernden Augen in dem venezianischen Spiegel betrachtete, dachte sie nur an jene romantische Phantasiewelt, welche sie sich in den letzten Tagen erschaffen hatte, und spürte, wie eine Aufregung sondergleichen sie überkam, verbunden mit dem tiefen Wunsch, die Atmosphäre kennen zu lernen, in der Robert Dudley und seine Geschwister lebten.

Dass der Befehl, sie so rasch als möglich nach Whitehall an den Hof zu schicken, von Warwick - oder besser dem Herzog von Northumberland, zu dem er kürzlich ernannt worden war - gekommen war, nahm das kleine Mädchen nur am Rande wahr.
 

Er war ihr fremd, dieser hohe, alles einnehmende Herr, dessen Befehl sich in diesem Hause niemand, nicht einmal ihre geliebte Betty, zu widersetzen wagte. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hatte er einen Platz als schemenhaftes, schattengleiches Phantom eingenommen, das ihr in seltenen, grauenerregenden Momenten begegnete, um ihr Angst einzujagen. Und doch gab es da ein Wort, welches Betty und Liz und all die anderen, die Anthea in den letzten Jahren liebgewonnen hatte, immer wieder gebrauchten, und dieses Wort war zu ihrem größten Leidwesen untrennbar mit jenem Dämon tief auf dem Grund ihrer Seele verbunden. "Vormund", so hieß dieses Wort. Er war ihr "Vormund".
 

Anthea hasste dieses Wort. Sie begriff nicht, was es bedeutete, noch hatte sie eine Ahnung, dass ein Vormund durchaus kein unangenehmer Mensch sein musste. Alles was sie verstand war lediglich, dass sämtliche unschöne Regeln, die es einzuhalten galt, sämtliche Schranken, die ihr gesetzt und alle Verbote, die ihr im Hause Dudley bisher gemacht worden waren, stets von ihm gekommen waren. Jedes Mal, wenn ihre Erzieherin sie ermahnte, nicht zu laut in den Fluren und Korridoren zu spielen und Anthea sie in ihrer unschuldig-verklärten Art nach dem Grund fragte, lautete die Antwort: "Weil Euer Vormund es nicht billigt." Und jedes Mal, wenn Anthea einen ganzen, langweiligen Tag lang still und zurückgezogen in ihren engen, dunklen Gemächern verbringen musste, meinte Betty: "Es tut mir leid, aber Euer Vormund wünscht es so."
 

So kam es, dass das kleine Mädchen sich in jenem unglaublichen Augenblick, da sie ihr kindliches Antlitz im Spiegel sah, nicht vorstellen konnte, dass die überaus erfreuliche Tatsache, dass man sie nun an den Hof bringen würde, einer Laune des Herzogs zu verdanken war. Wie hätte es auch möglich sein sollen, dass das "Phantom" gewogen war, ihr eine Freude zu bereiten?
 

Was Northumberland selbst betraf, so bezweckte er mit seinem Befehl, das Kind Anthea seiner Majestät vorzustellen, keines Wegs, der Kleinen eine Freude zu bereiten. Er hatte sich bei diesem verfrühten Wunsch lediglich daran erinnert, dass nur die höchsten und einflussreichsten Familien es wagten, ihre Kinder vor dem siebten Lebensjahr an den Hof zu bringen, und, sich kurzzeitig jener Vaterrolle, die er innehatte, entsinnend, war ihm der Gedanke gekommen, dass er mit der kleinen Lady Anthea seine Macht bei den englischen Herren und Damen des Hofes unterstreichen konnte. Sie würde als sein jüngstes Töchterchen - wenn auch nur ein aufgenommenes - bei Hofe jedermanns Wohlgefallen erregen, war sie doch ein solch reizendes, kleines Geschöpf, das mit seinem lieblichen, puppenhaften Gesichtchen und dem üppigen, glänzenden Haar genau dem Schönheitsideal jener Zeit entsprach.
 

Und so wurden in Windeseile zahlreiche Taschen, riesige Körbe und lederne Koffer gepackt, die das Gepäck der kleinen Lady Anthea und ihrer gesamten Dienerschaft enthielten, und Mrs. Peeks, die nach wie vor die Schneiderin des Kindes war, mühte sich nach Kräften, so bald als möglich mit einem passenden Reisekleid für Anthea fertig zu werden.
 

Alles befand sich in heller Aufregung, als das kleine Mädchen an einem eiskalten, verschneiten Januartag des Jahres 1553 vor einem hohen, in Gold und mit Edelsteinen eingefassten Spiegel stand, und von Liz, Marie-Claude und einer weiteren Zofe names Hariette in eine marineblaue Samtrobe mit - so schien es zumindest Anthea - tausenden von gestärkten Unterröcken gehüllt wurde. Das Kleid war bis hinauf zu ihrem schmalen Hals geschlossen, war mit silberweißen Borten besetzt und besaß einige silberne Zierknöpfe, die sich in einer geraden, schmalen Linie vom Oberteil bis hinunter zu dem weiten, raschelnden Rock zogen. Als man Anthea zu allem Überfluss auch noch das blaue Barett mit der weißen, wallenden Federboah leicht schräg auf ihr hochgestecktes Haar setzte, ertappte sie sich dabei, wie sie die Tatsache bezweifelte, dass sie erst vier Jahre zählte. Befremdet, und mit großen, ängstlichen Augen starrte sie ihre eigene Gestalt im Spiegel an, welche wie ein kleiner Soldat aufrecht und verkrampft und ohne eine Bewegung zu wagen dastand.
 

Betty, welche Lady Cooks kleine, gedrückte Miene zu bemerken schien, ging hinter ihrem Schützling in die Hocke und berührte vorsichtig Antheas schmale, gebrechliche Schultern.
 

"Ihr braucht keine Angst zu haben, meine Kleine", flüsterte sie und warf Anthea im Spiegel einen aufmunternden Blick zu, "das Kleid, das Mrs. Peeks für Euch genäht hat, ist nur die angemessene Tracht, mit der kleine Mädchen Eures Standes reisen. Bei Hofe, das verspreche ich Euch, könnt Ihr wieder Eure luftigen Seidenroben anziehen."
 

Anthea hielt den Atem an. Sie drehte sich zu ihrer Erzieherin um und zupfte diese verschwörerisch am Ärmel.

"Du Betty", gab sie, ebenso leise, zurück, "du darfst mich nicht schelten, weil ich es sage, aber...ich fühle mich, als müsste ich zerplatzen!"

Die junge Frau lachte hell auf, und Liz und Hariette, die in einiger Entfernung standen und aufgeregt miteinander sprachen, drehten sich neugierig zu ihnen um.

"Ich werde Euch nicht ausschelten, mein Kind. Ich kann verstehen, wie Ihr Euch fühlt. Mir wäre es in Eurem Alte sicher nicht anders ergangen, hätte man mich in ein solches Kleid gesteckt!"

"Hat man das denn bei dir nie getan?"

Betty lachte erneut.

"Nein, für mich kam so etwas gar nicht in Frage...aber nun kommt, es wird Zeit für Euch, nach unten zu gehen. Ich bin sicher, Eure Kutsche wartet bereits auf Euch."
 

"Meine Kutsche?" Anthea konnte nicht aufhören, ihrer Erzieherin aufgeregte Fragen zu stellen, während sie durch den langen, dunklen Korridor in die Vorhalle von Dudleys Palais gingen und sich dem Innenhof näherten, der zu dem prächtigen Gebäude gehörte.

"Ja. Ihr werdet mit der Kutsche nach London fahren, zum St. James-Palace. Dort wartet seine Majestät auf Eure Ankunft."

Das Kind klammerte sich noch fester an ihre Hand und sah gespannt zu ihr hinauf.

"Wirst du mit mir fahren - in der Kutsche?"

Betty lächelte sanft zu ihr hinab.

"Aber ja doch, kleine Anthea. Ich werde immer mit Euch kommen, wohin auch immer Ihr geht. Und Liz und die anderen, die auf Euch aufpassen sollen, kommen auch mit."
 

Anthea war verstummt, weil sie nun den schneebedeckten Innenhof betreten hatten, wo tatsächlich eine äußerst prächtige, dunkelblaue Reisekutsche, bespannt mit seiner Lordschaft besten Vollblutpferden, für sie bereit stand, aber Betty spürte trotzdem den warmen Atem des kleinen Mädchens auf ihrer Hand, den dieses erleichtert ausstieß.

Dabei musste sie wie so oft bekümmert daran denken, dass es eine schreckliche Untat war, die kleine Anthea schon so früh ihren ersten Staatsbesuch machen zu lassen.
 

Das edle Gefährt war mit feinem, dunkelblauem Brokat ausgeschlagen und dralle Samtkissen lagen in den Ecken der Sitzpolster aus edlem, teurem Leder, welche es den Insassen der Kutsche ermöglichen sollten, weniger durchgeschüttelt in London anzukommen als dies in einer gewöhnlichen Postkutsche der Fall gewesen wäre.
 

Außer diesem einen Wagen hatte der Herzog noch einen zweiten zur Verfügung gestellt, in welchem Marie-Claude, Pauline und die rundliche Hariette saßen, und in dem man außerdem das restliche Gepäck untergebracht hatte, welches man nicht mehr auf den breiten Kutschendächern hatte festschnallen können.

Es dauerte noch eine Weile, bis die Kutscher vorne auf den Böcken ihre Peitschen knallten und die beiden Gefährte ruckartig den gepflasterten Hof verlassen konnten. Anthea, welche gemeinsam mit Betty, Liz und der jungen, pausbäckigen Maud in der ersten Kutsche saß, lauschte fasziniert auf das knarzende Geräusch der großen Räder, welche über die Pflastersteine rollten. An ihre ersten Kutschfahrten, die sie im Alter von einem Jahr und später, mit zwei Jahren, unternommen hatte, konnte sie sich inzwischen nicht mehr erinnern, da ihr Verstand erst im Laufe der Zeit richtig einzusetzen begonnen hatte.

Später sollte sie sich auch an diese für sie so aufregende und spannende Fahrt entlang der Themse nicht mehr erinnern.
 

Die ganze Zeit, während sie fuhren, drückte sich das Mädchen an der kalten Scheibe des Kutschenfensters die Nase platt, lauschte auf das unentwegte Donnern der Pferdehufe, welche auf der verschneiten Allee dahinjagten, und konnte ihre baumelnden Beine, die noch lange nicht bis auf den Boden reichten, nicht still halten.

"Na, Kleines", wandte Betty irgendwann das Wort an sie, "ist der Fluss denn wirklich so furchtbar spannend, dass du ihn fortwährend anstarren musst?"

Wie aus einem Traum erwacht schreckte die Vierjährige empor und sah Betty einige Augenblicke lang mit glühenden Augen an.

"Oh, es ist alles so groß", wisperte sie, eine Mischung aus Furcht und grenzenloser Freude in der kindlichen Stimme.
 

Betty betrachtete das Kind eine Weile, welches seine Beschäftigung wieder aufnahm, die Themse an sich vorüberziehen zu lassen.

Auch Liz und Maud hatte der eigenartige Ausdruck in Antheas Gesicht stutzig werden lassen; stirnrunzelnd blickten sie einander an.

Wie seltsam sie heute ist, überlegte die Erzieherin, gar nicht so wie sonst...
 

Noch am Abend zuvor hatte Betty mit fester Gewissheit erwartet, dass die Kleine während der gesamten Fahrt nach St. James keine Ruhe geben würde, mit den Beinen gegen die Kutschenpolster trommeln und immerfort fragen würde, wann sie denn endlich da seien. Nun saß neben ihr ein zutiefst in seinen Träumen versunkenes, sinnendes kleines Persönchen, welches weder sprach noch quängelte und in einer Haltung in den samtenen Kissen lehnte, als sei es an einem Tag um mindestens drei Jahre älter geworden.

Was werden sie bei Hofe aus ihr machen, fragte sich Betty bedrückt, ein steifes, fügsames und verschrecktes Püppchen?! Nein, das durfte sie nicht zulassen, wenn jemand dafür sorgen konnte, dass Seymours kleine Tochter sich so frei und unbeschwert entwickelte wie bisher, dann war sie es...
 

"Breitet Eure Röcke aus und macht Eure Reverenz vor dem König, mein Kind."

Es war die sanfte, aufheiternde Stimme Bettys, welche neben Antheas heißer Wange erklang.
 

Der riesige Raum, in welchem sie stand, hatte sie eingeschüchtert und zugleich berauscht, die vielen Bücher, die in den eichenen Regalen an den steinernen Wänden eingeräumt waren, erweckten ihre Neugier, weil sie so etwas noch nie gesehen hatte, und das goldene Licht der Kerzen, die überall im Audienzzimmer des Königs von England brannten, warf einen lockenden Schimmer auf ihre rotbraunen, inzwischen unbedeckten Haare, welcher erahnen ließ, welch verführerische Wirkung eben dieses Haar in späteren Jahren auf die Männer des Hofes haben würde.
 

Im Audienzraum des Monarchen waren mehrere Personen anwesend; Anthea sah der Reihe nach zu den strengen und unendlich ernsten Gesichtern der Männer empor, die um den großen, dunklen Tisch herumstanden und sie mit erstaunten Mienen musterten. Sie kannte nur einen von ihnen, das "Phantom", ihren sogenannten Vormund. Er sah sie mit einer seltsamen Art von Stolz an, von dem Anthea meinte, dass er nicht berechtigt sei. Was hatte sie plötzlich mit diesem Menschen zu schaffen, der zwar ihr Vormund - was auch immer das sein sollte, die Bedeutung des Wortes war ihr nach wie vor unklar - war, jedoch sonst noch nie näheres Interesse an ihr gezeigt hatte?
 

Dann, endlich, nach einer unendlichen Minute der Spannung, sah sie zu demjenigen auf, der in dem breiten, etwas erhöhten Stuhl hinter dem Schreibtisch saß - und von einer Sekunde zur anderen wich ihre aufgeregte Furcht grenzenloser Enttäuschung. Der König, so konnte sie sich an Roberts Worte erinnern, trug eine schwere, edelsteinbesetzte Krone, an der sie ihn leicht erkennen konnte. Der blasse, kränklich und gequält dreinblickende Jüngling, den sie jetzt vor sich sah, trug zwar diese Krone - aber nach Ansicht des kleinen Mädchens war diese das einzig Ehrfurchteinflößende an seiner Erscheinung. Der lange, schwere, purpurfarbene Mantel und das golddurchwirkte Wams schienen seine dürre Gestalt beinahe zu erdrücken, steif und aufrecht wie eine Puppe saß er in seinem Stuhl und es schien ihr, als sei sein Lächeln müde und erschöpft, als sie langsam in einen kleinen Knicks vor ihm versank, wobei sie, wie Betty es sie zuvor gelehrt hatte, die Augen nicht von ihm abwandte.
 

"Euer Majestät", hörte sie nun ihre Erzieherin hinter sich sagen, welche ebenfalls in den zeremoniellen Hofknicks versunken war, "erlaubt mir die Ehre, Euch Lady Anthea Cook vorzustellen, das Mündel seiner Gnaden, des Herzogs von Northumberland."

"Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, Mrs -"

"Ich bin Miss Worchester, ihre Erzieherin." warf Betty rasch ein.

"Nun, Miss Worchester", langsam erhob sich der vierzehnjährige Eduard VI. aus seinem Stuhl, raffte vorsichtig die Wogen seines purpurnen Umhangs zusammen und kam in mäßigen Schritten auf sie zu.

Seine dürren Beine steckten in hellblauen Seidenstrümpfen und die kurze, dunkelrote Pluderhose darüber verbarg trotz ihrer Zwiebelform nicht die Gebrechlichkeit seines Wuchses.
 

Anthea fühlte all ihre kindlichen Illusionen um sich herum zerbrechen, als sie ihn ansah, und dieses Gefühl löste in ihrem kleinen Körper eine seltsame Leere aus, die sie sich nicht erklären konnte. Und plötzlich, da sie mit all diesen kalten, hohen Männern, dem schwachen König, und nur mit Bettys Schutz in ihrer unmittelbaren Nähe in diesem dunklen, einschüchternden Raum stand, plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher als die Gegenwart des jungen Robert Dudley, den sie bereits zu ihrem ganz persönlichen Helden auserkoren hatte.

Er sollte auf dem Thron sitzen, dachte sie in ihrer spontanen, naiven Art, nicht dieser eigenartige, blasse Mann mit der Stimme, die bei jedem Wort ihre Tonlage verändert...
 

Zu Antheas größtem Erstaunen begann der junge König nun, ihr die Herren vorzustellen, welche inzwischen in einem Pulk um sie herumstanden. Es waren Namen, die Anthea im selben Augenblick, da sie sie vernommen hatte, wieder vergaß. Nur einen einzigen konnte sie sich seltsamerweise merken, sie wusste selbst nicht warum, er war ihren Ohren irgendwie angenehm: Sir William Cecil.
 

Sir William war eine eindruckschindende Erscheinung. Ganz in dunklen Samt mit Goldbrokat gekleidet, vermittelte er Anthea den Eindruck eines das Schwert schwingenden Prinzen. Sein Gesicht mit dem dunklen Bart und den ordentlich gescheitelten Haaren hingegen wirkte eher wie das eines strengen Beamten und ähnelte in erschreckender Weise den übrigen Gesichtern um sie herum.
 

Dann winkte Eduard den Herzog zu sich.

"Tretet zu uns, Mylord. Ihr habt ein bezauberndes Mündel."

Northumberland lächelte wie unter einer Maske.

"So? Sie - äh - erweckt durchaus Euer Wohlgefallen, Majestät?"

"Oh, durchaus, natürlich."
 

Schließlich - Antheas Lider waren bereits so schwer, dass sie drohten, jeden Augenblick zuzufallen - entließ der König sie aus der ersten Audienz und beauftragte eine Dienerin, sie zu den Gemächern zu führen, die man ihnen im St. James-Palace zugewiesen hatte.
 

Während Betty das müde und von der Reise abgekämpfte kleine Mädchen durch die marmornen Korridore führte, fragte sie lächelnd:

"Nun, Kind, wie gefällt Euch der König?"

"Ach ich weiß nicht", Anthea ließ ein Gähnen vernehmen, das Betty unter normalen Umständen zu verzweifelten Ausrufen veranlasst hätte, "ich glaube, der König ist gar kein richtiger König."

"Wie meint Ihr das?"

"Nun, es ist - doch vollkommen unmöglich, dass ein so dünner und kleiner König das Oberhaupt eines Reiches sein soll, wie Milor' Robert es genannt hat. Ein König muss groß und stark sein und alle seine Untertanen müssen Angst vor ihm haben -" sie hielt einen Augenblick inne, überlegte, dann fuhr sie fort, "zumindest glaube ich, dass es so ist. Dieser König könnte sich von all den Männern, die mit ihm im Raum waren, überrumpeln lassen."

Betty musste trotz ihrer Erschöpfung herzhaft lachen.

"Ach, Ihr seid so erfrischend, kleine Anthea...so belebend in Eurer Unerfahrenheit, die doch die Wahrheit spricht..."

"Sage ich denn etwa etwas Falsches?" erkundigte sich Anthea ängstlich.

"Oh, nein, nein...gewiss nicht, meine Kleine. Ich bin mir gewiss, dass Ihr das Richtige gesagt habt..."

"Gut", Anthea atmete auf, "dann ist es fein. Dann wollen wir schlafen gehen, Betty."



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  caligo
2004-04-26T18:08:14+00:00 26.04.2004 20:08
Hab mir grad die story durchgelesen, trotz all deiner Warnungen. Hey und sie ist wirklich gut! Ich verstehe nicht, warum du bisher nur einen Kommentar hast, es erinnert mich tatsächlich an all diese historischen Romane und ist gut recherchiert, außerdem ist deine Ausdrucksweise klasse, wie bei einer richtigen Autorin. Tja, du hast dir ja noch ne ganze Menge vorgenommen, wenn du die gesamte Kindheit von Anthea beschreiben willst. Schön, dann kann ich mir in zwei jahren immer noch die neuen Teile durchlesen. *gg*
bye, caligo


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