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A complicated Lady

Das ungewöhnliche Leben der Anthea Cook (Teil 2: Antheas erste Jahre)
von

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Kapitel 2

Der Winter des Jahres 1551 wurde streng und kalt. Sämtliche Flüsse Englands waren zugefroren, die ohnehin schwache Sonne verbarg sich hinter einem dicken, weißen Schleier von Wolken und es schneite so heftig, dass man selbst in den Nächten glauben konnte, es sei Tag, so sehr leuchtete die Landschaft.
 

In so einer Nacht, vom 15. auf den 16. Januar, erlag die alte Gräfin Warwick den Folgen ihrer seit langen Monaten währenden Krankheit.
 

Nach dem Tod seiner Frau sah Warwick sich plötzlich genötigt, in sein zweites, größeres Palais überzusiedeln, das noch näher in der Stadt und somit noch näher bei dem St. James-Palace lag, wo der Hof sich die meiste Zeit aufhielt.

Für die kleine Anthea bedeutete diese Umstellung nicht eben viel, einmal davon abgesehen, dass sie noch größere Räume erhielt und von nun an nicht mehr in ihrer kleinen Holzkoje, sondern in einem normalen Bett schlafen konnte. Ansonsten wurde das Kind weiterhin von ihren Zofen und Ammen betreut, während sich der Vormund die meiste Zeit bei Hofe aufhielt.
 

Betty, welche den Grafen zwar unauffällig, aber dennoch genauer als alle anderen aus der Dienerschaft beobachtete, begann, sich über die Tatsache zu wundern, dass John Dudley sich in den ganzen zwei Jahren, welche Seymours uneheliche Tochter nun in seinem Haushalt verbrachte, kein einziges Mal näher mit dem Kind beschäftigt hatte; im Gegenteil, die kleine Lady Cook schien ihn nicht im Mindesten zu interessieren, es genügte ihm, dass Anthea ihre Erzieherinnen hatte, und er schien es nicht für nötig zu halten, sein Mündel auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

Es muss am Vater liegen, dachte Betty beunruhigt, Warwick und Thomas Seymour waren erbitterte Feinde, er hat die Kleine nur aufgenommen, weil er Lady Tabithas letzten Willen erfüllen wollte...
 

Und bekümmert ging es ihr durch den Kopf, dass Anthea in wenigen Jahren einen

Hauslehrer benötigen würde, und die Aufgabe, einen solchen aufzutreiben, würde niemand Geringerem als dem Vormund zuteil werden, es sei denn...vielleicht wird seine Lordschaft frühzeitig krank, genau wie die selige Gräfin, überlegte Betty, und dann...dann wird sich einer seiner Söhne um Anthea kümmern müssen...Und in diesem Augenblick wünschte sich die Erzieherin, es möge der junge Robert sein, dem Warwick vor seinem Tod die Aufgabe übertrug, sich Antheas anzunehmen, der junge Lord Dudley liebte Seymours kleine Tochter abgöttisch, er würde ihr gewiss eine hervorragende Erziehung angedeien lassen...
 

Zuweilen jedoch veränderte sich kaum etwas in der Situation des Kindes, sie gewöhnte sich mehr und mehr an die gutherzige Miss Worchester, welche von ihr stets liebevoll "meine Betty" genannt wurde, und sehnte sich nach ihrem großen Spielgefährten Robert, welcher nach wie vor bei seiner Majestät weilte und seine Jugend auslebte, indem er sich heiter und ausgelassen bei der Jagd, bei Ausritten und auf Gesellschaften vergnügte.
 

Seine junge Frau, die siebzehnjährige Amy, führte indes ein recht beschauliches Leben auf dem Lande, wo sie die Güter des Gatten verwaltete und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass Robert sie endlich besuchte, ein Wunsch, den der junge Mann in den kommenden Jahren nur sehr selten erfüllen sollte.

Am Hof war es ein offenes Geheimnis, dass er die ihm angetraute Gemahlin nicht liebte und sie nur widerwillig duldete, weil sein Vater Anstand von ihm erwartete.
 

Ende Februar zog des Königs älteste Halbschwester, die fünfunddreißigjährige Prinzessin Maria, welche bereits seit vielen Jahren ein sehr strenges, zurückgezogenes Leben auf ihren Landsitzen im Norden führte, mit ihrem prunkvollen Gefolge in der Hauptstadt ein.
 

Ein langer, prächtiger Zug schloss sich der Tochter Heinrichs VIII. und seiner ersten Gemahlin, Katharina von Aragonien, an, und Londons Straßen waren gesäumt von Menschen, die die Königstochter teils gar nicht kannten, teils schon einmal gesehen hatten und nun neugierig waren, wie sie sich entwickelt hatte; schließlich war Maria, falls der kränkelnde Eduard früh und ohne Nachkommen starb, die unmittelbare Thronfolgerin.
 

Auch Betty hatte von Warwick die Erlaubnis erhalten, mit Anthea in die Innenstadt zu gehen, um Lady Prinzessin Marias aufwändigen Einzug zu verfolgen.
 

Die junge Miss Worchester, welche seit sie denken konnte in Dudleys Haushalt lebte und auch dort erzogen worden war, hatte König Heinrichs älteste Tochter noch nie gesehen, und als es ihr an jenem kalten, verregneten Februarmorgen gelungen war, sich mit dem quängelnden Kind auf dem Arm einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, war sie enttäuscht über die kleine, verhärmte Erscheinung, welche der langen Equipage auf einer weißen Schimmelstute voranritt, eskortiert von rot- und weiß-livrierten Dienern und Gefolgsleuten, und deren prachtvolles Gewand aus gold und blasslila Seide ihr unvorteilhaftes, altjüngferliches Aussehen kaum verbarg.
 

Auch hatte Maria für das jubelnde und ihr zuwinkende Volk, welches von geharnischten Soldaten an die Straßenränder gedrängt wurde, nur ein schwaches Lächeln übrig, die grauen Augen in dem faltigen Gesicht blickten kalt und unnahbar, und Betty überlegte unwillkürlich, was England unter der eventuellen Regierung dieser unscheinbaren, ältlich-strengen Frau zu erwarten hatte.
 

Sie betrachtete verwundert die schweren, edelsteinbesetzten Kreuze, die man der Königstochter vorraustrug und welche den alten, katholischen Brauch symbolisierten, der seit der Thronbesteigung Eduards VI. mehr oder minder abgeschafft worden war. Eduard Seymour war strenger Protestant, schoss es der Erzieherin durch den Kopf, er war schon fast fanatisch in seiner Überzeugung, schließlich hat er damals Norfolk und den Bischof Gardiner und noch so einige andere Katholiken im Tower inhaftieren lassen...England ist ein protestantisches Land geworden, dachte sie, mit einer protestantischen Regierung, was will Lady Maria mit ihren Kreuzen und Weihrauchbehältnissen erreichen...?!
 

Dann erinnerte sie sich an eine Äußerung Warwicks vor einigen Jahren, dass Heinrichs älteste Tochter trotz aller Mahnungen des Regentschaftsrates nicht gewillt sei, zu konvertieren und stur auf ihrem Glauben beharre. Mein Gott, wenn sie dereinst auf dem Thron sitzt, wird sie versuchen, England zu rekatholisieren, dachte Betty erschrocken, dann wird England wieder unter die Oberhoheit des Papstes gebracht, ein Land, in dem sich mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung entschieden hat, den lutherischen Glauben anzunehmen...
 

Während Betty ganz in ihre Gedanken über Englands zukünftige politische Entwicklung versank, strebte Marias Gefolge, begleitet von Trompeten und Fanfaren, auf Schloss Whitehall zu.
 

Anthea indes hatte vor lauter Neugierde völlig vergessen zu quängeln, und ihre großen, blauen Augen hefteten sich voll kindlichen Interesses an den vorbeiziehenden Zug der Königstochter. An jenem Tag hatte Betty den Kopf des Kindes mit einer weißen, perlenbestickten Haube bedeckt, unter der die kastanienfarbenen Löckchen hervorquollen, und als eine einfach gekleidete Frau zu Bettys Rechten das schelmisch lachende Mädchen auf deren Arm erblickte, stieß sie die Erzieherin unvermittelt an.
 

"Mit Verlaub, Ihr habt ein sehr hübsches, kleines Töchterlein, Miss", sagte sie bewundernd, "wie alt ist denn die Kleine, wenn ich fragen darf?"

Betty, aus ihrer Melancholie aufschreckend, drehte sich zu der Fragerin um und lächelte.

"Anthea zählt zwei Jahre. Aber sie ist leider nicht meine Tochter."

"So?" die Andere hob überrascht die Brauen. "Nun, dann...dann beglückwünsche ich trotzdem ihre Mutter zu solch einem niedlichen Kind."

Bettys Lächeln blieb unverändert.

"Das wird leider nicht mehr möglich sein, denn ihre Mutter ist tot."

"Wie schrecklich!" Eine weitere Frau, die eine Hakennase und ein altes, vernarbtes Gesicht besaß, hatte sich eingemischt. "Sie ist wohl im Kindbett gestorben?"

"Nein, sie...erlag der Schwindsucht."

"Das arme kleine Ding, so ganz ohne Mutter." die Blicke der beiden Frauen richteten sich mitleidig auf Anthea. "Seid Ihr ihre Erzieherin?"

"Ja."

"Nun, dann sorgt nur gut für die Kleine. Sie wird sich gewiss zu einem bildschönen Mädchen entwickeln und dereinst den Londoner Herren die Köpfe verdrehen..."

Betty musste lachen.

"Bis es soweit ist, müssen wohl noch einige Jahre vergehen, denke ich."
 

In diesem Augenblick drang aus der Menge eine vertraute Stimme an Bettys Ohr, sodass diese von dem Gespräch abgelenkt wurde und sich umdrehte.

"Betty, Betty...!" Es war Liz, welche sich mühsam einen Weg durch die vielen Rücken und Ellbogen bahnte. "Pauline schickt mich, du sollst das Kind zurückbringen, da die neuen Kleidchen angepasst werden müssen!"
 

Betty seufzte leise; natürlich, das hatte sie ganz vergessen...! Vor wenigen Tagen hatte sie der Schneiderin, Mrs. Peeks, aufgetragen, neue Sachen zu nähen, um Anthea für das kommende Frühjahr einzukleiden. Der Gedanke an die Prozedur des Anprobierens war jedoch alles andere als verlockend, weil Anthea selbst sich jedes Mal aufs Neue als das größte Hindernis erwies. Die Kleine war einfach nicht fähig, es still über sich ergehen zu lassen, wenn Betty und die Näherin ihr eines der Gewänder anzupassen versuchten.
 

Trotz dieser keineswegs angenehmen Aussichten verabschiedete sie sich schließlich von den beiden Frauen aus der Menge und folgte Liz auf ihrem Weg durch das Gewirr der Gassen, welches zum dudleyschen Stadthaus führte.
 

Unterwegs fragte sie Liz, welche Farben die Schneiderin für die Kleider des Kindes ausgesucht hatte.

Die Zofe überlegte kurz.

"Ich habe sie mir noch nicht alle angeschaut, aber meines Erachtens nach ist ein hübsches Gelbseidenes darunter, mit perlenbestickter Fallkrause, und passend dazu hat Mrs. Peeks eine mattgelbe Haube und seidene Strümpfe genäht", sie lächelte, "ich glaube, sie wird entzückend darin aussehen, gelb liefert gewiss einen anziehenden Kontrast zu den dunklen Löckchen..."
 

"Ich hoffe doch, dass Warwick für alles aufkommen wird, was die Kosten anbelangt..."

"Natürlich wird er das! Er ist schließlich Antheas Vormund, und als dieser hat er die Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Kind angemessen und vor allem standesgemäß gekleidet ist."

Betty nickte, obgleich sie in jenem Augenblick stark bezweifelte, ob der Graf diese seine Pflicht wirklich einzuhalten gedachte.

Tatsächlich jedoch sollte Liz Recht behalten, denn wenige Tage nachdem man die Prozedur des Anpassens und Anprobierens hinter sich gebracht hatte, tauchte Warwick überraschend in den Gemächern seines Mündels auf, um das Kind in den neuen Kleidern zu begutachten, und als er alles zu seiner Zufriedenheit vorfand, erhielt Mrs. Peeks einen hohen Lohn für ihre Dienste.
 


 

"Es ist doch wirklich unerhört!"

Warwicks dunkle Stimme bebte vor Empörung, während er in dem breiten Speisesalon auf- und abging. Sein noch unverheirateter Sohn Henry, welcher gegen Nachmittag überraschend nach Hause gekommen war, saß mit untergeschlagenen Beinen in einem Stuhl an dem langen Esstisch und betrachtete den Vater mit jenem scheuen, erwartungsvollen Blick, mit dem all seine anderen Geschwister ihn von je her anzusehen pflegten. Er fürchtete sich vor dem Zorn des Grafen und wagte nicht, seinen stürmischen Redefluss zu unterbrechen.
 

"Ich kann es nicht fassen, ich kann es wirklich nicht fassen, wie diese Person sich aufspielt!" tobte John Dudley so laut, dass Henry förmlich spüren konnte, wie der holzgetäfelte Raum vibrierte. "Wie ein sturer Bock hat sie auf ihrer Messe bestanden, so als würde Gott die Welt untergehen lassen, wenn sie sich zu Gunsten des Landes entscheidet, den protestantischen Glauben anzunehmen! Schon allein dieser Aufzug! Mit Kreuzen und Rosenkränzen ist sie vor ihren Bruder getreten, wirklich, es war zum Schreien peinlich..! Du warst ja nicht dabei, Henry, aber du hättest sehen müssen, wie den Höflingen und Damen die Augen aus den Köpfen getreten sind!
 

Und was hat seine Majestät zu diesem albernen Auftritt gesagt? Nichts! Nichts, nichts, und wieder nichts!

Im Gegenteil, er lässt seine Schwester weiterhin gewähren, lässt es weiterhin zu, dass sie dort oben im Norden in ihren weihrauchgeschwängerten Palästen residiert und Messen zelebriert! Ich sage dir, hätte ich die Macht gehabt, an diesem Nachmittag für den König zu entscheiden, ich hätte dem Frauenzimmer Beine gemacht, dieser albernen, altjüngferlichen Gluckhenne, die sich nicht mal durch eine geschickte Heirat ins Ausland abschieben lässt, weil sämtliche ausländische Edelmänner immer noch eher ihre jüngere Halbschwester zur Gemahlin wählen würden als sie..."
 

Ein grimmiger und gleichzeitig spöttischer Zug zeichnete sich in den alten und dennoch eigenartig anziehenden Zügen des Grafen ab.

"Hah, und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln! Prinzessin Maria und Prinzessin Elisabeth könnten verschiedener nicht sein, die Tochter der Boleyn ist klug, fast gefährlich klug, und auf eine seltsame Weise anziehend und apart, wenn auch nicht unbedingt hübsch zu nennen, die Tochter der Spanierin hingegen...bah, ein widerlicher alter Drachen!"
 

Henry richtete sich in seinem Stuhl auf, wie er es immer tat, wenn er zu seinem Vater sprechen wollte. Er wusste selbst nicht, warum genau er es machte, aber er hatte den Eindruck, es verleihe ihm die Kraft, über seinen Schatten zu springen und die Angst vor dem strengen Veteranen zu überwinden. Seit dem Tod seiner Mutter waren er und seine Geschwister restlos den Stimmungen des Grafen ausgeliefert, welche immer unberechenbarer wurden.
 

"Lady Prinzessin Maria ist gewiss nicht mehr die Allerjüngste, aber wenn man es genau bedenkt auch noch nicht so alt, als dass sich nicht noch ein Ehekandidat für sie finden ließe...ich möchte damit nur andeuten, dass es Euch, mit Unterstützung seiner Majestät und den übrigen Räten, bestimmt in den folgenden Jahren gelingen wird, sie angemessen zu verheiraten, am besten wohl mit einem Protestanten, damit wäre das leidige Thema der Religion auf einfache Weise gelöst."
 

Der Graf war in dem kleinen Erker an der rechten Seitenfront des Esszimmers stehen geblieben und lauschte nachdenklich auf das Geräusch einer Kutsche, die unten vor dem Fenster über das Kopfsteinpflaster rollte, während Henry atemlos auf seine weiteren Worte wartete.
 

Schließlich gab er ein undefinierbares Brummen von sich, drehte sich zu seinem Sohn um und sagte:

"Vielleicht hast du gar nicht so unrecht mit deiner Vermutung, allerdings...wir müssen damit rechnen, dass der Drachen sich gegen eine Ehe ebenso starrköpfig wehrt wie gegen unsere Aufforderung, sie möge ihren Glauben ändern."
 

"Wehren gegen eines Königs Wort?" Henry blickte ihn skeptisch an. " Ich bitte Euch, Vater, denkt an Heinrich VIII! Ich glaube kaum, dass irgend ein Engländer es gewagt hätte, seine Befehle unausgeführt zu lassen, und Eduard ist sein Sohn, wenn auch noch ein schwacher Knabe, aber bei aller kindlichen Gesinnung doch ein Tudor, der befehlen wird wie ein Tudor. Wenn er also seiner Schwester befiehlt, den Mann zu heiraten, den der Staatsrat für sie aussucht, dann wird sie nach seinem Willen handeln müssen, einfach, weil er der König ist."
 

Warwick schwieg. Es war ihm eingefallen, dass Eduard seit Monaten kränkelte und dass die Ärzte sich Sorgen über seine labile Gesundheit zu machen begannen. Wenn der König frühzeitig stirbt, dachte er, stünde Maria nach dem Testament ihres Vaters an nächster Stelle in der Thronfolge, ob verheiratet oder nicht, sie würde die neue Königin von England werden...mein Gott, welch eine Vorstellung, eine katholische Fanatikerin auf Englands Thron, es wäre mein Untergang...
 

In diesem Augenblick vernahmen Vater und Sohn leise, kurze Tritte auf dem steinernen Fußboden, und Warwick zuckte unwillkürlich zusammen, als er die kleine Anthea im Türrahmen stehen sah.
 

Wie immer hatte sie den Daumen in den Mund gesteckt und lugte in ihrer üblichen, neugierigen Unschuld in den Raum.

"Henry, was macht das Kind hier?" fragte der Graf ungehalten.

Henry, der aufgestanden war, trat langsam auf Anthea zu.

"Ich weiß es nicht, Vater."

"Mein Gott, sie wird doch nicht etwa die ganze Zeit hier gestanden haben?!"

Henry lachte und hob das kleine Mädchen, welches sofort heftig zu strampeln begann, mühelos auf seine Arme.

"Und wenn schon! Sie versteht sowieso kein Wort von dem, was wir sagen, nicht wahr, meine Kleine?"

Anthea grub die winzigen Finger in die Brokatfalten seines Wamses und krauste ihr feines Näschen.

Warwick betrachtete sie eine Weile.

"Wer weiß..." murmelte er schließlich.
 

"Du bist wohl mal wieder ausgerissen, was?" fragte Henry das verwirrte Kind, bevor er sich wieder seinem Vater zuwandte. "Keine Sorge, ich werde sie zu ihrer Erzieherin zurückbringen..." Er lachte erneut. "Die arme Miss Worchester...sie erliegt sicher gerade einer halben Nervenkrise!"
 

Wie zur Bestätigung seiner Worte hörten sie im nächsten Augenblick Bettys aufgeregte Stimme durch die Halle schallen.

"Anthea! Anthea, bei Gott, da bist du ja endlich!"

Keuchend kam die junge Frau herbeigeeilt, mit geröteten Wangen und schief sitzender Seidenhaube auf dem üppigen, goldblonden Haar.

Grinsend gab Henry das Kind in die Arme seiner Gouvernante. Anthea strahlte und breitete ihre kleinen Arme aus.

"Betty!" rief sie, fröhlich glucksend. "Liebe, liebe Betty!"

"Wo habt Ihr sie gefunden, Mylord?" fragte Betty, das lachende Mädchen an ihre linke Seite drückend. "Seit Stunden durchkämme ich das Schloss nach diesem schrecklichen Kind!"
 

In diesem Moment tauchte Warwick wie eine drohende Gewitterwolke hinter seinem Sohn auf.

"Ich rate Euch, in Zukunft besser auf die kleine Lady Cook aufzupassen. Mich dünkt, dies war nicht das erste Mal, dass sie ausgerissen ist...?"

Betty schüttelte den Kopf, während sie ergeben vor ihrem Herrn knickste.

"Nein, Mylord."

"Das habe ich mir gedacht. Ich wünsche, dass Ihr das Kind Gehorsam lehrt. Sorgt dafür, dass sie nicht in einigen Jahren allen auf der Nase herumtanzt, verstanden? James Cooks Enkeltochter soll ein anständiges, junges Mädchen werden."

"Sehr wohl, Mylord." Betty knickste abermals.

"Gut. Dann dürft Ihr jetzt gehen. Und denkt noch einmal über meine Worte nach!"
 

Betty nickte ergeben und verschwand, wobei sie Antheas wirre Locken streichelte.

Seine saubere Lordschaft hat gut Reden, dachte sie verstimmt, ich weiß schon, wie er sich sein zukünftiges Mündel vorstellt, eines dieser sittsamen, braven Mädchen soll sie werden, die den ganzen Tag in ihren Gemächern sitzen, nähen, sticken und sich auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten...der liebe Graf scheint zu vergessen, dass Anthea die Tochter ihrer Eltern ist... sowie Liz mir Tabitha Cook geschildert hat, war sie alles andere als sittlich und brav, und der Lordadmiral war ein Ausbund an Temperament...
 

Und seufzend setzte sie Anthea auf das Bärenfell vor dem Kamin in ihrem Schlafzimmer.

"Sowie es aussieht bekommst auch du dein ganz eigenes Köpfchen, meine Liebe." sagte sie leise zu dem Kind. Während sie sich in einen Lehnstuhl niederließ und ihre Näharbeit wieder aufnahm, wobei sie Anthea nicht aus den Augen verlor, begann sie, über die Zukunft nachzudenken und darüber, dass eigensinnige, temperamentvolle Mädchen es in der Gesellschaft jener Zeit schwer hatten, solche Mädchen wurden von ihrer Außenwelt schnell als liederlich und unschicklich abgefertigt, auch Tabitha Cook hatte man seinerzeit diesen Vorwurf gemacht...
 

Und in diesem Augenblick beschloss Betty Worchester, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Anthea auf ihre künftige Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten, gleichgültig, welche Komplikationen dies mit sich bringen mochte.



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