Zum Inhalt der Seite

A complicated Lady

Das ungewöhnliche Leben der Anthea Cook (Teil 1: Liebe und Leid)
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 1

Die breite Landstraße, welche von einem der kleineren, bei London gelegenen Orte in die Grafschaft Enfield führte, war menschenleer. Dies war ungewöhnlich, begegnete man hier doch sonst fahrenden Händlern und Marktfrauen, Kutschen adliger Familien, vornehmen Reitern und Fuhrwägen.

Jetzt jedoch, da die Abenddämmerung über Südengland hereinbrach, jetzt, da die rotgoldene Sonne ihre letzten, wärmenden Strahlen über Felder und Wiesen warf und die gelben Kornfelder in einen Teppich aus purem Gold verwandelte, jetzt, um diese späte Stunde, ließ sich kaum noch jemand finden, der auf dem ungepflasterten Streifen aus festgetretenem Lehm einherwandelte.

Und doch mischte sich plötzlich das ferne Klappern frisch beschlagener Hufe in die geisterhafte Stille, und von Weitem war mit einem Mal eine Staubwolke zu erkennen, die in beachtenswerter Geschwindigkeit näher kam, sodass es nur noch eine Frage von Sekunden war, ehe man sehen konnte, wer sie verursachte; ein stattlicher, edel gekleideter Herr sprengte auf einem schönen, schwarzen Rappen über die breite Straße dahin. Er galoppierte, als gelte es, einen Wettstreit auszuhandeln mit der hereinbrechende Dunkelheit.

Das schöne, ebenmäßige Gesicht, welches von einem kaum merklichen Backenbart umrundet wurde, sowie das dichte, kastanienfarbene Haar, das unter der Kappe aus schwarzem Samt hervorlugte, überdeckten die Tatsache, dass Thomas Seymour kein ganz junger Mann mehr war. Trotz seiner fast vierzig Jahre groß, schlank und gutaussehend, vergnügte er sich ausgelassen mit Reiten, Fechten und Bogenschießen, liebte den Zeitvertreib in angenehmer Gesellschaft und das endlose Spiel mit den Frauen. Auch heute, da er zu dieser fortgeschrittenen Stunde nach Enfield ritt, ging es ihm um eine Frau, für ihn eine besondere Frau, denn sie war seit gut einem halben Jahr seine Geliebte.

Als die ersten Kastanienbäume begannen, die Straße zu säumen, wusste Thomas, dass es nicht mehr weit sein würde in die Grafschaft, nicht mehr weit bis zu dem kleinen, etwas abseits in der Einöde liegenden Schlösschen Enfield Court, das einst einem Günstling König Heinrichs VIII. gehört hatte, welcher es kurz vor seinem Tode seiner einzigen Erbin und Tochter vermacht hatte.

Das Glühen am westlichen Horizont war schon fast der Dämmerung gewichen, als Thomas sein Pferd in die langsamere Gangart zwang, das Tier an vereinzelten Häusern, Werkstätten, Guts- und Pachthöfen vorbei lenkte, die kleine, gotische Kirche und das Pfarrhaus daneben umrundete, dessen Bewohner er nur zu gut kannte, und schließlich, einige Meter weiter, durch den hohen, steinernen Torbogen in den äußeren Hof von Enfield Court ritt. Während er absaß und auf Jeff, den Knecht, wartete, welcher wie immer den Auftrag haben würde, ihn zu empfangen und sein Pferd zu versorgen, spürte er, dass er müde war und der Magen ihm gehörig knurrte. Letzteres war kein Wunder, hatte er doch zuletzt in den Morgenstunden gegessen, in seinem Palais, dem Londoner Bath Palace. Er klopfte dem schnaubenden Hengst die mächtige, schweißbedeckte Flanke und wenige Sekunden später malte sich Befriedigung in seine feinen Züge, denn die eisernen Flügel des Tores, welches vom äußeren in den inneren Hof führte, öffneten sich quietschend und ein kleiner, buckliger Mann, dessen verhärmtes Gesicht schwer von Pockennarben entstellt war, wackelte auf ihn zu. Er war in die Tracht des niedrigsten Dientboten gekleidet, trug ein zerschlissenes, knielanges Wams aus braunem Tuch, dunkle Beinkleider und grobe Holzpantinen an den Füßen.

"Guten Abend, Milor' Admiral." grüßte er den längst bekannten Besucher, der ihm die Zügel seines Pferdes in die knochigen Hände gab. "Milady erwartet Euch bereits."

Thomas erwiderte das schelmische Grinsen mit einem kaum merklichen Lächeln.

"Ich hoffe, man hat in den Küchen ausreichend für das Abendessen gesorgt...? Verzeiht, aber ich sterbe vor Hunger."

"Milor' brauchen sich nicht zu sorgen, man war jüngst heute morgen auf der Jagd und hat frische Wachteln geschossen, und Milady hat ihren besten Tafelwein befohlen, den aus Spanien, den Milor' bei seinem letzten Besuch so sehr lobten."

Thomas leckte sich im Geiste die Lippen.

"Der Spanische Rote....ja, ich erinnere mich. Ausgezeichnet, Jeff, ausgezeichnet."

Im inneren Hof angelangt, führte Jeff Thomas' Rappen zu den Ställen, wo, wie Thomas selbst wusste, bereits eine weiße Schimmelstute untergebracht war, das Lieblingspferd der Lady, und die beiden Kaltblüter, die als Zugtiere Verwendung fanden. Man vernahm ihr Schnauben aus den einzelnen Boxen und es roch angenehm nach frischem Heu und Hafer. Er wartete, bis der Knecht wieder auftauchte, dann betraten sie gemeinsam das Innere des kleinen Schlosses, welches eine Fassade aus weißem Stein besaß und unendlich viele, spitz zulaufende Glasfenster über dem mächtigen Eingangstor, von denen manche schwach erleuchtet waren.

Doch Thomas dachte nicht an die zum Hof gelegenen Fenster, als er seinen Fuß auf den marmornen Boden der kleinen Halle setzte. Er dachte an die anderen Fenster, die, welche zur Gartenseite hin gelegen waren und in die man bunt bemalte Scheiben gesetzt hatte, welche es Außenstehenden unmöglich machten, in den dahinter liegenden Raum zu schauen; es waren die Schlafzimmerfenster der Schlossherrin, deren genaue Lage er besser kannte als alles andere in Enfield.

Kaum hatte er sich in der vertrauten Umgebung zurechtgefunden, hatte die vielen, kostbar eingerahmten Gemälde an den steinernen Wänden betrachtet, welche sämtliche inzwischen verstorbene Familienmitglieder der Lady zeigten und einen kurzen, gleichgültigen Blick über die Armsessel, den kleinen Tisch aus venezianischem Holz und den großen Kamin schweifen lassen, in dem jetzt, da es Hochsommer war, kein Feuer brannte, als er leichte Schritte auf den von Binsen bedeckten Stufen vernahm, die ins obere Stockwerk führten, und lächelte, da er glaubte, diese Schritte unter hundert anderen wieder erkennen zu können.

Den Bruchteil einer Sekunde später blickte er in das ernste, madonnenhafte Antlitz seiner Geliebten, die, in ein dunkelrotes, mit goldenen Borten besetztes Gewand aus französischem Brokat gekleidet, am Fuße der Treppe stand.

Jeff, der fast unmittelbar neben ihm verweilt war, verbeugte sich vor der noch sehr jungen Dame.

"Milady Cook, Lord Admiral Seymour ist eingetroffen."

Ihr weit geschwungener, dunkelroter Mund verzog sich zu dem ihr eigenen, spitzbübischen Lächeln, das Thomas von je her um sein letztes Bisschen Verstand gebracht hatte.

"Ich sehe es."

Er vernahm den Klang ihrer dunklen Altstimme, als hätte er nie etwas anderes gehört.

"Lass uns jetzt allein, Jeff."

Der Knecht verbeugte sich abermals. "Wie Milady befehlen."

Und von einem Augenblick zum andern war er verschwunden.

Die junge Frau kam die restlichen Stufen zu ihm hinunter und blitzte ihn aus großen, saphiergleichen Augen an. Das seidige, pechschwarze Haar fiel ihr in einem lockeren Zopf über die linke Schulter. Ein eigenartiger Kontrast, dachte Thomas wie immer, die blauen Augen und das schwarze Haar...und wie immer fand er sie schöner als je zuvor. Er vertiefte sich so sehr in ihren Anblick, dass er die Tatsache, dass dies sein letzter Besuch in ihrem kleinen Schloss sein sollte, völlig vergaß.

"Tabitha." flüsterte er, und wollte mit wenigen, großen Schritten auf sie zugehen, doch da hob sie zu seiner Überraschung ihre schlanke, beringte Hand.

"Nein, Thomas. Noch nicht."

Er blieb wie angewurzelt stehen und weigerte sich zu verstehen, was sie meinte, obgleich er wohl etwas ahnen mochte.

"Was soll das heißen, Tabitha?"

Sie sah ihn ernst und verschlossen an. Von dem freudigen Lächeln war nicht viel geblieben, wenn auch das sehnsüchtige Flackern in ihren Augen ihm nicht entging.

"Hast du mir nichts zu sagen?"

Er schwieg. Hatte er etwas zu sagen?

Nein, versuchte er sich klar zu machen, ich habe nichts zu sagen. Aber das war eine Lüge. Eine gewaltige Lüge.

"Tabitha, ich-"

"Ich meine, von deiner Frau. Deiner Frau in Chelsea. Oder willst du mir weismachen, dass du die Königinwitwe am Ende doch nicht geheiratet hättest? Es würde dir aber nichts nützen, mein Lieber. Ich habe regelmäßigen Kontakt mit der Londoner Bevölkerung. Ich weiß, wie die Dinge stehen. Du hast Katharina geheiratet und lebst mit ihr in Chelsea. Na?"

Thomas' Miene verdüsterte sich immer mehr. Es stimmte, was sie sagte. Er war seit zwei Wochen verheiratet.

Er hatte seine alte Jugendliebe, die Königinwitwe Katharina Parr, geehelicht, die damals, als Heinrich VIII. um ihre Hand angehalten hatte, auf persönliches Glück hatte verzichten müssen.

Der alte König Heinrich war jedoch im vergangenen Januar gestorben und hatte den Thron seinem Sohn aus der kurzen Ehe mit Thomas' Schwester Jane überlassen, dem erst neunjährigen Eduard. Da der Knabe noch nicht fähig war, selbst zu regieren, bedurfte es eines Lordprotektors, der für ihn die Regierung leitete und Rechtsfragen an seiner Stelle entschied. Es war Eduard Seymour, Thomas' älterer Bruder, welcher dieses Amt innehatte. Da er, ebenso wie Thomas, der Onkel des kleinen Eduard war, hatte Heinrich VIII. ihn kurz vor seinem Tod zu dessen Vormund bestimmt.

Thomas selbst war nach Heinrichs Tod lange Zeit unsicher gewesen, ob er Katharina glücklich machen und sie noch vor Ablauf der Trauerzeit heiraten, oder ob er sich seiner neuen Liebe Tabitha Cook zuwenden sollte.

Die wahren Motive dafür, dass er sich letztendlich für die erste der beiden Möglichkeiten entschieden hatte, waren der erst zwanzigjährigen Tabitha nicht verborgen geblieben. Im Gegensatz zu ihr selbst, die von ihrem verstorbenen Vater, dem königlichen Abgeordneten und Günstling James Cook, nur das kleine Schloss in Enfield und ein geringes Vermögen geerbt hatte, das sie noch dazu recht leichtfertig ausgab, war die bereits vierunddreißigjährige Katharina Parr unermesslich reich und hatte nun, als Königinwitwe Englands, unter allen anderen Frauen die höchste Position. Trotz der Liebe, die Tabitha Thomas entgegenbrachte, waren ihr sein politischer Ehrgeiz und der unbändige Wille, im Regentschaftsrat aufzusteigen, nicht entgangen; er brauchte Katharinas Geld, um Ansehen zu gewinnen, mit ihr hingegen, die nicht mal adliges Blut besaß und für die Kreise, in denen er lebte, vollkommen unbedeutend war, konnte er nichts anfangen.

Diese Tatsache versetzte Tabitha nur einen kleinen Stich, da sie fest damit rechnete, dass sie auch nun, da er verheiratet war, seine Geliebte bleiben würde. Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass es ihr schon besser gefallen hätte, wenn er sie zur Frau genommen hätte, aus reiner Liebe und Zuneigung zu ihr und ohne sich daran zu stören, dass sie nicht sonderlich reich war.

"Und, was ist jetzt? Hat es dir die Sprache verschlagen?"

Thomas sah sie etwas hilflos an.

"Tabs, du weißt doch, dass ich Katharina schon lange heiraten wollte. Wir hatten uns das Eheversprechen gegeben, lange bevor ich auf dich aufmerksam geworden bin..."

"Aha. Und du glaubst, dass dies dein Handeln entschuldigt?!"

"Ja. Es muss dir als Entschuldigung genügen. Hätte ich Katharina vor den Kopf stoßen sollen? Sie war sich schließlich so sicher, dass ich sie nach dem Tode des Königs heiraten würde."

Tabitha scharrte unwillig mit den Füßen.

"Ich verstehe das sowieso nicht." sagte sie ein wenig weinerlich. "Warum hat die Parr überhaupt eingewilligt, als der alte, von Gicht geplagte König um ihre Hand anhielt? Sie hätte allen Grund zu der Annahme haben können, dass er sie ebenso verstoßen würde wie die anderen fünf Königinnen vor ihr!"

"Tabitha!" Thomas' Entsetzen war greifbar. "Ich möchte dich doch sehr bitten, nicht so von unserem guten, alten Henry Tudor zu sprechen! Es mag sein, dass er mit seinen zahlreichen Gemahlinnen nicht immer anständig verfahren ist, aber er war doch stets ein guter und ein gerechter Monarch. Das Volk hat ihn geliebt! Im Übrigen solltest du genausogut wissen wie jeder andere, dass man sich gegen das Wort eines Herrschers nicht stellen darf. Für Katharina war seine Bitte, seine Frau zu werden, ein Befehl und zugleich eine große Ehre."

"Schöne Ehre... Glaubst du auch, dass es für Katharina von Aragon eine Ehre gewesen ist, als er sie verstieß, weil sie ihm keinen männlichen Erben schenkte? Und denkst du etwa, Anna Boleyn hat es als Ehre empfunden, als man sie zum Tower brachte und zum Tode verurteilen ließ, beinahe aus demselben Grund? Oder bist du der Meinung, dass Katharina Howard es verdient hatte, wegen einer angeblich unsittlichen Lebensweise vor dem Henker zu landen? Nein, Thomas, ich hätte nicht für alles Gold der Erde König Heinrichs Gemahlin werden wollen!"

"Du bist ungerecht. Katharina beschreibt ihren verstorbenen Mann stets als gütig und sagt, er sei ihr sehr zugetan gewesen..."

Tabitha lachte spöttisch auf.

"Ja, weil er viel zu alt gewesen ist, um sich noch an irgend etwas zu stören."

"Ach, Tabs..." Thomas seufzte. "Lass uns von etwas anderem reden..." Er lächelte sie an, trat auf sie zu, nahm sie ungeniert in die Arme und drückte schnell seine Lippen auf die ihren, um es zu verhindern, dass sie weitere unschöne Dinge sagte.

Nach einer Weile schlang sie sehnsüchtig die Arme um seinen Nacken und gab sich seinem Kuss hin, wie er es von ihr gewohnt war.

Schließlich gab er sie frei und sah sie verzückt an, bis sich wieder ein Lächeln in ihren Zügen bemerkbar machte.

"Hast du eigentlich Hunger?" fragte sie plötzlich.

Thomas lachte.

"Ich dachte schon, du würdest mich nie fragen!"

Wenig später saßen sie bei gebratenen Wachteln und Tauben, Schweinebraten und köstlich gefüllten Pasteten an einer langen, eichenen Tafel beisammen und ließen sich von einem dunkelblau livrierten Diener spanischen Rotwein einschenken.

Die erste Hälfte der Mahlzeit verlief schweigend, da Thomas zu intensiv in sein Essen vertieft war, um ans Sprechen zu denken.

Als jedoch der erste Hunger gestillt war und Tabitha ein paar Kerzen im Raum angezündet hatte, begann sie mit ihrem alten Spiel, ihn über seinen Bruder und den Rat auszufragen, was ihm nicht sehr behagte; er mochte seinen Bruder nicht besonders, er neidete ihm seine mächtige Position im Staat, und es hatte ihn von je her gestört, dass Tabitha ein so brennendes, politisches Interesse zeigte.

"Der Rat beschäftigt sich nach wie vor mit der Religionsfrage.Eduard will mit allen Mitteln erreichen, dass sich der lutherische Glaube in England durchsetzt. Ich glaube, dir erzählt zu haben, dass man Norfolk im Tower inhaftiert hat."

Tabitha schüttelte den Kopf.

"Norfolk, sagst du? Nein, das hast du mir bei deinem letzten Besuch nicht erzählt. Norfolk also...er ist strenger Katholik, soweit ich informiert bin. Dann ist es deinem Bruder also wirklich ernst mit der religiösen Gleichheit?"

"Ja, wie es aussieht..."

"Wie seltsam. Warum kann Eduard den Katholizismus nicht tolerieren? Denk doch nur mal an Heinrichs älteste Tochter Maria...sie lässt auf ihren Landsitzen Wanstead und Beaulieu immer noch Messen in lateinischer Sprache lesen. Wenn das so weiter geht, wird man diese Zeremonien auch bald verbieten...Mein Gott, ich finde es so albern, über eine solch geringe Frage wie die Religion zu disputieren...katholisch, oder protestantisch...wir alle glauben schließlich an einen Gott."

Thomas lächelte schwach.

"Ich weiß, Tabs...in dieser Hinsicht hast du deine eigene Sicht der Dinge. Aber bitte...lass uns doch nicht dauernd über den Rat diskutieren, du weißt, dass ich Eduard nicht mag, und außerdem..." Er zögerte, zerkrümelte etwas Brot auf seinem Teller und nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher.

"Außerdem?"

"Nun ja...Zu dir kann ich ehrlich sein, du kommst ohnehin selten nach Whitehall an den Hof...Ich verachte Eduards Regierungsstrategie, ich finde es widerlich, wie er unseren Neffen beeinflusst und wie streng er mit ihm umgeht. Sicher, der Kleine ist ein Kind, unfähig, seines Amtes als Monarch zu walten, für ihn steht im Augenblick der Unterricht an erster Stelle, das ist vor allem wichtig, damit er lernt, logisch und realistisch zu denken, und dennoch...siehst du, Tabitha, der kleine Eduard ist Wachs in den Händen des Rates. Und im Rat sitzen so viele Schwätzer und Intriganten... meiner Meinung nach ist mein Bruder der Schlimmste von allen. Er wird das Kind verderben."

"Ach ja?"

Tabitha schwieg und sah Thomas eine Weile lang prüfend und besorgt zugleich an. Sie war zu klug, um nicht die Eifersucht zu bemerken, die hinter seinen Worten lag, die Eifersucht auf seinen Bruder und alle, die im Rat über ihm standen.

Und da sie es stets gewohnt war, an die Zunkunft zu denken, fragte sie sich, wie weit diese Eifersucht eines Tages führen und auf welche Gedanken sie Thomas bringen würde.

Sie kannte den Lordprotektor vom Hofe und wusste, dass er beim Volk nicht eben beliebt war, da er Bauern und Grundbesitzer gegeneinander aufwiegelte und Steuern und Pachtzinsen ständig erhöhte.

Trotzdem waren Thomas' Beschwerden über den Bruder mehr Hass als klare, realistische Erkenntnis.

Was will er überhaupt, dachte sie ein wenig verärgert, hat er nicht alles, was ein Mann sich wünschen kann? Er trägt stets die teuersten und prächtigsten Kleider, die Gesellschaften, die er gibt, sind ausschweifender als die jedes anderen englischen Edelmannes, er ist mit der höchsten Frau im Staat verheiratet...genügt ihm das etwa nicht?!

In diesem Augenblick war Thomas von seinem Stuhl aufgestanden und hinter sie getreten.

"Tabitha..."

Sie spürte seine Hände, die ihren Nacken berührten und mit ihrem Haar spielten, und ihre düsteren Gedanken wurden durch die Erkenntnis verdrängt, dass sie diese Hände in den letzten Wochen vermisst hatte.

Lächelnd schloss sie die Augen, ergriff mit ihrer linken Hand seine Rechte und verflocht ihre Finger mit den seinen.

Schließlich schob auch sie ihren Stuhl zurück und erhob sich.

"Warum gehen wir nicht nach oben in meine Gemächer und spielen noch eine Partie Schach miteinander? Ich habe das Schachspiel mit dir so lange vermisst..."

Und dabei lag in ihren Augen ein schelmisches Leuchten, fast wie bei einem Kind.

Thomas lachte, als er dies bemerkte.

"Ich kann es dir nachfühlen, dass du das Spiel mit mir vermisst." Dann jedoch seufzte er leise. "Du hast eine beinahe diebische Freude am Gewinnen..."

Tabitha kicherte, blies die Kerzen im Speisesaal aus und ging mit Thomas hinauf in ihr Wohngemach, wo sie sich vor einem kunstvoll gearbeiteten Schachtisch niederließen und Tabitha etwas Champagner aus einer gläsernen Karaffe in zwei kostbar geschliffene Gläser goss.

Leider fing sie während des Spiels erneut von der Politik an, was Thomas beinahe dazu gebracht hätte, das Spiel abzubrechen. Er wusste ohnehin, dass er wieder verlieren würde; Tabitha Cooks Schachkünsten war keiner gewachsen.

Er versuchte, möglichst wenig auf ihre Fragen nach den Zwischenfällen an der schottischen Grenze einzugehen und beobachtete stattdessen ihr Mienenspiel, das Strahlen der glasblauen Augen im Licht der Kerzenflammen, die madonnenhaft geschwungenen, dunklen Brauen und den seidigen Schimmer ihres herrliches Haares, das schwarz war wie das Schränkchen aus Ebenholz hinter ihr.

Auch betrachtete er die schlanken, weißen Hände, die siegessicher und mit temperamentvollem Nachdruck die Figuren auf dem Schachbrett versetzten und seine Figuren eine nach der anderen nahmen.

"Du musst dich konzentrieren, mein Lieber." meinte sie kopfschüttelnd. "Ich gewinne ja schon zum dritten Mal!"

Und sie gewann. Schließlich war Thomas es leid und schlug vor, es lieber mit einem Kartenspiel zu versuchen, da er wusste, dass dies ihr deutlich weniger lag.

Nun jedoch lehnte sich Tabitha in ihrem Stuhl zurück und legte den Kopf gegen das Eckpolster.

"Nicht mehr heute Abend, Thomas...Ich bin entsetzlich müde, ich habe mich den ganzen Tag über mit der Verwaltung von Enfield Court beschäftigt und meine Dienerschaft herumgescheucht...Wirklich, ich bräuchte einen tüchtigen Ehemann..."

Thomas zuckte unmerklich zusammen, als er dies vernahm. In diesem Augenblick wurde ihm gar nicht bewusst, dass Tabitha ihre Bemerkung absichtlich gemacht hatte, um zu testen, wie er reagierte.

Sie stand nun auf, trat auf ihn zu und reichte ihm ihre Hände.

"Steh auf, Thomas. Wisse, dass es etwas gibt, dass ich noch tausendmal mehr vermisst habe als das Schachspiel mit dir..."

Diese Worte lenkten ihn sofort ab.

In der nächsten Sekunde war er aus seinem Sessel gesprungen, hielt sie ungestüm in den Armen und küsste sie leidenschaftlich, sodass sie nach Luft ringen musste, als er sie schließlich los ließ.

Ehe sie noch etwas sagen konnte, hatte er sie emporgehoben und hinüber in das breite Schlafzimmer getragen, an dessen Fenster er vorhin gedacht hatte.

Kurz vor dem hohen, dunklen Himmelbett mit den seidenen Vorhängen setzte er sie ab.

Sie kicherte, während er versuchte, ihren letzten Widerstand zu brechen.

"Sei nicht allzu stürmisch, sonst werden Heather, Liz und Cathy auf uns aufmerksam..."

"Glaubst du, es interessiert mich, was deine Zofen von uns denken...?" Seine Stimme drang dumpf an ihre Ohren, während sie seinen warmen Atem dicht auf ihrem Ausschnitt spürte.

Langsam lösten ihre Hände die Knöpfe seines Wamses aus dunkelblauem Atlas, während auch er ihr Kleid am Rücken aufhakte. Wenig später spürte sie seine kräftigen Hände, die ihren Rücken hinunterfuhren; Kleid und Unterkleid lagen inzwischen zu ihren Füßen, und auch er trug lediglich sein langes, weißes Leinenhemd, dessen Stoff sie dicht an den zarten Knospen ihrer Brüste spürte.

Schließlich wanderten seine Hände nach vorne, fuhren über ihre vollen, hoch gerundeten Brüste, während er nicht aufhören konnte, sie wild und ungestüm zu küssen. Abermals hob er sie mühelos hoch, legte sie in die Kissen ihres Bettes und schloss die seidenen Vorhänge, bevor er sich über sie beugte. Sie spürte seine Lippen auf Nacken, Schulteransatz und Brust und schloss schwindelnd die Augen, während sie seinen Körper mit Armen und Beinen umschlang und sich ihm erwartungsvoll entgegenhob.

Ihre Sorge, die Kammerfrauen könnten sie hören, war nicht unberechtigt, denn leise blieb sie nicht. Immer wieder verlangte sie nach ihm, drückte ihren schlanken, geschmeidigen Körper gegen den seinen, während er ihr beruhigende Worte ins Ohr flüsterte.

Tabitha hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie an Thomas' Seite in den weichen Seidenkissen einschlief, halb verborgen unter der leinen Decke. Sie wusste nur soviel, dass sie endlose Gespräche geführt und sich zwischendurch immer wieder geliebt hatten, was ihre Leidenschaft nur noch mehr entfacht hatte.

Sie wachte mit dem Zwitschern der ersten Vögel auf, die in den Kastanienbäumen vor ihrem Fenster ihre Nester gebaut hatten. Blinzelnd legte sie sich auf den Rücken und lauschte einige Minuten lang Thomas' gleichmäßigem Atem. Sie wollte ihn nicht wecken, wusste sie doch, dass er nach dem Aufstehen nach London zurückreiten würde. Deshalb ließ sie ihren Blick langsam durch das in der Morgendämmerung daliegende Schlafzimmer schweifen, betrachtete versonnen ihren Schminktisch mit dem Spiegel aus venezianischem Glas, die mit weißen und roten Rosen bemalte, spanische Wand, die mit kostbaren Intarsien verzierte Komode und den schweren Eichenschrank...

Dies alles hatte vor langer Zeit ihrer Mutter gehört, Beatrice Harley, einer reichen Bürgerlichen aus gutem Hause, für die James Cook in feuriger Liebe entbrannt war. Es war ihr Schlafzimmer gewesen, der Ort, an dem sie, Tabitha, in der Nacht vom dreizehnten auf den vierzehnten Juli des Jahres 1526 gezeugt worden war und neun Monate später als ein schreiendes, krebsrotes Etwas das Licht der Welt erblickt hatte.

Sie seufzte, als sie daran dachte, wie sehr sie ihre schöne, temperamentvolle Mutter geliebt hatte, und welch schwerer Schlag es für sie gewesen war, dass Beatrice Cook bereits im Jahre 1533 der Schwindsucht erlag. Beiläufig überlegte sie, dass ihre Mutter, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, damit einverstanden gewesen wäre, dass sie mit zwanzig noch immer unverheiratet lebte und nur einen Geliebten besaß, der sie alle paar Wochen für einen oder zwei Tage besuchte.

Wie sehr hätte sie es sich gewünscht, dass Thomas mehr Zeit mit ihr verbrachte. Und wie sehr hätte sie es gewollt, dass er sie und nicht die strenge, langweilige Katharina heiratete...

Als die bunten Butzenscheiben der Fenster das erste Licht der aufgehenden Morgensonne in tausend farbigen Elementen in dem breiten Zimmer wiederspiegelten, regte sich Thomas in den Kissen ihres Bettes und griff nach ihr, um sie an sich zu ziehen. Tabitha gab sich ihm ohne Widerstand hin, ließ es zu, dass er begann, sie zu küssen, ihren Busen streichelte und sich schließlich erneut wild und ungestüm über sie warf, sodass es sie mit einem unbändigen, haltlosen Verlangen erfüllte. Die Lust, die der Druck seines Körpers und sein Eindringen bei ihr verursachten, ließen alles schneller gehen als am Abend zuvor, und so konnten sie sich bereits nach wenigen Augenblicken voneinander lösen.

Eng umschlungen lagen sie beieinander in dem hohen, breiten Bett, jeder lauschte auf Atem und Herzschlag des anderen und auf das Zwitschern der zahlreichen Vögel im Garten von Enfield Court.

"Thomas?" fragte sie nach einer Weile.

"Was ist, ma chèrie?"

"Bedeutet sie dir sehr viel?"

Er hob ihr Gesicht empor und zwang sie so, ihn anzusehen.

"Wen meinst du?"

Sie lachte leise.

"Bei Gott, Thomas, du weißt genau, wen ich meine. Deine Frau. Katharina."

Er seufzte, legte den Kopf zurück in die Kissen und fuhr mit seiner Tätigkeit fort, mit den dichten, dunklen Strähnen ihres Haares zu spielen.

"Tabs, es ist zwecklos, mir solche Fragen zu stellen. Du kennst die Antwort."

"Nein, Thomas", Tabitha schüttelte den Kopf und zog trotzig die Nase hoch. "Nein, ich kenne die Antwort nicht!"

Ein neuerlicher Seufzer entdrang seiner Kehle.

"Ach, Tabbie...es gibt Momente, in denen bist du ein richtiges Kind. Du weißt, das Kathy meine Jugendliebe ist. Und dass ich zu anständig war, um das Eheversprechen, welches ich ihr gegeben hatte, zu brechen."

"Ach? Und du bist dir nicht zu fein, neben deiner lieben Katharina eine Geliebte auszuhalten?"

Einen Moment lang war es still. Dann richtete er sich mit einem Mal auf, drängte sie sanft von sich und griff nach seinem weißen Leinenhemd, welches er sich über den Kopf zog. Ihre Frage ignorierend, was dies solle, verließ er abrupt ihr Bett, wusch sich kurz an dem kleinen Gestell aus Eisen, das unmittelbar bei ihrem Schminktischchen stand, und begann, seine Kleider aufzusammeln und sich anzuziehen.

"Was gibt das, Thomas? Warum bleibst du nicht noch bei mir..."

Sie saß mittlerweile kerzengerade aufgerichtet zwischen den Kissen, und das offen herabhängende Haar verdeckte die dunkelroten Spitzen ihrer wogenden Brüste.

Thomas stand einige Sekunden lang zögernd im Raum, dann setzte er sich stirnrunzelnd an ihre Bettkante und legte die verschränkten Hände auf seinen rechten Oberschenkel.

" Tabitha", begann er ruhig. "Ich habe diesen Augenblick so lange wie nur möglich hinausgezögert, aber...jetzt duldet die Angelegenheit keinen Aufschub mehr."

Sie schien nicht zu verstehen. Stumm blickte sie ihn in ihrer alles einnehmden Art an, legte den Kopf schief und schürzte verführerisch die dunkelroten Lippen.

"Wenn du dich bitte erklären würdest..."

"Es ist...nunja....ehrlich gesagt weiß ich kaum, wie ich anfangen soll. Bevor ich beginne, es dir zu erklären, musst du mir eines versprechen. Versprich, dass du verstehen wirst, was ich dir nun sage."

Sie krauste die fein geschnittene Nase.

Dann lächelte sie, nachsichtig, wie bei einem Kind.

"Aber Thomas...wie soll ich im Vorraus etwas versprechen, wenn ich..."

"Versprichst du es, Tabitha?"

Sie seufzte leise.

"Also gut, in Gottes Namen...ich verspreche es dir."

"Schön, dass du einmal tust, was man dir sagt. Siehst du, es ist nicht leicht...ich habe lange mit mir gehadert, aber ich bin letztendlich nunmal zu dem Schluss gekommen, dass wir...du und ich...dass wir Beide...nun, dass wir Beide unserer kleinen Affaire ein Ende setzen sollten."

Stumm und resigniert beobachtete er, wie Tabithas Saphieraugen sich vor Entsetzen weiteten.

"Das-ist-nicht dein Ernst."

"Tabitha, du musst mir zuhören..."

"Nein!" Sie schüttelte den Kopf, "nein, Thomas, nein, nein-"

"Tabbie, hör mir zu!" Er packte sie bei den Schultern. "Hör mir jetzt zu! Das hier ist mein voller Ernst, und du wirst mich nicht davon abbringen, hörst du? Weder durch Bitten und Betteln, noch durch dein verführendes Augenzwinkern. Ich habe lange überlegt, wen von Euch beiden ich heiraten soll, Katharina oder dich. Und ich habe mich für Katharina entschieden. Sie ist meine Ehefrau, und mit ihr will ich in Chelsea zusammen leben. Es kann, es darf nichts mehr geben zwischen uns. Kathy ist eifersüchtig auf jede Frau, der ich in Whitehall den Hof mache, erführe sie von uns, würde das das Ende unserer Ehe bedeuten, sie würde sich scheiden lassen und meinen Bruder bitten, die Güter, die sie mir übermachte, zu konfiszieren. Verstehst du das? Ich bitte dich, du hast versprochen, zu verstehen. Ich werde diese Beziehung nicht fortsetzen, dies war mein letzter Besuch in Enfield Court."

"Thomas..." Tabithas Stimme klang rauh, beinahe heiser. Thomas spürte, dass sie mit den Tränen kämpfte, und nahm sie wider besseres Wissen in die Arme.

"Versteh' mich, bitte versteh'...Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber es kann nun einmal keine zweite Beziehung für mich geben. Es wäre ein furchtbarer Umstand, wenn ich weiterhin jedes dritte Wochenende nach Enfield reiten würde, Katharina würde innerhalb kürzester Zeit hinter die Geschichte mit dir kommen." Er ließ sie los und versuchte, sich nichts von jener Rührung anmerken zu lassen, die er beim Anblick ihrer Tränen empfand.

"Es tut mir leid, kleine Tabs. Warte ein paar Monate, dann geht der Schmerz vorbei. Du wirst sehen, Zeit heilt alle Wunden." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. "Und dann suchst du dir einen anderen Mann, einen, in dessen Leben du den ersten Platz einnimmst und der bereit ist, dich zu heiraten. So schön, wie du bist, wird dir das nicht schwerfallen. Und noch etwas," Seine Miene verdunkelte sich erneut, "bitte versuche nicht, mir in irgend einer Weise nachzustellen. Suche mich nicht, komme nicht inkognito nach Chelsea oder bitte mich um heimliche Treffen. Ich möchte, dass du jeglichen Kontakt mit mir abbrichst, auch den brieflichen. Auch dieses Anliegen meinerseits wirst du verstehen. Du bist eine kluge Frau, und es würde sich für dich nicht ziemen, zu klammern wie ein Kind. Lass die Zeit vergehen und vergiss mich. Ich bin nicht der Richtige für dich, im Gegenteil, ich...ich verdiene dich gar nicht."

Inzwischen schluchzte sie so bitterlich, dass er förmlich spüren konnte, wie ihm das Herz darüber zerbrach.

"Das kann doch nicht dein Ernst sein, Thomas...sag, dass es falsch ist, Thomas...sag, dass es falsch ist..." Und sie umklammerte seinen Arm und drückte ihren Kopf an seine Schulter. "Ich brauche dich doch, Thomas...du weißt doch, dass ich dich brauche..."

Er erhob sich und versuchte, sich von ihrem Arm zu befreien.

"Hör auf zu weinen, Tabitha. Das ist nicht deine Art. Du willst doch stark sein, nicht wahr?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Nein, jetzt nicht! Ich brauche dich doch..."

Er küsste ein letztes Mal ihre Hand, dann wandte er sich zur Tür.

"Leb' wohl, Tabitha." Er hob die Hand, als er sah, dass sie sich ihr leinenes Nachthemd überwarf, um ihm nachzulaufen. "Versuche es nicht, Tabs. Bleib besser, wo du bist."

Sekunden später fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, er durchquerte das dunkle Wohngemach, krampfhaft die Erinnerung an das gestrige Schachspiel verdrängend, sprang dann die vielen, marmornen Stufen in die Halle hinunter, verließ das Innere des Schlosses und rannte hinüber zu den Ställen, als gelte es sein Leben.

Er machte sich nicht die Mühe, Jeff zu holen, sondern sattelte selbst den schwarzen Rappen, führte ihn hinaus und saß auf. Erst, als er Enfield Court verlassen hatte und auf der breiten, trockenen Landstraße in die Morgendämmerung hineinpreschte, wurde ihm ein wenig leichter ums Herz.

Kapitel 2

Tabitha Cook war es erst nach mehreren Stunden, und auch erst mit der Hilfe ihrer alten Amme Cathy Johnes, die sich in recht derber Manier über das unartige Verhalten des Lordadmirals Seymour ausließ, gelungen, ihre Tränen zu trocknen.

Trotzdem war sie noch viele Tage lang nicht fähig, zu arbeiten oder an etwas Anderes zu denken als an ihre unglückliche Liebe. Cathy befahl warme Suppen und Kräutertee, der die Nerven beruhigte, verordnete ihrer Herrin lange Spaziergänge durch den Schlosspark und Ausritte in die Landschaft, da dies ein altbewährtes Mittel war, um sich abzulenken, und versuchte alles nur Erdenkliche, sie davon abzuhalten, an Thomas zu schreiben, da sie aus eigener Erfahrung wusste, dass dies gar nichts einbrachte.

"Er hat mich einfach so verlassen, einfach so!" schluchzte Tabitha eines Morgens nach dem Frühstück, als es ihr besonders elend ging. "Warum, Cathy, warum?! Warum tut er so etwas, er liebt mich doch!"

Cathy, die ihre Herrin seit der ersten Stunde ihrer Geburt kannte und die fast schon wie eine Mutter für sie war, nahm die schluchzende, junge Frau in ihre Arme und streichelte mit ihren dicken, attritischen Fingern Tabithas dunkles Haar.

"Denkt nicht an ihn, Mädchen, er ist ein Schuft! Schon allein die Tatsache, dass er Euch nicht geheiratet hat..." Sie schnalzte ein paarmal missbilligend mit der Zunge. "Er hat recht, er hat Euch wirklich nicht verdient. Er ist es nicht wert, dass Ihr ihm schreibt, Ihr solltet ihn vergessen...mein Gott, wie er Euch solchen Kummer bereiten konnte...Hätte ich die Macht, ich würde ihn dafür umbringen!"

Und die kleinen, schwarzen Augen im runden Gesicht der Amme funkelten heroisch.

Unter Tränen versuchte die junge Lady Cook zu lächeln.

"Lass es gut sein, Cathy. Ich werde sicher darüber hinwegkommen..."

Cathy runzelte ihre hohe Stirn unter der dunklen Satinhaube.

"Meint Ihr wirklich?" fragte sie besorgt. "Ich weiß aus Erfahrung, dass Liebesschmerz lange dauert, bis er vergeht..."

"Es wird vielleicht eine Weile dauern, aber irgendwann...ich werde Thomas vergessen, und wenn ich hundert Jahre dafür brauche!"

Und dabei lag in ihrem Gesicht ein harter, entschlossener Ausdruck, der Cathy tief beeindruckte.

Sie ist eine schrecklich starke Person für ihre zwanzig Jahre...genau wie die Mutter...Und sie erinnerte sich beinahe bildhaft daran, wie mutig und verwegen Beatrice dem nahenden Tod ins Auge geblickt hatte.

Während der folgenden Wochen versuchte Tabitha, sich mit ihren kulturellen Interessen zu beschäftigen und ihren Geist zu trainieren.

Bis zum Tode ihres Vaters im Jahre 1545, also bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte sie ausgezeichnete Lehrer gehabt. Französisch, Italienisch und Spanisch sprach sie fließend, Griechisch ebenfalls, und das Übersetzen von lateinischen Texten hatte ihr von je her große Freude bereitet.

Auch versuchte sie sich im Lösen von schwierigen Rechenaufgaben, da sie wusste, dass dies sie von ihren persönlichen Problemen ablenken würde, doch meist blieben die Lösungswege ihr unklar, sodass sie sich lieber mit Ilias und Odyssee beschäftigte und einmal aufs neue sämtliche Kapitel von Platons "Der Staat" in allen Einzelheiten studierte.

Cathy, die ihr zwischendurch die Mahlzeiten in das kleine Arbeitskabinett brachte, überraschte dieser plötzlich wieder aufkeimende Lerneifer, aber sie wagte nicht, etwas dagegen zu sagen, wusste sie doch, wovon ihre Herrin sich abzulenken versuchte.

Auch wurden die Ausritte, welche Tabitha auf ihrer Lieblingsstute White Bell unternahm, immer länger und ausgedehnter. Sie erkundete neue Landstriche, galoppierte an der Themse entlang und genoss den Wind, der ihr dabei um die Ohren blies und ihr das lange, rabengleiche Haar aus der Stirn schlug.

Die Monate gingen ins Land, die Hitze des Hochsommers schwand nach und nach, es begann zu regnen und kühler zu werden, schließlich verfärbten sich die ersten Blätter und Tabitha begann, Thomas Seymour zu vergessen.

Obwohl es ihr seelisch mit jedem Tag besser ging, holte sie sich Mitte Oktober eine schwere Erkältung, als sie bei einem ihrer Ausritte in ein Unwetter geriet.

Mehrere Wochen lang fesselten Fieber und ein schwerer Husten sie ans Bett, und als sie unter Cathys mütterlicher Fürsorge langsam wieder genas, musste sie feststellen, dass Reste des Hustens blieben und nicht mehr verschwinden wollten. Es war ihr unangenehm, zumal sie wusste, dass die Schwindsucht ein erbliches Leiden war. Sie fand, dass sie noch zu jung war, um krank zu werden, und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass ihre Mutter Ende Dreißig gewesen war, als sie gestorben war.

Trotzdem ging es ihr körperlich nicht besser, im Gegenteil, eines Morgens Anfang November wachte sie mit einem furchtbaren Gefühl in der Magengegend auf, das sie sich nicht erklären konnte.

Ihr wurde so übel, dass sie Cathy und ihre beiden Zofen Liz und Heather rief, die einen großen Eimer aus Zinn mitbrachten, in den Tabitha sich erbrach.

Cathy glaubte an eine Magenverstimmung und verordnete heißen Tee und heiße Umschläge. So musste Tabitha erneut mehrere Tage lang das Bett hüten, bis sie nach Cathys Meinung soweit gesund war, dass sie aufstehen konnte. Doch der ständig währende Appetit, mit dem Tabitha für gewöhnlich gesegnet war, blieb nach wie vor aus, und die Amme hörte nicht auf, sich Sorgen zu machen. Sie riet Tabitha, sich vornehmlich von Suppen zu ernähren und somit die letzten Reste ihrer Magenverstimmung zu kurieren, aber auch das half nichts gegen die periodisch auftretende Übelkeit und Tabithas ständig währende Schmerzen im Unterleib.

"Ihr müsst Euch ausruhen, Mylady", bemerkte eines der Dienstmädchen besorgt, als Tabitha am Abend des dreißigsten November von einem Ausritt zurückkehrte. "Ihr führt ein zu unstetes Leben, auf diese Weise werdet Ihr nie gesund!"

Tabitha schaute unwillig in die warmen, braunen Augen der gleichaltrigen Amilie, die vorwiegend in den Küchen arbeitete, und tat deren Bemerkung mit einer Handbewegung ab.

"Unsinn, Amilie. Mein Leben hier in diesem Nest ist mehr als ruhig. Ich gebe ja nicht einmal Gesellschaften!"

"Ja, weil Ihr all Euer Vermögen für prunkvolle Kleider und teuren Schmuck verschleudert." erklang Cathys rauhe, tiefe Stimme in der Halle.

Die junge Frau sah abrupt auf, und als sie ihre Amme bemerkte, welche, die kräftigen Arme in die nicht vorhandene Taille gestützt, am Fuße der Marmortreppe stand, gab sie Amilie einen Wink. Diese knickste ehrerbietig, nahm ihren Korb mit der schmutzigen Wäsche und verschwand.

"Cathy, ich muss mit dir reden."

Sie kam auf die Amme zu, während sie ihren schwarzen, regennassen Mantel auszog. Cathy betrachtete das Kleidungsstück und Tabithas aufgelöstes, feuchtes Haar mit unverholener Missbilligung.

"Wirklich, Mylady, bei diesem Wetter...es ist eiskalt draußen. Wenn Ihr so weiter macht, verschwindet Euer Husten nie!"

"Meinen Husten lass meine Sorge sein." Tabithas Augen funkelten herrisch. "Ich muss etwas Anderes mit dir besprechen."

Cathy breitete ergeben die Hände aus.

"Wie Ihr befiehlt, werte Lady Cook. Und? Um was handelt es sich?"

Tabitha sah sich nach allen Seiten der Halle um, packte dann ihre alte Kinderfrau hart am Arm und zog sie die Treppenstufen hinauf.

"Wir gehen besser hinauf in mein Schlafgemach. Heather und Liz sind hoffentlich nicht anwesend...ich muss dir etwas zeigen."

Im Schlafzimmer angekommen, verriegelte Tabitha die schwere Eichentür, gebot Cathy, an ihrer Bettkante Platz zu nehmen und begann, ihr Kleid aufzuhaken. Cathy beobachtete sie erstaunt, während sie die siebzehn Meter dunkelblauen Samt ihres Reitkleides raschelnd herabfallen ließ und schließlich nur noch in Mieder und Unterkleid dastand.

Sie stellte sich vor ihre Amme und sah sie erwartungsvoll an.

"Und?"

Cathy musterte sie stirnrunzelnd, zuckte dann die Achseln und schüttelte den Kopf.

"Ich verstehe nicht, was Ihr wollt, Mylady. Was soll mir denn an Euch auffallen?"

Tabitha starrte sie einen Augenblick lang fassungslos an.

"Und es fällt dir wirklich nicht auf?"

Cathy betrachtete sie noch genauer.

"Nein. Was soll mir denn auffallen?"

"Na, meine Taille!" Tabithas Ton klang ein wenig ungehalten. "Da!" Und sie zeigte demonstrativ mit der Hand auf ihren Unterleib. "Siehst du es wirklich nicht? Ich habe zugenommen!"

Die Falten auf Cathys Stirn vertieften sich.

"Zugenommen? Mylady, das soll wohl ein Scherz sein. Ihr esst doch kaum noch einen Bissen."

"Trotzdem! All meine Lieblingskleider spannen mich plötzlich schrecklich um die Taille, und Heather muss mir seit Tagen das Mieder weiter schnüren!"

Abermals kopfschüttelnd stand die Amme auf.

"Das bildet Ihr Euch ein, Mylady. Wenn ich Euch anschaue, sehe ich lediglich das gewohnte, zierliche Ebenmaß von Figur vor mir." Sie klopfte Tabitha freundlich auf die Schulter. "Und nun zieht Euch trockene Sachen an und esst die Suppe, die ich Euch in Euer Wohngemach gestellt habe. Sie wird sonst noch ganz kalt."

Tabitha drehte sich trotzig zu ihr um.

"Du weißt, dass mir vor fetten Suppen ekelt!"

Cathy ging achselzuckend nach draußen.

"Wenn Ihr nicht wollt...ich meine es schließlich nur gut."

Tabitha schnaubte unwillig, trotzdem holte sie Liz, ließ sich in eines der schlichteren Gewänder hüllen, welches etwas weiter geschnitten war, setzte sich in ihr Wohnzimmer und löffelte gedankenverloren ihre Suppe.

Was sie Cathy nicht gesagt hatte, weil sie wusste, dass diese sofort die ihrer Erfahrung als Amme gemäßen Rückschlüsse ziehen würde, war die Tatsache, dass ihre Blutung seit Monaten ausgeblieben war. Mittlerweile lag ihre letzte Periode so lange zurück, dass sie sich an das genaue Datum nicht mehr erinnern konnte.

Den ganzen folgenden Tag über lief sie rastlos durch das Schloss und versuchte mit eiserner Macht, ihre Nerven zu beruhigen.

Das bildest du dir alles nur ein, sprach sie zu sich selbst, es ist doch ganz normal, dass die bösen Monatstage einmal ausbleiben, sie können auch zweimal ausbleiben, dreimal, viermal...

Doch kurz nach Neujahr, es war der Tag, an dem verspätet der erste Schnee fiel, bemerkten auch Liz und Heather, dass Tabitha erheblich zugenommen hatte. Keiner von Beiden wollte es gelingen, ihr Kleid zuzuhaken.

"Mit Verlaub, Mylady, es liegt an Eurem Unterleib." bemerkte Heather vorsichtig.

"Ja." bestätigte die rothaarige Liz. "Euer Unterleib ist merklich dicker geworden."

"Wie seltsam, wo ihr doch so wenig esst..."

In diesem Augenblick war es mit Tabithas Beherrschung vorbei. Mit barschen Worten herrschte sie ihre Kammerfrauen an.

"Ja, ja, ich weiß, dass ich zugenommen habe, ich sehe es selbst! Ich bin schließlich nicht blind! Und nun verschwindet, lasst Euer Geschwätz und geht mir aus den Augen, ich kann Eure Gegenwart nicht mehr ertragen! Los doch!"

Erschrocken flüchteten die Zofen aus dem Raum.

Tabitha warf sich mit dem Rücken auf ihr Bett und presste schwindelnd die Hände auf die kleine Wölbung ihres Bauches.

"Großer Gott..." flüsterte sie. "Es kann nicht sein...es darf nicht sein..."

Trotzdem wusste sie, dass es keine andere Möglichkeit gab. Thomas hatte sie im August besucht, das war vor nahezu fünf Monaten gewesen...an einem Hochsommerabend vor fünf Monaten.

Und sie hatten miteinander geschlafen. Seit dieser Zeit war ihre Blutung ausgeblieben, ja, jetzt erinnerte sie sich ganz deutlich.

"Barmherziger Gott, was hast du mir angetan?" fragte sie in die Stille hinein. "Warum ich, warum nicht irgend eine andere, verheiratete Frau, dich sich darüber freuen würde, warum ausgerechnet ich?!"

Und sie begann zu weinen und konnte nicht aufhören. Schluchzend barg sie ihren Kopf in den Kissen und verstummte erst, als die schwere Tür in ihren Angeln knarrte und Cathy den Raum betrat.

"Liz und Heather haben mir erzählt, was los sei, und dass Ihr wütend geworden seiet."

"Ja, natürlich!" Tabitha ballte ihre linke Hand zur Faust und schlug damit mehrmals heftig auf das Kissen. "Natürlich bin ich wütend geworden! Oh Cathy, ich will nicht...ich will kein Kind bekommen, Cathy, ich will nicht..."

Die Alte setze sich an die Bettkante und streichelte Tabithas Haar, wie sie es immer tat.

Nach einer Weile, in der nur Lady Cooks leiser werdendes Schluchzen zu vernehmen gewesen war, fragte sie behutsam:

"Sagt mir, wann hat Lordadmiral Seymour Euch zuletzt besucht? War's Anfang September, oder noch im August?"

"Im August." Tabitha hustete und drehte sich auf den Rücken. "Aber das weißt du doch, Cathy."

"Ja, natürlich..." Die Amme schien zerstreut. "Nun, dann ist es freilich zu spät."

Tabitha zog drängend an Cathys dickem Arm.

"Was ist zu spät, Cathy? Sag es mir, was ist zu spät?"

Cathy lächelte gütig.

"Nun, ich dachte mir, vielleicht könnte man die Schwangerschaft noch abbrechen. Sie haben gewiss noch Tollkirschen in den Küchen, du weißt ja, wie die jungen Mägde sind..." Cathy kicherte. "Es gibt genug junge, hübsche Burschen in Enfield. Da sollte man immer Tollkirschen auf Vorrat haben, für alle Fälle..." Dann aber wurden ihre Züge wieder ernst. "Aber bei Euch, die Ihr bereits im fünften Monat seid...es gibt keine Möglichkeit mehr, Myaldy. So schwer der Gedanke auch ist, Ihr müsst das Kind austragen."

"Aber was soll den werden, wenn das Kleine da ist, ein kleiner Bastard, so ganz ohne Vater? Was soll ich denn machen mit dem armen Ding..." Und sie begann erneut zu schluchzen. "Ich weiß doch gar nicht, wie man mit Kindern umgeht...und ich will dem Kleinen nicht die Schmach zumuten, später verachtet und als illegitimes Balg abgekanzelt zu werden..."

Cathy tätschelte ihr lächelnd die tränennasse Hand.

"Beruhigt Euch doch, Mylady! Wie alle künftigen Mütter denkt auch Ihr nur an die Zukunft...lasst doch das Kleine erst mal auf die Welt kommen. Dann sehen wir gemeinsam weiter, ja?"

"Gemeinsam?" Sie setzte sich auf und sah ihre alte Amme durch den Tränenschleier vor ihren Augen an. "Heißt das...heißt das, du wirst mir helfen?"

Cathy schloss sie in die Arme.

"Natürlich, Mylady. Selbstverständlich werde ich Euch helfen! Ich lasse Euch doch nicht einfach im Stich, zumal jetzt, in einer solch schwierigen Situation."

Tabitha lächelte und trocknete ihre Tränen.

"Ich danke dir, Cathy. Es ist jetzt wichtig, dass ich Leute habe, denen ich vertrauen kann...es darf auch auf keinen Fall bis hinunter nach Enfield vordringen, dass ich schwanger bin. Ich muss in den nächsten Monaten im Schloss bleiben, ich darf nicht mehr ausreiten, mich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen..." Sie seufzte. "Cathy, das werden furchtbar schwere Wochen für mich!"

Als der Schnee die kalte, kahle Landschaft rund um das Schloss wie ein Leichentuch bedeckte und man niemanden mehr in den Straßen und Gassen der Grafschaft antraf, sandte Tabitha ihren treuesten Boten, den jungen, drahtigen Mr. Simons, nach Whitehall an den Hof, damit er ihr Informationen über die politischen Neuheiten im Land und den Lordadmiral Seymour bringe.

Es war das erste Mal seit fast einem halben Jahr, dass sich ihre Gedanken wieder mit Thomas beschäftigten, und erleichtert stellte sie fest, dass der Gedanke an ihn nicht halb so sehr schmerzte wie im vergangenen September. Jedes Mal, wenn sie sich des heranwachsenden Lebens in ihrem dicker werdenden Leib entsann, kam ihr unwillkürlich auch der Gedanke an den Vater des künftigen Kindes, und sie dachte mehr zornig als traurig daran, dass das kleine Geschöpf glücklich und unbeschwert aufwachsen können würde, wenn er damals sie, und nicht Katharina zur Frau genommen hätte.

Ende Februar kehrte Mr. Simons aus London zurück und berichtete, dass es keine großen Neuigkeiten gebe, außer der Tatsache, dass auch die Königinwitwe ein Kind von Lordadmiral Seymour erwarte.

Als Tabitha diese Nachricht hörte, malte sich verbissener Ingrimm in ihre schönen, marmorbleichen Züge und sie zog den schwarzen, pelzverbrämten Mantel schützend um sich, wie, um das ungeborene Leben in ihr zu verteidigen.

"Von mir aus soll Katharina acht Kinder von ihm haben, es berührt mich nicht. Mich nicht und William auch nicht."

"William, Mylady?" Cathy, die neben ihr in dem kalten, verschneiten Innenhof stand, blickte sie fragend an.

"Ja, William. Ich werde ihn William nennen."

Cathy lächelte.

"Aber, Mylady, Ihr wisst doch noch gar nicht, ob es überhaupt ein Sohn wird!"

"Und ob ich das weiß", behauptete Tabitha in ihrer sturen Art und Weise. "Ich habe von ihm geträumt letzte Nacht. Er wird dichtes, kastanienbraunes Haar haben, wie Thomas, und große, klare, blaue Augen, wie ich."

Cathy rührten Tabithas naive Fantastereien zutiefst. Sie beobachtete erfreut, dass ihre junge Herrin ihr künftiges Kind zu ihrem kleinen Verbündeten gemacht zu haben schien.

In der Tat war es so. Tabitha fühlte sich mehr und mehr mit dem kleinen, lebhaften Wesen in ihrem dicken, runden Leib vertraut. Mit der Zeit schien "William" recht heftig gegen die enge Herberge zu rebellieren, welche er besaß, was Tabitha besonders in den Morgen- und Abendstunden Schmerzen verursachte.

"Nun, ich denke, da müssen wir wohl durch", sagte sie eines Morgens leise, als sie die kräftigen Stöße des Kindes in ihrem Leib spürte. Es war der Morgen nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Sie war nun im siebten Monat und hatte Mitte Mai mit der Niederkunft zu rechnen.

Als sie langsam aufstand und hinüber in das angrenzende Gemach ging, um aus dem Fenster hinaus in den Garten zu blicken, bemerkte sie erfreut, dass auch die letzten Schneereste getaut waren. Wie gerne wäre sie jetzt hinaus in die Landschaft geritten und hätte sich wie jedes Jahr an den Krokussen und Forsythien erfreut, die an den Wegrändern erblüht waren. Aber William ließ das leider nicht zu.

Tabitha seufzte schwer bei der Erkenntnis, dass ihr kleiner Verbündeter ihr weniger erlaubte als ihr Vater und ihre Mutter jemals zuvor.

Kapitel 3

Es regnete in Strömen.
 

Schon seit den frühen Morgenstunden war der gesamte Haushalt in Enfield Court furchtbar durcheinander geraten. Liz und Heather, Tabithas ergebene Zofen, huschten eilig treppauf und treppab und schleppten immer wieder aufs Neue Eimer mit kochend heißem Wasser in die Gemächer ihrer Herrin, für den Fall, dass etwas passierte.
 

Das Dienstmädchen Amilie war nach frischen, weißen Leintüchern ausgeschickt worden und nicht zurückgekehrt, und Cathy versuchte verzweifelt, die passenden Kräuter zu finden, um ihrer Herrin ein schmerzstillendes Gebräu zuzubereiten.

Früh am Morgen, etwa gegen neun Uhr, hatten Tabithas Wehen eingesetzt, und dies mit solcher Heftigkeit, dass man zunächst geglaubt hatte, es würde alles ganz schnell gehen.

Doch alle, die dies dachten, befanden sich schrecklich im Irrtum, denn mittlerweile war es spät am Abend, und noch immer lag die junge Mutter fiebernd und schmerzgeplagt in dem breiten Bett, leise stöhnend, wobei sie den Kopf von einer Seite zur anderen warf.
 

March, eine der jungen Wäscherinnen, war bei ihr und hielt ihre Hand.

Man hatte sie mit der Schwangeren allein gelassen, und die erst fünfzehnjährige March blickte furchtsam auf Tabithas schweißbedecktes Antlitz hinunter.

Sie war furchtbar unerfahren und hatte große Angst, dass das Kind kommen würde, wenn niemand bei ihr war, um zu helfen.

Denn allein würde sie es nicht schaffen, Tabitha zu entbinden, dazu bedurfte es Cathy oder Heather und Liz.
 

Marchs Sorgen waren jedoch unbegründet, denn es sollte noch Stunden dauern, bis Tabitha heftig aufschrie und Cathy gehetzt in den Raum stürzte.

Mittlerweile hatte man mehrere Kerzen in großen, dicken Halterungen im Raum angezündet, denn die Dunkelheit war über Enfield hereingebrochen.
 

Noch immer trommelte der Regen erbarmungslos gegen die bunte Fensterscheibe, und noch immer stöhnte Tabitha und warf den Kopf von einer Seite des Kissens zur Anderen.

Es war kurz vor elf Uhr, als ein heftiger, messerscharfer Stich Tabithas gewölbten Leib durchzuckte.

Es war ein Schmerz, unerträglicher als alle anderen Wehen zuvor. Sie schrie auf und verlor beinahe das Bewusstsein, als es wie ein riesiges Messer vom Rücken durch sie hindurch jagte. Cathy stürmte mit wehenden, grauen Haaren in das Zimmer, Liz und Heather kamen hinterher, den Wassereimer schleppend.
 

"Stellt ihn da hinüber!" befahl die Amme, und die beiden Zofen stellten den Eimer am Kopfende des Bettes auf.

Cathy wies March an, weiterhin Tabithas Hand zu halten, und March gehorchte, auch wenn der Griff der werdenden Mutter ihr Schmerzen verursachte.

Mit einer raschen Bewegung schlug Cathy die Decke zurück und schob Tabithas Nachthemd leicht nach oben.

"Cathy..." flüsterte diese erstickt..."Cathy, du schaffst das nicht allein...hol' die Hebamme...unten im Dorf..."

"Seid still, Mylady, und redet kein unnötiges Zeug. Ich habe schon Eure Mutter entbunden. Natürlich schaffe ich das allein. Und jetzt müsst Ihr pressen, Myaldy, so fest Ihr könnt, sonst wird Euer William nie das Licht der Welt erblicken."
 

Tabitha gehorchte, und presste, bis sie nicht mehr konnte. Sie fühlte sich, als wolle eine unendliche Macht sie unbarmherzig in zwei Teile reißen, schrie und keuchte, um schließlich unter Tränen innezuhalten.

"Ich kann nicht mehr..." schluchzte sie verzweifelt. "Es geht einfach nicht, Cathy, es geht nicht..."

"Doch, es geht, es muss gehen!" Cathy drückte mit ihren rauhen Handflächen auf Tabithas Bauch, während Liz und Heather ihre Beine auseinanderhielten und March am Kopfende ihres Bettes glaubte, man drücke ihr das Blut aus der Hand.
 

Erneut begann Tabitha zu pressen, während sie schrie, als würde sie alle Stimmen der Welt übertönen wollen.

"Der Kopf ist schon zu sehen, weiter, Mylady!"

Und Tabitha drückte, als gelte es ihr Leben, presste das Wesen aus ihrem gemarterten Leib heraus, und während sie weinte und keuchte, rutschte mit einem letzten, schneidenden Schmerz das Kind in die Welt, klein, schrumpelig und blutverschmiert, ein hilfloses, quäkendes Etwas, das Tabitha mit seinem ersten Schrei signalisierte, dass die Prozedur ausgestanden war.
 

Sofort durchbiss Cathy die Nabelschnur, welche in Tabithas Leib führte, band diese ab und reichte das Kind Liz, welche mit frischen, weißen Tüchern neben ihr stand.

"William..." flüsterte Tabitha und streckte die schwachen Arme aus. "Gebt mir meinen William."

Liz trat näher heran und gab Tabitha behutsam das kleine Wesen in die Arme, dessen Kopf aus den Leintüchern hervorlugte.

"Es tut mir leid, aber ich muss Euch leider enttäuschen, Mylady. Ich fürchte, Ihr könnt Euer Kind nicht William nennen."

Tabitha, welche das Neugeborene behutsam an ihre Brust hielt und kaum spürte, wie es die Lippen um ihre Brustwarze legte und heftig zu saugen begann, blickte ihre Zofe stirnrunzelnd an.

"Aber - warum denn nicht?"

Cathy lächelte. Langsam wusch sie das Blut von Tabithas nacktem Körper, was die verkrampften Muskeln allmählich löste.

"Ganz einfach, Mylady." erklärte sie."Weil Ihr eine Tochter geboren habt."
 

Im ersten Augenblick schien Tabitha dies unmöglich. Vorsichtig lockerte sie die Tücher, die ihr Kind verbargen, und überzeugte sich schließlich davon, dass Cathy und ihre Zofen Recht hatten.

Zwar im ersten Moment befremdet, drückte sie das trinkende Kleine schließlich doch näher an ihren Körper und auf ihren Zügen machte sich ein wunderschönes Lächeln bemerkbar.

"Ich habe eine Tochter! Ist das nicht lustig? Eine liebe, kleine Tochter, das liebste Mädchen auf der ganzen Welt."

Cathy lächelte und streichelte der jungen Mutter über das schweißnasse Gesicht.

"Seht nur, sie hat ganz feines, dunkles Haar am Kopf, und wie klein sie doch ist!"

"Das ist normal, Mylady,alle neugeborenen Kinder sind so klein."
 

"Und? Wie wollt Ihr sie nennen, Eure Tochter?"

Tabitha überlegte, während die Lippen ihres Kindes feine Stiche in der mit Milch gefüllten Brust auslösten.

Nach einer Weile des Schweigens wurde ihr klar, dass dieses Problem schwieriger war, als sie geglaubt hätte. Da sie von Anfang an der festen Überzeugung gewesen war, einen Sohn zu bekommen und den Namen William vor Augen gehabt hatte, wollte ihr nun partout kein Name einfallen, den sie für ein Mädchen schön gefunden hätte.
 

Cathy deckte ihre Herrin sorgsam zu und wies die beiden Zofen an, den Eimer mit altem Wasser und Blut fortzubringen. Dann zog sie einen Stuhl heran und setzte sich erschöpft neben das Bett.

"Wenn Ihr mich fragt, es gibt tausende wohlklingender Mädchennamen." meinte sie. "Mir persönlich hat Amy immer gut gefallen, oder Christine."

"Amy, mhm?" Tabitha beobachtete nachdenklich ihre Tochter, die nun satt zu sein schien, in ihren Tüchern zu strampeln begann und die winzigen Beine gegen die Brust ihrer Mutter stemmte.

Schließlich schüttelte Lady Cook den Kopf. "Nein", sagte sie, "nein, wie eine Amy siehst du nicht aus. Amys sind blond und rosig, du aber bist ein richtiges, dunkles Igelchen."
 

Sie schaukelte das Kind in ihren Armen hin und her, da es erneut zu wimmern begonnen hatte. "Und nach Christine siehst du auch nicht aus."

"Vielleicht Mary." schlug nun March vor, die noch immer am Kopfende von Tabithas Bett saß und ihre Hand massierte.

"Mary? Nein, das ist auch nichts."

"Mildred?"

"Mildred....Mildred ist recht schön, ich kannte mal eine Mildred, die hatte rotes Haar und Sommersprossen. Wer weiß...vielleicht bekommt sie ja auch Sommersprossen."

"Gewiss nicht." Cathy schüttelte den Kopf. "Ihr habt keine, und der Lordadmiral hatte auch keine."

"Nun, dann wäre es besser, ich würde sie...ach, verflucht, mir fällt einfach nichts ein. Weißt du, ich dachte sowieso mehr an etwas Ausgefallenes...irgend etwas, das nicht ganz so englisch ist."

"Wie meint Ihr das, Mylady? Wollt Ihr sie vielleicht Letitia nennen, oder Beatrice, nach Eurer Mutter?"

"Nein, nicht so etwas...ich meinte, vielleicht könnte man sie Patience nennen."

March zog die Stirn in Falten, und Cathy begann zu lachen.

"Patience? Mylady, das ist wohl nicht Euer Ernst. Patience bedeutet Geduld, und wenn Eure Tochter auch nur halb so ist wie die Mutter, dann wird sie nicht einen Funken Geduld haben."

Tabithas Augen funkelten angriffslustig.

"So, meinst du?" Dann aber wurde sie erneut nachdenklich. "Du musst es ja wissen...nun, dann vielleicht Audrey...oder besser noch Anna. Anna hat mir immer wahnsinnig gut gefallen, ich habe es stets bedauert, dass Mutter mich nicht so genannt hat."

"Anna ist hübsch, da habt Ihr recht. Aber, mit Verlaub, ein wenig einfallslos. Jedes zweite englische Mädchen heißt Anna. Wenn ich Euch einen Vorschlag machen dürfte, gebt ihr einfach noch einen Namen dazu."

"Du magst recht haben. Anna und Moud, vielleicht."

"Anna Moud Cook? Nein, das hört sich nicht gut an."
 

"Dann vielleicht Anna Rose oder...nein, wartet." Tabithas Augen begannen plötzlich zu funkeln. "Ich habe eine hervorragende Idee! Wir machen eine griechische Göttin aus ihr!"

March und Cathy tauschten über das Bett hinweg einen fragenden Blick aus.

"Eine griechische Göttin, Mylady? Wie soll ich das verstehen?"

"Na, Thea! Thea, griechisch, die Göttin. Anna Thea Cook."

"Thea...ein wenig schwer auszusprechen für die englische Zunge."

"Aber warum denn?" mischte sich mit einem Mal March ein. "Ich habe eine Cousine in Irland, und sie heißt auch Anna Thea...naja, vielleicht nicht ganz...Anthea. Ihr Name ist Anthea. Sie ist drei Jahre älter als ich."
 

"Anthea!!" Tabitha lachte vor Begeisterung auf. "Natürlich, das ist es. Anthea. Anthea Cook."

Cathy strahlte.

"Ein herrlicher Name, Mylady, und ausgefallen genug,weiß Gott!"

"Ja, nicht?" Tabitha schaukelte das inzwischen schlafende Kleine fröhlich hin und her. "Anthea Cook. Meine kleine Anthea..."

Und so gab es für Tabitha von diesem denkwürdigen Moment an nichts Wichtigeres mehr auf der Welt als Anthea.

Kapitel 4

Anthea wurde sehr rasch zum Mittelpunkt des Lebens in Enfield Court. Bereits am zweiten Tag nach der Geburt ihrer Tochter hätte Tabitha fast einen Wutanfall bekommen, weil noch keine Wiege für das Kind existierte.
 

Sie beauftragte Emma mit dem Nähen eines ordentliches Steckkissens und den Stallburschen Jeff, der einige gute handwerkliche Künste beherrschte, mit dem Zimmern einer Wiege.
 

Bis diese fertig war, musste Anthea, dick eingewickelt in Windeln und frische, weiße Tücher, neben ihrer Mutter liegen, die erst eine Woche nach der Geburt zum ersten Mal fähig war, aufzustehen.
 

Zwar war Tabitha noch immer schwach und wund, aber das störte sie nicht, hatte sie doch nun das Steckkissen und die Möglichkeit, ihre Tochter im Schlossgarten spazieren zu tragen.

Auch besaß die junge Mutter wohl einige Eigenarten, so ließ sie es zum Beispiel nicht zu, dass irgend ein Dienstmädchen Antheas Windeln wechselte, sondern erledigte diese Aufgabe beflissen selbst.
 

Auch ließ sie ihre Zofen in den vielen, langen Nächten, in denen ihr Kind wach wurde und schrie, lieber schlafen und stand stattdessen selbst auf, um die Kleine zu wickeln oder zu stillen, sodass es kein Wunder war, dass sie an vielen Tagen mit tiefen, dunklen Augenschatten durch das Schloss lief.

Ein paar Wochen nach Antheas Geburt wurde auch die Wiege fertig, eine recht ordentliche Arbeit mit schönen, sorgfältig eingeschnitzten Intarsien.

"Passend zu Eurer Kommode und Eurem Schminktisch." fand die Zofe Heather, als Tabitha ihre schlafende Tochter vorsichtig hineinlegte.

Diese lächelte nur stumm, küsste ihre Tochter zaghaft auf die kleine Stirn und setzte sich dann in einen Lehnstuhl, um ein wenig in Homers Odyssee zu lesen.
 

Als Cathy am Nachmittag vorschlug, auf das Kind aufzupassen, damit Tabitha einen ihrer geliebten Ausritte machen konnte, schnaubte diese nur wegwerfend.

"Das kommt überhaupt nicht in Frage, ich bleibe hier. Wenn sie aufwacht und gestillt werden möchte, habe ich das zu verantworten."

Sie sah ihre alte Amme eindringlich an. "Sie braucht mich, Cathy, sie braucht mich dringend. Und ich werde sie nicht einfach verlassen, sowie ihr Vater sie und mich verlassen hat."

Cathy zuckte die Achseln und verließ wortlos den Raum. Dabei konnte sie nicht leugnen, dass sie die junge Mutter verstehen konnte. Tabitha sprach zwar nie darüber, aber Cathy bemerkte trotzdem deutlich, wie sehr sie unter der Tatsache litt, dass ihr Kind keinen Vater hatte.
 

Am Morgen des achtzehnten Junis im Jahre 1548 kniete Tabitha an Antheas Wiege und schaukelte ihre Tochter vergnügt hin und her.

"Guten Morgen, mein kleiner Sonnenschein", sagte sie fröhlich, während Anthea sie aus riesigen, klaren blauen Augen ansah.

Große, neugierige Augen waren das, die wie zwei Sterne leuchteten in dem kleinen Gesicht.

Sie ballte ihre winzigen Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes zu Fäusten und öffnete sie wieder, vergnügt glucksend.
 

"Weißt du, dass du heute Geburtstag hast, meine Kleine? Genau einen Monat wirst du heute alt."

Cathy, die vorsichtig hinter ihre Herrin getreten war, lächelte gütig auf Mutter und Kind hinab.

"Sie ist so ein entzückendes, kleines Ding." sagte sie leise.

Tabitha nickte.

"Ja, du bist entzückend, kleine Anthea. Ganz entzückend, das niedlichste Kind auf der ganzen Welt."

"Sagt, Mylady, was haltet Ihr von einer Taufe?"

"Taufe?" Tabitha stand auf. Ihre Stirn hatte sich in nachdenkliche Falten gezogen. "Ich weiß nicht, Cathy...Vielleicht ist Pater Brown nicht verschwiegen genug...du weißt doch, es soll eigentlich so gut wie niemand wissen, dass ich ein uneheliches Kind -"

Cathy lachte.

"Darüber würde ich mir nun am allerwenigsten Sorgen machen. Ihr seid eine anständige Christin, Mylady, Ihr habt hier bis jetzt fast jeden Sonntag den Gottesdienst besucht. Und Pater Brown hat Euch recht gern...er wird Euch nicht dafür verurteilen, was Ihr getan habt, und Eure Tochter kann meiner Meinung nach nicht einfach ohne den Segen der Kirche bleiben. Brown wird es gewiss als eine Art...nun ja, Beichte auffassen."
 

"Beichte?" Nun musste Tabitha ihrerseits lachen. "Aber Cathy, Brown ist doch strenger Protestant!"

"Natürlich, Myaldy...ein Vertreter des neuen Glaubens, wie auch Ihr eine Vertreterin desselbigen seid. Trotzdem, gebt Eurem Kind eine anständige Taufe. Ich habe ein spitzenbesetztes Hemdchen für sie genäht, und wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich zu ihrer Patin einsetzen."

Tabitha überlegte.

"Mhm...zu ihrer Patin...deine Idee ist nicht übel, ich werde darüber nachdenken."
 

Zwei Wochen später machte sich Tabitha Cook in Begleitung ihrer Amme und ihrer beiden Zofen mit Anthea auf zu der kleinen, gotischen Kirche, wo der alte Pater Brown in einer Türniesche stand und sie lächelnd empfing.
 

Er war in seine übliche, dunkle Kutte gehüllt und trug eine schwarze Kappe, unter der sein schneeweißer Haarkranz hervorlugte.

Tabitha wusste, dass der Alte ehemals Mönch in einem der naheliegenden Klöster gewesen war, die man jedoch nach der Säkularisierung aufgelöst hatte. Vor ungefähr vier Jahren war er zum lutherischen Glauben konvertiert und Pfarrer in der kleinen Grafschaft Enfield geworden.

Die Gemeinde liebte und verehrte ihren Kirchenpater, hatten doch viele von seinem bemerkenswerten Wissen und seiner humanistischen Bildung erfahren.
 

"Nun, meine Tochter", begrüßte er die junge Frau, die ihr Kind schützend an ihre Brust drückte.

Anthea lag in ihrem Steckkissen. Sie trug ein besticktes Taufhemd und eine Spitzenhaube, und sie schlief.

Der alte Pfarrer betrachtete Tabitha und ihre Tochter eine Weile lang, und das Runzeln der dichten, weißen Brauen zeigte, dass er langsam begriff.

"Euer Kind, meine Tochter?"

Tabitha nickte.

"Ja. Aber Anthea ist nicht....nun, sie ist nicht..."

Pater Brown hob die dürre, von blauen Adern durchzogene Hand.

"Ich weiß." Er lächelte kaum merklich. "Ich werde Euch nicht verurteilen. Vielen jungen Damen geht es wie Euch. Ist es...Seymours Kind?"

Er kannte den Lordadmiral gut, sie hatten einige Male in seinem Hause einen Becher Wein miteinander getrunken und sich über die politischen Zustände unterhalten.
 

Brown wusste, dass Seymour ein Liebesverhältnis mit der jungen Lady Cook hatte, und Tabitha ihrerseits wusste, dass es ihm bekannt war.

"Ja." sagte sie fest. "Ja, Anthea ist Thomas' Tochter."

"Anthea. Sie heißt Anthea?"

Ein Lächeln malte sich in ihre Züge.

"Ja, Anthea. Würdet Ihr ihr Euren Segen erteilen, Pater Brown?"

Er warf einen kurzen Blick auf Cathy und die beiden Zofen, und Cathys Mundwinkel zuckten leicht nach oben.

"Ich werde ihre Patin sein, wenn's Euch beliebt." sagte sie.

Schließlich nickte der Alte.

"Kommt mit in meine Kirche." meinte er, an Tabitha gewandt, und führte sie mit ihrem kleinen Gefolge ins Innere des Gotteshauses.
 

Die Kirche von Enfield war dunkel und außer einigen Marienfiguren waren es lediglich die bunten Glasfenster, welche Jesu' Leidensweg in allen Etappen schilderten, die ihrem Innern etwas Schmuckhaftes verliehen.

Auch der Altar mit der großen, hölzernen Jesusfigur am Kreuz war nicht sonderlich prächtig.

Pater Brown führte sie hinüber zu dem Taufbecken aus dunklem Marmor, nahm mit seiner linken Hand etwas geweihtes Wasser und benetzte damit die Stirn des schlafenden Kindes, wobei er seine Segensworte in englischer Sprache formulierte.

Anthea erwachte jedoch, als das kalte Wasser ihre Stirn berührte, und begann ein markerschütterndes Geschrei. Tabitha wiegte ihre Tochter in den Armen, aber es dauerte eine ganze Weile, bis das Kind sich beruhigte und sie sich bei Pater Brown bedanken und sich von ihm verabschieden konnten.
 

"Ach, er ist ein herzensguter Mensch." bemerkte Cathy gerührt, als sie den inneren Hof von Enfield Court durchquerten und das Innere des Schlosses betraten.

"Das ist er unbestritten", stimmte Tabitha ihr zu. "Ich muss dir danken, Cathy. Mir ist gleich viel wohler ums Herz, jetzt, da ich weiß, dass Anthea den Segen der Kirche hat. Ob Bastard oder nicht, vor Gott sind wir alle gleich."

"Und Ihr glaubt wirklich nicht, dass Pater Brown es in ganz Enfield herumerzählen wird?" wagte Heather eine vorsichtige Frage.

Tabitha schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, nie. Es ist seine Pflicht als Geistlicher, zu schweigen. Die Katholiken haben schließlich auch ihr Beichtgeheimnis. Und überhaupt, was heißt "in ganz Enfield"? Irgendwann werde ich mit meiner Tochter auch einmal nach London reisen, und spätestens dann wird man es erfahren. Außerdem wird Anthea ihren Spielraum brauchen, wenn sie älter wird, sie wird sich mit den anderen Kindern in Enfield anfreunden, und dann werden ohnehin alle wissen, dass sie illegitim ist."
 

"Mit Verlaub, es gibt eine Möglichkeit, Eurer Tochter diese Schmach zu ersparen, Myaldy."

"So?" Tabitha hob gespannt die Brauen.

"Nun, Ihr müsstet heiraten. Reist nach London und sucht Euch einen der jungen Edelmänner, die bei Hofe noch frei sind. Ihr wisst, nach dem Tod Eures Vaters haben ganze Heerscharen um Eure Hand angehalten! Meiner Meinung nach war es ohnehin falsch von Euch, dass Ihr Euch einfach in diese Einsamkeit zurückgezogen habt..."

"Cathy", Tabithas Stimme war schneidend, "Du weißt genau, dass es auf der Welt nur einen einzigen Mann gibt, den ich heiraten würde, und der hat bereits eine Frau."
 

"Ach Gott, hängt Ihr immer noch so sehr am Großadmiral..."

"Er ist der Vater meines Kindes! Ihn liebe ich und keinen anderen sonst!"

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie brach in erschöpftes Schluchzen aus.

Mittlerweile saßen sie oben in Tabithas Schlafzimmer, und Anthea lag friedlich in ihrer hölzernen Wiege.

"Mylady!" Cathy legte ihre breite Hand auf Tabithas bebende Schulter. "Mylady, grämt Euch nicht. Ich schwöre Euch, auch das wird irgendwann vorbeigehen."

"Nein...es wird nicht vorbei gehen, Cathy. Nie, nie."

Tabitha setzte sich mit tränennassem Gesicht in ihrem Stuhl auf. "Es ist nun bald ein Jahr vergangen, seit Thomas mich verlassen hat. Ich weiß überhaupt nichts mehr von ihm, wo er ist, was er tut, was er macht..."

Sie begann erneut zu schluchzen. "Und er weiß nicht, dass es Anthea gibt! Er weiß nichts von seiner eigenen Tochter..."
 

Anfang Juli verschlechterte sich Tabithas gesundheitlicher Zustand rapide.

Der Husten schien mit jedem Tag schlimmer zu werden, sie verbrachte erneut mehrere Tage lang im Bett, und so übernahm Cathy es, sich um Anthea zu kümmern. Letzteres war keine leichte Aufgabe, da Anthea anstrengender war als andere Säuglinge, sie schrie oft und musste häufiger gestillt werden.
 

Um sich selbst über ihren seelischen Kummer hinwegzutrösten, gab Tabitha immer wieder neue Kleider, Mäntel und kostbare Umhänge in Auftrag, was sich mit der Zeit erheblich in ihrem Vermögen niederschlug.
 

Sie teilte mit vollen Händen aus, gab den Boten, die sie nach London schickte, übermäßigen Lohn, stolzierte in großzügigen Pelzmänteln und mit Perlen behängt durch ihr Schloss und lebte leichtfertig in den Tag hinein.

Auch das monatliche Einkommen, welches sie, wie alle übrigen Grundbesitzer und Landadligen, vom Lordprotektor ausbezahlt bekam, verschleuderte sie gewissenlos für Kleider und Schmuck.

So musste sie eines Tages feststellen, dass sie nicht mehr genug Geld besaß, um ihre Dienerschaft anständig zu entlohnen.
 

Sie erschrak, als sie die Liste mit den Ausgaben des letzten Monats durchging, fragte sich, wie es soweit hatte kommen können, und beschloss, einen guten, alten Freund ihres Vaters um eine kleine Anleihe zu bitten; es ging auf keinen Fall, dass ihre Dienerschaft nicht angemessen bezahlt wurde.
 

"Ich glaube nicht, dass der Graf von Warwick es begrüßen wird, wenn er erfährt, dass die Tochter seines alten Freundes Cook eine Verschwenderin ist." bemerkte Cathy gedehnt, welche im Türrahmen von Tabithas Arbeitskabinett stand, die kleine Anthea im Arm.

"Das lass am besten meine Sorge sein." erwiderte Tabitha ungehalten, während sie den Brief siegelte, der noch am selben Abend zum Palais John Dudleys, des Grafen von Warwick, gebracht werden sollte.

"Ich kenne Dudley besser als du. Er und Vater waren zueinander wie zwei Brüder. Er wird mich nicht im Stich lassen."

Cathy betrachtete zögernd Tabithas entschlossenes Gesicht und überlegte, ob sie der Herrin erzählen sollte, was sie von den Dienstboten wusste, die sich gelegentlich in London herumtrieben.

Schließlich gelangte sie zu dem Schluss, dass es besser war, wenn die junge Lady Cook nicht erfuhr, dass man in London sagte, John Dudley habe zwei Gesichter, ein gutes und ein böses, wobei das gute meist das böse überdeckte. Er war Mitglied des Rates und gehörte zu denen, die unbarmherzig an ihrem Aufstieg arbeiteten.
 

Nachdem Tabitha Mr. Simons mit dem Brief fortgeschickt hatte, trank sie den Tee, den Cathy ihr gegen ihren Husten hatte brauen lassen, trug Anthea im warmen, sommerlichen Schlossgarten spazieren und dachte daran, dass es auf den Tag genau ein Jahr her war, dass Thomas sie im Stich gelassen hatte...

Man schrieb den 16. August des Jahres 1548.

Wie würde ihr Leben in den nächsten Jahren weitergehen?

Würde sie Thomas je wiedersehen, und würde er dann erfahren, dass sie ihm eine Tochter geboren hatte...?

Kapitel 5

John Dudley, der Graf von Warwick, saß in seinem Arbeitszimmer in dem Palais am Strand, unterschrieb Dokumente und siegelte wichtige Briefe, als sein Diener Henry ihm einen ihm unbekannten Boten meldete, der ihm ein Schreiben überbrachte.
 

"Wie ist Euer Name?" fragte er den jungen, schlanken Mann mit den blitzenden, grauen Augen, der ungefähr Mitte Zwanzig zu sein schien.

"Colin Simons, Euer Gnaden." Er verbeugte sich ehrerbietig vor dem Grafen. "Ich bin ein Bote von Lady Tabitha Cook in Enfield Court und bringe Euch ein Schreiben von ihr."
 

"Tabitha Cook, sagt Ihr?" Der Graf runzelte seine dichten Brauen.

Er öffnete den Brief rasch mit einem seiner kostbaren Federmesser, entfaltete das Schreiben und las, was Tabitha in ihrer feinen, dünnen, leicht nach oben stechenden Schrift formuliert hatte.

"So..." sagte er nach einer Weile und ließ sich nachdenklich in den Lehnstuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. "Die junge Dame will also Geld von mir...Ausgerechnet von mir! Dabei habe ich sie zuletzt am Hofe Heinrichs VIII. gesehen, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag...sagt, warum hat Eure Herrin kein Geld mehr, Mr.-"

"Simons, Euer Gnaden. Colin Simons."

"Also, Mr. Simons, warum ist die werte Lady Cook in Geldnot?"
 

Mr. Simons sah betreten zu Boden. Er wusste wohl, dass seine Herrin im Begriff war, ihr gesamtes Vermögen zu verschleudern, und dass sie in völliger Verarmung enden würde, wenn sie so weitermachte, aber er schwieg über diese bedauernswerte Tatsache und meinte nur:

"Ich weiß es nicht genau, Euer Gnaden. Mag sein, dass Mylady im vergangenen Frühjahr ein bisschen zuviel für Renovierungskosten in ihrem Schloss ausgegeben hat..."

"Ach? Renovierungskosten? Hat sie das gesagt?"

"Nicht direkt, Euer Gnaden..."

"So, nicht direkt." Er stand auf und gab Simons lächelnd das Schreiben zurück. "Es ist mir gleichgültig, ob ihr die Wahrheit sprecht oder nicht, sagt Eurer Herrin, ich würde ihr fünfundsiebzig Pfund und dreißig Schilling nach Enfield Court senden, keinen Penny mehr und keinen weniger. Und macht ihr klar, dass, wenn ich nicht alles binnen dreier Monate wieder habe, sie gehörigen Ärger mit seiner Lordschaft, Eduard Seymour, bekommt!"
 

Simons verbeugte sich, wobei er seine Freude kaum verbergen konnte, na, das waren Neuigkeiten für seine Herrin!

Als der Bote gegangen war, stand John Dudley eine Weile lang nachdenklich am Fenster und blickte hinunter zum Themseufer.

Tabitha Cook, überlegte er...

Er konnte sich schemenhaft an ein lustiges, ausgelassenes Mädchen erinnern, dunkelhaarig und bildhübsch. Wie mag es ihr nun gehen, fragte er sich, sie scheint recht verschwendungssüchtig zu sein, nun ja, das ist im Grunde kein Wunder, die Mutter war genauso... Und er dachte daran, wie leichtfertig Beatrice seinerzeit mit dem Vermögen ihres Mannes umgegangen war.
 

Als Mr. Simons aus London zurückkehrte, brachte er nicht nur eine Nachricht.

In London hieß es, dass die Königinwitwe Katharina fünf Tage zuvor dem Kindbettfieber erlegen sei, und ihre Tochter, die kleine Maria, sei ebenfalls wenige Stunden nach der Geburt gestorben.

Diese Nachricht traf die junge Lady Cook wie ein schwerer Schlag ins Gesicht. Sie lag auf dem Divan in der Marmorhalle und schonte sich, da ihr Husten in der letzten Nacht unerträglich gewesen war.
 

Ihre Eindrücke in diesem Augenblick schienen übermächtig. Sie glaubte, alles auf einmal fühlen zu müssen, Glück, Freude, Überraschung, Erschütterung, Scham, Mitleid, Rührung...

Thomas, dachte sie, und ihre Gedanken überstürzten sich, Thomas ist Witwer, ein freier Mann...und er hat nur noch mich...er wird kommen und Anthea und mich in seine Arme schließen und mich zur Frau nehmen, wir werden in Pater Browns kleiner Kirche heiraten...meine Tochter wird einen Vater haben.

Der Gedanke war so herrlich und gleichzeitg so unglaublich für Tabitha, dass sie unwillkürlich zu weinen begann.
 

Mr. Simons, der noch immer mitten in der Halle stand, glaubte, nicht richtig zu sehen, trauerte sie um den Tod der eigenen Rivalin?!

"Mylady..." begann er zaghaft, "Mylady, ich habe noch eine Nachricht für Euch."

Tabitha trocknete ihre Tränen und sah auf, ein überirdisches Leuchten in den großen Augen.

"Eine gute oder eine schlechte?"

"Eine gute, Mylady. John Dudley ist bereit, Euch eine Anleihe von fünfundsiebzig Pfund und dreißig Schilling zu übermitteln, allerdings unter der strickten Bedingung, dass Ihr die Schulden binnen dreier Monate begleicht, ansonsten würde er den Lordprotektor auf Euch aufmerksam machen."

"Eduard Seymour..." sagte sie leise. "Sagt dem Grafen von Warwick, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde das Geld zur gegebenen Zeit zurückzahlen."

Simons verbeugte sich und verschwand.
 

Den ganzen restlichen Tag über kreisten Tabithas Gedanken um den Tod der Königinwitwe und die Tatsache, dass Thomas wieder ein freier Mann war.

Als der Sommer langsam in den Herbst überging, war sie fest davon überzeugt, dass er innerhalb der folgenden Wochen nach Enfield kommen würde. Dann werde ich ihm Anthea zeigen, dachte sie glücklich, er wird entzückt sein von seiner kleinen Tochter, so entzückt, dass er auf der Stelle beschließen wird, mich zu heiraten...

Und so verstrich Tag um Tag, Woche um Woche, Tabithas Gesundheit wurde schlechter und schlechter, doch Thomas kam nicht.
 

Als Cathy eines Morgens Tabithas Gemächer betrat, um dieser ihren Tee zu bringen, blieb sie wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Tabitha stand, in ihr dunkles Cape mit der Kapuze gehüllt, mitten im Zimmer, und war dabei, Anthea in ihrem Steckkissen eine wollene Mütze überzustreifen.

"Um Gottes willen, Mylady, Ihr wollt doch nicht etwa hinausgehen! Es regnet doch in Strömen..."

"Ich fahre nach London."

Tabitha nahm ihr Kind in die Arme und trat entschlossen auf ihre Amme zu.

"Ich fahre zu ihm. Er soll es wissen, Cathy. Er soll wissen, dass er eine Tochter hat."
 

Cathy schüttelte entnervt den Kopf.

"Mädchen, das kann nicht Euer Ernst sein. Bedenkt, wie krank Ihr seid! Ihr habt heute wieder die ganze Nacht gehustet, Ihr solltet im Bett bleiben und Euch schonen, und nicht..."

"Cathy." Tabithas feste, entschlossene Stimme brachte sie zum Schweigen. "Ich halte das nicht mehr länger aus, verstehst du? Katharina ist seit nunmehr eineinhalb Monaten tot, und ich habe noch immer kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Ich habe lange genug nachgegeben, Cathy, habe lange genug die Ruhige, Zurückgezogene gespielt. Ich will endlich persönlich glücklich werden, begreifst du das? Ich werde ihn bitten, mich zu heiraten, wenn er den Schritt schon nicht selbst macht. Und sie," und damit hob sie das Bündel mit der schlafenden Anthea hoch, "sie soll unser Bindeglied sein. Und wenn er mich ihretwegen heiratet, er wird's tun. Er wird."
 

"Mylady, Ihr seid doch krank! Ich beschwöre Euch..."

"Du magst schwören, soviel du willst, ich gehe. Ich sagte, ich gehe!"

Und damit hatte sie sich an Cathy vorbeigedrängt und war den Korridor entlang und die Stufen in die große Halle hinuntergelaufen.

Im inneren Hof stand bereits ihre kleine, schwarze Reisekutsche bereit, und die beiden braunen Kaltblutpferde Terrie und Mephisto waren vor den Wagen gespannt.

"Wohin soll die Fahrt gehen, Mylady Cook?" fragte Tom, der Kutscher, welcher vorne auf dem Bock saß und seine Peitsche hin- und herwippen ließ.

"Nach London, und rasch, wenn es geht." sagte Tabitha schnell und bestieg dann über das kleine Treppchen das Innere des Wagens. Jeff klappte die Trittleiter nach oben, der Wagenschlag wurde geschlossen und Tabitha lehnte sich erschöpft in die ledernen Polster, während sie Anthea an sich drückte und wünschte, sie mochten Thomas' Palais schnell erreichen.
 

Schon der kurze Gang von ihren Gemächern zu der Kutsche schien sie restlos überanstrengt zu haben; sie fühlte sich heiß und schwindlig und ihre Lunge rasselte bei jedem Atemzug, den sie tat.

Da es auf halbem Wege heftig zu regnen anfing, war Toms Sicht getrübt und der aufgeweichte Schlamm auf der breiten Landstraße erschwerte den Pferden das Laufen. So dauerte es beinahe eine volle Stunde, bis sie endlich die ersten Vororte von London erreichten.
 

Thomas Seymour stand an einem der Fenster seines Londoner Stadtpalais und ließ die Ereignisse des vergangenen Jahres Revue passieren.

Vor mehr als einem Jahr hatte er seine Geliebte verlassen, um mit Katharina glücklich zu werden. Letzteres wäre mir bestens gelungen, überlegte er, wäre da nicht...

Und einmal mehr drängte sich wie aus dem Nichts das Bild jenes schlanken, rotblonden Mädchens mit den großen, haselnussbraunen Augen in seine Überlegungen, das sein Privatleben in den letzten neun Monaten so sehr beeinflusst hatte.
 

Elisabeth, die inzwischen fünfzehnjährige Halbschwester des jungen Königs, die Tochter Heinrichs VIII und seiner zweiten Gemahlin, Anna Boleyn, hatte gemeinsam mit ihm und Katharina in einem Haushalt gelebt. Sie war die Einzige unter den drei Königskindern, welche sich zu einer echten Tudor entwickelte, hoheitsvoll, königlich, apart und wachen Geistes.

Thomas' Interesse hingegen wurde sofort durch ihre spröde, reservierte Art geweckt, es schien ihm unmöglich, dass die Tochter einer Anna Boleyn keiner Gefühle fähig war, und so hatte er versucht, ihre Sprödigkeit aufzutauen, mit fatalen Folgen...

Das junge Mädchen hatte sich in ihn verliebt, und als Katharina die Beiden bei einem Kuss in Elisabeths Schlafgemach überraschte, verbannte sie die Stieftochter aus ihrem Haushalt und schickte sie nach Hatfiel, ins Schloss ihrer Kindheit, wo sie nach wie vor mit ihrem Gefolge wohnte.

Sie hat mich behext, dachte Thomas, eine Tudor, würdig, den Thron Englands zu besteigen...
 

Der Thron Englands...

Wie schon häufiger in den letzten Wochen ging es Thomas durch den Kopf, was sich ihm eröffnen würde, wenn er die junge Prinzessin heiratete, Heinrich VIII. hatte seine Töchter in seinem Testament zu Thronfolgerinnen bestimmt, eine Heirat mit Elisabeth würde ihn langfristig über seinen Bruder erheben, und genau das war sein Ziel, Eduards Platz einnehmen, koste es, was es wolle. Einmal davon abgesehen empfand Thomas eine gewisse Zuneigung für Elisabeth, ihre Verliebtheit schmeichelte ihm, und auch wenn die Briefe, die sie sich zuweilen schrieben, nichts als harmlose, freundschaftliche Floskeln enthielten, konnte er doch zwischen den Zeilen ihre Gefühle lesen...
 

Und doch, einer Heirat würde der Rat nicht zustimmen, überlegte er, verflucht, dies ist ein heikles Problem...

Seine Gedankengänge fanden ein jähes Ende, als eine schwarze Reisekutsche im Innenhof seines Palais vorfuhr. Verwundert schickte er einen Diener, nach unten zu eilen und nachzusehen, wer ihn so unverhofft besuchte.

Hoffentlich ist es nicht Mutter, fuhr es ihm durch den Kopf, die mir wieder Predigten halten will, ich solle mich meinem Bruder gegenüber anständig verhalten...

Die alte Lady Seymour war der festen Überzeugung, dass die Tudors ihrer Familie nur Unglück gebracht hatten, schließlich war Jane neun Monate nach ihrer Hochzeit mit König Heinrich im Kindbett gestorben, und jetzt stritten sich ihre Brüder um die Vormundschaft für ihren elfjährigen Neffen, beide, sowohl Thomas als auch Eduard, wussten, dass der Knabe Eduard VI. beinflussbar war, und jedem der Brüder ging es um die oberste Macht im Staat...
 

Aber es war nicht Lady Seymour, welche ihren Sohn an jenem nasskalten Oktobertag besuchte. Nach wenigen Minuten kehrte der Diener zurück und berichtete, dass eine verhüllte Dame draußen stehe und begehre, den Lordadmiral zu sprechen.

Thomas blickte den Mann verblüfft an.

"Eine Dame, sagst du? Verhüllt? Konntest...konntest du ihre Haarfarbe erkennen?"

"Nein, Mylord."

"Hast du sie vielleicht an der Stimme erkannt? Ist es Lady Prinzessin Elisabeth?"

Der Diener sah ihn überrascht an.

"Nein, die Prinzessin ist es nicht, Mylord. Die Dame ist älter und besitzt eine ziemlich dunkle, etwas rauhe Stimme. Und sie hatte ein weißes Bündel im Arm, mit einem Kind."

"Ein Kind?" Diese letzte Bemerkung verwirrte ihn vollends.

Schließlich wies er den Diener mit einer Handbewegung hinaus.

"Geleite die Dame in die Eingangshalle und sage ihr, sie solle dort auf mich warten."

"Sehr wohl, Mylord."
 

Wenig später begab sich Thomas selbst in die Halle, um den seltsamen Besuch zu empfangen.
 

Tabitha stand bei einem der großen, schmalen Fenster, die dunkle Kapuze ihres Capes über den Kopf gezogen, Anthea in ihrem Kissen an ihre Brust gedrückt, und starrte mit leeren Augen hinaus in den Regen. Als sie Thomas' Schritte auf dem marmornen Fußboden vernahm, unterdrückte sie rasch ihren Hustenanfall, drehte sich zu ihm um und schlug mit ihrer kleinen, resoluten Hand die Kapuze vom Kopf.

Thomas blieb wie zur Salzsäule erstarrt in der Halle stehen.

Eine Weile lang hörte man nichts außer dem Knistern des Kaminfeuers, welches tanzende Schatten wie Spinnen an die steinernen Wände warf.

Dann sagte Thomas, gerade so laut, dass sie es hören konnte:

"Tabitha?"

"Das bliebe anzunehmen." erwiderte sie und musterte ihn unmerklich. Er hatte sich äußerlich kaum verändert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Immer noch die große, schlanke, edel gekleidete Figur, der dunkle Backenbart, das schöne, kastanienfarbene Haar...
 

"Was willst du hier?" fragte er, nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte.

"Wenn du ein Kavalier wärest, würdest du mir einen Stuhl anbieten, anstatt mich so barsch zu empfangen." spottete sie.

Thomas blickte beschämt zu Boden.

"Verzeih", murmelte er und wies hinüber zu dem Lehnsessel beim Kamin. "Du kannst dich dort drüben hinsetzen, wenn's dir beliebt."

Tabitha folgte seiner ausgestreckten Rechten, an deren Mittelfinger noch immer der ihr bekannte Siegelring funkelte. Mit einem halb unterdrückten Husten ließ sie sich in den Stuhl nieder, von wo aus sie ihn mit großen, sehnsüchtigen Augen anstarrte, was ihm entging. Denn statt in ihre Augen zu schauen betrachtete er etwas befremdet das weiße, spitzenbesetzte Bündel in ihren Armen.
 

"Du...hast geheiratet?" fragte er unsicher.

Auf ihre Erwiderung war er nicht vorbereitet.

"Dummkopf", zischte sie. "Du solltest mich besser kennen. Die Kleine hier ist von dir."

Es war, als ginge ein Blitzschlag durch Thomas Seymours Körper, und für einen Augenblick war er unfähig, ein Wort zu sprechen. Er hatte das Gefühl, als schwinde der Boden unter seinen Füßen, und ließ sich in den rettenden Stuhl zu seiner Rechten sinken.

"Sag das nochmal." sagte er schließlich tonlos.

"Du hast ganz richtig gehört, Thomas. Anthea ist deine Tochter. Dein Kind."

Er zuckte unmerklich zusammen, als er den Namen des Kindes vernahm.

"Anthea, ja?" Er lachte ein wenig. Wollte man ihn verhöhnen?!

Doch Tabithas marmorbleiches Antlitz war ernst und ohne eine Spur von Hohn, und die blauen Augen sahen ihn streng an.

Sie sieht krank aus, dachte er plötzlich, ja, richtig krank.

Und er erinnerte sich wehmütig an das blühende, rosige Gesicht, das ihn im August letzten Jahres in Enfield empfangen hatte.
 

"Und es ist wirklich - wahr?" Er begann zu stammeln. "Ich meine - das kann doch unmöglich - das ist doch -"

"Du weißt sehr wohl, dass es wahr ist. Ich habe keinen anderen Mann in meinem Bett geduldet als dich. Nie. Anthea ist deine illegitime Tochter."

Bei dem Wort "illegitim" durchfuhr ihn erneut ein Stich.

"Wann - wann ist sie zur Welt gekommen?"

"Im Mai. Am achtzehnten Mai, gegen Mitternacht."

"Im Mai...Anthea..." Er starrte seine ehemalige Geliebte und Mutter seines Kindes fassungslos an. Er konnte, er wollte es nicht glauben! Und doch war es wahr, und als ihm bewusst wurde, was Tabitha durchlitten haben musste, seinetwegen, des Kindes wegen, da bat er Gott um Vergebung für die Sünde, die er begangen hatte.
 

Langsam erhob er sich aus dem Lehnstuhl, und das leise Geräusch seiner Stiefelspitzen, die auf den marmornen Boden schlugen, hallte an den steinernen Wänden wider.

Vorsichtig, ja, beinahe ängstlich, beugte er sich über das kleine, schlafende Menschenkind, dessen Vater er war.

Tabitha jedoch hielt ihm demonstrativ das Bündel entgegen.

"Nimm sie." sagte sie.

Thomas zögerte.

"Nimm sie, nur zu, sieh sie dir an. Sie ist dein Kind."

Und er nahm das Bündel in seine Arme, spürte das Gewicht des vier Monate alten Mädchens, und als er so seinen Gedanken nachhing, begann Anthea sich plötzlich zu regen und öffnete die Augen. Thomas erschrak, weil er sofort fürchtete, das Kind würde schrecklichen Lärm machen. Aber Anthea schrie nicht.

Sie blieb ruhig in den Armen ihres Vaters liegen, bewegte ihre kleinen Hände und sah ihn aus riesigen, kugelrunden blauen Augen an.

Anklagend war er, dieser Blick, so fand Thomas. So als wolle sie ihn fragen, warum er ihrer Mutter das alles angetan hatte, warum er sie verlassen hatte, einfach so, als sei sie ein Speilzeug, das man weglegen konnte, wenn man seiner müde geworden war.
 

Er fühlte sich verurteilt, gerichtet durch einen einzigen, langen Blick seiner Tochter, die weder verstehen noch sprechen konnte.

Tabitha, die langsam aus dem Sessel aufstand, las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch, und sie lächelte still und triumphierend in sich hinein, ja, dachte sie, bekomme ruhig ein schlechtes Gewissen, das führt mich nur einen Schritt weiter aus der Einsamkeit...

"Siehst du, Thomas", sagte sie schließlich, "selbst sie weiß, was du angerichtet hast. Sie hat dich noch nie gesehen, hat keine Ahnung, in wessen Armen sie da liegt, und doch weiß sie alles."

Thomas lachte hysterisch auf, was Anthea endlich dazu brachte, zu schreien.

"Rede keinen Unsinn, Tabitha, sie ist ein Säugling, noch unfertig und ohne Verstand!"
 

Tabitha nahm ihm die Tochter aus den Armen und schaukelte sie, bis sie sich beruhigte.

Dann funkelte sie ihn zornig an.

"Eines Tages, Thomas, wird Anthea alles verstehen, sie wird wissen, was damals zwischen ihren Eltern geschehen ist, und wenn sie erfährt, wie du mich allein gelassen hast, wird sie dich dafür hassen! Sie wird dich verachten, dich, den eigenen Vater! Willst du das wirklich, Thomas?"

"Tabbie, ich-"

Sie durchbohrte ihn fast mit ihrem Blick.

"Komm zu uns nach Enfield, Thomas. Heirate mich! Ich bitte dich, legitimiere die Geburt deiner Tochter. Willst du zulassen, dass sie in einigen Jahren vor den strengen Augen der Welt als wertloser Bastard dasteht?"

Sie hat recht, dachte er, bei Gott, sie weiß nicht, wie recht sie hat...

Er dachte daran, wie schwer illegitime Kinder es im Gegensatz zu ihren ehelichen Artgenossen hatten, dachte an den Makel, der solchen Menschen ein Leben lang anhaftete.
 

Er betrachtete seine strampelnde Tochter in den Armen der Mutter und es war ihm, als spalte sich seine Seele in zwei Teile, die eine Hälfte drängte es mit ungeheurer Macht dazu, die ehemals Geliebte nun, nach Katharinas raschem Tod, zu heiraten, die andere gedachte des rotblonden Mädchens, welches ihm aus Hatfield Briefe sandte.
 

Und wie es schon zuvor bei Katharina der Fall gewesen war, überwog in seinem schmerzenden Kopf der Gedanke an das junge Mädchen.

"Tabitha." begann er ruhig und nahm sie behutsam bei den Schultern, eine erste, zaghafte Berührung nach über zwölf Monaten, in denen sie einander fern gewesen waren.

Tabitha ließ es zu und erst jetzt fiel Thomas das liebevolle Leuchten in ihren Saphieraugen auf.

"Tabs, erinnerst du dich, dass ich dich damals gebeten habe, mich zu verstehen?"

Sie nickte.

"Ich erinnere mich an jedes einzelne Wort, das du mir sagtest."

"Dann bitte ich dich auch nun, zu begreifen, dass ich unmöglich erfüllen kann, was du von mir verlangst. Ich kann dich nicht heiraten, Tabitha."

Sie starrte ihn an, schüttelte den Kopf.

"Aber - warum denn nicht, um Himmels willen? Warum nicht, warum?!"
 

Er ließ sie los, drehte sich um und ging hinüber zu dem steinernen Kamin. Er konnte diese Augen nicht mehr ertragen, diesen hoffnungsvollen, bittenden Ausdruck, der in ihnen lag, diese Liebe, dieses Vertrauen...das Wissen darum, wie wenig er dieses Blickes würdig war, nagte an seiner Seele wie der Bieber an einem morschen Stamm.

"Du weißt, dass ich ein Seymour bin." Die Worte erklangen dumpf und unendlich ernst in der kalten Stille der Halle. "Und dazu der Bruder des mächtigsten Mannes in England. Eduard würde es niemals zulassen, dass ich dich heiratete. Begreifst du denn nicht? Die Standesunterschiede zwischen uns beiden sind einfach zu groß."

"Standesunterschiede?" Sie schnaubte empört. "Mein Vater war ein hochangesehener Mann am Hof!"
 

Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, denn eine unbestimmte Ahnung kroch mit einem Mal in ihr empor, die sich mit jedem mühsam zusammengeschusterten Wort, das er sagte, festigte.

"Lass doch das alberne Gefasel, Thomas, du weißt genau, dass du mir nichts vormachen kannst! Es gibt eine andere, hab' ich recht?"

Thomas' eisernes Schweigen brachte sie nur noch mehr zur Verzweiflung.

"Lass deine Heuchelei, dreh dich um und sieh mich an, damit ich sehe, ob es wahr ist! Du weißt, dass wir uns einmal Ehrlichkeit geschworen haben!"
 

Langsam wandte er ihr sein Gesicht zu, und das Bedauern in seinen dunklen Augen sprach ihn schuldig.

"Es - es tut mir leid, Tabitha." sagte er heiser.

"Es tut dir leid, ja?! Es tut dir leid? Du bedauerst es, dass wieder etwas zwischen uns steht, wieder eine deiner neuen, oberflächlichen Amouren?!" Sie drückte die wimmernde Anthea in ihrem Bündel an sich und wich weinend vor ihm zurück, als er auf sie zugehen und sie und das Kind in die Arme nehmen wollte.

"Nein, Thomas... ich kann es nicht glauben...dass du mir das antun willst, dass du...dass du ihr das antust!"

Und sie wies mit dem Kopf auf Anthea. "Es mag sein, dass ich nur eine deiner zahlreichen Geliebten bin - ich will gar nicht wissen, wie viele du inzwischen besitzt - aber, und das ist der entscheidende Unterschied zwischen mir und allen anderen, ich habe dein Kind geboren! Sag mir die Wahrheit, sag mir, ob du mich und deine Tochter verstoßen willst. Sag es nur ein einziges Mal, du brauchst nur Ja zu sagen, nur Ja, dann werde ich gehen, meine Kutsche besteigen und diese elende Schwelle nie, nie wieder betreten!"
 

Sie hatte sich so sehr in Rage geworfen, dass der langen, herzergreifenden Rede ein Hustenanfall folgte, der Thomas das Blut für wenige Sekunden in den Adern gefrieren ließ.
 

Er sah sie hilflos an, sah das bleiche, hohlwangige Gesicht, das ihn einst so mit seiner Schönheit in seinen Bann gezogen hatte, und mit einem Mal kam es ihm in den Sinn, dass nur ein schwer lungenkranker Mensch so entsetzlich husten konnte.
 

Mein Gott, dachte er, kann es möglich sein, dass sie...

Er versuchte mit aller Macht, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, welche ihn befiel, und mit einem Mal wünschte er Tabitha weit fort. Es ging ihm durch den Kopf, dass er es war, der für sie und das Mädchen, dessen Vater er war, verantwortlich sein müsste, und da Thomas Seymour zwar von je her ein ehrgeiziger, aber kein sonderlich mutiger Mann gewesen war, entschlüpfte ihm in jenem Augenblick ganz unwillkürlich das kleine Wörtchen, das sie von ihm gefordert hatte.
 

Die Erkenntnis, dass er mit diesem winzigen Wort seine ehemalige Geliebte ins Verderben gerissen hatte, traf ihn wie ein Keulenschlag, als sie ihre Tränen trocknete, ihn mit Augen anblickte, von denen er nie zuvor geglaubt hätte, dass sie Leere und Hoffnungslosigkeit in einer solch niederschmetternden Weise ausdrücken könnten, und flüsterte:

"Lebe wohl, Thomas Seymour. Du wirst mich nie mehr wiedersehen."

Wenige Sekunden später fielen die eisernen Flügel des schweren Eingangstores mit einem lauten, hohlen Geräusch zu und Thomas hörte, wie eine Peitsche knallte und große Räder über das Kopfsteinpflaster im Innenhof seines Palais schleiften.

Erschöpft ließ er sich blindlinks in seinen Armstuhl sinken, vergrub den Kopf in den schönen Händen und fragte sich, warum Gott keinen stärkeren Menschen aus ihm gemacht hatte.

Kapitel 6

Als Tabitha mit ihrer Tochter nach Enfield Court zurückkehrte, brach sie in den Armen ihres Dienstboten zusammen und man brachte sie zu Bett.

Cathy pflegte ihre schwer kranke Herrin, während Heather und Liz sich um Anthea bemühten.
 

Da Tabitha seit einigen Wochen keine Milch mehr besaß, sah man sich genötigt, die Kleine mit der Flasche zu füttern, was für die beiden Zofen eine lange, anstrengende Prozedur war, weil Anthea sich anfangs heftig gegen die neue Umstellung wehrte und zu schreien begann, sobald man ihr die Flasche an den kleinen Mund setzen wollte. Nach einigen mühevollen Versuchen gelang es jedoch Liz, das Kind zum Trinken zu bewegen, und Tabitha war darüber so erleichtert, dass sie recht rasch wieder auf die Beine kam, allerdings ohne den bellenden Husten loszuwerden.
 

Sie wurde mit jedem Tag blasser, tiefe, dunkle Schatten zeichneten sich unter den großen, schönen Augen ab, und Anfang November hielt Cathy es nicht mehr aus und überredete ihre Herrin, einen Brief an den Grafen von Warwick zu schreiben und ihm sämtliche Zustände in Enfield zu schildern.
 

So eröffnete Tabitha dem alten Freund ihres Vaters all ihre Geheimnisse, sie erzählte, dass sie eine fast sechs Monate alte, uneheliche Tochter von Thomas Seymour besitze, dass sie sehr krank sei und dass der Husten sie in manchen Nächten so sehr peinige, dass sie glaube, es ginge mit ihr zu Ende.
 

Warwicks Fassungslosigkeit über das liederliche Leben der jungen Lady Cook artete zunächst in einen heftigen Wutausbruch aus.

"Ich hätte niemals erwartet, dass Beatrice' süßes Töchterchen fähig wäre, einen Bastard des Hundesohnes Thomas Seymour in die Welt zu setzen!" zeterte er, während er in seinem kostbar ausgestatteten Arbeitsraum hin- und herlief wie ein aufgescheuchtes Huhn.
 

Einige Schritte entfernt von ihm, auf einem kleinen, hölzernen Schemel beim Kamin, hockte sein jüngster Sohn, der sechzehnjährige Robert, und beobachtete angespannt das Mienenspiel des Vaters.

Robert war erstaunlich hübsch für sein Alter, ein recht großer, junger Mann von schlankem Wuchs mit dichtem, dunklem Haar, warmen, dunkelbraunen Augen, sinnlichen Lippen und schmalen, ebenmäßigen Gesichtszügen.

Als sein Vater einen Moment lang inne hielt, runzelte er nachdenklich die Stirn.
 

"Ich finde, Ihr solltet Lady Cook nicht allzu hart beurteilen, Vater." bemerkte er möglichst vorsichtig, weil er wusste, dass sein Vater selten auf die Ratschläge seines jüngsten Sohnes hörte. "Vielleicht hat sie den Lordadmiral geliebt und von ihm eine große Enttäuschung erlitten...wer weiß? Es gibt so viele, junge Ladys, die uneheliche Kinder zur Welt bringen, bedenkt, dass manche von ihnen noch nicht einmal genau wissen, wer der Vater ihres kleinen Bastards überhaupt ist! Und was Lady Tabithas Husten betrifft...Ihr solltet berücksichtigen, dass Lady Beatrice seinerzeit an Schwindsucht starb, wie Ihr mir selbst einmal erzählt habt. Mit so etwas ist nicht zu spaßen, ich an Eurer Stelle würde Dr. Memsy nach Enfield Court schicken, womöglich kann ein Arzt mehr ausrichten als eine erfahrene Amme und Kinderfrau."
 

Der Graf stellte sich sinnend an eines der Fenster, blickte hinunter zum Themseufer und grübelte über die Worte seines Sohnes nach.

"Mhm...du magst recht haben, Robert." lächelnd drehte er sich zu dem jungen Mann um. "Deine Ansicht gefällt mir, sie bezeugt, dass du ein Realist bist. Gut, wenn du meinst, dass es damit seine Richtigkeit hätte, werde ich Dr. Memsy beauftragen, sich der jungen Lady Cook ein wenig anzunehmen."

Plötzlich seufzte er und ließ sich kopfschüttelnd in seinen Sessel sinken. "Weißt du, es ist doch seltsam...ich fühle mich auf unerklärliche Weise für diese verschwenderische Person verantwortlich, und das, obwohl ich sie seit nahezu sechs Jahren nicht mehr gesehen habe...es ist, als habe James mich damals vor seinem Tod zu ihrem Vormund bestimmt."
 

Robert war aufgestanden. Er lächelte seinen Vater verständnisvoll an, wobei in seinen warmen, braunen Augen die ganze Güte und Herzlichkeit lag, die sein späteres Wesen ausmachen sollte.

Auch erleichterte es ihn, seinen Vater so gut und fürsorglich zu erleben, kannte er schließlich auch sein anderes Gesicht, das des strengen, zielstrebigen Politikers, der rücksichtslos seine Pläne verfolgte. Schaudernd dachte er an jene kalte Grausamkeit, die ihm zuweilen aus den schmalen, graublauen Augen entgegensprach.

"Ich finde es sehr anständig, dass Ihr bereit seid, Lady Cook Euren besten Arzt zu schicken, Vater", sagte er anerkennend. "Aber jetzt entschuldigt mich, Mr. Hethertaly wird bald eintreffen, und ich bin noch immer nicht ganz mit der griechischen Übersetzung fertig..."
 

Mr. Hethertaly war Roberts Hauslehrer, der ihn bereits seit vielen Jahren in den alten Sprachen und der klassischen Literatur unterwies. Robert war der Einzige unter den fünf Söhnen des Grafen, dessen Unterricht noch nicht ganz abgeschlossen war.

"Geh nur, mein Junge", nickte Warwick lächelnd. "Du weißt, ich schätze es nicht minder, dass du so fleißig lernst. Es wird für deine spätere Laufbahn bei Hofe gewiss nützlich sein...und noch etwas; falls du Maria treffen solltest, schicke sie mir hinauf in mein Zimmer, ich möchte gerne etwas mit ihr besprechen."

"Wie Ihr wünscht, Vater."
 

Während Robert in seine Gemächer hinüberging, überkam ihn ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken daran, dass sein Vater mit seiner älteren Schwester Maria sprechen wollte. Es geht bestimmt um ihre Hochzeit mit Lord Sidney, dachte er verstimmt, ich kann es nicht verstehen, dass Vater sie an diesen prahlerischen Hanswurst verschachern will, der keine drei Jahre älter ist als ich und vor aller Welt mit seinem Stand und seinem Vermögen angibt, sicher, er entstammt dem Hochadel und verfügt über einen großen Besitz, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Maria mit ihm glücklich wird...

Und wehmütig dachte er an die schönen, unbeschwerten Jahre seiner Kindheit zurück, als er als Page am Hofe Heinrichs VIII. erzogen worden war und mit seiner Schwester und seinen vier Brüdern durch die engen, verwinkelten Korridore von Schloss Hampton Court getollt war...

Kapitel 7

Tabitha stand vor der kleinen, hözernen Anrichte in ihrem Ankleidezimmer, lässig in ihren alten, braunen Umhang gehüllt, und wechselte Antheas Windeln, als Cathy eintrat und berichtete, dass der Leibarzt seiner Lordschaft, des Grafen von Warwick, eingetroffen sei.
 

Um die fünfundsiebzig Pfund und dreißig Schilling aufzubringen, mit denen sie ihre Schulden bei Lord Dudley bezahlen konnte, hatte Tabitha einige ihrer Kleider und Roben an die ihr nahestehenden Ladys in Enfield verkaufen müssen. Dazu hatte unter anderem ihr kostbarer, dunkelroter Morgenmantel gehört.
 

Sie hatte den Verlust des Kleidungsstückes sehr bedauert, noch mehr störte es sie, dass sie jetzt in diesem widerlichen, alten Fetzen herumlaufen musste. Da sie die meiste Zeit im Bett verbrachte, ließ sie sich nur noch selten vollständig ankleiden, sondern trug lieber ihr weißes Spitzennachthemd und den alten Überwurf, wenn sie aufstehen musste, um Anthea zu wickeln und mit der Flasche zu füttern.
 

Das Kind war in seinen ersten sechs Monaten erstaunlich gewachsen, mittlerweile war das Steckkissen zu klein geworden, sodass Tabitha ihre Tochter in eigens für sie geschneiderten, dick wattierten Wollkleidchen an ihrer linken Seite trug.
 

Auch an diesem Tag zog sie Anthea ein dickes, reich besticktes Kleidchen über, bedeckte ihren dunkelhaarigen Kopf mit einer Spitzenhaube, unter der ihr pausbäckiges Gesicht mit den großen, blauen Augen noch niedlicher aussah, und gab Cathy das Kind in die Arme.

"Hier, nimm sie und beschäftige dich ein wenig mit ihr, ich werde hinunter gehen und Dr. Memsy in Empfang nehmen."

"So wie Ihr seid?!" Die Amme schien sichtlich schockiert. "Das kommt überhaupt nicht in Frage, Mylady, Ihr legt Euch wieder ins Bett, ich werde Dr. Memsy gleich zu Euch hinauf schicken."

"Aber was wird mit..."

"Macht Euch keine Sorgen, ich kümmere mich schon um mein Patenkind." Und damit streichelte sie Antheas zarten Hinterkopf und verließ die Gemächer ihrer Herrin.
 

Wenig später kam der Arzt.

Er war ein schon sehr alter Mann mit eingefallenen Wangen, dürren, spinnengleichen Fingern und weißem Haar. Er trug eine braune Ledertasche mit sich und runzelte die Stirn, als er das Gesicht der jungen Frau betrachtete.

"Ihr seht sehr schlecht aus, Mylady. Sagt, wann hat Euer Husten angefangen?"

"Vor ungefähr einem Jahr." antwortete Tabitha wahrheitsgemäß.

Diese Auskunft trug nicht eben zum Optimismus des Arztes bei. In der Tat machte er ein recht besorgtes Gesicht, nachdem er Lady Cook eingehend untersucht hatte.
 

"Und?" fragte Cathy furchtsam, als sie mit dem gelehrten Mann in der großen Halle von Schloss Enfield Court allein war. "Könnt Ihr sagen, ob sie gesund wird, Dr. Memsy?"

Der Alte schüttelte sein weißes Haupt.

"Ich muss Euch leider die Wahrheit sagen, Miss Johnes...Eure Herrin leidet an Schwindsucht, und soweit ich das beurteilen kann, ist die Krankheit bereits weit fortgeschritten. Es steht sehr schlecht um sie."

Cathy starrte ihn einige Minuten lang fassungslos an, dann begann die Alte zu weinen.
 

"Dr. Memsy..." wimmerte sie..."gibt es denn gar keine Hoffnung, dass sie...?"

"Leider nein, Miss Johnes. Ihr hättet sofort einen Arzt rufen müssen, als die Hustenanfälle schlimmer wurden. Lady Cook erzählte mir, ihre Mutter sei ebenfalls an Schwindsucht gestorben. In solchen Fällen ist es immer möglich, dass die Krankheit auf die Kinder übergeht."

"Und wisst Ihr....wisst Ihr ein Mittel, dass ihren Husten vielleicht ein Bisschen lindert?"

"Es gibt viele Mittel, Eure Herrin ein wenig von ihren Qualen zu befreien...am besten ist es, wenn Ihr ihr einen Trank aus Bitterwurz, Knoblauch und den Wurzeln der Mandragora braut. Natürlich sind solcherlei Kräuter jetzt im Winter nicht mehr zu finden, aber..."

"Knoblauch und Bitterwurz haben sie in den Küchen." sagte Cathy schnell, die sich alles genau merken wollte, was Dr. Memsy ihr auftrug.
 

Der alte Arzt lächelte.

"Ihr könnt Euch deshalb glücklich schätzen, Miss Johnes. Der Trank muss mit kochendem Wasser aufgebrüht und heiß getrunken werden, am besten zweimal täglich. Ich weiß aus vielerleri Erfahrung mit Schwindsüchtigen, dass es ein scheußliches Gebräu ist, aber...Eure Herrin ist eine zähe Person, sie wird es sicher ohne Weiteres auf sich nehmen. Und es gibt noch etwas, worauf ich Lady Cook bereits ausdrücklich hingewiesen habe; sie darf nur im äußersten Notfall ihr Bett verlassen, und auch dann nur in einem besonders warmen Mantel. Sie sollte sich auch nach Möglichkeit nicht mehr selbst um das Kind kümmern, das strengt nur an...am besten, Ihr erledigt von jetzt an diese Aufgabe, Miss Johnes."
 

Cathy dachte daran, wie schwer es werden würde, Tabitha beizubringen, dass sie Anthea nicht mehr selbst wickeln und durch das Schloss tragen durfte, und seufzte kaum hörbar.

Zu Dr. Memsy aber sagte sie beflissen:

"Ich werde es ihrer Ladyschaft ausrichten, Doctor."

Der Alte beugte salbungsvoll das Haupt, bevor er sich von Cathy verabschiedete, wobei er sie nochmals darauf hinwies, dass Lady Cook ihre Schulden noch begleichen müsse.

"Macht Euch keine Sorgen, meine Herrin hat das Geld bereits."

Als Memsy gegangen war, kümmerte sich Cathy um Tabitha und trug der Dienstmagd Amilie auf, sich mit Anthea zu beschäftigen.
 

Während sich in Schloss Enfield Court alle mit Feuereifer um ihre Herrin bemühten, erzählte man sich ein paar Kilometer weiter in Schloss Hatfield bereits von Thomas Seymours abgelegter Geliebter, welche ein uneheliches Kind von ihm besitze und mit diesem allein auf ihrem Landsitz lebe.
 

Es dauerte nicht lange, bis die fünfzehnjährige Elisabeth von diesen Gerüchten hörte und davon, dass sie auf einer wahren Tatsache basierten. Da sie die junge Lady Cook nur dem Namen nach kannte, war sie zunächst überrascht und zutiefst schockiert über Thomas' vermeindliche ehemalige Liebesbeziehung zu ihr. Trotzdem erwähnte sie in keinem ihrer Briefe an ihn auch nur ansatzweise, dass sie sein Geheimnis kannte, weil sie wusste, dass sie somit ihre Eifersucht und damit ein Stück ihrer Gefühle für Thomas preisgeben würde, was sie in jenen kritischen Wochen so kurz nach dem Tod der Stiefmutter vermeiden wollte.
 

Und doch gelang es der Schwester des Königs, welche bereits von klugem und diplomatischem Wesen war, unauffällig etwas mehr über Lady Tabitha Cook herauszufinden. Das Kind, so erfuhr sie, sei erst ein paar Monate alt und trage angeblich einen sehr seltenen, ausgefallenen Namen, und die einundzwanzigjährige Lady Tabitha sei an Lungentuberkulose erkrankt.
 

Letztere Tatsache begann die junge Prinzessin derart zu beschäftigen, dass sie in tiefe Grübeleien über die ihr fremde Lady Cook versank, und Ende November sann sie auf einen Plan, der nicht nur Tabitha helfen, sondern auch Thomas' Gewissen um ein Stück erleichtern sollte. Denn Elisabeth war sich sicher, dass er von Lady Cooks Schwindsucht wusste und sie und das Kind aus Angst vor der Verantwortung vernachlässigte.

Ich kenne doch Thomas, dachte Elisabeth eines Abends, als sie dicht beim Kamin im Esszimmer von Schloss Hatfield saß, in dem ein gemütliches Feuer prasselte, und sich scheinbar vertieft über ein Buch beugte, damit ihre Erzieherin, die treue Kate Ashley, nichts von ihrer Zerstreuung bemerkte. Er ist gesegnet mit den besten Eigenschaften, aber menschlicher Mut gehört nicht dazu, sonst wäre er Katharina damals nicht aus dem Wege gegangen, als die Sache mit uns beiden anfing...
 

Am Morgen des 25. November im Jahre 1548 verließ die junge Prinzessin, verhüllt und nur in Begleitung ihres Kammermädches Lucy, zu Pferde den Innenhof von Schloss Hatfield, während Kate Ashley mit gerunzelter Stin an einem der oberen Fenster stand und ihren Zögling mit Adleraugen beobachtete.
 

"Wenn ihre Gnaden nur erreicht, was sie sich da in den Kopf gesetzt hat..." meinte sie später zu ihrem Gemahl, einem ruhigen, belesenen Mann mit ernsten Zügen. "Sie ist so jung und unerfahren mit der Welt..."

John Ashley sah seine Frau zweifelnd an.

"Du solltest die Prinzessin besser kennen und genau wissen, dass ihre Gnaden keines Wegs so unerfahren ist, wie andere junge Mädchen ihres Alters...vergiss nicht, sie hat schon eine Menge erlebt!"

"Du magst recht haben, aber...diese Lady Cook ist mir unheimlich. Wer weiß, vielleicht ist sie ein ganz scheußliches Frauenzimmer, das sofort eifersüchtig auf Lady Elisabeth wird und ihr das Leben schwer zu machen versucht..."

Nun musste Mr. Ashley herzhaft lachen.
 

"Bei Gott, Kate...Die Cooks sind eine alte Dynastie von Königstreuen, seit Generationen ihren Herrschern in tiefster Loyalität ergeben. Ich kannte James Cook, er war ein netter, einfallsreicher Bursche, und seine Frau, meines Erachtens nach die Tochter eines Richters aus Oxfordshire, war heiter und eine Schönheit, ein Jammer, dass sie so früh verstarb..."
 

"Und die Tochter der Beiden? Hast du die auch einmal gesehen?"

"Lady Tabitha? Ja, aber das ist lange her und ich kann mich nur noch schwach erinnern. Sie war damals noch ein Kind, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und wenn ich mich recht entsinne, besaß sie ein teuflisches Temperament."

"Ein kleiner Teufelsbraten also, hm? Naja...wer weiß, wie dieser Teufelsbraten sich mittlerweile entwickelt hat..."

"Kate, du übertreibst! Denk immer daran, sie hat es verstanden, den Lordadmiral in ihren Bann zu ziehen...Sie kann eigentlich nur bezaubernd sein."

"Nous allons voir..." sagte sie auf Französisch, wir werden sehen, eine Floskel, die sie recht gern gebrauchte, besondern dann, wenn sie glaubte, im Recht zu sein, und das war in jener Situation eindeutig der Fall.
 

Als Lady Prinzessin Elisabeth gegen Nachmittag Enfield Court erreichte, lächelte sie beim Anblick der weißen Steinfassade, weil sie sich erinnern konnte, hier auch einst für kurze Zeit gewohnt zu haben, als das Schloss noch der Krone und somit ihrem Vater gehörte.
 

Im Jahre 1539 hatte er es seinem treuesten Günstling James Henry Cook überlassen, welcher sich die gute Position am Hofe bis zum Schluss erhalten hatte.

"Es ist noch alles genauso wie früher." sagte Elisabeth zu Lucy, die sich neugierig in dem runden Innenhof umsah. "Die Ställe, der gute Geruch nach Heu und frischem Hafer, der kleine Brunnen..."

"Mit Verlaub, Euer Gnaden, es ist ein sehr hübsches Anwesen", bemerkte die Zofe, und die Königstochter nickte zustimmend.

"Ich bin auch dieser Meinung...mhm...was glaubst du, wird man uns empfangen?"

"Das glaube ich kaum, Euer Gnaden, niemand ist auf Euren Besuch vorbereitet, Ihr solltet absitzen und an das Eingangstor pochen."

"Wenn du meinst, das nütze etwas..."
 

Grübelnd stieg sie aus dem Sattel ihrer milchweißen Stute, schleuderte den Steigbügel von ihrem Fuß und lief hinüber zu den geschlossenen Torflügeln. Dort angekommen schlug sie mehrmals laut und vernehmlich mit der Faust gegen die beiden Türen, so lange, bis sich einer der Flügel quietschend öffnete und ein kleiner, buckliger Mann den Kopf hinausstreckte.
 

Offensichtlich konnte er die Prinzessin in ihrem alten, abgenutzten Umhang und unter der dunklen Kapuze nicht erkennen, denn er zog die dichten, schwarzen Brauen zusammen, kratzte sich den Schädel und fragte:

"Was wünschen Milady?"

Elisabeth musterte den Mann unauffällig, konstatierte, dass er ein einfacher Stallknecht sein musste, der sie nicht erkannte, und beschloss, ihr inkognito noch eine Weile zu wahren.
 

"Mein Name ist im Augenblick unwichtig, es genügt, wenn Ihr Eurer Herrin sagt, ich sei eine gute Freundin des Lordadmirals Thomas Seymour, die sie gern zu sprechen wünsche."

Inzwischen war auch Lucy abgestiegen und vorsichtig nähergetreten.

Jeff starrte einen Moment lang an Elisabeth vorbei auf das einfacher gekleidete Mädchen, welches nur eine weiße Haube und keine Kapuze trug.

"Das ist mein Kammermädchen, Miss Lucy." erklärte die Köngistochter schnell, als sie die Runzeln auf Jeffs altem Gesicht sah.

"Würdet Ihr nun bitte so freundlich sein, uns Eurer Herrin zu melden?"

"Wie Ihr wünscht, Milady. Wenn's Euch beliebt, einen Augenblick zu warten..."

"Selbstverständlich."
 

Der Dienstbote verschwand und Lady Elisabeth war mit ihrer Zofe und den beiden Pferden allein im Hof.

"Es läuft besser, als ich angenommen habe." sagte sie zufrieden.

Lucy schaute sie unsicher an.

"Wie meint Ihr das, Euer Gnaden?"

"Nun, ich hatte mit Komplikationen gerechnet, der Alte schien einer der vertrauteren Diener im Haushalt der Lady zu sein, so etwas spürt man immer, er hätte beispielsweise darauf beharren können, meinen Namen zu erfahren. Oder er hätte mir ob seines mangelnden Vertrauens sagen können, die Lady empfange um diese späte Stunde keinen Besuch mehr...Sieh dich nur um, es wird bereits dunkel!"

Das Kammermädchen ließ einen raschen Blick über den in der Dämmerung liegenden Hof schweifen. Sie spürte, wie die Kälte und Nässe des verregneten Tages ihr in die Glieder kroch und zog den dunklen Mantel enger um die Schultern.

"Ihr habt natürlich Recht, Euer Gnaden."
 

Einige Zeit später kehrte Jeff zurück, öffnete die Torflügel und wies mit einer ausladenden Geste in die marmorne Eingangshalle.

"Meine Herrin lässt bitten. Sie hat mich beauftragt, Eure Pferde zu versorgen, Milady."

Elisabeth lächelte.

"Das ist sehr freundlich von Eurer Herrin. Sagt mir, wo kann ich sie finden?"

"Ihre Ladyschaft ist sehr krank, sodass sie Euch nicht in der Eingangshalle in Empfang nehmen kann. Miss Cathy Johnes führt die Oberaufsicht über die Dienerschaft, sie wird Euch bei der Treppe erwarten und zu Lady Cook führen."

"Ich danke Euch, Mr...sagt, wie ist Euer Name?"
 

"Jeff, Milady", und er verbeugt sich etwas ungeschickt vor Elisabeth. "Einfach Jeff, wenn's Euch beliebt. Ich bin ihrer Ladyschaft treuester Stallbursche."

"Ach? Und einen Stallmeister hat Lady Cook nicht?"

"Nein, Milday. Wir hatten einen sehr Guten, Mr. Norman Lockwood, er war bis zum Sommer hier Oberstallmeister. Aber dann hat Lady Cook ihn entlassen...bitte fragt mich nicht nach dem Grund, Milady, weil...nun ja, meine Herrin ist in finanziellen Schwierigkeiten, und..." Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln, und als die Prinzessin dies sah, winkte sie freundlich ab.

"Ihr braucht nichts weiter zu sagen, Mr. Jeff. Kümmert Euch nur um Eure Arbeit, und nochmals vielen Dank für Eure Auskünfte."

Eine neuerliche Verbeugung folgte.

"Ich erfülle lediglich die Anweisungen meiner Herrin."
 

Elisabeth nickte, wandte sich ab und wies Lucy an, ihr zu folgen, während sich die schweren Tore hinter dem buckligen, alten Mann schlossen.

An den Wänden der Halle brannten Pechfackeln in eisernen Halterungen und dicke Kerzen in schweren, goldenen Leuchtern. Auch das Kaminfeuer hatte man ordentlich geschürt, auf dem runden Tischchen davor stand ein bronzener Teller mit Früchten, die Lehnstühle waren mit purpurfarbenen Polstern bezogen, Teppiche und kostbar eingerahmte Bilder schmückten die steinernen Wände...
 

Prüfend betrachtete Elisabeth die prunkvolle Ausstattung. Sie wunderte sich nicht, dass Lady Cook offensichtlich zu wenig Geld besaß, um ihre Dienerschaft zu entlohnen, schließlich musste allein die jährliche Neuherrichtung und Säuberung des Schlosses ein halbes Vermögen kosten...
 

Erst wenige Augenblicke später wurde sie der molligen, älteren Frau gewahr, die am Fuße der langen Mormortreppe stand und sie äußerst erstaunt betrachtete. Als König Heinrichs Tochter lächelnd auf sie zutrat, bemerkte sie, dass in den argwöhnischen dunklen Augen, die ihr aus dem verfalteten Gesicht entgegensahen, eine gewisse Wärme lag.

"Seid Ihr...Miss Cathy Johnes?"

Cathy nickte und hielt ihre Kerze ein wenig höher.
 

Ihren scharfen Augen entging nicht, dass das junge Mädchen - denn ein solches war sie offensichtlich - unter dem mausgrauen Umhang ein zwar schlichtes, aber äußerst kostbares Gewand aus blauem Samt trug, und dass unter der Kapuze goldene Perlen in dem feinen, rotblonden Haar funkelten.

Sie fühlte Unsicherheit in sich aufkommen, zumal sie die junge Lady überhaupt nicht einordnen konnte, Jeff hatte etwas von einer guten Freundin des Lordadmirals erzählt...
 

"Wer...wer seid Ihr?" fragte sie vorsichtig.

Elisabeth tauschte einen schnellen Blick mit der sich im Hintergrund haltenden Lucy, die von Miss Johnes kaum beachtet wurde. Als diese nickte, schlug sie rasch ihre Kapuze zurück und öffnete den dunklen Mantel.

"Erkennt Ihr mich nun?"
 

Cathy vertiefte sich eine Weile in den Anblick des Mädchens, dessen Gesicht so ernst wirkte wie das einer Vierzigjährigen, und mit einem Mal kam ihr die Erinnerung an ein Gemälde, das sie, so konnte sie sich schwach entsinnen, vor einigen Jahren mit seiner seltsamen Ausstrahlung in seinen Bann gezogen hatte, es hing in der großen Halle von Schloss Hampton Court zu der Zeit, als Tabitha noch Hofdame bei Königin Katharina gewesen war, und zeigte ein etwa neun Jahre altes Mädchen in einem lindgrünen Seidengewand, das Mädchen besaß hübsche, rehbraune Augen von ungewöhnlicher Mandelform, ein schmales, ovales Gesicht, lange, schlanke Finger und rotblondes Haar, das Mädchen war König Heinrichs zweitälteste Tochter...
 

"Gott steh uns bei", flüsterte sie und ihre Hand, die die brennende Kerze hielt, begann zu zittern. "Ist es die Möglichkeit..."

Elisabeth nickte langsam, und ihre Mundwinkel zuckten leicht, als sie Cathys Augen größer werden sah.

"In der Tat, Miss Johnes. Ich bin Lady Prinzessin Elisabeth."

Die dünne Kerze entglitt ihren Händen, fiel klappernd zu Boden und erlosch.

"Euer...Euer Gnaden..." stammelte sie und warf sich der fünfzehnjährigen Elisabeth zu Füßen. "Euer Gnaden, ich kann es gar nicht glauben...Ihr...in meiner Herrin Schloss...welche Ehre..."

Sie nahm Elisabeths schlanke, weiße Hand in die ihre und küsste ihren Handrücken.

Die Königstochter lächelte.

"Steht auf, Miss Johnes. Ihr behandelt mich, als sei ich die Königin von England in Person, es besteht kein Grund für solche Ehrerbietung."

Cathy verharrte noch eine Weile auf ihren Knien, dann erhob sie sich, eine kleine, verhärmte Gestalt neben der schlanken, für ihr Alter sehr groß gewachsenen Königstochter.

"Habt die Güte und führt mich zu Eurer Herrin, Miss Johnes."

"Sehr wohl, Euer Gnaden..." Und sie nahm ihre Kerze wieder auf. "Sofort, wie Ihr wünscht..."
 

Während die Prinzessin mit ihrer Zofe der alten Amme durch ein angrenzendes, kleines Kabinett und schließlich in einen großen, breiten Raum folgte, lächelte sie geschmeichelt in sich hinein, sie freute sich, dass man ihr soviel Ehrfurcht entgegenbrachte, sie war schließlich nur die Halbschwester des jungen Königs und vor den Augen vieler Engländer noch immer die illegetime Tochter Heinrichs VIII. Es gab Einige, die die Ehe, welche König Heinrich damals mit Anna Boleyn geschlossen hatte, nach wie vor für ungültig hielten.

Trotzdem hat Vater sowohl meine Halbschwester Maria als auch mich in seinem Testament zu legitimen Thronfolgerinnen bestimmt, dachte Elisabeth mit Genugtuung, wer weiß, wenn Eduard und Maria ohne Nachkommen sterben, vielleicht...
 

Ihre Gedankengänge fanden ein jähes Ende, als Cathy sich ein letztes Mal vor ihr verbeugte, das Zimmer, in dem sie nun war, veließ, und sie mit der kleinen, blassen jungen Lady allein ließ, die, mit mehreren Decken vor der Kälte des großen Zimmers geschützt, auf einem samtenen Divan beim Kamin lag.

Tabithas schwarzes Haar fiel ihr offen über die schmalen Schultern, und ihre Hände hielten ein in kostbares Leder gebundenes Buch mit Werken des französischen Dichters Ronsard.

Unmittelbar neben ihrem Divan, auf dem großen, dunklen Bärenfell, lag die kleine Anthea, mit einer Stoffpuppe spielend. Sie trug dicke, weiße Strümpfe und ein blaues Kleidchen mit weißer Fallkrause, welches ihr ihre Versuche, sich auf alle Viere aufzurichten, deutlich erschwehrte.
 

Als Cathy ihrer Herrin den Namen der Besucherin verkündete und dann schnell verschwand, ließ diese ihr Buch fallen, sodass Antheas Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde.

"Aber das ist unmöglich!" Stieß ihre heisere, vom vielen Husten noch rauher gewordene Stimme hervor. "Euer Gnaden müssen sich irren, hier kann nicht..."

"Ich irre mich keines Falls, Lady Cook." Elisabeth hätte nicht geglaubt, dass es ihr so schwer fallen würde, ihr Lächeln aufrecht zu erhalten, aber angesichts des niedlichen, lachenden Kindes vor dem Kamin und der trotz ihrer Krankheit noch auf eine eigenartige Weise schönen Frau, die es einst mit Thomas gezeugt hatte, wären ihr fast die Tränen gekommen.
 

Trotzdem wahrte sie die ihr eigene Beherrschung, um die sie so viele beneideten, und versuchte, die junge, kranke Lady nicht vor den Kopf zu stoßen.

"Ich bin wirklich gekommen, um Euch einen Besuch abzustatten. Ich habe mir das lange überlegt, aber mein Entschluss stand fest in dem Augenblick, da man mir erzählte, Ihr seiet sehr krank."

"So?" Tabitha hob ihre starken, schwarzen Brauen. "Mit Verlaub, wir haben uns zuletzt vor fünf Jahren gesehen, Euer Gnaden, Ihr wart damals noch ein Kind und ich eine der Hofdamen Eurer Stiefmutter...ich kann mich nicht erinnern, jemals in näherem Kontakt mit Euch gestanden zu sein."

"Das mag sein, Mylady Cook, aber unsere Wohnsitze liegen nahe beieinander und die Dienerschaft ist sehr geschwätzig...ich möchte damit nur andeuten, dass gewisse Gerüchte auch nach London und somit nach Hatfield vorgedrungen sind, Gerüchte, Ihr hättet ein Liebesverhältnis mit Lordadmiral Seymour gehabt."
 

Tabitha schloss für einen Augenblick die brennenden Augen; der Gedanke an Thomas schmerzte unerträglich.

Elisabeth jedoch fuhr unbeirrt fort.

"Mylady dürfen mir nicht böse sein, aber ich habe mittels einer zuverlässigen Quelle in Erfahrung gebracht, dass dieses Gerücht kein bloßes Gerücht ist, sondern der Wahrheit entspricht. Ich sehe nun, auch mit der Tatsache, dass Mylady ein Kind haben, hat es durchaus seine Richtigkeit."

Und sie wies, halbwegs um ein Lächeln bemüht, auf Anthea.
 

Tabithas Blick jedoch wurde sofort liebevoll und sanftmütig, sie beugte sich schwer atmend hinab, hob das greinende und strampelnde Kind vom Boden empor und setzte es zu sich auf den Divan.

"Ja, Ihr seht richtig, Euer Gnaden. Anthea ist meine Tochter, und, um es nicht zu leugnen, Thomas' illegitimes Kind. Nur wüsste ich noch immer nicht richtig, was Euer Gnaden mit der Sache zu tun haben."

Elisabeth wechselte erneut einen raschen Blick mit ihrer Zofe, die nun gleichmütig mit den Achseln zuckte, als Zeichen dafür, dass es an ihrer Herrin selbst lag, ob sie ihr Geheimnis preisgab oder nicht.
 

Die Königstochter jedoch dachte in jenem Augenblick unwillkürlich daran, dass sie seit Monaten wegen der Sache mit Thomas beobachtet und bespitzelt wurde, man wusste, dass es als Hochverrat ausgelegt werden würde, wenn sie dem Lordadmiral ohne die Zustimmung des Rates (und der Rat war nach wie vor gegen eine solche Verbindung) ein Eheversprechen gab, und da Eduard Seymour im Grunde seines Herzens noch viel feiger war als sein jüngerer Bruder und sich vor "dem Bastard der Boleyn" fürchtete, wollte er alles daran setzen, sie politisch auszuschalten.
 

Nein, dachte Elisabeth, das mache ich nicht mit, ich habe bisher zu keinem Menschen von meiner Zuneigung zu Thomas gesprochen, ich werde es auch jetzt nicht tun, wer weiß, vielleicht verrät mich diese Person aus Rache an den Lordprotektor...

Und sie schauderte bei dem Gedanken daran, in was sie hineingezogen werden könnte...
 

"Mylady", sagte sie schließlich in mildem Ton, und setzte ein glaubhaftes, unschuldiges Mädchengesicht auf. "Ich habe ein Jahr lang in Thomas' und Katharinas Haushalt gelebt, wie Ihr vielleicht wisst. Ich kenne seine Lordschaft recht gut, wir sind sozusagen recht gut befreundet, schreiben uns auch hin und wieder, und wie ich den Großadmiral einschätze, wird er sich wahrscheinlich vor der Verantwortung, die er jetzt, nach Katharinas Tod, für Euch und das Kind hätte, fürchten. Seht Ihr, Mylady Cook, Thomas hätte gewiss nie damit gerechnet, dass es Euch eines Tages so schlecht gehen würde, und mit der Tatsache, dass Ihr ihm eine Tochter schenkt, genausowenig.

Doch trotz seiner Angst muss Thomas, auch wenn er nicht gedenkt, Euch zu heiraten, einen gewissen Anteil an Verantwortung übernehmen. Diese seine Verantwortung, Mylady, und dessen seid Ihr Euch vielleicht bewusst, diese Verantwortung liegt in einer angemessenen Versorgung und der anständigen Behandelung Eurer Krankheit."
 

Tabitha schwieg. Sie wusste, dass Thomas für sie und Anthea verantwortlich war. Sie wusste aber noch viel mehr. Ihre Gnaden weiß ja kaum, was sie da sagt, dachte sie erbittert, Thomas hat nicht nur die Pflicht, mich zu versorgen, sondern auch die Pflicht, mich zu heiraten...Aber er wird niemals irgend etwas für mich tun, weder für mich, noch für Anthea, er ist ein feiger Hund, ein verfluchter, elender...

Tränen traten mit einem Mal in ihre Augen, die sie gewaltsam zurückdrängte, sie drückte ihre Tochter an sich und versuchte, den Husten im Zaum zu halten, der ihre überreizte Lunge erneut zu peinigen begann.
 

Und obgleich die junge Königstochter ernst und spröde war und sich in erster Linie zu einer Rationalistin entwickelte, die all ihre Gefühle dem logischen Verstand unterordnete, empfand sie in jenem Augenblick Mitleid mit der traurigen, einsamen und kranken Lady Cook, deren junges Leben verwirkt zu sein schien, und beflissen sagte sie:
 

"Ich werde Thomas einen Brief schreiben. Hört Ihr, Mylady, ich werde ihm schreiben, er solle Euch Geld schicken, Euch eine monatliche Rente auszahlen, die Ihr für eine langfristige, ärztliche Behandlung ausgeben könnt."
 

"Ach, Ihr wisst ja gar nicht, was Ihr redet! Zwischen Thomas und mir ist es seit eineinhalb Jahren aus, vorbei, versteht Ihr, er wird sich nicht mehr um mich kümmern, nie mehr, weil er sich nämlich den Teufel um mich und meine Gesundheit schert. Ich habe ihn besucht, mit Anthea, und ihn gebeten, mich zu ehelichen, jetzt, da er Witwer ist und ein freier Mann! Und wisst Ihr, was er da gesagt hat, wisst Ihr das? Er könne mich nicht heiraten, weil er ein Seymour sei, und die Standesunterschiede zwischen uns zu groß seien! Hah, Standesunterschiede..! Ich wette tausend, ach was, dreitausend Pfund, dass er inzwischen wieder eine andere Geliebte hat, wegen der er mich und sein Kind zurückweist. Sein Kind, seine eigene Tochter! Aber das eine sage ich Euch, ich werde nicht um seine Liebe betteln, ich nicht, er soll ruhig -"

Ein neuerlicher Hustenanfall setzte ihrem stürmischen Redeschwall ein jähes Ende.

Sie rief nach Cathy, und Cathy eilte herbei, um sie mit Kissen zu stützen und ihr einen Tee zu bringen.
 

Elisabeth indes war einer Ohnmacht nahe, sie hätte nicht gedacht, dass ihr Plan so schwer durchzusetzen wäre.

Eine andere Geliebte...mein Gott, wenn sie wüsste...

"Mylady, hört mich doch wenigstens an! Ich habe gehört, Ihr hättet keinen festen Leibarzt, niemanden, der regelmäßig zu Euch kommt, Euch untersucht und versorgt. Ihr werdet doch einsehen, dass das ein Ende haben muss!"

"Ich kann keinen Leibarzt bezahlen. Ich habe Cathy, das genügt mir."

"Mylady, nicht doch! Wisst Ihr nicht, wie krank Ihr seid?"

"Natürlich weiß ich das! Ich brauche nur in den Spiegel zu sehen, um das körperliche Wrack zu erblicken, das dieser vermaledeite Husten aus mir gemacht hat!"

Anthea begann zu quängeln, und Cathy kam, um sie fortzubringen.

Sie nahm das Kind in ihre molligen Arme, sprach beruhigend auf es ein und trug es hinüber ins angrenzende Zimmer.
 

"Mylady Cook, warum wollt Ihr mich nicht verstehen? Ich werde seine Lordschaft darauf hinweisen, dass es seine Pflicht sei, wenigstens einen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Er soll Euch seinen Leibarzt, Dr. Blound, schicken, und zwar langfristig, er selbst hat weiß Gott genug andere, gute Ärzte. Dr. Blound wird Euch regelmäßig behandeln und-"
 

"Ich habe Euch doch gesagt, dass ich so etwas nicht bezahlen kann! Ich musste mir Geld von meines Vaters Freund leihen, John Dudley, Ihr werdet ihn mit Sicherheit auch kennen. Er hat mir einmal für die Dauer von ein paar Stunden seinen Arzt geschickt, der mich untersucht hat, um herauszufinden, wie es um mich steht. Ich möchte offen zu Euch sein, Euer Gnaden; das Vermögen, das mein Vater mir vor seinem Tod vermachte, war nicht eben groß, und da ich meine Verschwendungssucht erst recht spät einsehen wollte, ist es längt verwirkt. Das Gehalt, das seine Lordschaft, der Protektor, mir monatlich auszahlt, beträgt fünfzig Pfund...!"
 

Elisabeth seufzte. Ganz England wusste, dass Eduard Seymour habsüchtig und geizig war und die Grundbesitzer wie den letzten Dreck behandelte, aber das war wohl ein zu schwerwiegendes Problem, um es jetzt anzusprechen.

"Ihr sollt ja auch Dr. Blound nicht selbst bezahlen. Thomas wird es tun müssen, daran führt kein Weg vorbei. Ihr habt sein Kind geboren, und als Vater der kleinen Lady Anthea hat er die volle Verantwortung, nicht nur für die Gesundheit des Kindes, sondern auch für die der Mutter, sofern diese keine näheren Verwandten mehr besitzt, und dies ist bei Euch nicht der Fall. Letztere Tatsache ist ein ungeschriebenes Gesetz, gegen das kein Vater eines unehelichen Kindes verstößt."
 

Tabitha schien eine Weile lang in andächtiges Sinnen versunken, schließlich funkelte sie Elisabeth mit ihren blauen Augen an, in denen sich das Licht der Kerzenflammen widerspiegelte, und die Prinzessin glaubte sofort an einen neuen Wutausbruch der Lady, aber zu ihrer größten Überraschung sagte Tabitha plötzlich:

"Ihr seid ein sonderbarer Mensch, Euer Gnaden, mit Verlaub. Als ich in Eurem Alter war, haben mich nur Kleider, Schmuck und meine Schulbücher interessiert, nicht das Wohlergehen gewisser Leute, die ich noch nicht einmal kannte. Ich achte und schätze Euch deshalb umso mehr. Aber glaubt Ihr denn allen Ernstes, dass sich ein Thomas Seymour, der die Unmenschlichkeit besessen hat, seine vier Monate alte Tochter zu verstoßen, von seiner moralischen Pflicht überzeugen lässt?"
 

"Mylady", erwiderte Elisabeth ruhig, obgleich sie der Lady in jenem Moment nur allzu gern ins Gesicht geschrien hätte, dass Thomas kein Unmensch war, sondern durchaus gute Seiten besaß. "Ich erwähnte bereits, dass ich den Lordadmiral recht gut kenne. Und ich bin für ihn eine sehr gute Freundin und in manchen Hinsichten vielleicht auch eine Ratgeberin, obgleich ich ein junges, schwaches Mädchen bin, er hingegen ein längst erwachsener Mann. Ich glaube mit Gewissheit daran, dass sein schlechtes Gewissen ihn so sehr plagt, dass er ohne weiteres meinen Rat befolgen und Dr. Blounds Behandlung auf langfristige Zeit bezahlen wird. Bedenkt, dass er damit einen Teil seiner moralischen Schuld an Euch büßt!"

Und damit kniff sie rasch ein Auge ein, um der Situation ein wenig von ihrer Tragik und Schwere zu nehmen.
 

Dieses Mal reagierte Tabitha auf das Zwinkern.

Sie bot der jungen Königstochter an, sich mit ihrer Zofe ein wenig zu ihr zu setzen, sie könne Früchte und Wein auftischen lassen, aber Elisabeth winkte nur dankend ab.
 

"Wir müssen heute noch zurück nach Hatfield, Mylady. Ich lebe leider nicht unbeaufsichtigt auf meinem Landsitz...im Gegensatz zu Euch habe ich eine Erzieherin, die in jeder Sekunde meines Daseins um mein Handeln und Tun besorgt ist."

Tabitha gelang es, ein wenig zu lachen.

"Wer weiß, vielleicht seid Ihr gerade darum aber auch zu beneiden...seit meinem achtzehnten Lebensjahr hat es viele Situationen gegeben, in denen es besser gewesen wäre, wenn jemand mein Handeln beaufsichtigt hätte."

Elisabeth lächelte in sich hinein, da ihr kluger Verstand die Anspielung auf Antheas ungeplante Geburt sofort erkannte.

"Nun, dann...habt noch einen guten Heimritt, Euer Gnaden. Soll ich Euch und Eurer Zofe zwei meiner Diener mitschicken, ich meine, die Straßen sind unsicher, jetzt in der Nacht...?"
 

Elisabeth überlegte einen Augenblick, dachte an die Diebe und Wegelagerer, die sich um diese Stunde in den Feldern rund im die Landstraße herumtrieben, und nickte schließlich.

"Das wäre sehr freundlich von Euch, Mylady."
 

Und so befahl Tabitha dem Boten Mr. Simons und Peter, ihrem treuesten Lakaien, die junge Prinzessin und ihr Kammermädchen auf deren Rückweg nach Hatfield zu begleiten.
 

Überrascht und von größter Ehrfurcht erfüllt befolgten die beiden Männer ihre Anweisungen und eine knappe halbe Stunde später war Tabitha erneut allein in den dunklen Mauern ihres Schlosses, allein mit Cathy und Anthea, die wieder friedlich in ihren Armen saß und durch nichts von ihrer Milchflasche abzulenken war.

Kapitel 8

Am 3. Dezember des Jahres 1548 saß Lady Prinzessin Elisabeth, in ein mattgelbes Gewand mit weiten, aufgeplustert endenden Ärmeln gehüllt, im Schreibzimmer ihrer Gemächer und formulierte folgenden Brief an ihre heimliche Liebe, Thomas Seymour:
 

Hatfield, am 3. Dezember 1548
 

Mylord Admiral,
 

Ich schreibe Euch hiermit ganz unverfänglich, wie es in keinem meiner bisherigen Briefe anders geschah, was mich bewegt und seit einigen Tagen unablässig beschäftigt.
 

Natürlich möchte ich zuvor nicht vergessen, mich auch dieses Mal nach Euer Lordschaft Befinden zu erkundigen und Euch meine ausdrücklichen Wünsche mitzuzteilen, dass Ihr Euch bester Gesundheit erfreuen möget.
 

Nun jedoch zu meinem eigentlichen Anliegen, welches keinerlei Aufschub mehr duldet; seit einigen Wochen bin ich um Euer ehemals bestehendes Verhältnis zu ihrer Ladyschaft, Tabitha Cook, informiert. Ich kann nicht leugnen, dass ich um jedes einzelne Detail weiß, da ich besagte Dame am 25. November dieses Jahres besuchte.
 

Um bezüglich dieser Angelegenheit keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, setze ich Euch nun darüber in Kenntnis, dass ich mir als Außenstehende nicht erlauben werde, an Eurem Privatleben jeglichen Anstoß zu nehmen.
 

Lediglich ihrer Ladyschaft schlechter Gesundheitszustand und ihre ebenfalls deutlich bestehenden Geldschwierigkeiten konnten mich dazu veranlassen, Euch im Folgenden an Eure moralische Verantwortung für Lady Tabitha zu erinnern.
 

Da Euch, Thomas Seymour, weiland ihrer Ladyschaft treuester Gefährte, im Gegensatz zu der Dame selbst die Ehre zuteil wurde, über mehrere Ärzte und ein untadeliges monatliches Einkommen zu verfügen, bitte und beschwöre ich Euch hiermit als Eure Freundin und Ratgeberin in ebendieser Sache, es bei der Begleichung Eurer Schuld damit bewenden zu lassen, dass Ihr Lady Tabitha Cook den angesehenen und heilkundigen Dr. Edward Blound in ihr Schloss nach Enfield Court sendet.
 

Ferner möchte ich Euch, ebenfalls als Eure Freundin, dazu aufrufen, die gesamte Behandlung des Arztes auf langfristige Dauer zu bezahlen. Hierfür lege ich meinem Brief eine Anzahlung von dreiunddreißig Pfund und fünfzig Schilling bei, welches Eure Lordschaft sozusagen als ein durch Euch übermitteltes Geschenk meinerseits an Lady Tabitha betrachten dürfen.
 

Zuletzt bliebe noch zu erwähnen, dass, sintemalen es Euer Ersuchen sei, mich in dieser Angelegenheit weiter zu behelligen, Ihr Euch an meinen Verwalter und Schatzmeister, Sir Thomas Parry, wenden solltet.
 

Euch noch ein letztes Mal ausdrücklich auf Eure moralische Verpflichtung in dieser Hinsicht hinweisend, verabschiedet sich von Euch, sich in bester Verfassung findend,

Elisabeth
 

Während sie das feine, dünne Pergament des Umschlags mit dem ihr zugeteilten Siegel schloss, ging es ihr durch den Kopf, dass sie die kleine Anthea in ihrem Brief mit keinem Wort erwähnt hatte.
 

Nun ja, dachte sie, möglich, dass es besser so ist, er soll schließlich nicht zu sehr aus der Fassung kommen, wenn er mein Schreiben liest...

Und leicht belustigt dachte sie daran, wie Thomas reagieren würde, wenn er erfuhr, dass sie um seine illegitime Tochter wusste...
 

Wenig später ritt ein Bote nach London zum Palais des Lordadmirals, um den Brief ihrer Gnaden, Prinzessin Elisabeth, zu überbringen.

Und Elisabeth sollte Recht behalten.
 

Mittlerweile plagten den armen Thomas solche Gewissensbisse ob seines ungehörigen Benehmens der ehemals Geliebten gegenüber, dass er den Brief ihrer Gnaden als rettende Eingebung betrachtete.
 

Noch in derselben Woche ritt Dr. Blound nach Enfield Court, um sich Lady Tabithas anzunehmen.
 

Inzwischen war, früher als im vorigen Winter, in Südengland der erste Schnee gefallen, und Enfield Court war bei Weitem nicht das einzige Schloss, in dem die Kaminfeuer den ganzen Tag brennen mussten.
 

Am 12. Dezember ging Cathy, in einen dicken Pelzmantel gehüllt, hinunter in den Ort, um bei einem guten Apotheker die Mittel zu besorgen, die Dr. Blound für seine weitere Behandlung benötigte.

Dabei kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um die kranke Herrin und um die Tatsache, dass Blound eher eine weitere Verschlechterung als eine Verbesserung ihres Zustandes erkennen konnte. Tabitha lag nun wieder in ihren Gemächern im Bett, und war so schwach, dass sie kaum aufstehen konnte.
 

Als Cathy an der kleinen Kirche vorbeikam, leutete ein kleiner Junge soeben die Glocke, und sie dachte wehmütig an Antheas Taufe wenige Monate zuvor, und daran, wie gut es Tabitha damals noch gegangen war...
 

Plötzlich vernahm sie hinter sich eine wohlbekannte Stimme, und als sie sich umdrehte, bemerkte sie Pater Brown, der das Gotteshaus gerade verließ.

"Miss Johnes, welch nette Überraschung", sagte er und seine blaugrauen Augen lächelten wie der dünne, pergamentgleiche Mund. "Man trifft Euch so selten im Dorf, sagt, warum kommt Eure Herrin nicht mehr hinunter zum Gottesdienst?"

"Ach, Vater, Ihr stellt Euch ja nicht vor..." Und sie begann ein Klagelied anzustimmen über die Zustände in Enfield Court, über die fortschreitende Schwindsucht ihrer jungen Herrin und darüber, dass man sich nicht genügend um das Kind kümmern könne.
 

"Ach, ich wünschte, ich könnte Lady Cook helfen.." Der Alte seufzte schwer. "Mit der Schwindsucht ist nicht zu spaßen, und Lady Tabitha hat noch nicht einmal ihr zweiundzwanzigstes Lebensjahr erreicht...es ist furchtbar, wenn man bedenkt, was andere junge Frauen an ihrer Stelle erleben dürfen..."

Cathy nickte. Ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck verbarg kaum, wie elend sie sich fühlte.
 

"Und? Was macht die Kleine?" fragte Brown nun, um dem Thema eine etwas fröhlichere Wendung zu geben. Vielleicht, so dachte er, war Gott doch noch gnädig mit seiner Tochter, Lady Tabitha, und ließ sie endgültig genesen, um ihr noch ein paar weitere, schönere Lebensjahre zu schenken...

"Anthea entwickelt sich gut, ihr fröhliches Lachen vermag die Mutter in vielen Stunden aufzuheitern, und sie kann bereits krabbeln." berichtete Cathy lächelnd. "Ach, Ihr solltet sie sehen, Pater Brown! Sie ist ein entzückendes, kleines Ding! Sie braucht einen nur ein einziges Mal mit ihren kugelrunden, blauen Augen anzusehen, und schon vergibt man ihr allen Unsinn, den sie anstellt."
 

Sie plauderten noch ein wenig über dies und das, dann verabschiedete sich Cathy und lief rasch hinüber zu der kleinen Apotheke, um Dr. Blounds Aufträge zu erfüllen.
 

Als sie von ihrem Einkauf zurückgekehrt war, hörte sie Anthea im ersten Stock aus Leibeskräften schreien und konstatierte, dass das Kind sich wieder einmal irgendwo angestoßen hatte, weil niemand wusste, wo sie auf ihren kleinen, knubbeligen Knien hinrobbte.

Rasch eilte sie nach oben, hob das weinende Kind auf ihre Arme und schimpfte die fünfzehnjährige March aus, die auf Anthea hätte aufpassen müssen.

Dann gab sie die Kleine in Amilies rettende Hände und ging hinüber ins angrenzende Zimmer, um mit Dr. Blound zu sprechen.
 

"Es sieht schlecht aus, Miss Johnes", sagte der etwas jüngere Mann ohne Umschweife. "Lady Cook hat über Nacht Fieber bekommen, sie hustet Blut und ihre Lunge rasselt furchtbar..."
 

Cathy, höchst beunruhigt, lief hinüber in Tabithas Schlafzimmer, setzte sich an deren Bett und nahm die schwache, bleiche Hand in die ihre.

Tabitha hatte die glasigen Augen aufgeschlagen und starrte Cathy hilflos an.

"Anthea..." sagte sie schwach, "wo...Anthea?"

"Psst!" Cathy legte ihren dicken Zeigefinger an den Mund, dann nahm sie das Tuch, das neben Tabithas Bett in einer Schale mit klarem Wasser lag, drückte es aus und wischte ihrer Herrin über die schweißbedeckte Stirn.

"Es geht ihr gut, sie ist bei Amilie."

"Anthea..."

"Bei Amilie, Mylady. Es geht ihr wirklich gut."
 

Den ganzen restlichen Tag und auch den Folgenden blieb die treue alte Amme bei ihrer kranken Herrin sitzen. Zu ihrer Erleichterung sank das Fieber und nach einer Woche ging es Tabitha wieder soweit gut, dass sie mit Dr. Blound einen Streit beginnen konnte.
 

"Mylady, ich sagte Euch doch, es ist nicht nötig, dass Ihr Euer Testament aufsetzt, niemand weiß schließlich, ob Ihr nicht doch noch völlig gesund werdet!"

"Redet keinen Unsinn, Dr. Blound!" herrschte Tabitha den völlig perplexen Arzt an. "Oder kennt Ihr irgend jemanden, der je von Schwindsucht genesen konnte?! Ich werde sterben wie meine Mutter, und ich werde es mit Fassung tragen wie sie! Und jetzt gebt mir das Papier und die Feder. Na los doch, gebt schon her!"
 

Cathy war eingetreten und beobachtete entsetzt, wie der Arzt ihr ergeben Velum und Federkiel in die zitternde Hand drückte.

Während Tabitha schrieb, zog sich die Stirn der alten Kinderfrau in tiefe Falten.

"Mit Verlaub, Mylady, wenn Ihr noch auf diese Weise zu streiten und zu schimpfen vermögt, dann könnt Ihr so krank nicht sein."

"Halt du dich besser da heraus. Ich muss abwägen, wer sich nach meinem Tod um Anthea kümmern soll, mein Kind braucht einen anständigen Vormund und anständige Ammen, ich lasse es nicht zu, dass man Anthea verkümmern lässt wie eine Pflanze,deren einzige Wasserquelle versiegt ist!"
 

Cathy ging kopfschüttelnd hinüber zu der kleinen Kommode neben dem Bett und stellte den Becher, aus dem Tabithas Tee mit der bitteren Medizin dampfte, vorsichtig darauf ab.

"Ihr seid nicht mehr recht bei Sinnen, Mädchen. Wer soll denn Antheas Vormund werden, wenn nicht Lord Seymour?"

Tabithas Augen begannen sofort, kampflustig zu funkeln.

"Thomas? Niemals! Er hat sie verstoßen, verstehst du nicht, er will sie nicht! Sie wäre ihm nur ein Dorn im Auge, er wäre ein miserabler Vater, er würde sie vernachlässigen..."
 

"Mylady, warum gebt ihr das Kind nicht ganz einfach in die Hände Eurer Zofen? Ich selbst bin zwar Antheas Patin, aber um es genau zu nehmen bin ich zu alt, um ein Kind ihres Alters zu erziehen."

"Heather und Liz? Eine Möglichkeit wäre es, Heather besitzt zwar keine näheren Verwandten in England, aber Liz hat ihre Familie in der Nähe von Cambridge, sie würden Anthea gewiss recht fürsorglich aufnehmen, es ist nur..."

"Was? Was stört Euch an meinem Vorschlag?"

Cathy betrachtete sie argwöhnisch.

"Nun ja..wie soll ich es ausdrücken..." Tabitha wurde ein wenig rot, und es erinnerte Cathy schlagartig daran, wie sie früher ausgesehen hatte, ein blühendes, rosiges junges Ding voller Lebenswillen...

"Weißt du, es ist so...Anthea ist die Enkelin eines ehemals hochangesehenen Mannes am Hofe, bedenke, welch gesonderte Position mein Vater besaß! Obendrein ist sie eine halbe Seymour...es fragt sich, ob einer halben Seymour nicht etwas besseres zusteht als das Leben in einer Schusterfamilie..:"
 

Cathy grinste.

"Das habe ich mir gedacht. Ihr seid die klassische Mutter, Mylady, schon im Vorraus die beste Zukunft für Euer Kind planend... Aber sagt, wenn Euch soviel daran liegt, dass sie in gute Hände kommt, warum bittet Ihr nicht ihre noch lebende Großmutter, sich ihrer anzunehmen?"

"Wie...du meinst die alte Lady Seymour?!"

"Ja, natürlich, wen sonst? Die Mutter des Admirals soll ein herzensguter Mensch sein. Wenn sie erfährt, dass sie eine kleine Enkelin hat, ob unehelich oder nicht, wird es sie sicher sehr freuen."

"Aber Cathy...Lady Seymour ist nahezu sechzig Jahre alt, sie wird bald sterben, und dann? Dann wird man sich um mein Kind streiten wie um eine kostbare Ware, und am Ende wird es doch Thomas sein, der das Sorgerecht bekommt. Nein, Cathy, Lady Seymour nicht."
 

"Mhm...dann bliebe nur noch ihr Onkel. Der Lordprotektor wird gewiss alles daran setzen, seiner Nichte alle ihr zustehenden Privilegien zu erteilen."

"Ja, einer Nichte, von der er bisher noch nicht einmal weiß, dass es sie gibt...Thomas' Bruder ist mir unheimlich, Cathy, unheimlich und uangenhm, außerdem käme Anthea bei seiner Vormundschaft in erster Linie unter die Fitiche seiner Gemahlin, der Herzogin vom Somerset, dieser widerlichen, zänkischen, heuchlerischen Person...nein, Cathy, das kann ich nicht verantworten, wer weiß, was sie im Hause Somerset aus meiner süßen, kleinen Tochter machen...?"
 

"Bezüglich der Herzogin muss ich Euch Recht geben, Mylady. Ich habe sie zwar nur ein einziges Mal getroffen, aber sie war mir schon auf den ersten Blick unsymphatisch...Nun, dann wüsste ich aber wirklich keine weitere Möglichkeit mehr, mit Verlaub."
 

"Aber ich!" Tabithas Augen begannen mit einem Mal triumphierend zu funkeln. "Ich habe einen grandiosen, ja, einen geradezu hervorragenden Einfall!"

"Und dieser wäre?"

"John Dudley, der Graf von Warwick."

Die Amme zog ihre nicht vorhandenen Brauen hoch.

"Wie? Ihr wollt sie in Warwicks Hände geben, in die Klauen dieses zwiespältigen Patrons?! Mylady, das ist keine gute Idee...Bedenkt, was man sich in London über den Grafen so erzählt..."

"Dummes Geschwätz, Warwick ist ein anständiger, pflichtbewusster Mensch, und seine Frau, Lady Maryan, ist lieb und gutmütig. Denk immer daran, er hat mir freiwillig seinen besten Arzt geschickt, und er hat mir aus eigenem Antrieb geholfen, als ich in Geldnot war..."

"Aus eigenem Antrieb? Ihr habt ihn doch geradezu angefleht, Euch Geld zu senden, Mylady!"

"Ja, aber er hätte meine Bitte ebensogut abschlagen können...wirklich, Cathy, ich werde ihm die Vormundschaft für mein Kind übertragen. Er soll die Verantwortung für Anthea übernehmen, er und kein anderer."
 

Und damit tauchte sie die Feder erneut in die Tinte und legte ihren Entschluss schriftlich nieder.

Cathy war ein wenig skeptisch, was Tabithas Vorhaben betraf, sie traute Warwick nicht und fürchtete sich vor seiner glatten Liebenswürdigkeit, die rasch in Grausamkeit umschlagen konnte.
 

"Mylady, was wird, wenn der Graf und Lady Maryan frühzeitig sterben?"

"Ganz einfach, dann bekommt einer seiner Söhne die Vormundschaft für das Kind, wahrscheinlich der Älteste, Guildford. Er wird gewiss bald heiraten und selbst Kinder haben, und Anthea ist noch kein Jahr alt...man wird sie auch in seinem Haushalt liebevoll aufnehmen..." Als sie dies sagte, füllten sich ihre Augen plötzlich mit Tränen, sie legte das Gesicht in die Hände und fing an zu weinen.

"Mylady, beruhigt Euch doch!" Cathy setzte sich an die Bettkante und nahm die Kranke in ihre Arme.

"Was denkt Ihr auch jetzt schon über all das nach, Ihr könnt gesund werden und noch zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre leben! Dann werdet Ihr Euch selbst um Anthea kümmern können, sie heranwachsen sehen, Euch um ihre Ausbildung und Verheiratung kümmern..."
 

Tabitha schüttelte heftig den Kopf.

"Nein, Cathy, das wird niemals geschehen...ich werde sterben, bevor meine Tochter ihr erstes Lebensjahr erreicht hat, Dr. Blound glaubt es ja auch, er will es mir bloß nicht sagen...oh Cathy, es ist so schrecklich..."Und sie schluchzte, als müsse ihr Herz zerbrechen.

"Mein armes Mädchen." flüsterte Cathy. "Warum seht Ihr nur alles so schwarz, warum wartet Ihr nicht einfach ab?"

"Abwarten, pah!" Tabithas Tränen verebbten und machten einer trotzigen Wut Platz. "Was bringt mir denn dieses Abwarten, wenn ich wochenlang im Bett zubringen muss und mich nicht einmal richtig um mein Kind kümmern kann, weil ich zu schwach bin, um aufzustehen?!"
 

In der Tat verschlechterte sich Tabithas Zustand von Tag zu Tag.

Einige Tage vor Weihnachten, als draußen dicke Schneeflocken auf die Felder und Wiesen fielen, kehrte das Fieber zurück und Heather und Liz saßen Tage- und Nächtelang am Bett ihrer Herrin, hielten ihr eine Schale unter den Mund, wenn sie Blut hustete, und wischten ihr immer wieder den Schweiß von der Stirn.
 

Anthea wurde von Cathy, Amilie und den übrigen Mägden nach besten Kräften behütet und versorgt. Sie schrie häufig, und die alte Amme wusste, dass dies an der Mutter lag, nach der sie verlangte, aber Tabitha nahm schon seit einigen Tagen ihre Umgebung nicht mehr wahr und Dr. Blound war der festen Überzeugung, es sei sinnlos, ihr das Kind zu bringen.
 

Weihnachten kam und ging, es wurde ein trostloses Fest für die Bewohner von Enfield Court, und die Geschenke, die man sich überreichte, konnten die Trauer um die totkranke Herrin nicht verdrängen.
 

In der Nacht vom 31. Dezember 1548 auf den 1. Januar 1549 saß Dr. Blound ohne Pause an Tabithas Bett und prüfte von Stunde zu Stunde ihren schlechter werdenden Zustand.
 

Als der kalte Wintermorgen heraufdämmerte, lief er mit raschen Schritten ins angrenzende Zimmer und weckte das Dienstmädchen Amilie, welches in einem Lehnstuhl beim Kamin eingeschlafen war.

"Was ist los, Doctor? Soll ich Mylady -"

"Lauft hinunter ins Dorf und holt Pater Brown. Rasch, eilt Euch!"

Amilie erhob sich mühsam aus dem Sessel, dann schien sie zu begreifen und ihre Augen, in denen noch der Schlaf hing, weiteten sich vor Entsetzen.

"Nein", flüsterte sie erstickt. "Dr. Blound, das kann nicht -"

Der Arzt jedoch schüttelte den Kopf und packte sie bei den Schultern.

"Lauft ins Dorf, schnell!"
 

Amilie wirbelte herum, packte ihren Wollmantel, der noch nass war von einem gestrigen Spaziergang und verließ das Schloss, als sei ein Trupp Berittener hinter ihr her.

Sie nahm sich keine Zeit neuen Atem zu schöpfen, als sie Pater Browns winziges Pfarrhaus erreichte, sondern hämmerte mit tränenden Augen gegen die hölzerne Tür.

Der junge Harry, der bei Brown als Hausdiener angestellt war, öffnete ihr.

Die Beiden kannten sich aus mehreren Gesprächen, die sie im Dorf miteinander geführt hatten, und so ahnte Harry sofort etwas, als er das verweinte Gesicht der Freundin erblickte.
 

"Hole den Vater, sofort."

"Ist es wegen Lady Cook?"

"Verflucht, ja, nun hol' ihn schon!"

Harry eilte fort und kehrte den Bruchteil einer Sekunde mit dem Alten zurück.

"Meine Tochter", sagte er langsam und beruhigend und legte der kleinen Frau die Hand auf das schneebedeckte Haupt. "Seid ruhig, bleibt ruhig, meine Tochter. Wie steht es um Eure Herrin?"

Amilie keuchte. Die Tränen ließen sich kaum zurückhalten.

"Oh, Vater, es ist so furchtbar..." Sie brach in Schluchzen aus. "Dr. Blound schickt mich, ich glaube, es...es geht zu Ende mit ihr, Vater!"
 

Er packte seinen Diener beim Arm, während seine Miene hart und ernst wurde und gar nicht zu seinem gutmütigen, weichen Wesen zu passen schien.

"Bringe mir meinen Mantel, Harry."

"Sehr wohl, Vater."
 

Kurze Zeit später lief er neben der schluchzenden Dienstmagd hinauf zum Schloss. Ihr Atem verwandelte sich in Wolken kalten Rauches, und der frisch gefallene Schnee knarzte unter ihren Füßen.

"In einer Stunde beginnt der Neujahrsgottesdienst, dann muss ich wieder unten sein, um meine Gemeinde zu empfangen." sagte er, während sie die leere, große Halle des Schlosses betraten. Dabei dachte er daran, dass vor genau einem Jahr auch Lady Cook noch diesen Gottesdienst besucht hatte, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
 

In Tabithas Schlafgemach herrschte eisernes, kummervolles Schweigen, als Amilie in Begleitung Pater Browns den abgedunkelten Raum betrat.

Cathy saß in einem Lehnstuhl neben dem Krankenbett und schluchzte leise vor sich hin, March, Heather und Liz standen in einer Ecke des Zimmers und beobachteten mit steinernen Mienen, wie Dr. Blound sich über ihre Herrin beugte, und die kleine Anthea saß beim Kamin auf einem Bärenfell und wimmerte.
 

"Wie geht es ihr?" fragte Brown besorgt, während er sich zu Dr. Blound hinunterbeugte und Amilie im Hintergrund verschwand.

"Es sieht nicht gut aus, Vater." antwortete dieser wahrheitsgemäß. "Ihre Ladyschaft hat hohes Fieber und ihr Atem geht nur sehr langsam." Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern herab, als er nun weitersprach. "Ich sage es sehr ungern, aber...ich fürchte wirklich, es geht zu Ende."
 

Der alte Pater sah sich nach einem Stuhl um, und als der Arzt bemerkte, dass er keinen finden konnte, stand er zuvorkommend auf. "Ihr könnt meinen Platz haben, Vater, ich habe lange genug gesessen."

"Vielen Dank, Doctor."

Er beugte sein Gesicht über das der Sterbenden, deren langes Haar sie wie ein dichtes, schwarzes Tuch umgab, und verfolgte still ihre ungleichmäßigen, rasselnden Atemzüge.
 

Kurz bevor die ersten, schwachen Strahlen der Wintersonne das Dämmerlicht des Gemachs durchbrachen, wandte Tabitha plötzlich den Kopf und ihre großen, glasblauen, fiebrig glänzenden Augen öffneten sich.

Sofort winkte Pater Brown den Arzt herbei, welcher am Fenster stand und unruhig mit den Füßen auf dem von Binsen bedeckten Boden scharrte.
 

"Mylady", flüsterte er und brachte sein Gesicht noch näher an das ihrige. "Mylady, könnt Ihr mich verstehen?"

Doch Tabitha schien durch ihn hindurch zu blicken.

"Thomas?" fragte sie, heiser und kaum verständlich.

"Mylady, ich bin es, Pater Brown! Könnt Ihr verstehen, was ich sage?"

"Das hat doch keinen Zweck, Vater." mischte sich Dr. Blound kopfschüttelnd ein. "Sie erkennt Euch nicht, sie phantasiert bloß."

"Mylady, ich bin es!" widerholte er, dieses Mal lauter, Dr. Blounds Worte ignorierend. "Pater Brown!"

"Pater Brown..." echote sie schwach, und dem Geistlichen wurde klar, dass sie nicht wusste, wer er war. Weitere Worte drangen aus ihrer trockenen Kehle, sie hustete krampfhaft und Heather eilte sofort mit einer kleinen Schale herbei, die sie ihr unter den Mund hielt.

Helles Blut spritzte in das Behältnis, und Dr. Blound sah es mit Entsetzen.
 

Cathys Schluchzen war für eine Weile verebbt, sie blickte Pater Brown über Tabithas Sterbebett hinweg hilflos an, schließlich fragte sie leise:

"Was sagt sie, Vater?"

Pater Brown schüttelte den Kopf.

"Ich weiß es nicht, Miss Johnes. Ich kann sie so schlecht verstehen."
 

Tabitha starrte ihn immer noch an, und jetzt schnellte ihr dünner Arm plötzlich empor, krallte sich in den linken Ärmel seiner Kutte und hielt sich daran fest, als wäre er das Einzige, was sie noch retten könne.

"Anthea", hauchte sie kaum hörbar. "Kümmert Euch...um Anthea. Sie ist...sie ist...noch so klein."

Dann erschlaffte ihr Griff, der Arm fiel zurück auf die leinene Decke, und mit halb geschlossenen Augen sank ihr schwerer Kopf zur Seite.

Pater Brown beugte sich hinab und legte das rechte Ohr dicht an ihre Brust.
 

Wenig später richtete er sich mit kalkweißem Gesicht auf, legte die Hände der toten Lady Cook über der Decke zusammen und sprach ein letztes Gebet, in welches Dr. Blound, Cathy und die weinenden Zofen mit einstimmten.

Kapitel 9

Der 25. Januar des Jahres 1549 war ein kalter, öder Wintertag.

Raben krächzten in den kahlen Kastanienbäumen rund um Schloss Enfield, und fette Krähen untersuchten den schneebedeckten Erdhaufen, der sich neben der Rosenhecke im Schlossgarten befand und den ein Kreuz aus hellem Holz zierte.

"Hier ruht Lady Tabitha Cook" stand in feinen, sanft geschwungenen Buchstaben auf dem Kreuz. "Geboren am 13. März im Jahre 1527, gestorben am 1. Januar des Jahres 1549"
 

Die Vögel wurden jedoch aufgeschreckt, erhoben sich in die Lüfte und zogen laut krächzend ihre Bahnen in den weißblauen Himmel, als eine kleine, verhärmte Frau, in einen dicken Pelzmantel gehüllt, in Begleitung einer Jüngeren auf dem breiten Kiesweg einherschritt.
 

Als Heather und Cathy beim Grab ihrer ehemaligen Herrin angelangt waren, blieben sie eine Weile lang andächtig stehen und gingen beide ihren ganz eigenen Gedanken über die Tote nach.
 

Es war jetzt genau drei Wochen her, dass man Tabitha hier beerdigt hatte. Drei lange Wochen, in denen es Cathy nicht gelungen war, ihren Schmerz zu überwinden.

Sie erinnerte sich noch einmal an den Besuch Thomas Seymours, der einen Tag nach Tabithas Beisetzung gekommen war, um an ihrem Grab zu stehen. Beiläufig ging es ihr durch den Kopf, dass dies das erste Mal in ihrem Leben gewesen war, dass sie Tränen in den Augen eines Mannes gesehen hatte.

Er hat sie geliebt, überlegte die Alte, ja, auf seine ganz eigene, seltsame Weise hat er sie geliebt.
 

Dann wanderten ihre Gedanken zu der kleinen Anthea. Warwick hatte erst nach langem Zögern eingewilligt, Tabithas letzten Willen zu erfüllen und die Vormundschaft für das Kind zu übernehmen. Mittlerweile hatte man die Kleine ins Palais des Grafen gebracht, wo sich einige Kinderfrauen und Zofen, darunter auch Liz, welche sich bereiterklärt hatte, das Kind zu begleiten, um sie kümmerten.
 

Cathy hoffte inständig, es möge Anthea gut ergehen und dass Warwick ihr, gleich seinen bereits erwachsenen Söhnen und Töchtern, eine anständige Erziehung und Ausbildung zu Teil werden ließ, wie es sich für eine halbe Seymour ziemte.
 

Als sie schließlich den Rückweg zum Schloss einschlugen, sagte Heather plötzlich, als sei es eine Selbstverständlichkeit:

"Ich habe übrigens erfahren, dass man seine Lordschaft, den Großadmiral Thomas Seymour, vor etwa sieben Tagen in den Tower von London gebracht hat."

Cathy glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Wie angewurzelt blieb sie stehen und sah Tabithas ehemalige Zofe mit weit aufgerissenen Augen an.

"Was sagst du da?! Thomas Seymour ist im Tower? Der Thomas Seymour? Bist du dir sicher, dass das nicht nur ein Gerücht ist...?"
 

"Nein, es ist wahr, Miss Johnes." Heather schien unschlüssig, ob sie Weiteres erzählen sollte, entschied jedoch dann, dass Cathy als langjährige Begleiterin von Thomas' einstiger Geliebter ein Recht hatte, zu erfahren, was es mit jener mysteriösen Geschichte auf sich hatte. "Sie haben von einem Staatsstreich gesprochen", sprudelte es aus ihr heraus, "angeblich soll Seymour auf irgend eine Weise versucht haben, seinen Bruder zu entmachten, um selbst an dessen Stelle zu treten. Sie sagen auch, man hätte ihn in der Nacht vor seiner Verhaftung im Gemach seines schlafenden Neffen überrascht, er solle angeblich versucht haben, den kleinen König zu entführen, um so von seinem Landsitz Sudeley aus Druck auf seinen Bruder und den Regentschaftsrat auszuüben!"
 

Cathy schüttelte fassungslos den Kopf.

"Aber...das kann doch nicht dein Ernst sein, Heather, wie kann denn der Lordadmiral..."

"Ich weiß nichts Genaues, Miss Johnes, wirklich nicht. Tatsache ist auf jeden Fall, dass Seymour seit gut einer Woche im Tower in Gefangenschaft sitzt."

"Eine Tatsache also...trotzdem, ich kann es gar nicht glauben..." Dann nahm sie die Jüngere beim Arm. "Komm mit in die Schlosshalle, und sage am besten nichts mehr, ich muss nachdenken..."
 

John Dudley, der Graf von Warwick, lief schon seit einigen Stunden unruhig in seinen Gemächern umher und überlegte fieberhaft, wie alles weitergehen sollte.

Abermals durchwanderten seine Gedanken die Ereignisse der vergangenen Woche.

Am Abend des 18. Januars hatte Erzbischof Cranmer aus heiterem Himmel den Rat einberufen, und Dudley, obgleich überrascht, dass ausgerechnet Cranmer und nicht, wie sonst, der Lordprotektor selbst, die Räte zusammentrommelte, hatte sich unverzüglich zum Palais des Erzbischofs begeben.
 

Als er das Gebäude erreichte, waren bereits alle Ratsmitglieder versammelt, einzig Lordadmiral Seymour fehlte; Cranmer jedoch erklärte,der Rat sei vollzählig, was alle erstaunte. Dann stellte sich heraus, dass es sich um einen Brief handelte, den Cranmer vor einigen Stunden von seiner Majestät erhalten habe und dessen Inhalt dringend erörtert werden müsse.
 

In seinem Schreiben erhob der elfjährige Eduard VI. Klage gegen den Lordprotektor und forderte, man solle ihn absetzen und stattdessen seinen zweiten Onkel, Lordadmiral Seymour, zum Protektor ernennen. Warwick vermutete sofort, dass dies ein Werk Thomas Seymours sei, der den Neffen zu diesem Schreiben veranlasst habe, und sprach sich für die sofortige Inhaftierung Seymours im Tower aus.
 

Eduard Seymour (seine Lordschaft der Herzog von Somerset), Cranmer und einige andere Räte stimmten jedoch dafür, man solle Thomas mittels eines Boten vor den Rat laden und selbst zu der Sache befragen, hernach könne man entscheiden, ob man ihn langfristig aus dem Rat ausschließe, aus London verbanne oder gar in den Tower bringe, aber erst, dies sei die Bedingung, müsse man seine Meinung hören.
 

Schließlich wurde ein Bote zum Bath Palace gesandt, der Seymour das Schreiben seines Bruders überbringen sollte, worin dieser ihn vor den versammelten Rat befahl. Der Bote kehrte rasch zurück mit der Nachricht, seine Lordschaft befinde sich zu Hause, also wartete man eine geraume Zeit. Als Thomas nicht erschien, entschied man, ihm zwölf Stunden Gelegenheit zu geben, einen Brief zum erzbischöflichen Palais zu senden, wenn er dies binnen der gegebenen Frist nicht tue, solle man ihn verhaften.
 

Schließlich trennte sich der Rat und der Lordprotektor beauftrage Mr. William Cecil, einen seiner fähigsten Juristen, inzwischen mit der Anklagechrift gegen den Bruder zu beginnen.
 

Noch am selben Abend überraschte die Leibwache des jungen Königs Thomas Seymour an dessen Bett, und unter dringendem Verdacht, den Neffen entführt haben zu wollen, wurde er verhaftet und in den Tower gebracht. Seit diesem Zeitpunkt disputierte der Rat Tag und Nacht über die Schuld oder Unschuld des Großadmirals...
 

Die Anklageschrift, überlegte Warwick, während er einige Minuten lang am Fenster seines Wohngemachs verharrte, die Anklageschrirft gegen den Lordadmiral enthält dreiunddreißig Punkte, darunter sein Auftreten gegen den Lordprotektor, seine Versuche, den König gegen die Regierung zu beeinflussen, schließlich der Versuch, die Schwester des Königs, welche gleichzeitig Thronerbin ist, zu ehelichen, um dadurch vielleicht selbt eines Tages den Thron besteigen zu können...
 

Beiläufig dachte der Graf, dass keiner der Punkte reichen würde, den Lordadmiral des Hochverrats anzuklagen, und diese Tatsache verärgerte ihn maßlos. Obgleich er sich nach außen meist recht höflich und unparteiisch gab, merkten doch einige, dass er Seymour hasste und verachtete, und dass er sich nichts lieber wünschte als ihn aus dem Weg zu haben.
 

In der Tat richtete sich Warwicks Abneigung nicht nur gegen den Lordadmiral, sondern auch zunehmend mehr gegen dessen Bruder, er war der Meinung, Eduard Seymour sei unfähig, einen Staat wie England zu regieren, unfähig und unpolitisch, er handele, wie es ihm gerade in den Sinn käme, und es erboste Warwick, dass man einen solchen Mann als obersten Rat tolerierte. Hätte ich die Macht dazu, dachte er, würde ich sie gleich alle Beide dem Henker ausliefern...dann zeichnete sich ein siegessicheres, triumphierendes Lächeln in seine Züge und er begann, leise vor sich hin zu murmeln.
 

"Einstweilen", sprach er zu sich, "werde ich mich darum kümmern, dass Thomas Seymours irdisches Leben ein Ende hat, und zwar so schnell wie möglich..." Die Tatsache, dass Thomas' kleine Tochter in seinem Haushalt und als sein Mündel erzogen wurde, ließ Warwick in jenem Augenblick kalt.
 

Anthea indes bekam von all diesen tragenden Ereignissen nichts mit. Sie war wohl anfangs etwas verwirrt gewesen, weil plötzlich jene schöne, dunkelhaarige Frau nicht mehr da war, an deren zärtliche Umarmungen sie sich in den ersten Monaten ihres Daseins so sehr gewöhnt hatte, und hatte ob dieser ihrer Verwirrung recht oft und besonders heftig geschrien, was die zahlreichen Ammen, Zofen und Kindermädchen, die sich im Hause Warwick um sie bemühten, schier zur Verzweiflung getrieben hatte.
 

Mit der Zeit jedoch hatte sich das Kind an die Veränderung gewöhnt und auch an den Umstand, dass nun nicht nur eine Frau es war, die sie ständig in den Armen hielt und herumtrug, sondern an die acht verschiedenen Frauen, sowohl jüngeren als auch fortgeschritteneren Alters.

Für Antheas spätere seelische Entwicklung sollte dieser Umstand allerdings alles andere als gut sein.
 

Am meisten entzückte sich die achtzehnjährige Elizabeth Worchester, die von allen schlicht Betty gerufen wurde, über das niedliche Kind mit dem feinen, kastanienfarbenen Haar, welches eindeutig ein Erbteil des Vaters war, und den großen, fragenden Augen.
 

Betty war die Tochter des verstorbenen Miles Worchester, der jahrelang Warwicks Verwalter und Schatzmeister gewesen war. Sie war noch unverheiratet, hatte aber bereits eine lange und gute Ausbildung zur Hebamme und Kinderfrau genossen, sodass sie es hervorragend verstand, Anthea zu füttern, zu wickeln und mit ihr zu spielen.

Liz und einige andere Zofen beneideten die junge Betty um ihr Geschick mit der Kleinen, und sie verfolgten erstaunt, wie Anthea sich mit jeder neuen Woche, die verging, stärker an Miss Worchester gewöhnte.
 

Am 4. März des Jahres 1549 wurde Thomas Seymour von einem zusammengetretenen Tribunal des Hochverrats für schuldig befunden. Knapp zwei Wochen später ließ man ihm im Tower den Kopf abschlagen.
 

Als endgültige Schuldbeweise nominierte der Parlamentsakt den Versuch, sich des Königs Person und damit der Regierung zu bemächtigen, die Anhäufung von Geld und Lebensmitteln zur Vorbereitung eines Bürgeraufstandes, sein Trachten, Lady Elisabeth, die Schwester des Königs, zu heiraten, und schließlich seinen Versuch, den minderjährigen König dahin zu bringen, allein regieren zu wollen.
 

Die schlimmen Zukunftsvisionen, welche Tabitha Cook zu ihren Lebzeiten gehabt hatte, hatten sich bewahrheitet; seine Herrschsucht und sein unbegrenzter Neid auf den älteren Bruder hatten Thomas Seymour den Tod gebracht.
 

Wenige Tage nach Thomas' Hinrichtung wurden Kate und John Ashley und Sir Thomas Parry aus ihrer Gefangenschaft entlassen und durften zu ihrer Herrin, Lady Prinzessin Elisabeth, zurückkehren. Man hatte sie verhaftet und während des Prozesses gegen Thomas Seymour ebenfalls im Tower inhaftiert, um sie über mögliche Anspielungen ihrer Herrin auf eine Heirat mit dem Lordadmiral zu befragen.
 

Auch Elisabeth war in der Zeit bis zu Thomas' Hinrichtung befragt und verhört worden, jedoch konnte man ihr am Anfang wie auch am Ende keinerlei moralische Schuld geben, da sie viel zu diplomatisch und zu vorsichtig geantwortet hatte. Selbst als sie von Seymours Hinrichtung erfuhr, blieb ihr Gesicht undurchdringlich wie eine wächserne Maske, und erst spät am Abend, als sie längst allein in ihren Gemächern im Bett lag, begann sie, leise und bitterlich zu weinen.
 

Einige Zeit später erfuhr die Prinzessin, dass ihr Bruder sie zwei Jahre lang nicht bei Hofe empfangen würde, aber nun, da sie ihre Leute wieder hatte und mit ihrem kleinen Gefolge friedlich auf ihrem Landsitz in Hatfield leben konnte, störte sie diese Tatsache nicht weiter.
 

Am selben Tag, da Kate und John Ashley in Begleitung des Schatzmeisters nach Hatfield zurückkehrten, saß Betty Worchester bei einem der Fenster in Warwicks Palais, die kleine Anthea auf ihrem Schoß, und blickte nachdenklich hinunter zur Themse.

Sie dachte daran, dass Warwick sich in den vergangenen Tagen verändert hatte und suchte krampfhaft nach einem Grund für diese ihre Empfindung. Seine Gesichtszüge wirken noch strenger und härter als zuvor, überlegte sie, seit der Prozess gegen Thomas Seymour begonnen hat, habe ich ihn kein einziges Mal lächeln sehen...
 

Schließlich kehrten ihre Gedanken zu dem Kind auf ihrem Schoß zurück und damit zu der erschreckenden Tatsache, dass Anthea das Mündel eines Mannes war, welcher das Todesurteil ihres Vaters als Erster unterzeichnet hatte...
 

"Arme Kleine", sagte sie leise zu dem Kind, welches sich in ihren Armen regte, und drückte es stärker an sich. "Noch kein Jahr alt und schon eine Waise in der Höhle des Löwen..."

In der Höhle des Löwen...
 

Es war das erste Mal, dass Betty Worchester sich zu fragen begann, ob Tabitha Cooks Entscheidung, ihre Tochter in John Dudleys Hände zu geben, richtig gewesen war.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2004-02-19T16:00:32+00:00 19.02.2004 17:00
weiiiiiitaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!!!!!!!!! *süchtig is*
Von: abgemeldet
2004-02-12T15:36:38+00:00 12.02.2004 16:36
Sersn auri!!!
also wie gesagt, ich finds genial, und andere bestimmt auch! aber weißt was, beschreib das aussehen, sprich, die kleidung von thomas a bissl, daran lags näml auch, dass ichs mir net so genau vorstellen konnte, wie er angezogen war!
nur so...
^^
hdl
vera
Von:  Narinaru
2004-02-08T18:45:19+00:00 08.02.2004 19:45
HOI Auri!

boah,da schreib ich dir ne kritik,und s Animexx verbummelts!grrr...okay,also nochmal:cool,dass du jetzt auch da bist!Grüssle,Anna(benutz grad babs Account)^^Anosnten bin ich unter Luca-chan erreichbar!Meld dich amal!^^


Zurück