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STARRE

von

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Abgehauen

Es war ein Uhr Morgens und ich lag wach in meinem Bett. Ich hörte wie jemand die Haustür aufschloss, und mit lauten Schritten die Flurtreppe hochkam. Es war mein Vater, der wie jeden Tag stockbesoffen aus der Kneipe kam. Ich fing an zu zittern und mein Magen drehte sich um, als ich merkte, dass er in das Zimmer meines Bruders Marcus ging, das direkt neben meinem lag. Ich wusste, dass Marcus nicht zu Hause war.
 

Plötzlich donnerte er in mein Zimmer und schrie: „Wo ist dieser Bastard? Wenn ich den in die Finger kriege, breche ich ihm das Genick!“ Er kam zu mir herüber, packte mich am Kragen meines T-Shirts und zog mich zu sich hoch. „Sag schon, wo ist dein Bruder?“ setzte er nach. Er stank so erbärmlich aus dem Mund, dass mir übel wurde. „Ich weiß nicht, wo er ist“, sagte ich mit schwerer, zitternder Stimme, die so leise war, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich verstanden hatte. Er ließ mich los, lief schwankend aus meinem Zimmer und lallte noch ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Nach ein paar Minuten wurde es still, vermutlich war er auf seinem Sessel im Wohnzimmer eingenickt.
 

Als ich endlich die Schnarchgeräusche meines Vaters hörte, entspannte ich mich wieder ein wenig. Ich fragte mich, wo sich mein gottverdammter Zwillingsbruder schon wieder herumtrieb!
 

Marcus war fünf Minuten eher geboren als ich und ist in allem, was er macht, besser als ich. Er ist größer, schlauer, stärker und bei den Mädchen war er schon immer beliebter als ich!
 

Dann gibt es da noch unsere Schwester Jennifer, die ein Jahr älter ist als wir und lieber Jen genannt werden möchte. Und na ja, dann gibt es da noch diesen Trunkenbold von Vater… Unsere Mutter ist leider bei der Geburt von mir und Marcus gestorben. Jennifer sagt es zwar nicht, aber man kann ihr anmerken, dass sie mich und Marcus für ihren Tod verantwortlich macht. Unser Vater tut das auch, nur halt ein wenig offensichtlicher… Er hat den Tod von Mama nicht verkraftet und ist dem Alkohol verfallen…
 

Am nächsten Morgen wurde ich von Jen aus meinen Träumen gerissen: „Aufstehen Michael, du musst zur Schule!“ Als ich aus meinem Zimmer ging, sah ich, dass Marcus Zimmer immer noch leer war. „Er ist diese Nacht nicht nach Hause gekommen, gestern Nachmittag hat er sich wieder mit Vater geschlagen“, sagte Jen in einem trüben Ton. Aber das war nichts Neues, Schlägereien zwischen den beiden kamen häufiger vor und nicht selten musste einer ins Krankenhaus. Nach den Auseinandersetzungen war Marcus häufiger für ein bis zwei Tage nicht zu Hause, aber ich hatte keine Ahnung, wo er in der Zeit war.
 

Als ich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, traf ich zufällig Rene. Er war ein guter Freund von mir und wir gingen zusammen in die 9. Klasse der Realschule. Marcus ging in die Parallelklasse, also ging ich zwischen dem Lehrerwechsel zu seinem Klassenraum, um zu schauen, ob er in die Schule gekommen war, aber Fehlanzeige, er schien wieder mal zu schwänzen…
 

Marcus war an den meisten Schulen für sein, ich nenne es mal „aufsässiges Verhalten“ bekannt und hing hauptsächlich mit Typen herum, die einige Jahre älter waren als er. Auch mir kam es oft so vor, als sei er mein großer Bruder und nicht mein Zwillingsbruder.
 

***
 

Die Züge preschten laut an mir vorbei, der kalte Wind ließ meine Hände erstarren.
 

Müde und erschöpft saß ich am Bahnhof. Wütend dachte ich an meinen Vater, Jahre lang wurde ich von ihm missbraucht, geschlagen und wie Dreck behandelt, das würde ich keine Sekunde länger dulden!
 

Ich war mir sicher, dass ich alles allein schaffen würde, doch wo sollte ich hin?
 

Eine Sekunde lang zweifelte ich an meinem Vorhaben und dachte an meinen Bruder und meine Schwester, sie würden doch mit diesem Schwein namens Vater nie zurechtkommen!
 

In Gedanken versunken starrte ich an eine Wand, wo mir plötzlich ein Plakat auffiel, in groß gedruckten Buchstaben stand darauf: Berlin.
 

***
 

Als ich so gegen acht Uhr nach Hause kam, saß Jen in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Unser Vater war zum Glück nicht zu Hause.
 

„Hast du schon was von Marcus gehört?“, fragte sie ein wenig besorgt. „Nein, er war auch nicht in der Schule.“ Er war zwar schon öfter nicht nach Hause gekommen, aber ich merkte, dass Jen unruhig war. Das war untypisch für sie, es muss wohl gestern Nachmittag ziemlich schlimm gewesen sein. Nach dem Essen ging ich hoch in mein Zimmer und legte mich in mein Bett. Während ich an die Decke starrte, hörte ich im Nebenzimmer ein leises Schluchzen. Ich stand auf und ging zu Jen ins Zimmer. Sie lag auf ihrem Bett und hatte den Kopf ins Kissen gepresst. Als sie mich bemerkte, strich sie schnell mit der Hand über ihr Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. So hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich setzte mich zu ihr ans Bett und legte meinen Arm um sie und fragte, was gestern los war. Sie guckte mich ratlos an und brach wieder in Tränen aus. Mit erstickter Stimme fing sie an zu erzählen: „Ich weiß nicht genau, worum es ging, aber als ich gestern von der Schule kam, lag Dad bewusstlos auf dem Boden. Blutflecken waren auf dem Teppich und an der Tapete. Es war so schrecklich, ich dachte, Dad wäre Tod! Ich rief sofort einen Krankenwagen und die haben das dann der Polizei gemeldet“. Für einen Moment lang hielt sie inne, dann sprach sie weiter: „Morgen früh kommen Leute vom Jugendamt und wir kommen in ein Heim...“ Ihre Stimme erstickte. Auch ich hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals, es war, als ob mir jemand die Kehle zu schnürte! Dann fuhr Jen fort: „Tut mir leid, dass ich dir das erst jetzt erzähle, aber ich hatte vorhin nicht die Kraft, mit dir darüber zu reden.“
 

„Was ist mit Marcus?“, fragte ich nach einer Weile. „Die Polizei ist schon auf der Suche nach ihm!“
 

Wir packten schon mal die wichtigsten Sachen zusammen und gingen ins Bett. Diese Nacht konnte ich nicht schlafen, es war so viel passiert. Marcus war weg, wir müssen ins Heim und das einzig gute daran war, endlich Ruhe vor unserem Vater zu haben!
 

***
 

Eine dunkle Stimme weckte mich aus meinem Schlaf. Als ich die Augen öffnete, sah ich einen grimmig guckenden Mann vor mir stehen. „Hau ab, Junge, hier ist kein Obdachlosenheim!“
 

Ich schaute mich um, ich war in einem Hausflur eines Blocks, wo ich vergangene Nacht Schutz vor der Kälte gesucht hatte.
 

Der Mann zog mich am Arm hoch und stieß mich zur Tür raus. „Arschloch!“, schrie ich ihm wütend hinterher.
 

Plötzlich knurrte mein Magen. Ich kramte in meiner Jackentasche und sammelte mein letztes Geld zusammen. Ich setzte mich in ein Fastfood-Restaurant und aß einen Burger. Sofort danach machte ich mich auf die Suche nach Arbeit, aber erfolglos! Ich fragte in vielen Läden nach, aber alle erteilten mir eine Absage. Aber ich hatte keine Wahl, ich musste einen Job finden, denn ein Zugticket, von Berlin nach Essen, konnte ich mir nicht leisten.
 

***
 

So gegen 10:00 Uhr morgens wurden Jen und ich abgeholt und in ein Kinderwohnheim gebracht. Ein großer blonder Mann begrüßte uns freundlich: „Ihr seid bestimmt Jennifer und Michael Starre.“ Wir beide nickten und schüttelten ihm die Hand. „Ich bin Andre Scheiber“ fuhr er fort und führte uns ins Sekretariat, wo der Heimleiter bereits auf uns wartete.
 

Als dann alles nötige geklärt war, brachte der blonde Mann uns in unsere Zimmer. In meinem Zimmer saß ein großer Junge mit blonden Haaren auf einem der Betten. Herr Scheiber wendete sich an den Jungen: „Das ist Michael, ihr werdet euch das Zimmer teilen. Es wäre super, wenn du ihm alles zeigen könntest.“ Dann verließ Andre den Raum. Meine Koffer lagen bereits auf dem freien Bett. Der Junge stand auf und ging auf mich zu. „Ich bin Reiner“, sagte er in einem kühlen Ton.
 

Ich stellte mich noch einmal persönlich vor und fing dann an, meine Koffer auszuräumen.



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