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Burning from both ends

Nami x Vivi
von

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03

Je mehr sie sich dem Stadtrand näherten, desto schweigsamer wurden Beide auf dem Weg. Es schien ungewohnt für die Mädchen. Normalerweise hatten sie immer das Eine oder Andere zu bereden, doch die einzige Geräuschkulisse waren Schritte und die Rollen des Skateboards als Nami sich dazu entschlossen hatte wieder auf diese Weise mobil zu sein.
 

„Ich wusste gar nicht, dass du so weit draußen wohnst.“, stellte Vivi nachdenklich fest und gab ihr Bestes um Schritt zu halten. Nami zuckte lediglich mit den Schultern und nutzte die Gelegenheit um über einen Bremshügel zu springen.
 

„Hier wohnen die weniger gut betuchten Leute,“ entgegnete der Rotschopf salopp und bremste kurz ab, „wir sind eher die… untere Mittelschicht. Zu wenig Geld um es besser zu haben, aber zu viel um am Hungertuch zu nagen, verstehst du?“
 

Vivi nickte nur stumm und betrachtete die Häuser, die sich alleine schon von der Bauart her unterschieden. Hier und da blätterte schon der Verputz von den Wänden, die Gehsteige waren verschmutzt mit Zigarettenstummeln, Hundekot und leeren Dosen. Es hatte wirklich den Anschein, als ob die Stadt ihre Priorität nur auf das Zentrum fokussierte. Hinter zugezogenen Gardinen konnte sie auch das ein oder andere Gesicht ausmachen, sie fühlte sich beobachtet und äußerst unwohl dabei. Unbewusst zog das Mädchen die Jacke enger um sich und bevorzugte es, den Asphalt anzustarren.
 

Nami seufzte leicht als sie dem Blick ihrer Freundin folgte.
 

„Mach dir keine Gedanken. Sie starren nicht dich an, sondern mich. Blödes Pack. Haben wohl sonst keine Probleme.“
 

Sie stieß sich vom Boden ab und rollte gedankenverloren weiter.
 

„Wir sind gleich da. Ich würde sagen, du wartest am besten bei der Hecke vor dem Eingang.“
 

Vivi legte den Kopf schief und betrachtete Nami verwundert.
 

„Okay? Wieso das?“ - „Naja… ich muss hinter das Haus. Dort ist mein Zimmerfenster.“
 

Die Jüngere begann zu kichern und musste sich die Hand vor den Mund halten.
 

„Langsam habe ich das Gefühl, dass du echt nicht weißt, wofür Türen gut sind, oder?“
 

Nami schnaubte verächtlich und hatte den immensen Drang Vivi den Mittelfinger entgegen zu strecken.
 

„Man kann auffällig sein – oder auch nicht. Also warte kurz, ich kann dir dann deine geheiligte Pforte von innen öffnen.“
 

Mit diesen Worten sprang Nami vom Board und huschte an den Thujenhecken entlang, bis sie auf die Lücke stieß, die es ihr ermöglichte so diskret wie möglich auf das Grundstück zu gelangen. So leise wie möglich zwängte sie sich hindurch, musste auf ihren Vieren kriechen bis sie sich auf der Rasenfläche wiederfand. Ein kurzer Blick zu den Fenstern – die Luft schien rein zu sein. So pirschte sich das Mädchen voran, bis sie unter ihrem Fenster stand und begann das Weidenspalier für die Rosen zu erklimmen. Am Ziel angelangt, hievte sie sich auf den Fenstersims – nur um zu sehen, dass ihr Fenster verschlossen war. Von Innen.
 

„Fuck!“, fluchte sie in sich hinein. Da war es nun, das Worst Case – Szenario, welches nicht eintreffen sollte. Und nun hockte sie hier am Sims auf verlorenem Pfosten. Wenn sie nun hinein wollte, musste sie an der Vordertür anklopfen und zum ersten Mal an diesem Tag rutschte Nami das Herz in die Hose.
 

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
 

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Hatte Nojiko sie verpfiffen? Nein, das konnte nicht sein. Die wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass Nami wieder ausgebüxt war. Und was Bell-Mére betraf? Sie hatte wohl einen verdammt guten Riecher. Oder, und das schien am wahrscheinlichsten, ein gewisser Jemand hatte vergessen, das Zimmer von innen abzuschließen. Herrgott, ihre eigene Blödheit! Am liebsten wollte sie sich in den Hintern beißen. Mit einem Laut der Frustration nahm Nami wieder den Weg, von dem sie gekommen war. Sie konnte sich ihre Pflegemutter regelrecht vorstellen, wie diese schon hinter der Tür auf sie wartete, mit der Kippe im Mund und einer Ansage, die sich gewaschen hatte. Da musste sie nun durch.
 

Mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf näherte sie sich Vivi und sah dabei aus wie ein geprügelter Hund, was einen Ausdruck der Verwunderung im Gesicht der Jüngeren widerspiegeln ließ.
 

„Was ist los?“, fragte Vivi leise als Nami endlich in Hörweite war. Diese seufzte tief und ballte eine Hand zur Faust. „Das Fenster ist verriegelt. Sie wissen, dass ich nicht da war.“ Sie schnaufte tief durch. „Vielleicht ist es besser, wenn du nach Hause gehst. Diese Szene willst du sicher nicht miterleben.“
 

Ihre Freundin lehnte sich gegen die Hecke und verschränkte ihre Arme, sie schien unsicher zu sein.
 

„Nein. Ich bleibe hier. Notfalls kann ich ja eingreifen, wenn es eskaliert,“ schlug sie nach kurzem Schweigen fort, „immerhin bin ich ja quasi mit Schuld an dieser Misere.“
 

Nami starrte sie an und musste sich fangen.
 

„Wieso sollte das deine Schuld sein?“, fragte sie, höchst erstaunt über diese Offenbarung. „Nun ja – wäre ich nicht gewesen, wärst du nicht über Nacht abgehauen, oder?“ Nami schlug sich die Hand vors Gesicht. „Vivi? Nein. Fang nicht so an. Dich trifft genau gar keine Schuld! Hätte ich telefonieren dürfen, wäre das alles gar nicht so abgelaufen!“
 

Ja. Hätte sie denn telefonieren dürfen. So einfach war das alles nicht, aber der Rotschopf wollte nicht die ganze Geschichte noch einmal hervorkramen müssen. Im Endeffekt war das alles die Konsequenz ihrer eigenen Handlungen. Und nun hatte sie Vivi mit hineingezogen.
 

„Bitte. Geh nach Hause. Ich melde mich, sobald ich kann, okay?“
 

Ihr Gegenüber rührte sich nicht vom Fleck und zeigte sich von der Bitte wenig beeindruckt.
 

„Nein. Ich bleibe hier. Wir sind doch Freunde, oder? Mitgefangen, Mitgehangen.“
 

Nami schüttelte den Kopf in Unverständnis. „Mach doch, was du willst,“murmelte sie und und zog sich die Kapuze über. Zwar war sie innerlich gerührt über Vivis Aufopferung und ihrem Verständnis von Freundschaft, doch manche Kämpfe focht man doch alleine aus.
 

~~
 

Ihre Schritte waren übertrieben langsam, als sich Nami über die Einfahrt zum Haus bewegte. Der asphaltierte Pfad war von kleinen Blumenbeeten umsäumt, ein Tupfer Farbe in diesem tristen Wohngebiet. Sie blickte kaum auf, sondern betrachtete ihre abgewetzten Schuhe. War wohl wieder Zeit, sich neue zu kaufen, sobald sie genug Geld beisammen hatte. Geld. Leidiges Thema. Eigentlich wollte sie auf etwas anderes, etwas wichtiges sparen; dann mussten die Schuhe halt noch länger herhalten. Dafür gab es ja Isolierband. Die Rothaarige grinste schief über ihre Gedanken. Es war doch faszinierend, wie sehr man sich selbst ablenken wollte, obwohl das Donnerwetter kurz bevorstand. Sollte sie nicht lieber Ausreden parat haben? Wozu? Sie könnte ja bei der Wahrheit bleiben, sofern sie denn zu Wort kommen würde. Und das war äußerst unwahrscheinlich. Ein letztes Mal blickte sie über ihre Schulter, in ihrem Gesicht war mehr als deutlich zu erahnen, welche Emotionen sie in diesem Moment überrannten. Vivi war nicht zu sehen. Anscheinend hatte sie die kluge Entscheidung getroffen, das Schlachtfeld doch noch zu verlassen.
 

Die Tür kam nun bedrohlich näher. In dieser Situation wirkte die „Herzlich willkommen“ Fußmatte wie blanker Hohn. Willkommen fühlte sie sich hier schon länger nicht mehr.
 

Nami schluckte.
 

Sie atmete aus. Klopfte.
 

Stille.
 

Nervosität begann sich in ihr aufzustauen. Die Kapuzenjacke fühlte sich immer enger an, als sie sich schwer damit tat, Luft zu bekommen. Namis Knie drohten sie im Stich zu lassen und nachzugeben, alles verschwamm vor ihren Augen und weiße Blitze tanzten in ihrem Sichtfeld.
 

Ihre Hand begann zu zittern, als sie erneut anklopfte, dieses Mal fester und eindringlicher. Innerlich war ihr nach Heulen zumute, sie fühlte den Puls in ihrem Kopf hämmern, das Blut durch ihre Ohren rauschen, den kalten Schweiß auf ihrer Stirn - doch sie musste sich zusammenreißen. Zeig bloß keine Schwäche, das war ihr Mantra, das sie sich unendliche Male selbst zusprach.
 

Instinktiv spitzte sie ihre Ohren, als sie eine Regung im Haus vernahm. Ihre Ziehmutter hatte wohl genug davon, sie zappeln zu lassen und begab sich – gemächlich, wohlgemerkt – zur Haustüre. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Nami zwang sich, tief durchzuatmen.
 

Die Tür flog auf und da stand Bell-Mére, eine Tasse Kaffee in der Hand und eine Kippe im Mundwinkel. Sie wirkte müde, die Ringe unter den Augen waren deutlich zu sehen. War die Frau etwa die ganze Nacht wach geblieben und hatte auf sie gewartet?
 

Eisiges Schweigen empfand Nami, die sich in diesem Moment klein fühlte und alles begann sich in ihrem Innersten zu verkrampfen. Keine Standpauke. Einfach nur Stille. Beide standen sich reglos gegenüber und maßen sich mit einem abschätzenden Blick. Vielleicht war es am Besten, einfach nichts zu sagen und wortlos an ihr vorbei zu schleichen.
 

Schließlich war es Bell-Mére, die das Schweigen brach.
 

„Wo. Warst. Du.“ Ihre Stimme klang bedrohlich ruhig und dennoch, Nami konnte das Zittern darin vernehmen. Trotzig blickte die Jüngere zu ihr hoch und reckte ihr Kinn. Schwieg. Es war doch ohnehin egal, was sie sagen würde – vorausgesetzt, sie hätte auch nur eine Silbe über ihre Lippen bringen können. Alles konnte den Vulkan der Emotionen zum Ausbruch bringen.
 

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie spät es ist??“
 

Keine Reaktion. Nami beobachtete, wie sich die Gesichtszüge ihrer Pflegemutter verhärteten. Die Asche der Zigarette fiel ungeachtet zu Boden, fast schon wie ein Countdown. Ihr Blick wanderte zur Kaffeetasse, dann wieder zum Glimmstängel und auf den Rauch, der sich nach oben schlängelte.
 

Etwas blitzte in Namis Augen auf als sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete, ein verzweifelter Versuch ihrem Gegenüber ebenbürtig zu erscheinen.
 

„Fick dich doch!“
 

Bell-Mère wurde blass; die Zigarette löste sich von ihrem Mundwinkel und fiel zu Boden.
 

Ein Knall durchbrach die Stille, als sie mit ihrer Hand ausholte. Die Wucht der Ohrfeige traf Nami mit voller Härte, kurz taumelte sie zurück und wie in Trance berührte das Mädchen ihr eigenes Gesicht, das von Schmerz und Rage verzerrt war. Doch sie würde einen Teufel tun. Nicht weinen. Die Blöße gab sie sich nicht.
 

Stattdessen spuckte sie verächtlich vor die Füße ihrer Ziehmutter.
 

„Bist du fertig? Dann lass mich endlich rein.“
 

Der Satz war kurz, doch er brachte den gewünschten Effekt. Bell-Mére starrte auf die kleine Pfütze vor ihr und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, ihre Stimme klang gepresst, so als versuchte sie ihr Bestes, nicht zu brüllen und die Nachbarschaft hervorzulocken.
 

„Hau ab. Ich will dich heute nicht mehr sehen!“
 

Nami ballte ihre Fäuste so fest, dass es weh tat.
 

„Es wäre dir ja sowieso lieber, wenn ich nicht mehr da wäre! Von mir aus hättest du mich damals verrecken lassen können, dann wäre dir die ganze Scheiße doch erspart geblieben!“
 

Ihre ganze Wut entlud sich, die Verzweiflung. Nami konnte und wollte ihrer Pflegemutter an diesem Tag nicht mehr ins Gesicht sehen. Blindlings stürmte sie an der Frau vorbei, rempelte sie aus dem Weg und hastete die Treppe nach oben, wo sie schlussendlich die Tür so hart hinter sich zuschlug, dass man es draußen noch hören konnte.
 

~~
 

Bell-Mére stand noch immer regungslos da, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Langsam schloss sie die Türe hinter sich und setzte sich auf den Treppenabsatz, stellte die Tasse neben sich ab und vergrub das Gesicht hinter ihren Händen. Sie war mit ihrem Latein am Ende. Zwar hatte sie gewusst, worauf sie sich als Ziehmutter einließ, aber nichts hätte sie auf diese Momente vorbereiten können. Weder ihre Ausbildung in der Spezialeinheit, in der es nur um Drill und Härte ging – noch die gut gemeinten Ratschläge vom Jugendamt. Soldatin, Mutter, Polizistin – all diese Dinge waren ein Balanceakt und der Grat wurde stetig schmaler. All das realisierte die Frau mit Beginn von Namis Pubertät und den daraus resultierenden Problemen, die jenes Stadium des Lebens mit sich brachte. Nojiko war niemals so kompliziert gewesen. Das lag jedoch daran, dass sie nicht so lange der traumatischen Situation ausgeliefert war wie ihre jüngere Ziehschwester. Langsam musste sie sich eingestehen, dass sie wohl oder übel in ihrem Vorhaben gescheitert war. Liebe und Verständnis für die Situation konnte bei Nami nur so viel wett machen und in den letzten Monaten entfremdeten sich beide völlig. Zeitweise erkannte sie ihren Sonnenschein von früher gar nicht wieder. Sie klaute, trieb sich bis spät in die Nacht herum; an sie war kein Herankommen mehr möglich. Dabei waren sie auf einem so guten Weg gewesen.
 

Was sie wirklich brauchte, war professionelle Hilfe. Doch Bell-Méres Gehalt reichte nicht aus, um dies zu ermöglichen. Zwei Kinder groß zu bekommen, und das als Alleinerziehende, war eine große Herausforderung – und oft genug hatte sie auf viele Dinge verzichtet, nur damit sie es besser hatten.
 

Resignierend griff sie nach ihrem Metalletui und fischte sich eine selbst gedrehte Zigarette heraus um sie anzuzünden. Dabei richtete sie ihren Blick auf die Ausfahrt um sich mit positiveren Erinnerungen zu konfrontieren. Hier hatte Nami das erste Mal ihr Skateboard getestet und ihre Passion gefunden, Tricks geübt. Damals hatte sie über alle Ohren gestrahlt, als ihr der erste Ollie gelang – sie war so stolz gewesen.
 

Ja, in jenen Tagen schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Eigentlich konnte Bell-Mére gar nicht mehr sagen, wann sich die ersten Veränderungen eingeschlichen hatten. Wollte sie diese etwa nicht wahrhaben und hatte sie gekonnt ignoriert?
 

Ihr Blick wanderte weiter in Richtung Hecke und die Straße dahinter, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Die geschnittenen Thujen raschelten verdächtig. Ruckartig erhob sich die Frau, nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch aus. Dem musste sie nachgehen, wenn auch nur um sich von den kreiselnden Gedanken abzulenken. Mit zackigen Schritten eilte sie die Ausfahrt entlang, genau dorthin, wo sie das Geräusch vernommen hatte und das erste, was sie erblickte, war ein Schwall blauer Haare. Die erkannte sie doch! Mit einem Satz umrundete sie die Hecke.
 

„Hey! Rühr dich ja nicht vom Fleck!“
 

~~
 

Vivi erstarrte und hielt die Luft an. Sie hatte die ganze Szene beobachtet und der Schock war ihr anzusehen. In diesem Moment fühlte sie sich wie ein Reh im Scheinwerferlicht und Flucht wäre ohnehin eine verdammt schlechte Option gewesen. Nur langsam drehte sie sich um und fixierte Bell-Mére mit einem Blick, aus dem Furcht abzulesen war. Gleichzeitig schämte sie sich, hatte sie vorher nicht noch großartig versprochen, in das Geschehen einzugreifen sobald es eskalieren würde?
 

Hilflos ballte sie ihre Hände zu Fäusten und beobachtete die Frau vor ihr, wie sie sich aufbaute.
 

„Du bist doch die Kleine von neulich. Was hast du hier zu suchen?“
 

Vivi schluckte und versuchte, die passenden Worte zu finden ohne zu stammeln.
 

„Ich- uhm – Ich habe Nami nach Hause begleitet,“ begann sie stockend und starrte auf Bell-Méres Hand, mit der sie ihre Freundin zuvor geschlagen hatte, „sie… sie war letzte Nacht bei mir.“
 

Zunächst war es still. Doch Vivi konnte sehen, wie sich in Namis Pflegemutter etwas regte.
 

„Sie war bei dir? Warum?“ Der Ton in der Stimme wurde etwas sanfter als sie an der Zigarette zog, doch die Skepsis war immer noch zu erkennen. „Du brauchst nicht ihr Alibi zu spielen, das rettet ihren Hintern auch nicht.“ - „Sie war da. Warum sollte ich lügen? Sie hat bei mir auf der Couch übernachtet, weil ich nicht wollte, dass sie im Regen wieder nach Hause fährt! Nami saß auf dem Fenstersims und war komplett durchnässt, hätte ich sie da draußen versauern lassen sollen? Ich bin doch kein Unmensch!“
 

Der letzte Teil des Satzes war angriffslustiger als beabsichtigt und als Vivi das realisierte, hielt sie sich die Hand vor dem Mund und drehte ihren Kopf zur Seite. Die Frau schmunzelte nur über das Verhalten und kam einen Schritt näher auf das Mädchen zu.
 

„Ziemlich nobel von dir, wenn man bedenkt, dass sie dich vor ein paar Wochen noch überfallen hat. Ich an deiner Stelle hätte sie draußen gelassen. Hast du nachgesehen, ob sie nichts mitgehen lassen hat?“
 

Vivi starrte Bell-Mére ungläubig an. „Bitte was?“
 

„Du hast mich schon verstanden. Hätte sie die Chance gehabt, hätte sie dich beklaut. Das eine Mal war ihr wohl nicht genug.“
 

Die Jüngere schüttelte ihren Kopf vehement. „Nein. Das hätte sie nicht! Das war doch alles anders! Wie – Wie kann man nur so wenig Vertrauen in sein Kind haben??“
 

Ein wehmütiges Lächeln umspielte Bell-Méres Lippen während sie die Asche ihrer Zigarette abtippte. „Oh, glaub mir eins, Mädchen. Vor ein paar Jahren hätte ich wohl dasselbe gesagt. Aber Zeiten ändern sich. Es ist traurig genug, sich das eingestehen zu müssen, aber mittlerweile gehe ich schon vom schlechtesten aus.“ Sie seufzte tief und ließ ihre Schultern sinken. Vivi stemmte nun die Hände in ihre Hüften. „Nami ist kein schlechter Mensch. Sie…“
 

Ihr Atem stockte. Wie gut kannte sie Nami überhaupt, um sie so in Schutz nehmen zu können? Wie viel war an den Gerüchten dran, die ihre Freundin erwähnt hatte? Wenn schon ihre Mutter so über sie sprach – nein. Dinge waren nie so einfach, wie sie sich darstellten.
 

„Ich weiß,“ wurde sie schließlich von der Frau unterbrochen, die ihr beinahe schon einen mitleidigen Blick schenkte, „sie ist momentan sehr verloren, weißt du?“
 

Bell-Mére ließ ihren Blick zu den Nachbarhäusern schweifen und murrte, als das eine oder andere Gesicht aus den Fenstern starrte, beide schienen keine gute Art von Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
 

„Komm mit. Magst du Kaffee?“
 

Eigentlich hasste Vivi Kaffee. Doch sie hielt es für klüger, nichts in dieser Richtung zu sagen und trat zögernd vor.
 

„Es ist doch relativ frisch hier draußen,“ murmelte sie und nickte zaghaft, „das wäre wirklich nett von Ihnen.“
 

~~
 

Vivi betrat den Flur des Hauses und schloss die Tür leise hinter sich. Hier wohnte Nami also. Sie sog die Eindrücke ein und das erste, was ihr ins Auge fiel waren die gerahmten Fotos an der Wand. Die meisten von ihnen zeigten ihre Freundin mit deren Pflegemutter und einem anderen Mädchen, das Nojiko sein musste. Sie posierten mit albernen Gesichtern, manchmal lachend, andere zeigten ein inniges Familienbild. Es war ein harter Kontrast zu dem, was sie an diesem Tag mit ansehen musste und für einen Moment fragte sie sich, ob diese Fröhlichkeit auf den Fotos echt oder gespielt war – doch sie vermochte nichts gespieltes zu erkennen. Ein Foto zeigte Nami mit einem Pokal, sie posierte grinsend mit einem Daumen nach oben vor einer Halfpipe. Bell-Mére entging dies nicht. Mit einem Lächeln deutete sie auf das gerahmte Bild.
 

„Ihre erstes Turnier in der Jugendklasse. Damals war sie 13 und hat den älteren Skatern gezeigt, wie der Hase läuft!“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit. „Sie hat wirklich Talent. Es wäre schön, wenn sie es wieder produktiv einsetzen würde…“
 

Vivi hob eine Augenbraue und – da war er wieder, dieser ernste Unterton, mit dem sie schon Bekanntschaft gemacht hatte. Reflexartig zog sie den Kopf ein und ihr Blick wanderte weiter zum Flur mit den braun-weißen Fliesen. Auch fanden sich hier viele Pflanzen – Efeu, Sukkulenten, Vasen mit verschiedenen Blumen. Am Ende des Ganges waren noch eine Tür, hinter der sie den Garten vermutete und eine Holztreppe, die ins nächste Stockwerk führte, während links von ihr ein Durchgang mit Schiebetür zu sehen war. Insgesamt wirkte alles alt, die Wandfarbe in spartanischem Altweiß gehalten.
 

„Komm, ich mache dir gleich einen Kaffee.“
 

Aus ihrer Trance gerissen drehte Vivi den Kopf hastig zur Seite und nickte, folgte der Frau leise in Richtung Küche. In diesem Raum fühlte sie sich schlagartig wohl. Zwar waren die Wände etwas vergilbt – dies war wohl der Raucherei geschuldet, wie sie am vollen Aschenbecher sehen konnte – aber insgesamt strahlte er etwas heimeliges und gemütliches aus. In der Ecke sah sie einen Kachelofen, der zum verweilen einlud, ein großer Esstisch aus geöltem Holz mit gepolsterter Sitzecke, und am anderen Ende des Raumes stand die Küchenzeile. Die meisten Möbel, sowie der Boden waren aus hellem Holz gefertigt, da und dort stand Nippes auf Schränken, Andenken aus anderen Ländern und natürlich auch Kräuter, die in kleinen Töpfen am Fenster standen.
 

Etwas unschlüssig stand sie im Raum und beobachtete Bell-Mére die mit der Kaffeemaschine beschäftigt schien, also nahm sie zaghaft auf der Sitzecke Platz. Sie konnte auch gedämpft Stimmen aus dem alten Radio hören, es schien ein Regionalsender zu sein. Sie hatte noch einige Probleme, dem Gespräch der Moderatoren zu folgen, Vivi musste sich konzentrieren um die Wortfetzen zu entziffern.
 

Die Tasse, die vor ihr abgestellt wurde, riss das Mädchen schließlich aus ihrer Gedankenwelt. Etwas verschreckt starrte sie hoch, nur um in das Gesicht von Bell-Mére zu blicken, die sie amüsiert ansah.
 

„Brauchst du noch etwas dazu? Milch, Zucker?“
 

Vivi blinzelte, bevor sie zögernd nickte.
 

„Milch und Zucker wären nett, danke sehr.“
 

Die ältere Frau schmunzelte und begab sich zum Kühlschrank.
 

„Du benimmst dich ja, als würde ich dir den Kopf abreißen. Keine Sorge, ich beiße schon nicht.“
 

Bell-Mére lachte leicht in sich hinein, irgendetwas musste sie unternehmen, um das verschreckte Reh am Tisch ein wenig zu beruhigen. Sie fand es faszinierend. Warum würde sich Nami mit jemanden abgeben, der so schüchtern war? Schließlich kam sie mit einem kleinen Kännchen Milch und der Zuckerdose zurück und stellte alles am Tisch ab, ehe sie sich ihrer Tasse Kaffee widmete, die schon längst kalt geworden war.
 

„Hm, kalter Kaffeerauch macht hübscher~“, sinnierte sie und tatsächlich entlockte es ein scheues Lächeln vom Mädchen, das sich eine Strähne hellblauer Haare hinter das Ohr strich.
 

„Das hat Mama auch immer gesagt,“ entgegnete Vivi mit leiser Stimme und goss sich Milch ein, ehe sie begann, ihr Getränk mit Zucker zu versüßen. Anders konnte sie das Gebräu gar nicht trinken. Dabei wurde sie von Namis Mutter beobachtet. Ein Löffel, zwei, drei, vier. Schließlich prustete die Ältere. „Noch etwas Kaffee zum Zucker?“, feixte sie und Vivi ließ beinahe den Löffel fallen. „Ich mag es eher süß,“ brachte sie hervor und rührte gedankenverloren um. „Hättest du lieber Tee gehabt? Das hättest du aber ruhig sagen können.“
 

Schon wieder fiel ihr eine Strähne ins Gesicht. Vivi schnaufte leicht, strich sie wieder zurück. „Nun, ich – ich wollte nicht unhöflich sein. Verzeihung.“ Ganz wohl fühlte sich das Mädchen nicht in ihrer Haut, und dabei hatte das Gespräch noch gar nicht richtig begonnen.
 

„Vivi, richtig? Keine falsche Bescheidenheit. Wer hier Gast am Tisch ist, bekommt auch, worum er bittet.“ Bell-Mére schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Namis Freunde kennen den Hausbrauch. Vor allem der schlaksige Kerl – Ruffy – plündert regelmäßig den Kühlschrank, wenn er hier ist. Ich sage dir, obwohl nix an ihm dran ist, kann er für Vier essen. Ich bin immer wieder darüber erstaunt.“ - „Ruffy?“ Vivi blickte kurz auf. „Ich habe ihn ein paarmal flüchtig gesehen wenn wir in der Einkaufsmeile unterwegs waren.“
 

„Einkaufsmeile? So so…“, entgegnete Namis Pflegemutter erstaunt, „also trefft ihr euch Beide des öfteren?“ Sie stützte ihr Gesicht an einer Hand ab und drückte den Rest der Zigarette im Aschenbecher aus. Vivi nickte. „Ja. Wir haben uns eine Woche nach dem Zwischenfall zufällig dort getroffen und uns in einem Café ausgesprochen. Sie hat sich noch einmal entschuldigt und… ich habe festgestellt, dass sie ziemlich nett ist.“ Immer noch rührte die Jüngere in ihrem Kaffee, größtenteils um ihre Nerven zu besänftigen. Das leise Klacken des Löffels gegen die Tasse hatte auf sie einen beruhigenden Effekt. „Wir haben uns dann öfter dort verabredet um für die Schule zu lernen - na ja, sagen wir, sie hat mir geholfen, eure Sprache zu lernen. Sie meinte noch, dass sie Nachhilfe in Politik und Geschichte brauchen könnte…“
 

Bell-Mére staunte nicht schlecht über die Dinge, die sie erfuhr. Nachdenklich schob sie die Ärmel ihres karierten Hemdes hoch und krempelte sie über ehe sie einen Schluck des erkalteten Getränks nahm. „Hmm… ich nahm an, sie würde sich nur mit ihrer Clique herumtreiben und krumme Dinger drehen. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie jemanden bestohlen hat.“ Ihr Blick verdunkelte sich leicht und die Frau seufzte, ehe sie versuchte, das Thema wieder in eine leichtere Richtung zu lenken.
 

„Also kannst du dank ihr schon so gut Schwedisch? Ich bin beeindruckt! Wie gefällt es dir in unserer Stadt?“
 

Vivi errötete leicht bei dem Kompliment. „Vielen Dank. Ich gebe mir Mühe“, flüsterte sie und pustete leicht gegen das Getränk um es zu kühlen bevor sie ebenfalls davon trank. Zucker und Milch machten den Kaffee um einiges erträglicher.
 

„Es gefällt mir bisher ganz gut, danke der Nachfrage. Diese Idylle ist eine gute Abwechslung zum Trubel der letzten Orte, an denen ich bisher war. Wenn es schulisch auch passt, könnte ich mir sogar vorstellen, hier den Abschluss zu machen um später studieren zu können.“ Das Mädchen holte tief Luft und schien sich zu entspannen. Und dennoch war da ein gewisser Ausdruck in ihren Augen, der schwer zu deuten schien.
 

„Allerdings gibt es eine Sache, die mich beschäftigt.“, begann sie leise, nicht sicher ob sie dieses Thema erneut anschneiden sollte, „Namis Hausarrest. Ich hoffe, dass er nicht wegen mir verlängert wird…“
 

Bell-Mére stutzte und studierte Vivis Gesicht genauer. Dieser ernte Blick schien so gar nicht zu ihr zu passen. Sie verband ihn eher mit dem Vater des Mädchens, mit dem sie damals gesprochen hatte.
 

„Es ist definitiv nicht deine Schuld. Sie wusste, worauf sie sich einlässt, als sie durch das Fenster verschwunden ist. In diesem Haus gibt es Regeln, an die man sich zu halten hat. Wer sie bricht, muss mit Konsequenzen rechnen.“ - „Auch mit körperlicher Gewalt?“, warf Vivi ein und ihre Augenbrauen zogen sich merklich zusammen, „Niemand hat das Recht, die Hand gegen jemand anderen zu erheben, schon gar nicht gegen Familienmitglieder.“ Ihre Finger umklammerten die Kaffeetasse.
 

Die ältere Frau schwieg und biss sich in die Innenseite der Wange. „Ich weiß, worauf du hinauswillst. Ich habe überreagiert.“ Mechanisch griff sie wieder zu ihrem Etui, bevor sie sich fing. „Entschuldige, macht es dir was aus, wenn ich mir eine anstecke?“ Vivi zuckte mit den Schultern. „Das ist Ihr Haus. Es steht nicht in meiner Position, darüber zu urteilen.“ Die Ältere lachte rau, und es klang aufrichtig. „Aber du hast dir schon ein Urteil gefällt, was mich betrifft.“ - „Papa sagt immer, diplomatisch zu bleiben, wenn man ein Ergebnis erreichen möchte, auch wenn es Differenzen zwischen den Parteien gibt.“
 

Das Zischen des Streichholzes durchbrach die kurze Stille, während sich Namis Pflegemutter die Kippe anzündete. „Dein Vater ist ein weiser Mann. Dann erzähle mir, welches Ergebnis du heute erreichen möchtest.“ Das Mädchen schloss die Augen kurz und nippte am Kaffee, ehe sie ihren Blick auf die Frau mit den burgunderfarbenen Haaren richtete. „Ich glaube, Sie wissen bereits was ich erreichen will. Aber vor allem hätte ich gerne ein paar Antworten.“
 

Bell-Mére lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zog an der Zigarette. „Zunächst sollten wir uns auf derselben Ebene begegnen. Du kannst mich ruhig duzen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ging relativ leicht von der Hand, worüber ich doch sehr verwundert bin. Dabei war es die Szene, vor ich viel Respekt hatte. Es hat mental doch einiges abverlangt, und ich hoffe, dass ich dem Ganzen gerecht geworden bin. Danke fürs lesen :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
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Von:  TR38
2024-02-27T20:15:29+00:00 27.02.2024 21:15
Nami ist offenbar Indianer Goof.
Der benutzt auch nie Türen. XD

Es ist zwar echt nett von Bele-Mere Vivi was anzubieten. Aber wie kommt Sie darauf das ausgerechnet Kaffe was für ein Kind ist? XD

Ich bin schon echt gespannt wie es weiter gehen wird.
Von: robin-chan
2024-01-06T21:23:13+00:00 06.01.2024 22:23
So, endlich mal ein Kommentar und ich muss mich teilweise anstrengen, es ernst zu nehmen. Irgendwie habe ich ständig schon mehr die Art Crackfic Dialoge im Kopf :'D
Und ja, du warst anscheinend sehr in Schreiblaune und endlich gibt es das ganze "Fiasko"! Ich finde es super, dass du auch kurz Bellemeres Sicht präsentiert hast. Durch alles zusammen, ist sie selbst schon deutlich überspannt und das neuerliche verschwinden, führt dann (leider) schnell in die falsche Richtung.
Mein Favo-Part ist dann aber eben Vivi. Niemand kann entkommen und ja, da würgt man sogar einen Kaffee runter, obwohl man ihn nicht mag. Die beiden im gegenseitigen Kreuzverhör, herrlich! Fehlt nur noch Helikopter-Vati ;) Bin wirklich gespannt, wie das Gespräch weitergeht :)
Antwort von:  TiaDraws
06.01.2024 23:08
Vielen lieben Dank 💖

Ja, die muss man dauernd beiseite schieben, sonst gibt es eine ungewollte Komik. Nur habe ich das Gefühl, dass der running Gag mit den Türen wohl noch etwas erhalten bleibt.

Musste mich gegen Schluss selbst bremsen. Fiasko. Trifft es wohl ziemlich gut, dabei ist noch nicht einmal alles offenbart.

Hinter jeder Kurzschlussreaktion steckt eine Menge Emotion. Und davon hat Bell-mère leider mehr als genug :c natürlich keine Rechtfertigung, aber sie hat Nami gedanklich sicher schon des öfteren verwurstet.

Vivi ist hier schon ein kleines Biest, wenn sie will. Ganz der Papa, wenn es ums Verhandeln geht- aber innerlich stirbt sie garantiert 1000 Tode, vor allem wenn ihr beigebracht wurde, stets höflich und zurückhaltend zu sein. Das könnte noch spannend werden 😉


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