01.06.2024 - reif
Mit beiden Händen umschloss Hiltrud die Melone und schüttelte sie nahe an ihrem Ohr. Ihr Mann Gerd, der sie in den Supermarkt begleitet hatte, musterte seine Frau skeptisch.
“Was genau machst du da?”, wollte er verwirrt wissen, woraufhin Hiltrud den Kopf kurz in seine Richtung drehte.
“Ich versuche herauszufinden, ob die Melone reif ist”, entgegnete sie und sofort zog Gerd eine Augenbraue hoch. “Und das versuchst du herauszufinden, in dem du die Melone schüttelst? Was erwartest du zu hören?”
“Im Internet stand, dass man Melonen schütteln soll, um ihre Reife festzustellen”, antwortete Hiltrud und wieder war Gerd vollkommen verwirrt. Die Methode hatte er noch nie gehört und er hatte auch keine Ahnung, wie man anhand dieser Schüttelmethode überhaupt herausfinden sollte, ob eine Melone reif ist.
“Ich bin der Meinung, gelesen zu haben, dass man auf die Schale klopfen soll. Umso dunkler der Klang ist, umso reifer ist die Melone”, sprach er seine Frau an, woraufhin diese jedoch wieder den Kopf schüttelte.
“Man soll sie schütteln, da bin ich mir ganz sicher”, entgegnete sie und schüttelte die Melone erneut nahe an ihrem Ohr.
“Wie willst du etwas hören, wenn die Wassermelone festes Fleisch hat? Und die Kerne sich innerhalb des Fruchtfleisches befinden?”, gab Gerd zu bedenken, und jetzt ließ auch Hiltrud die Melone wieder sinken.
“Du hast Recht”, murmelte sie und es war ihr fast ein wenig peinlich, dass sie sich vom Internet so sehr hatte beeinflussen lassen. Und das in ihrem Alter.
Gerd und sie waren bereits über sechzig und sie hatte nicht zum ersten Mal eine Melone gekauft.
“Ich weiß auch nicht, wie ich plötzlich darauf komme, irgendwelche Ratschläge im Internet zu befolgen”, seufzte sie leise und legte die Melone wieder weg. Sie sah ihren Mann an und entschied sich stattdessen dafür, einfach anderes Obst in den Einkaufswagen zu packen. “Willst du jetzt doch keine Melone mehr?”, wollte Gerd verwundert wissen und bekam ein Kopfschütteln zurück. “Irgendwie ist mir jetzt der Appetit darauf vergangen und außerdem war sie eh noch nicht richtig reif.”
“Und das weisst du durch das Schütteln?”, neckte Gerd seine Frau, woraufhin Hiltrud diesmal schmunzelte. “Ich weiss es einfach”, entgegnete sie lediglich und drückte Gerd einen Kuss auf, bevor sie den Gang entlang eilte, um noch andere Lebensmittel zu besorgen, die sie viel dringender brauchten, als diese blöde Melone.
