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Wetten, dass ...?

von

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#2

Kaorus Mundwinkel zuckten mehrmals unkontrolliert, weil sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie seine Lippen zu einem Lächeln nach oben oder zu einer mürrischen Kurve nach unten ziehen wollten. Verübeln konnte er es ihnen nicht, denn nicht einmal er selbst war sich darüber im Klaren, wie er zu seinem unverhofften Übernachtungsgast stand. Es musste Jahre her sein, dass er zum letzten Mal in die Verlegenheit gekommen war, Die bei sich nächtigen zu lassen. Seine Wohnung war sein Reich, sein Refugium, und er schätzte es nicht, sie mit jemandem zu teilen. Nicht umsonst war er überzeugter Single und hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, sich ein Haustier zuzulegen. Er brauchte keine Gesellschaft, um sich wohlzufühlen, zumindest war dieser Satz in den letzten Jahren zu seinem Mantra geworden. Was also machte der andere hier? War Die zu betrunken gewesen, um sich von einem Taxi nach Hause bringen zu lassen? Und wo war Toshiya?
 

„Oh bitte nicht.“ Kaoru fuhr sich durchs Haar, das ihm zu allen Seiten vom Kopf abstand, bevor er Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel presste. Sollte sich der Bassist auch noch bei ihm einquartiert haben, würde sein Schädel explodieren, da war er sich sicher. Nicht, dass er etwas gegen den jüngeren Mann hatte, wenn dem so wäre, hätte einer von ihnen das viertelte Jahrhundert ihrer Zusammenarbeit schließlich nicht überlebt, aber Toshiyas Energie konnte er nur in kleinen, wohlüberlegten Dosen ertragen. Geschlagen schlurfte er zurück ins Schlafzimmer und zog sich Jogginghosen und Hoody über. Etwas, was er in seiner Verfassung noch weniger ertragen konnte als Gesellschaft, war besagter Gesellschaft halb nackt gegenüberzustehen.
 

Während seines kurzen Umwegs hatten sich seine Mundwinkel entschieden, seine Lippen in eine neutrale Position zu bringen, bevor er die Küche betrat. Die saß allein am kleinen Tisch, augenscheinlich in sein Handy vertieft, doch das leise Knarren einer Bodendiele reichte aus, um seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit auf Kaoru zu lenken. Tiefbraune Augen fixierten ihn und die Wärme, die stets in seinem Blick lag, schien durch die dunkelroten Haare, die sein Gesicht in langen, gewellten Strähnen umrahmten, noch intensiver geworden zu sein.
 

Rot.

Kaoru würde ihn immer mit dieser Farbe in Verbindung bringen. Nicht mit dem Feuerrot, das sich in das kollektive Gedächtnis ihrer Fans gebrannt hatte, sondern genau mit diesem Farbton, der ihn an gefallenes Herbstlaub erinnerte.
 

Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte er in jeder Bewegung, fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, als eine eigene Wohnung noch ein weitentfernter Wunsch und Dies melodisches „Guten Morgen“ jeden Tag das Erste gewesen war, was er gehört hatte. Die Vergangenheit schob sich über Dies Gesicht, rundete seine Wangen und tilgte Fältchen, die er so vehement zu kaschieren versuchte. Plötzlich war es, als wäre keine Zeit vergangen, als stünden sie erst noch vor dem großen Durchbruch, der die letzten Jahrzehnte ihres Lebens geprägt hatte. Sein Herz schlug hart gegen seinen Brustkorb und ein nachdrückliches Ziehen machte ihm das Atmen schwer. Sein erster Gedanke galt seinem Kardiologen, der ihm schon seit Monaten dazu riet, es langsamer angehen zu lassen, doch Kaoru war noch nie der Mensch gewesen, der sich selbst etwas vormachen konnte. Er kannte dieses Gefühl, diese angestrengten Kontraktionen eines Muskels, der überflüssig wäre, würde sein Leben nicht von ihm abhängen.
 

„Ich hab mich noch immer nicht an die roten Haare gewöhnt“, brummte er, fuhr sich noch einmal durch den Wust auf seinem Kopf und ließ sich schwer auf den Stuhl Die gegenüber fallen.
 

„Dir auch einen schönen guten Morgen, Kaoru.“
 

„Ja, ja.“ Er griff nach der Kaffeetasse, die für ihn bereitstand und der Kanne, bevor er sich eingoss. „Ernsthaft, musste das sein? Erst Shinya und jetzt du, ich hab das Gefühl, als müsste jeden Moment Kisaki durch die Tür spazieren.“
 

„Na komm, zum fünfundzwanzigsten Bandjubiläum kann man sich schon mal an die Anfänge zurückerinnern.“
 

„Solange ihr nicht von mir verlangt, meine Haare lila zu färben, soll es mir recht sein.“ Er seufzte, trank einen großen Schluck seines Kaffees und seufzte erneut. „Was grinst du so und was machst du überhaupt hier? Hast du dich gestern so abgeschossen, dass ich es nicht verantworten konnte, dich vom Taxi nach Hause bringen zu lassen?
 

„Vielmehr das komplette Gegenteil. Toshiya und ich hatten unsere liebe Mühe damit, deinen rotzbesoffenen Arsch in den fünften Stock zu hieven. Wie lange geht hier der Aufzug schon nicht mehr?“
 

„Drei Monate, die Hausverwaltung ist angeblich dran. Und wo ist Toshiya?“
 

„Vermutlich auf dem Weg zu seiner Familie, er war gestern noch der Nüchternste von uns. Willst du etwas essen?“
 

Familie? Ach ja, Kaoru erinnerte sich. Nun, da die meisten pandemiebedingten Einschränkungen bei öffentlichen Veranstaltungen gefallen waren, hatten das Management und er beschlossen, zum Jahreswechsel eine aufwendige Silvestershow auf die Beine zu stellen. Wie erwartet waren vor allem Toshiya und Shinya darüber nicht sonderlich glücklich gewesen, da sie traditionell das Neujahr mit ihren Familien feierten. Zur Versöhnung aller hatte er daher entschieden, seine Kollegen eine Woche in den Weihnachtsurlaub zu schicken. Natürlich war es nicht das gleiche, das neue Jahr einige Tage zu früh zu feiern, aber so konnte sich wenigstens niemand darüber beschweren, gar nicht freibekommen zu haben. Und das Beste an der Sache war, dass er heute tatsächlich kein Meeting versäumt hatte. Der Anruf bei Fujida würde ihm somit erspart bleiben – halleluja.
 

Die schien keine Antwort von ihm erwartet zu haben, denn gerade stellte er ihm eine kleine Schale Suppe vor die Nase. So flau, wie sich sein Magen noch immer anfühlte, hatte er damit gerechnet, der intensive Geruch würde ihm den Rest geben, aber tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Der erste Schluck der salzigen Brühe war wie ein Tropfen Wasser auf ausgedörrtes Land und weckte Lebensgeister, die er bis eben noch tot geglaubt hatte.
 

„Schmeckt gut, hast du selbst gekocht? Ich wusste gar nicht, dass ich alle Zutaten hier habe.“
 

„Hattest du nicht, aber uber Eats macht es möglich. Obwohl ich zugeben muss, dass ich auch gern für dich gekocht hätte.“
 

„Mh.“ Kaoru versuchte, dieser Aussage nicht zu viel Bedeutung beizumessen, und fragte sich stattdessen, wie er so tief hatte schlafen können, dass er nicht einmal das Klingeln an der Wohnungstür gehört hatte. Oder hatte Die den Lieferanten extra abgepasst, um ihn nicht zu wecken? Nein, so viel Umsicht traute er dem anderen nicht zu. Sein Herz hingegen schien anderer Meinung und reagierte auf Dies Fürsorglichkeit mit erneutem Ziehen. Dummes Ding.
 

„Hast du schon gegessen?“
 

Die nickte. „Ich bin schon eine ganze Weile wach. Mein Rücken ist einen Gästefuton nicht mehr gewöhnt.“
 

Kaoru verbarg sein Grinsen hinter einem weiteren Löffel Suppe. Ja, ja, das Alter ging eben auch an seinem Freund nicht spurlos vorbei, auch wenn er ihm ständig das Gegenteil weismachen wollte.

„Ihr hättet mich abhalten sollen, so viel zu trinken.“
 

„Hast du schon einmal versucht, dich von etwas abzuhalten?“ Die lachte herzhaft, überschlug die Beine und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Du wolltest gestern partout nicht mit der Sprache rausrücken, was dir die Laune verhagelt hat, also dachten wir uns, bevor du noch unleidiger wirst, lassen wir dir lieber deinen Spaß.“
 

„Unleidiger? Ich war noch nie in meinem Leben unleidig.“
 

„Nein, natürlich nicht. Dann kannst du mir jetzt sicher erzählen, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist. Immerhin haben wir gestern einen riesen Werbevertrag unterschrieben, das hätte doch selbst dich zufriedenstellen müssen.“
 

Tja, was genau war gestern vorgefallen, dass seine Laune auf direktem Wege in den Keller verfrachtet hatte? Gute Frage. Bis eben hätte er noch ungelogen behaupten können, dass er rein gar nichts mehr wusste. Je länger er jedoch Die gegenübersaß und in sein viel zu gut gelauntes Gesicht sah, desto klarer wurden seine Erinnerungen. Es hatte alles mit diesen unerträglich vertrauten roten Haaren begonnen.



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