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Nefut

Schritte zur Heilung
von

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1. Die Gelegenheit nutzen

Er wollte ihn nach... nach... Bussir bringen.
 

War das hier Bussir? Er lag unter einer als Sonnenschutz aufgehängten Decke, ein einfacher Strick hielt sie, der an zwei Dattelpalmen festgebunden war. Eine Decke auf ihm, eine unter ihm; ein... zwei Wasserschläuche und ein Proviantbeutel neben ihm. Als er sich erheben wollte, brannte durch die Bewegung sein ganzer Rücken, aber er stand trotzdem auf, denn im Liegen konnte er nicht erkennen, wo er war.
 

Eine kleine, unbewohnte Oase, eine Tränke mit Schöpfrad neben dem Brunnen, noch ein paar weitere Palmen und Felsbrocken, die aussahen wie verfallene Häuser. Das schien wirklich Bussir sein. Die Sonne stand tief über einer entfernten Bergkette, das mußte der Drachenrücken sein, hinter dem das Kreismeer lag. Dort war also Osten und war es früher Morgen.
 

'Ich bringe dich zur Karawanenstraße, nach Bussir', hatte der Arzt gesagt. 'Die Schwarze Tinte ist verblaßt, mit dieser Kleidung wird jeder dich für einen Städter halten.' Er schaute an sich herunter, ein etwas über knielanges Untergewand mit ausgefranster Knopfleiste, eine fadenscheinige Schärpe als Gürtel, eine Hose aus dünnem Stoff, Sandalen - keine Stiefel - und zwischen den Decken lag ein gestreiftes Stoffbündel: ein Mantel mit Kaputze. Er war nichts mehr. Warum sollte er sich die Mühe machen, dem Ratschlag des Arztes zu folgen, sich eine Karawane zu suchen, um irgendwo anders ein neues Leben anzufangen?
 

Münzen klingelten und fielen auf die Decke, als er den Mantel aufnahm, um ihn überzuziehen. Er zählte, knapp ein Tar war das. Für einen mittellosen Ausgestoßenen ein Vermögen. Anscheinend wollte der Arzt wirklich, daß er das unerwartete Geschenk des Überlebens noch etwas fortführte.
 

'Ich nehme die erste Karawane, die hier eintrifft, egal wohin es geht', versprach er dem abwesenden Arzt in Gedanken. Seine Mühen verdienten es, gewürdigt zu werden. Vielleicht war es auch ein Versprechen an die Götter, die anscheinend mit ihm noch nicht fertig waren. 'Und am Ziel der Karawane spreche ich mit dem ersten Menschen, den ich dort sehe und mache, was er von mir verlangt.' Sollten die Götter entscheiden, was sie mit ihm machten.
 

Unbewußt strich er sich mit der Hand über den Schädel, fühlte die fast fingerlangen Haare. Schon wieder zu lang für einen Mann, ging ihm durch den Kopf, doch dann verbot er sich den Gedanken an den Urheber dieser Frisur und schwor sich, seine Haare bis zu seinem vermutlich bald eintretenden Lebensende nicht mehr zu schneiden. Die undenkbaren Gedanken schafften es aber doch in seinen Kopf und die Ausweglosigkeit seiner Situation zog wie ein untragbares Gewicht an seinen Gliedern. Die Gedanken kreisten und kreisten, schufen eine beängstigende Finsternis, doch irgendwann bemerkte er, daß er einem kleinen Käfer zuschaute, der sich zwischen Steinchen und einzelnen Grashalmen in die trockene Erde eingrub und keinen Schatten zu haben schien: die Sonne hatte sich bereits dem Zenit genähert.
 

Er stand auf und entdeckte einen dunklen Fleck am südlichen Horizont, der rasch größer wurde. Da war also die Karawane, mit der er reisen würde. Er rollte die Decken zusammen und machte sich mit dem Strick ein Bündel daraus, an das er auch den Proviantbeutel und die Wasserschläuche knotete. Reisefertig erwartete er dann im Schatten der Palmen die Ankunft seiner Karawane.
 

In Sichtweite der Oase beschleunigten die bepackten Kamele ihren Schritt, so daß die begleitenden Reiter auf ihren erschöpften Pferden sie erst an der leeren Tränke einholten. Zehn Kamele, sechs Pferde - und drei Oshey, deren Nasenwurzeln mit den drei senkrechten Strichen der Mehaly bemalt waren. Die beiden jungen Männer begannen unverzüglich, die Tränke zu füllen.
 

"Hey, faß mal mit an", forderte ihn der mit dem grauen Bart auf Taribit auf.
 

Also ließ er sein Bündel fallen und zog mit an dem Schöpfrad, um den Wasserstrom in die leere Tränke zu erhöhen. Auch wenn sein Rücken dabei wie Feuer brannte.
 

*
 

Als die Tiere zufrieden waren und während die beiden anderen Männer sich ebenfalls erfrischten, wandte sich der graubärtige Mann vom Wildkatzenstamm wieder an ihn. "Du hast ordentlich mit angepackt, danke. Ich bin Isan Mehaly, ich führe diese Karawane, die beiden anderen sind meine Söhne. Wie heißt du?"
 

Sein Rücken fühlte sich an, als ob die Wunden fast alle wieder aufgerissen waren und das Blut heraussickerte. Wenn es den Stoff des Mantels verfärbte kam er in Erklärungsnöte. "Ich heiße Nefut", antwortete er nach einem Moment des Abwägens, ob er denn überhaupt noch Nefut war. "Ich komme aus Menrish." Die Stadt war nur ein paar Wegstunden von Bussir entfernt, also mochte es seine Anwesenheit in dieser unbewohnten Oase hinreichend erklären.
 

Der Mehaly grinste. "Und willst du nach Norden oder nach Süden?"
 

Die Karawane war aus dem Süden gekommen. "Ich will nach Norden", antwortete Nefut also.
 

"Unser Ziel ist Taribai in den Grasbergen, heute Nacht übernachten wir in der Kameloase. Wenn du weiter mithilfst, kannst du mitkommen."
 

Taribai war immerhin ein gutes Stück entfernt von den Stammesgebieten. Nefut nickte und schlug in die ausgestreckte Hand des Mehaly ein.
 

*
 

Isans Söhne waren schätzungsweise in Nefuts Alter, ihm gegenüber distanzierter als ihr Vater, aber freundlich genug, ihn nicht mehr als nötig merken zu lassen, daß er eigentlich nicht dazu gehörte, denn während er in der Nähe war sprachen sie Taribit, anstatt sich ihres Stammesdialektes zu bedienen. Und nachdem die Sonne schon über den Zenit hinausgezogen und Tiere und Männer genügend erfrischt waren, brachen sie auf.
 

Während die anderen die Befestigung der Lasten kontrollierten, bekam Nefut die Aufgabe, sich um eine etwas eigenwillige Kamelstute zu kümmern, die sich weigerte, sich von ihrem Ruheplatz zu erheben. Nefut sah ihr in die Augen und sie blickte unter dem restlichen Winterfell auf dem Kopf mit einer Würde zurück, die ihn an seine Großmutter Marat erinnerte. Das brachte ihn zum Lächeln. Das Kamel schnaubte ihn an, und er kraulte der Stute den Kopf, so daß sich große Fetzen des Winterfells lösten. Sie schloß die Augen und schnaubte wieder, streckte das Maul nach oben und bot ihm den langen Hals dar mit einem Winterfellbart, der einen hundertjährigen Heiligen neidisch gemacht hätte. Nefut griff mit beiden Händen in die Wolle und rubbelte so stark, daß sich viel von dem losen Fell tatsächlich löste aber auch die Haut über seinen Schulterblättern wieder zu brennen begann. Doch das Kamel schien es zu genießen, also machte Nefut weiter, bis die Stute aufstand und gemächlich zu den anderen ging.
 

Glücklicherweise war das städtische Untergewand, das der Arzt ihm überlassen hatte, bis zur Hüfte geschlitzt, so daß er problemlos auf das Pferd steigen konnte, das Isan ihm anbot. Aber die ungewohnten Sandalen, die in den Steigbügeln keinen vernünftigen Halt und vor allem keinen Schutz für seine Schienbeine boten, waren eine Herausforderung, der er sich wohl stellen mußte.
 

*
 

Die Kamelstute hieß Firat erzählte Isan, während sie nebeneinander ritten, und Nefut mußte über die Wege der Götter lachen, um nicht zu weinen.
 

"Was ist daran so lustig?" fragte der Mehaly, auch wenn ihn Nefuts Gelächter zumindest zu einem Grinsen verleitete.
 

Nefut schaffte es, sich mit ein paar Atemzügen zu beruhigen. "Weil sie so viel würdevoller und freundlicher ist, als die letzte Firat, der ich begegnet bin."
 

"Und bestimmt auch ehrlicher und treuer", ergänzte Isan, der sich wohl denken konnte, daß Nefut von einer Frau gesprochen hatte.
 

"Ganz bestimmt", pflichtete Nefut ihm bei. Firat die Kamelstute wäre niemals sein Verderben gewesen.
 

* * *
 

2. Eine Freundlichkeit erwidern

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Kameloase, Isan mietete sie in einem Hof in der Karawanserei ein, Nefut half den Mehaly, die Kamele abzuladen und gönnte Firat noch eine weitere ausführliche Streicheleinheit. Isan bestand darauf, Nefut zum Abendessen einzuladen, zuvor wolle man aber noch das Badehaus aufsuchen. Nefut hatte seit seiner Vertreibung auf den Luxus eines Bades verzichten müssen und sagte spontan zu, bevor ihm einfiel, daß damit jeder der Anwesenden seinen zerschundenen Rücken sehen und entsprechende Schlüsse ziehen konnte. Doch nun gab es kein Zurück mehr, also sandte er ein stummes Gebet zu Orem und folgte den anderen.
 

Das Badehaus gehörte ebenfalls zur Karawanserei und die Dämpfe des heißen Wassers vernebelten den verhältnismäßig kleinen, dunklen Raum so sehr, daß man kaum eine Armlänge weit sehen konnte. Also bestand wohl doch keine Gefahr, daß jemand seine Verletzungen sehen konnte. Und ein Bad würde ihm wirklich gut tun. Die Mehaly fanden es offenbar nicht seltsam, daß er sich abseits hielt und sich allein in einer Ecke wusch, während die anderen zusammen standen und sich gegenseitig den Rücken schrubbten. Erfreut stellte Nefut fest, daß das Wasser nicht in den Wunden brannte, also waren sie inzwischen wohl verschorft, aber sein Rücken mußte geblutet haben, denn das Untergewand hatte deutliche Flecken. Sie waren aber lange nicht so groß, wie er befürchtet hatte und ließen sich mit dem lauwarmen Waschwasser fast völlig entfernen. Dann stieg auch er in das Heißwasserbecken, um sich wie die anderen zu entspannen.
 

Nach einer Weile knurrte der Magen eines der Mehaly vernehmlich. "Ja, es ist Zeit", Isan nickte und verließ das Becken, seine Söhne folgten ihm. Keiner der drei achtete darauf, daß Nefut rückwärts aus dem Becken stieg und sich rasch sein feuchtes Untergewand wieder überzog. Und draußen hüllten sich alle in ihre Mäntel, denn nach dem heißen Wasser war die Nachtluft sehr kühl. Er mußte dem Gott ein Dankopfer dafür bringen, daß sein düsteres Geheimnis tatsächlich nicht entdeckt worden war.
 

Auf dem Rückweg in den gemieteten Hof entdeckte Nefut in einer Nische der Mauer einen kleinen Schrein, der kaum mehr war als eine sandgefüllte Tonschale mit Sternenmuster, in der abgebranntes Räucherwerk steckte. Er erinnerte sich, daß seine Mutter in Berresh so eine Schale im Vorhof stehen gehabt hatte. Als die Bediensteten der Karawanserei kamen, um die Tabletts und zugedeckelten Schalen mit dem bestellten Abendessen auf den niedrigen Tisch zu stellen, fragte er einen der Diener, ob er Geld für ein Rauchopfer zu Ehren Orems an den Wirt weitergeben könne. Als der nickte drückte Nefut ihm die Hälfte seiner Münzen in die Hand.
 

"Ja, dank dem Gott für diese Mahlzeit - und dem Wirt der Karawanserei", rief einer der jungen Mehaly übermütig und hob die Deckel von zwei der großen Schalen, so daß Nefut von dem Wohlgeruch ganz schwindelig wurde. Zuletzt hatte er im Haus des Arztes etwas gegessen, bevor ihn dieser in der Nacht nach Bussir gebracht hatte.
 

Die vier rückten sich die Lederpolster zurecht, so daß jeder alle Speisen gut erreichen konnten, Isan dankte Tyrima für den Tag, die Mehaly füllten sich die Becher mit Dattelwein und griffen zu. Nefut sprach stumm ein Dankgebet an den Nächtlichen Träumer, der dafür gesorgt hatte, daß er nicht entdeckt worden war, dann griff auch er nach einer der gebratenen Ziegenkeulen.
 

*
 

Nefut erwachte, als die Dämmerung den Himmel über den weiß getünchten Hofwänden purpurn und granatapfelrot färbte. Isan hatte sich schon das Kopftuch umgebunden und kontrollierte die Lastenpakete, die die noch vor sich hindösenden Kamele weiter nach Taribai tragen mußten, doch seine Söhne schliefen noch. "Wann brechen wir auf?" fragte er, nahm sich von den Resten ein Stück Brot als Frühstück und fand unter den Schalendeckeln noch ein paar Tropfen Sauce, die er damit aufwischte.
 

"Beim ersten Ruf", entgegnete Isan. "Ich will heute abend in Taribai sein."
 

Der erste Ruf, der Willkommensruf für Tyrima, erklang bei den Stämmen, wenn die Sonne über den Horizont stieg. Bis dahin würde es nicht mehr lange dauern. Da er seine Habseligkeiten schon zusammengepackt hatte und Isan ihn nicht zur Hilfe bei der Kontrolle der Ladung aufforderte, ging Nefut zu Firat, um ihr den Hals zu kraulen.
 

Isans Söhne wurden langsam wach, banden ihre Kopftücher etwas unordentlich und man sah beiden an, daß sie nun bereuten, am Vorabend so viel vom Dattelwein getrunken zu haben. Nefut hatte sich des süßen Getränkes ganz enthalten, um sich nicht versehentlich zu verraten, aber er erinnerte sich an eigene Erfahrungen. Er hatte Mitleid mit den beiden und half ihnen beim Beladen der Kamele.
 

Außerhalb der Karawanserei wurden schon Marktstände aufgebaut und Nefut staunte, wie viele Häuser um den Platz standen, den sie nun überquerten. Es gab in vier Richtungen Straßenzüge, an denen noch mehr Häuser standen; bis auf die fehlende Mauer unterschied sich die Kameloase anscheinend in nichts von einer Stadt. Und dann lag sie schon hinter ihnen.
 

*
 

Über den Vormittag änderte sich die Landschaft von der bisher vorherrschenden Steinwüste zu einer steppenartigen Landschaft und am nördlichen Horizont, auf den sie zustrebten, waren schon die sanften gelbgrünen Wellen der Grasberge zu erkennen. Sie verbrachten die heißen Mittagsstunden in einem Dorf, in dem sie auch die Tiere tränken konnten und reisten dann auf einer gepflasterten Straße weiter, die nach Taribai führte. Das mußte die Taribische Handelsstraße sein.
 

Nefut wußte, daß er mit vielleicht acht Jahren schon einmal durch die Grasberge gereist war, kurz nachdem seine Mutter gestorben war und sein Vater den ganzen Haushalt von Berresh nach Letran verlegt hatte. Aber trotzdem war ihm die Landschaft so fremd, als sähe er die sanften, dicht mit Gras und Kräutern, Büschen und Bäumen bewachsenen Hügel das erste Mal. Und noch höhere Erhebungen tauchten nun vor ihnen auf, die von sattem Grün dicht bewachsenen Hänge der Taribischen Berge: die bei den Stämmen berühmten Teegärten, aus denen die besten Tees der Welt stammten.
 

*
 

"Da vorne ist Taribai", sagte Isan am späten Nachmittag und deutete auf eine hellgraue Steinmauer auf einem der Hügel vor den Teegärten. Von der Stadt selbst war von der niedriger liegenden Straße aus nichts zu sehen. "Unser Ziel ist der Handelsposten ein Stück weiter nördlich an der Taribischen Straße."
 

Die breite Straße, die sie zu dieser Tageszeit fast für sich allein hatten, führte tatsächlich an Taribai vorbei, aber praktisch mitten durch den Handelsposten. Hier gab es keine hohe Steinmauer, aber eine ganze Reihe von massiv gebauten Steinhäusern, die wohl als Lager dienten. Zu Fuß führten sie die Kamele zu einem dieser Gebäude, die Ladung und Geld wechselten den Besitzer und Isan drückte Nefut zwei Tar in Silber in die Hand.
 

"Dein Lohn", erklärte er, als Nefut verdutzt in seine Handfläche starrte. "Ohne dich wäre Firat so zickig gewesen, daß wir es heute nicht mehr bei Tageslicht geschafft hätten. Und ich möchte dir noch etwas geben." Er griff in die Satteltasche seines Pferdes und zog eine handliche Schriftrolle in einer abgegriffenen Lederhülle heraus. "Laß dich von den Worten der Weisen und Heiligen begleiten, vielleicht hilft es dir zu finden, was du suchst."
 

Nefut steckte das Geld in den Gürtel und nahm die Schriftrolle entgegen, zog sie aus ihrer Hülle. Es war ein recht altes Exemplar der Schriften und, wie man an den speckig gewordenen Rückseiten der Pergamentstreifen sah, aus denen die Rolle zusammengenäht war, oft zur Hand genommen. Aber die Schriftzeichen waren noch immer klar zu lesen.
 

Er vermißte die Lektüre der Schriften, erkannte Nefut. Das war es, was ihn immer wieder zu sich selbst zurückgeführt hatte, egal ob sie in Berresh oder in Letran gewesen waren oder sonstwo in der Fremde in einem Heerlager. Selbst den Tod seiner Mutter hatte er akzeptieren können, weil er immer ihre Stimme hörte, wenn er die althergebrachten Texte las, denn sie hatte sie ihm als kleines Kind so oft vorgelesen. Doch seit dem Urteil... Er merkte, daß seine Hände zitterten und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Schnell rollte er die Schriftrolle zusammen, steckte sie wieder in ihre Hülle und verneigte sich tief vor Isan Mehaly. Er mußte schlucken, um sprechen zu können. "Hab Dank dafür, Herr. Ich werde euch in meine Gebete einschließen."
 

Isan lächelte freundlich, als Nefut wieder zu ihm sah und legte ihm wie ein segnender Vater die Hand auf den Scheitel. "Ich wünsche dir viel Glück bei dem, was du suchst. Tyrima und Orem mögen Dich behüten, denn du bist ein guter Junge, egal was andere von dir halten mögen." Dann winkte er seine Söhne heran, und die drei Männer, die sechs Pferde und Firat mit ihren neun Schwestern, nun aller Lasten entledigt, gingen davon.
 

* * *
 

3. Jede Gegebenheit akzeptieren

Isan mußte gewußt haben, daß Nefut ein Verstoßener war, aber scheinbar war es ihm egal gewesen, oder er hatte einfach ein großes Herz für Männer, die Kamele kraulten. Und dann, als Isan und seine Karawane abbogen und irgendwo in diesem riesigen Handelsposten verschwanden, fiel Nefut sein Versprechen an die Götter wieder ein. Er hatte mit dem ersten Mensch sprechen wollen, den er am Ziel der Karawane sah und tun, was der von ihm verlangte. Der Kaufmann, den Isan beliefert hatte, war wieder in seinem Lagerhaus verschwunden, und das war noch nicht einmal der ersten Mensch gewesen, den er hier am Handelsposten gesehen hatte. Das waren zwei Männer neben der Straße gewesen, beim ersten Gebäude des Handelspostens, einer ein städtischer Krieger in glänzendem Brustpanzer aus Metall und mit einem ebenso glänzenden, spitz zulaufenden Helm, um den ein Streifen blauer Stoff gewickelt gewesen war, der andere in einfacher, fast schäbig zu nennender Kleidung, die angeregt miteinander geredet hatten.
 

Die beiden waren ihm aufgefallen, weil er bei dem blauen Schal gleich an die Truppen von Letran denken mußte, die sein Vater bis vor zwei Jahren befehligt hatte. Vielleicht war es wirklich ein Anwerber aus Letran gewesen, denn für Städter war es doch eher unüblich, sich mit Leuten außerhalb des eigenen Standes näher zu beschäftigen. Der verarmte Bauer oder Handwerker hatte vermutlich vor, bei den Truppen Letrans sein Glück zu machen und würde nicht länger mit einem Anwerber sprechen, als bis er seinen Werbebrief und damit das Versprechen eines Handgeldes erhalten hatte. Aber der Anwerber war vermutlich noch da. Also ging Nefut den Weg zurück, den sie zum Lagerhaus genommen hatten und sah schon auf Entfernung die silbrig glänzende Helmspitze über dem blauen Stoff in der Abendsonne blinken.
 

Ja, der Mann hatte die fast Ostler-helle Hautfarbe der Letrani und blaue Augen. Er entbot Nefut ein "Sei gegüßt".
 

Etwa sechs Jahre hatte Nefut in den Kasernen von Letran gelebt. Die erste Zeit war das Leben südlich der Tore der großen Stadt am Amaar die schönste, die er nach dem Tod seiner Mutter erlebt hatte. Dort hatte er gleich hundert Mütter gehabt, die ihm Leckereien zusteckten oder bei Verletzungen trösteten: die warmherzigen und liebevollen Sa'atik-Frauen, die jeweils ein oder zwei Jahre als Tempeldienerinnen oder Novizinnen im Heiligtum der Hawat dienten und deren Kinder seine Spielkameraden waren.
 

Sein Vater hatte es nicht gerne gesehen, daß er bald mehr Sa'atit als Taribit sprach und verweigerte die Unterstützung bei seinem Versuch, die fremde Sprache auch noch lesen zu wollen. Die Texte der Sa'atik enthielten nichts, was für einen Oshey von Wert sei, war Murhan Darashys Meinung gewesen. Und wenn er nicht die Truppen der Letrani in den Krieg führte, schulte er ab diesem Zeitpunkt Nefut im Umgang mit den einem Oshey angemessenen Waffen, ließ ihn die Kriegsphilosophen lesen um mit ihm darüber zu diskutieren und ermutigte ihn, jede freie Minute der Lektüre der Schriften zu widtmen. Und wenig später nahm er ihn dann mit auf jeden Kriegszug der Letrani, den er befehligte.
 

Doch weder von den alteingesessenen Soldaten der Hilfstruppen noch von den Letrani, die für die Verwaltung der Kasernen verantwortlich waren, würde ihn einer wiedererkennen, nicht nach zwei Jahren, nicht nachdem er bei den Stämmen herangewachsen war. Damals war er klein für sein Alter gewesen und - nach Aussage der Sa'atik-Frauen - 'ein schrecklich magerer Knabe'. Inzwischen war ihm die Stirnlocke zusammen mit dem Rest seiner Haare geschoren worden, er war ein Mann - annähernd so groß wie sein Vater und durch die Hilfsarbeiten in dessen Schmiede auch fast so muskulös.
 

Die Götter meinten es wohl gut mit ihm, denn der Anwerber bedachte ihn mit der erwarteten Aufforderung: "Laß dich für die Hilfstruppen der Letrani einschreiben und trete schon morgen deinen Dienst an in unserer großen Armee."
 

*
 

Es war ein vertrauter und doch seltsam fremder Anblick, als am Abend des folgenden Tages am Horizont zuerst die Kasernen auftauchten, dann die große Stadt. Und plötzlich fühlte Nefut sich, als wäre er zurückversetzt in seine unbeschwerte Kinderzeit. Er beschleunigte seinen Schritt.
 

Da Nefut bei Abgabe seines Werbebriefes angab, reiten zu können, wurde er, unter dem Namen Nefut aus Bussir, einer im Aufbau begriffenen neuen Mellim gepanzerter Reiter zugewiesen. Er erhielt eine Marke für seinen Schlafraum in einer neu erbauten Kaserne und eine für sein Pferd, das in dem an diese neue Kaserne angebauten Stall stehen sollte. Als Nefut seine Schlafraummarke dann an einen freien Nagel auf dem passenden Brett in Eingang der Kaserne hängte, sah er, daß noch keine ganze Hundertschaft dort unterbracht war sondern nur sechs vollständige Zehnereinheiten zusammen mit je einem Wanack, bei dem es sich wohl um einen bereits erfahrenen Panzerreiter handelte, denn an den jeweils elf Nägeln für die zehn Schlafräume hing schon überall eine Marke in einer anderen Farbe.
 

Nachdem er sein Bündel auf sein Bett fallen gelassen hatte, schaute er noch nach seinem zukünftigen Reittier. Ein Gehilfe des Stallmeisters nahm die Pferdemarke entgegen und führte ihn zu einem der offenen Gehege, in denen in kleinen Grüppchen jeweils elf stämmige Stuten in der typisch hellbraunen Färbung der letranischen Pferde standen. Der Mann pfiff ein paar Töne und ein junges Tier mit einem weißen Fleck auf der Nase kam neugierig zum Zaun. Sie war ganz ruhig, als Nefut ihr seine Hand entgegenstreckte, und als er sie an den Ohren kraulte war sie schon sein bester Freund.
 

Der Stallmeister kam dazu, und schaute sich Nefut und seinen Umgang mit der Stute eine Weile an, dann sagte er: "Ihr bekommt jeder zwei Pferde. Flecks Schwester ist grad in der Obhut des Pferdehirten, die beiden werden sich beim Training mit dir abwechseln. Bei Streifen mußt du aufpassen, die beißt gerne."
 

"Versorgen wir die Pferde selbst?" wollte Nefut wissen.
 

Der Stallmeister schüttelte den Kopf. "Nicht hier in der Kaserne, auf Einsätzen schon. Hier kümmere ich mich mit meinen Gehilfen um alles. Natürlich kannst du jederzeit nach ihnen sehen, aber keine Leckereien mitbringen, das macht sie nur fett und träge, hier im Stall haben sie viel zu wenig Bewegung."
 

Nefut nickte. "Und der Sattel?" fragte er dann.
 

"Den kriegst du morgen, zusammen mit deiner Uniform und den Waffen", erklärte er.
 

Der eintägige Fußmarsch auf der Taribischen Straße hatte Nefut übermäßig erschöpft, so daß er in seinen Schlafraum zurückkehrte und sich auf das ungewohnte städtischen Bett legte, statt wie der Rest seiner frisch gebildeten Wannim am ersten Abend noch das Kasernengelände und die Einrichtungen zur Unterhaltung - oder gar Letran - zu erkunden. Ohnehin kannte er sich noch weitgehend aus, auch wenn in den vergangenen zwei Jahren nicht nur bei den Kasernen weitere Gebäude auf dem ummauerten Gelände errichtet worden waren. Also nahm er die geschenkten Schriften zur Hand und las, bis ihm die Augen zufielen.
 

*
 

Der kommende Morgen begann mit dem Weckruf der Letrani, der Nefut für einen Moment zwei Jahre zurückversetzte, bis er sich bewußt wurde, daß er nicht auf Teppichen und Decken auf dem Boden im Haus des Birh-Melack sondern auf einem städtischen Bett in einer der Kasernen lag.
 

Der Wanack, wohl nicht nur der Dienstälteste seiner Wannim sondern anscheinend auch der älteste nach Jahren - und damit mindestens doppelt so alt wie Nefut - war in Uniform: feste Stiefel, doppelt genähte seidene Hose, eine hellblaue Seidentunika, darüber ein lederner Brustpanzer und ein Schwertgurt mit einem kurzen städtischen Schwert, dessen Griff mit einem Pferdekopf geschmückt und einem blauem Seidenstreifen umwickelt war. Er griff nach seinem Lederhelm mit blauem Seidenrand und trieb seine Leute zur Eile an, da eine Ansprache des Melack zu erwarten sei.
 

Sie beeilten sich also, liefen zum kleinen Exerzierplatz vor der Kaserne und stellten sich in einer Doppelreihe hinter ihrem Anführer auf, wie auch die anderen Rekruten hinter ihren Wunakim. Den Rekruten gegenüber stand ein kleiner Podest, vor dem ein uniformierter und blau behelmbuschter Mann mit gold glänzendem Schuppenpanzer und langem Seidenumhang stand: der Melack, Anführer ihrer noch nicht ganz vollständigen und weitgehend zivil gekleideten Hundertschaft.
 

Vor seiner Ansprache inspizierte der Melack alle Einheiten eingehend, hatte für alle Wunakim ein freundliches persönliches Wort und kehrte dann zur Empore zurück, doch auch für die Ansprache stellte er sich davor.
 

"Noch seid ihr Rekruten. Aber mit Einsatz und Pflichtbewußtsein werdet ihr bald vollwertige Panzerreiter der Hilftruppen der Letranischen Armee sein. Später habt ihr sogar die Möglichkeit, in die Ränge der regulären Armee von Letran aufzusteigen.
 

Wenn ich mit meiner Begrüßung fertig bin, werdet ihr hier unter Anleitung eurer Wunakim eure ersten Übungen abhalten und danach mit ihnen zur Uniformausgabe gehen. Dort erhaltet ihr auch eure Brustpanzer, die Übungslanzen und Übungsschwerter und euren Sattel. Eines eurer beiden Pferde steht bereits in den Stallungen für euch bereit, morgen werdet ihr das andere kennenlernen.
 

Unter Anleitung eurer Wunakim werdet ihr ab sofort jeden Morgen mit Schwertübungen beginnen, zunächst an fünf aufeinander folgenden Tagen hier auf dem Exerzierplatz, damit ihr die Bewegungen lernt, danach werdet ihr vor dem Training mit den Pferden wannimweise vor den Ställen gegeneinander kämpfen. Es sind die bewährten Übungen, die der verstorbene Kriegsherr Murhan Darashy für die Armee von Letran etabliert hat.
 

Für den Umgang mit der Lanze werdet ihr sowohl zu Pferd als auch zu Fuß trainieren. Wenn nach Meinung eures Wanack alle Männer der Wannim den Umgang mit dieser Waffe beherrschen, werdet ihr scharfe Waffen erhalten. Wenn ihr den Schwertkampf beherrscht, könnt ihr euren Wanack um eine Prüfung bitten. Wenn ihr die besteht, erhaltet ihr von ihm die Erlaubnis, zu eurer Uniform ein metallenes Schwert zu tragen. Die Schwerter erhaltet ihr dann ebenfalls bei der Uniformausgabe.
 

In der Küche eurer Kaserne werdet ihr kostenlos verpflegt, jedem steht am Vormittag und am Abend eine Mahlzeit zu. Einmal im Monat erhaltet ihr euren im Werbebrief vereinbarten Sold. Ihr könnt ihn wahlweise am Monatsanfang auf die Hand bekommen oder vom Zahlmeister verwalten lassen, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt einzufordern.
 

Auf dem Kasernengelände gibt es ein kostenloses Badehaus und drei Schreine, die ihr außerhalb eurer Trainingszeiten jederzeit besuchen dürft: einen der Tyrima geweihten Schrein, einen dem Orem geweihten Schrein und einen der Ama oder Hawat geweihten Schrein, der Haus der Hawat genannt wird. Auch Letran dürft ihr außerhalb eurer Trainingszeiten besuchen, jedoch nicht in Waffen und nur in der Zeit vom Öffnen bis zum Schließen der Stadttore.
 

Wenn eurer Wanack euch - vielleicht aufgrund von besonderen Fähigkeiten - für spezielle Dienste vorschlägt, wird euch ihre Ausführung extra bezahlt, dabei gilt für die Auszahlung das gleiche wie für die Auszahlung des gewöhnlichen Soldes.
 

Das wars. Wunakim, befehlt euren Leuten, sich für die Schwertübungen aufstellen." Der Malack nickte den zur Empore kommenden Wunakim kurz zu und ging mit wehendem Umhang davon.
 

Nefut mußte den aufkommenden Unwillen, die von seinem - noch quicklebendigen Vater - etablierten Schwertübungen zu exerzieren, willentlich unterdrücken und sich bewußt entspannen, um sich überhaupt halbwegs richtig bewegen zu können. Natürlich kannte er die Übungen schon, aber noch hatten sie keine Übungsschwerter, also wurde improvisiert und er verhedderte sich genauso wie die anderen Rekruten, die die verschiedenen Angriffs- und Verteidigungshaltungen das erste Mal sahen und nachzuahmen versuchten.
 

* * *
 

4. Den Wandel annehmen

Die Sättel, von denen jeder in der Uniformausgabe einen erhielt, waren ähnlich wie die Oshey-Sättel gemacht, aber nicht in der typischen Weise mit stilisierten Bildern der Stammestiere verziert. Statt dessen trugen sie an beiden Seiten die gleichen Zeichen, mit denen auch die Betten der Schlafräume gekennzeichnet waren, es war also immer ganz klar, wem welcher Sattel gehörte. Und zur Uniform gehörten tatsächlich auch Stiefel mit fester Sohle und doppelt genähtem seidenen Schaft, so daß er mit den Steigbügeln gut zurecht kommen würde.
 

Das Lanzen-Training kostete Nefut mehr Energie, als ähnliche Übungen in der Vergangenheit. Der ungewohnte lederne Brustpanzer, den er wie die anderen Panzerreiter tragen mußte, war überraschend schwer und scheuerte bei jedem Schritt des Pferdes über die kaum verheilten Wunden an seinen Schultern und Rücken. Es würde ihn nicht wundern, wenn sich die eher graue als hellblaue Tunika, die er wie die anderen Rekruten unter dem Panzer trug, am Abend als blutdurchtränkt erweisen würde.
 

Wieso hatte er es für eine gute Idee gehalten, sich anwerben zu lassen? Er fluchte stumm vor sich hin und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er auf dem großen Platz neben den Ställen der Kaserne mit den anderen Rekruten zum wiederholten Male die Marsch- und Angriffsformationen übte. Immerhin kannte er diesen Drill, wenn auch aus der begeisterten Perspektive eines kindlichen Zuschauers, der wollte, daß sein Vater stolz auf sein kriegerisches Wissen war, weil dies doch den Vater, den viele ehrfürchtig oder furchtsam den Städtezerstörer nannten, vor anderen Männern auszeichnete.
 

Irgendwie ging der Tag herum, sie brachten schließlich ihre Pferde weg und die Männer aus Nefuts Wannim standen vor ihrem Gehege noch einen Moment beisammen und überlegten lautstark, ob sie sich ihr Essen im großen Saal der Küche besorgen oder lieber ein Bordell in der Stadt aufsuchen sollten.
 

"Ich halte mein Geld zusammen", erklärte ihr Wanack. "Ich werde in der Kaserne essen und dann das Haus der Hawat aufsuchen."
 

"Ist das 'Haus der Hawat' nicht einfach ein Ama-Schrein, Renim... äh... Wanack?" fragte einer der anderen.
 

Renim grinste. "Es ist das Bordell des letranischen Heeres - und viel preiswerter als alles, was man in der Stadt finden kann."
 

"Aber sind das nicht alles Südlerfrauen in dem Haus?" fragte ein anderer und machte keinen Hehl daraus, das dies nicht seinem Geschmack entsprach.
 

"Ja, genau, deswegen ist es ja so billig. Es ist für die Frauen Dienst an ihrer Göttin, sich Männern für den Preis des Weihrauchs hinzugeben, den sie dabei abbrennen. Wollen wir zusammen hingehen? Vorher müssen wir dann aber noch ins Bad, es ist ja schließlich ein Gottesdienst." Und er grinste zufrieden.
 

Nefut hatte vorgehabt, sich nach dem Essen zur Ruhe zu begeben, aber das Bad klang nach dem anstrengenden Tag sehr verlockend. Danach konnte er sich immer noch von der Gruppe absetzen.
 

*
 

Letztlich waren es nur sechs Mann der Wannim, denen Renim während des Essens erzählen konnte, daß man in den städtischen Bordellen ebenfalls baden und deutlich besser essen konnte, doch dann sei man an einem Abend allein dafür leicht zwei oder drei Tar los. Und da er sich in ein paar Jahren einen eigenen Hof kaufen wollte, hatte er vor, weiterhin sein Geld sparen, ohne auf Annehmlichkeiten zu verzichten. Er kam aus einem Dorf nahe Tetraos, doch da der Hof seines Vaters nach dessen Tod an Renims ältesten Bruder gegangen war, hatte er sich vor ein paar Jahren von den Anwerbern aus Letran überzeugen lassen, im Dienste Letrans das grüne Tal des Amaar mit seinen Pferdeherden vor den Banditen aus Irim zu schützen. Und nun sah er es, nicht nur als ihr Wanack sondern insbesondere als der Alteste der Wannim, als seine Aufgabe an, ihnen das Haus der Hawat zu zeigen.
 

Nefut fragte sich, in welchem Zusammenhang das Haus der Hawat, das ja zugleich ein Ama-Schrein sein sollte, mit dem Hawat-Heiligtum auf dem Gelände stand, aber er stellte die Frage nicht laut, um von den anderen nicht genötigt zu werden, sich nun selbst ein Bild machen zu müssen.
 

Im Bad stellte er fest, daß sein Rücken zum Teil zwar wund gerieben war und das Waschwasser unangenehm an diesen Stellen brannte, die Tunika aber nur wenige Blutspuren aufwies. Er wusch die Uniform aus und da er seine Sachen aufhängen mußte, damit er sie am nächsten Morgen wieder tragen konnte, hatte er eine gute Ausrede, sich wieder zur Kaserne zu begeben und bis zum Einschlafen in den Schriften zu lesen, während sich die anderen voller Vorfreude auf den Weg zum Haus der Hawat machten.
 

*
 

Natürlich sprach ihn Renim am nächsten Morgen auf sein Fernbleiben an. "Wolltest du nicht mitkommen, weil du noch nie bei einer Frau gelegen hast?" fragte er überraschend mitfühlend.
 

Zumindest sich selbst gegenüber mußte er wohl ehrlich sein. Er war deswegen nicht mitgegangen, weil er schon bei einer Frau gelegen hatte. "Nein, Wanack, ich war einfach müde", sagte er aber nur.
 

"Heute abend kommst du aber mit", bestimmte der Ältere entschieden, auch wenn er genau wußte, daß er über die Zeiten außerhalb des Trainings keine Befehlsgewalt hatte.
 

Wieder war Nefut widerwillig und verkrampft bei den Schwertübungen, auch wenn er mit dem Holzschwert in der Hand, das eher einem Oshey-Schwert als einem städtischen Schwert glich, schon fast von selbst die richtigen Bewegungen machte. Streifen, genannt nach den Streifen an ihren Vorderbeinen, hatte wirklich ein ganz anderes Naturell als ihre Schwester, versuchte tatsächlich, ihn zu beißen, als der die Satteldecke auf ihren Rücken legte, bei einem Wettrennen der Wannim aber ließ sie sich nicht auf den zweiten Platz zurückdrängen. Und am Abend fand Nefut wieder eine Entschuldigung, die anderen nach dem Bad nicht zu begleiten.
 

Das Training hatte er als weniger anstrengend empfunden als den Tag zuvor, was einerseits sicher der Gewöhnungseffekt gewesen war, andererseits aber wohl auch auf den fortschreitenden Heilungsprozess seines Rückens zurückzuführen war. Tatsächlich war im Badehaus diesmal kein einziger Blutfleck in der Tunika zu sehen gewesen.
 

*
 

Und wieder ein neuer Morgen, wieder die Schwertübungen, die ihn an seine Zeit unter der Herrschaft seines Vaters erinnerte und an das was danach folgte, und endlich wieder Fleck, die vielleicht nicht so schnell rannte wie ihre Schwester, aber auch nicht davor zurückscheute, direkt auf ein Ziel zuzulaufen, das Nefut mit einem Stoß seiner Lanze aus dem Weg räumen mußte. Wieder zusammen mit den Kameraden im Küchensaal essen, wieder ins Badehaus und erfreut feststellen, daß abermals keine frischen Blutflecken in der Tunika zu sehen waren. Damit erklärte er seinen Rücken als geheilt, auch wenn er natürlich merkte, daß die Verletzungen noch immer zum größten Teil mit dicken Schorfschichten bedeckt waren, die aber an einigen Stellen schon begannen, sich von selbst zu lösen. Seine Uniformtunika allerdings war trotz der Auswascherei inzwischen so fleckig, daß Nefut nach dem Bad direkt zum Waschplatz am Amaar wollte, um sie vernünftig zu reinigen. Mit der notwendigen Pflege seiner Uniform hätte er sogar wieder eine Ausrede für seinen Wanack gehabt, wenn der ihn noch einmal gefragt hätte.
 

Nefut nahm auch noch das geschenkte städtische Untergewand mit, um es ebenfalls richtig zu waschen und lief den gewohnten Weg zwischen den Kasernen hindurch zum seitlichen Tor, den er in seiner Kinderzeit genommen hatte, um sich an einem heißen Tag mit seinen Sa'atik-Freunden nahe dem Waschplatz im kühlen Wasser des Flusses zu tummeln.
 

Der Waschplatz sah genau so aus wie früher, Sa'atik-Kinder spielten nackt im Wasser, ihre Mütter in farbenfrohen Wickelkleidern wuschen die Wäsche - nur das es nicht die selben Kinder waren und natürlich auch nicht die selben Frauen, die dort für ihre Familien oder für das Hawat-Heiligtum die Wäsche machten.
 

Ta'at hatte ihn vor vielen Jahren sogar dazu gebracht, ihr mit der Wäsche zu helfen. Die Erinnerung an die Frau, die einen Sohn in Nefuts Alter gehabt hatte, ließ ihn lächeln. Sie war immer so freundlich, ja liebevoll im Umgang mit ihm gewesen, hatte ihn so oft getröstet oder Mut zugesprochen. Und sie hatte so ein schönes und ausdruckstarkes Gesicht gehabt, daß man den Eindruck hatte, man schaue immer direkt in ihr Herz. Sein Vater hatte stets nur einen Gesichtsausdruck gehabt, ganz der taribischen Tradition folgend, den des strengen Vaters, der für seine Fürsorge und Lehren Gehorsam und Ehrerbietung erwarten durfte.
 

"Was ist passiert?" sprach ihn plötzlich eine der Frauen am Waschplatz auf Sa'atit an. "Hast du dich an etwas im Wasser oder in der Wäsche verletzt?" Mit besorgtem Gesicht hielt sie mit ihrer Arbeit inne, legte den feuchten Stoff beiseite und erhob sich, um ihm zu helfen.
 

"Nein, es ist nichts passiert", gab Nefut in der gleichen Sprache zurück. Er hatte nur an seinen Vater gedacht, das hatte das Lächeln vertrieben. Doch die Fürsorge dieser Fremden brachte es fast von selbst zurück.
 

Das Lächeln beruhigte sie anscheinend und sie ging zurück an ihre Arbeit, und Nefut versuchte, seine finsteren Gedanken zum Schweigen zu bringen und sich ganz auf die Reinigung seiner beiden Oberteile zu konzentrieren. Doch die Sa'atik lenkte ihn ein wenig ab. Sie war ähnlich hübsch wie Ta'at, einige Jahre älter als sie damals und damit wahrscheinlich mehr als zehn Jahre älter als er selbst, aber mit wohlgeformten Hüften und offenbar einem guten Herzen, das sich ebenso wie bei Ta'at in ihrem Gesicht spiegelte.
 

"Anscheinend ra'scharba'ar", sagte sie, als sie seinen Blick mit ihren Augen eingefangen hatte. Ihr liebenswürdiges Lächeln wurde ein bißchen anzüglich. Was hatte sie gesagt? Diese Wendung, er machte irgend was, wollte etwas... Er hatte es schon früher gehört, es war nichts, was Kinder zu anderen Kindern sagten, oder Erwachsene zu Kindern, es war sowas wie ... sein Begehren, seine Lust auf sie? Schnell senkte Nefut seinen Blick auf seine Wäsche. Wenn er es sich richtig zusammengereimt hatte...
 

"Es ist nichts Verwerfliches, wenn die Göttin dich berührt", flüsterte sie plötzlich dicht bei seinem Ohr. Sie hockte neben ihm, wieso hatte er ihre Schritte auf dem Kies des Flußbettes nicht gehört? Sie beugte sich so weit vor, daß der Anhänger der dünnen silbernen Kette, der zuvor zwischen ihren stoffumhüllten Brüsten geruht hatte, nun frei vor ihrem schönen Busen pendelte und in der untergehenden Sonne blitze. Die fliegende Schlange der Hawat, zwei Flügel und etwas, das wie ein... erigierter Phallos aussah... Wieso hatte er früher nie erkannt, was die Novizinnen und Tempeldienerinnen da als Amulett ihrer Göttin um den Hals trugen?
 

Sie strich mit ihren Fingern sanft über seine bärtige Wange, hob dann ganz leicht sein Kinn an, so daß er ihr wieder ins Gesicht sah. Sie lächelte so liebenswürdig. "Beruhige dich", flüsterte sie. "Versuche zu hören, was die Göttin dir rät, dann wird sie dich heilen. Wenn du Hilfe dabei brauchst, findest du mich fast immer im Tempel, ach, im Haus der Hawat... Ama, wie sie hier sagen. Frag nach Schelschér." Sie nahm die Hand von seinem Gesicht und erhob sich mit einer fließenden Bewegung. "Oh", sagte sie dann, ihre Augen folgten dem Verlauf des Amaar, "deine Wäsche schwimmt grad davon", und lief los.
 

Nefut war zu verwirrt, um gleich zu verstehen, warum sie fortlief. Er drehte sich um und sah ihr hinterher... seine Uniform und das Untergewand hatten einen deutlichen Vorsprung vor Schelschér, die nun durch das Wasser watete. Auch er sprang auf und lief am Ufer entlang, bis er die zuvorderst schwimmende Uniformtunika überholt hatte, sprang wie in seiner Kinderzeit ins Wasser und griff danach, geschafft. Gleich darauf landete ein weicher Körper in seinen noch ausgestreckten Armen und ein nasses Stoffstück in seinem Gesicht - Schelschér hatte das Untergewand gerettet.
 

Nach einigen Augenblicken hielt er die schöne Frau noch immer umfangen, obwohl sie schon wieder Boden unter den Füßen hatte, doch sie blieb, wo sie war. Und er hatte nicht vor, diese wohltuende Umarmung jemals wieder zu lösen.
 

Schelschér hatte nun auch ihre Arme um seinen nackten Oberkörper geschlungen, ertastete ganz vorsichtig die Spuren der Urteilsvollstreckung auf seinem Rücken, entließ einen kleinen Seufzer, der voller Mitleid und Zuneigung zu sein schien. "Die Göttin wird dich heilen. Komm zu mir, wenn du deine Wäsche zum Trocknen aufgehängt hast, Soldat." Sie streckte sich, um ihn auf die Wange zu küssen, dann löste sie sich langsam aus seiner Umarmung, hielt ihm das nasse Untergewand hin. "Bring etwas Silber für den Weihrauch mit, damit Hawat wohlgesonnen ist."
 

"Mein Name ist Nefut", erklärte Nefut, dann nahm er das Untergewand in Empfang. "Ich werde zu dir kommen, Schelschér."
 

Schelschér ging zurück zu ihrer eigenen Wäsche, und der nasse Stoff ihres bunten Wickelkleides betonte ihre verlockenden Rundungen bei jedem Schritt, als sie sich nach ihrer Wäsche bückte, als sie den Waschplatz verließ. Wie in Trance sah Nefut noch weiter in die Richtung, zu dem Tor in der Mauer um die Kasernen, durch das sie verschwunden war, als wäre ihm die Göttin selbst erschienen.
 

Nach einer Weile nahm er das Planschen und Lachen der Kinder um sich herum wahr, erinnerte sich wo er war und was er Schelschér zugesagt hatte. Also würde er heute abend noch das Haus der Hawat aufsuchen und zu Schelschér gehen, um sich umarmen zu lassen, denn welches größere Glück, welcher stärkere Heilzauber konnte existieren als diese Umarmung?
 

* * *
 

5. Einen Plan verfolgen

Nefut hängte seine Tunika und das Untergewand über die seiner Wannim zugeteilten Wäscheleine an der Kasernenwand. Mehr Oberteile hatte er nicht, nur einen Mantel und den ledernen Brustpanzer. Sollte er wirklich wie ein Wilder nur halb bekleidet in das Haus der Hawat gehen?
 

"Heute kannst du also nicht mitkommen, weil du deiner Wäsche beim Trocknen zuschauen mußt?" fragte da Renim und lachte freundschaftlich.
 

Nefut schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht, weil alles, was ich an Oberteilen besitze, hier naß auf der Leine hängt."
 

"Ich hätte noch eine zweite Tunika. Die ist sauber und könnte dir passen, ist aber vielleicht etwas zu kurz."
 

Sie war deutlich zu kurz, aber gerade lang genug, daß Nefut halbwegs anständig aussah. Er bedankte sich aus tiefstem Herzen und zu zweit gingen sie dann zum Haus der Hawat. Das Haus stand noch genau da, wo es auch in Nefuts Kindheit gestanden hatte. Seinerzeit war er allerdings nur an dem Kücheneingang interessiert gewesen, denn wenn die Frauen kochten, teilen sie oder ihre Kinder auch Leckereien mit ihm. Die Vorderseite hatte er ebenfalls täglich gesehen, doch nun war sie viel prächtiger als damals. Statt gemalter Säulen hatte das Gebäude jetzt welche aus einem weißgelben, fast transparenten Stein, der das Licht der untergehenden Sonne einfing und so an einigen Stellen rosig gefärbt war, und die Tür war nicht mehr eine bloße Holztür, sondern mit golden glänzenden Metallornamenten geschmückt, die Meereswellen, Bäume und Blüten und ein prächtiges, von Säulen umgebenes Gebäude auf einem Hügel darstellten. Ob das der erste Tempel der Göttin in Ma'ouwat sein sollte, von dem die Kinder und Frauen damals erzählt hatten? Und jetzt führten auch ein paar Stufen aus dem hellen Stein empor, die man ersteigen mußte, um an die Tür zu klopfen.
 

Auf das Klopfen öffnete sich die Tür, dahinter war ein kleiner Eingangshof mit umlaufendem Dach und vor ihnen stand eine Tempeldienerin, die das Ende ihres Wickelkleides über den Scheitel gelegt hatte. Diese Frau war eine Tarib, ganz ohne Zweifel. Bis Nefuts Vater mit ihm zurück zu den Stämmen zog waren nur Sa'atik im Tempel tätig gewesen.
 

"Seid gegrüßt im Haus der Ama", begrüßte die Tempeldienerin sie. "Habt ihr Geld für den Weihrauch mitgebracht, wenn ihr der Göttin ein großes Opfer bringen wollt?" Sie deutete mit ihrer Hand in eine Ecke des Hofes, zu einer blumengeschmückten Amastatuette auf einem niedrigen Sockel, zu beiden Seiten von einer Öllampe beleuchtet, um die herum weitere Blumen und ein paar Haarsträhnen lagen. Außerdem stand vor ihr eine Metallschale, in der einige Vierteltarstücke in Silber lagen.
 

Er hatte das Geld vergessen. "Ich hab das Geld vergessen", murmelte Nefut.
 

Renim lachte verhalten. "Gib es mir später einfach wieder", und er gab der Tempeldienerin zwei Vierteltarstücke. "Wir würden gerne beide der Göttin ein großes Opfer bringen", erklärte er.
 

"Ich möchte nur mit Schelschér sprechen", warf Nefut ein, "sie bat mich vorhin, hierher zu kommen."
 

Die Tempeldienerin, die schon in die Knie gegangen war, um das Geld in die Schale zu legen, drehte sich aus der Hocke zu den beiden Männern um. "Ich weiß nicht, ob die Priesterin gerade Zeit hat, aber ich werde sie fragen."
 

"Ich heiße Nefut", ergänzte er noch, "ich hatte die Priesterin am Waschplatz getroffen."
 

Die junge Städterin verschwand durch eine Tür im Inneren des Gebäudes. Doch sie mußten nicht lange warten. Aus einer anderen Tür kam eine weitere junge Frau, eine Sa'atik, die mit einem fast schüchtern zu nennenden Lächeln nach Renims Hand griff und ihn durch die noch offenstehende Tür mit sich zog.
 

Mit der Eingangstür gab es fünf Türen, die aus diesem Hof führten, und neben einer von ihnen war eine Weihinschrift in Taribit. "Zu Ehren der Göttin stifte ich, Barida Faretim, Regentin von Tetraos, Säulen und Schmuck für das Haus der Ama bei Letran." Diese Inschrift konnte noch keine zwei Jahre alt sein, denn vor zwei Jahren lebte der König von Tetraos noch und es gab keine Regentin.
 

Als Kind hatte Nefut sich keine Gedanken darüber gemacht, wie Hawat gefeiert wurde. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren erklärt, daß Hawat etwa der Ama entsprach, die er aus dem Pantheon der Oshey kannte, zu denen sein Vater und ehemals seine Mutter sich zählten, denn in Berresh sah man immer wieder einmal Sa'atik-Händler, die jedermann mit einem freundlichen 'Nane Hawat' - Hawats Segen für dich - begrüßten und verabschiedeten. Ama wurde als Herrin des Wassers besungen, die Frauen betete für eine Empfängnis und eine leichte Geburt zu ihr, und in seinen fast zwei Jahren bei den Stämmen hatte er gesehen, daß Ama eine Göttin für Frauen und kleine Kinder war, denn die Männer beteten zu Orem oder Tyrima. Doch die fliegende Schlange ließ darauf schließen, daß Männer in der Verehrung der Hawat ebenfalls eine Rolle spielten, und damit auch in diesem Haus der Hawat, das die Tempeldienerin Haus der Ama genannt hatte.
 

"Du bist also gekommen, Nefut", begrüßte Schelschér ihn und streckte ihre Hand nach seiner aus. "Laß uns in das Heiligtum gehen, damit die Göttin ihr Wunder an dir wirken kann." Sie trug das Ende ihres frischen Wickelkleides über der Schulter, die langen schwarzen Haare waren offen, nicht wie bei der Wäsche auf dem Kopf zusammengewickelt. Noch immer wartete sie auf seine Hand, hielt geduldig ihren Arm ausgestreckt, bis er zögernd seine Finger auf ihre legte und sich von ihr durch eine der Türen führen ließ, durch einen weiteren Innenhof und endlich in eine kleine Kammer, die davon abging. Der kleine Raum wurde beherrscht von einem orangefarben bezogenen Polster - und sein Boden damit fast völlig bedeckt. Schelschér legte ein paar Körnchen Weihrauch in eine von der Decke hängende Räucherschale, dann ließ sie sich elegant auf dem Polster nieder und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich ebenfalls zu setzen.
 

Nefut zögerte. Es war klar, wofür dieses Polster gedacht war, doch er wollte nur eine weitere von Schelschérs wohltuenden Umarmungen. Wenn er sich niederließ mochte das bedeuten, er sei auch an anderem interessiert.
 

"Du kannst dich unbesorgt setzen, ich bin die Priesterin dieses Tempels und habe geschworen, der Göttin in allem zu gefallen. Wenn Du es nicht ersehnst, wird sie an unserer Vereinigung kein Gefallen haben", versicherte Schelschér ihm.
 

Also wagte Nefut es und setzte sich, mit einigem Abstand, neben Schelschér. Sie nahm seine Hand, rückte näher und umschlang ihn mit ihren weichen Armen. Er legte seinerseits die Arme um sie, verschränkte hinter ihrem Rücken seine Hände und ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. Er meinte, ihren Herzschlag zu hören, spürte ihre Wärme an Brust und Armen und legte dann doch die Hände auf ihren Rücken, um auch mit ihnen dieses köstliche Gefühl der Geborgenheit aufzunehmen. Sie duftete nach Kräutern, nach Weihrauch, nach Frau, aber nicht wie eine Verführerin. Und beruhigt schloss er die Augen.
 

*
 

"Wie alt bist du, Kind?" drang eine leise Stimme an Nefuts Ohr.
 

"Mir wurde die Stirnlocke geschoren, ich bin ein Mann", murmelte er in Taribit. Nun lag er auf dem Polster, auf der Seite, Schelschér zugewandt, und noch immer hielt er Schelschér umfangen und sie ihn. Er ließ die Augen geschlossen, um die Umarmung weiter auszukosten.
 

Ihr Atem streifte stoßweise sein Ohr, sie lachte still in sich hinein. "Wie alt bist du, Kind", fragte sie wieder.
 

Nefut überlegte. Er war etwa vierzehn gewesen, als er mit seinem Vater zu den Stämmen zurückkehrte. "Sechzehn", antwortete er.
 

Sie streichelte seinen Kopf, küßte ihn auf die Wange. "Die Göttin wird dich heilen", versprach sie erneut. "Bete zu ihr und sie wird dir zeigen, wie du wieder ganz wirst. Und komm jederzeit zu mir, wenn dir danach ist. Aber vergiss das Geld für den Weihrauch nicht wieder." An seiner Wange fühlte er, daß sie lächelte.
 

Er öffnete vorsichtig ein Auge, sie sah ihn aus dunkelbraunen, gold gefleckten Augen an. Es war, als wisse sie, was ihm passiert war und warum, und doch hatte sie Mitleid mit ihm. Ob ihre Göttin auch Mitleid mit ihm hatte?
 

Mit ihrem obenliegenden Arm strich sie ihm über die Stirn, nein, sie malte so etwas wie ein Zeichen auf seine Stirn. "Die Göttin möge dich segnen", flüsterte sie, "und sie wird dir helfen, denn sie hilft allen, die dessen bedürfen."
 

*
 

Die Nacht war schon hereingebrochen, als Nefut das Haus der Hawat verließ, aber im Schlafraum seiner Wannim waren noch einige Betten leer und die Anwesenden schliefen noch nicht alle. Zwei seiner Kameraden saßen auf dem Bett neben ihm und spielten das Bohnenspiel. Er nickte ihnen kurz zu, legte sich auf sein städtisches Bett, schloß die Augen, um Schelschérs Umarmung wieder zu spüren, und er fühlte auch das Zeichen auf seiner Stirn, als habe die Priesterin es mit dicker Tinte aufgemalt. Es war wie ein Schutzschild gegen die finsteren Gedanken, die ihn an anderen Abenden hier in der Kaserne schon heimgesucht hatten, auch wenn er in den Schriften las.
 

Wenn Hawat und Ama die selbe Göttin waren, mochte ihm ein Gebet an Ama, wie seine Mutter es früher sprach, helfen, Rat von der Göttin zu erhalten. "Mutter Ama, Gemahlin des Nächtlichen Träumers, hüte und beschütze mich und heile meine Wunden", murmelte er, "und schütze auch Isan Mehaly und seine Söhne", fiel ihm noch ein. Die Frauen der Stämme und auch seine Mutter hatten der Göttin Blüten und Haarsträhnen geopfert, je nachdem ob sie einfach nur ihre Aufwartung gemacht oder ein echtes Anliegen gehabt hatte. Doch woher sollte er mit seinen kurz geschorenen Haaren eine Strähne nehmen, die als Gabe für eine Göttin angemessen war? Darauf würde sie noch warten müssen.
 

* * *
 

6. Mit Hingabe handeln

Am nächsten Morgen fühlte Nefut sich irgendwie klarer, stärker, mehr im hier und jetzt, als hätte die Göttin über Nacht schon ein Wunder gewirkt. Und als sie mit den Schwertübungen begannen, erkannte er das erste Mal die durchdachte Effizient der Bewegungen, die zugleich das Einüben der typischen Kampfmuster des Schwertkampfes und das Aufwärmen der Muskeln für alle körperlichen Herausforderungen des Tages war, die Eleganz eines Raubtieres gepaart mit der von den Göttern gesandten Weisheit des Menschen.
 

Beim Übungskampf zu Pferde zeigte Streifen, daß sie viel wendiger war als Fleck und ihm damit größere Zielgenauigkeit mit der Lanze ermöglichte. Erst am Abend, nach dem Training, fiel Nefut auf, daß er den ganzen Tag nicht ein mal an die Wunden auf seinem Rücken gedacht hatte. Diesmal schloß er sich den anderen nicht nur auf dem Weg ins Badehaus an, sondern begleitete Renim und zwei andere auch auf dem Weg ins Haus der Hawat, mit einem Vierteltarstück im Gürtel. Diesmal mußte Nefut gar nichts sagen; nachdem die anderen drei abgeholt worden waren, führte ihn die Tempeldienerin in einem Raum mit einem Polster und versprach, die Priesterin würde gleich kommen.
 

Er ersehnte Schelschérs Umarmung, doch als sie den Raum betrat wurde ihm klar, daß er schon durch ihre Gegenwart glücklicher war, als Momente zuvor.
 

"Die Göttin hat ihr Werk schon begonnen, wie ich sehe", begrüßte sie ihn.
 

Nefut nickte. "Und das obwohl ich ihr bisher gar nicht nach der Art der Stämme opfern kann."
 

"Du meinst eine Haarsträhne? Sie weiß, wie sehr du ihre Hilfe brauchst und wie dankbar du ihr bist. Wenn du soweit bist, kannst du ihr nach der Art der Sa'atik ein großes Opfer bringen."
 

"Aber ich bin bereit", widersprach Nefut.
 

Schelschér trat an ihn heran, umarmte ihn, ließ sich von ihm umarmen, sie lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. "Nein, du bist nicht bereit für ein großes Opfer. Hab Geduld, die Göttin wird auf den rechten Zeitpunkt warten."
 

Nefut atmete ihren Duft ein, genoß ihre Umarmung, die menschliche Wärme, die sie ihm zuteil werden ließ und senkte sein Gesicht in ihr schönes Haar. "Was erwartet Hawat denn als großes Opfer?" murmelte er.
 

"Ich glaube, du weißt es", flüsterte Schelschér zurück, die Lippen so nah an seinem Ohr, daß sie ihn damit streichelte.
 

Konnte es... ja, so mußte es sein. "Die Vereinigung", sprach er es dann aus. Aber die Vorstellung, Schelschér in dieser Weise nah zu sein war gar nicht mehr so beunruhigend. Sie hatte sicher keine anderen Absichten, als ihrer Göttin zu gefallen.
 

"Ja, ich will meiner Göttin gefallen", flüsterte Schelschér an seinem Ohr, "also werde auch ich auf den rechten Zeitpunkt warten."
 

Es war wieder sehr spät, als Nefut zurück in Kaserne kam, wieder sprach er sein Gebet an Ama und schlief rasch ein.
 

*
 

Am nächsten Morgen sprach Renim Nefut nach den Schwertübungen an. "Rekrut, du hast bemerkenswerte Fortschritte bei den Schwertübungen gemacht. Ich empfehle dir, bald bei mir eine Prüfung deiner Schwertkünste zu verlangen. Das wird auch die anderen der Wannim motivieren, sich anzustrengen."
 

"Danke für das Lob, Wanack", antwortete Nefut artig.
 

"Ich meinte das ganz ehrlich, Nefut", setzte Renim nach. "Du beherrscht die Übungen perfekt. Du wirst die Prüfung bestehen und dich über deine Leistung mindestens ebenso freuen, wie ich. Aber ich will dich nicht drängen, zum rechten Zeitpunkt wirst du genug Vertrauen in deine Fähigkeiten haben."
 

Nefut verkniff sich die Frage, ob er die Priesterin des Hawat-Heiligtums kannte. Da sein Wanack sicher schon einige Jahre nahezu täglich das Haus der Hawat besuchte, war die Frage überflüssig. Und er dachte tatsächlich über die Worte seines Wanack nach. Am heutigen Morgen hatte er sich gar nicht auf die Bewegungen der Schwertübungen konzentrieren müssen, sein Körper erinnerte sich daran und er war vollkommen darin aufgegangen, ohne einen Gedanken an irgendwas. Vielleicht war dieses sich hingeben für seinen Wanack zu sehen gewesen.
 

Fleck freute sich richtig, ihn zu sehen und es war eine reine Freude, auf ihrem Rücken die Speerübungen zu absolvieren. Da sie nach zwei Durchgängen genau wußte, was von ihr erwartet wurde, hatte Nefut die Gelegenheit, den anderen Rekruten zuzusehen und merkte, wie er sich noch verbessern konnte, aber auch, wo andere noch Schwächen hatten. Da sie alle gemeinsam vor ihrem Wanack bestehen mußten, um mit scharfen Waffen ausgerüstet zu werden, gab er denen, für die er Ratschläge hatte, in einer Verschnaufpause ein paar Tipps. Und der Wanack verfolgte das anscheinend interessiert.
 

Am Abend genoss er das Essen mit Renim und den Kameraden, die nicht lieber ihr Geld in eines der letranischen Bordelle trugen und war überrascht, als die anderen schon ins Badehaus aufbrechen wollten. Und auch die Zeit im Badehaus kam Nefut so verkürzt vor, daß er die anderen verabschiedete, anstatt sich ebenfalls aus dem Wasser zu erheben, als sie aufbrachen. Die anderen verschwanden plaudernd und er genoß noch ein wenig länger das heiße Wasser.
 

Aber schließlich erhob er sich, um auch diesen Abend Schelschér zu sehen, zu umarmen, ihre Haut an seiner zu spüren. Vielleicht war heute der rechte Zeitpunkt gekommen.
 

Diesmal brachte nicht die Tempeldienerin sondern eine Novizin ihn in einen Raum, in dem er auf Schelschér warten sollte, doch bevor er sich überlegen konnte, ob er im Stehen oder auf dem Polster sitzend warten sollte, war sie schon da und glücklich umarmte er sie. Ihre sanfte Berührung, ihre Wärme, ihre weiche Haut, der Duft ihres Haars, waren so wunderbar vertraut und so begehrenswert, daß plötzlich sein Körper reagierte. Und sie küßte ihn auf die Wange. "Mir scheint, der rechte Zeitpunkt ist tatsächlich gekommen."
 

Überrascht löste Nefut seine Umarmung und sah in Schelschérs lächelndes Gesicht.
 

Sie streichelte sein bärtiges Kinn. "Ich freue mich darauf, mit dir heute die Göttin zu feiern." Dann ging sie zur Tür und öffnete sie, aber nur um ein Tablett mit zwei Metallbechern und einer Art Schreibset herein zu holen. Sie stellte das Tablett auf den Fußboden und schloß die Tür wieder.
 

Sie ließ ein paar honiggelbe Weihrauchkörner auf die glimmenden Kohlen im Weihrauchgefäß fallen, das auch in diesem Raum von der Decke hing, dann nahm sie die beiden Becher auf, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren. "Laß uns hiermit die Göttin willkommen heißen. Wenn ich meinen Leib der Hawat geweiht habe, können wir beginnen."
 

Nefut nickte, nahm den Becher entgegen, trank aber erst daraus, als Schelschér ihren Becher an den Mund hob. Er war erstaunt über den Geschmack, er hatte mit einem berauschenden Getränk wie dem Oinos der Awrani gerechnet, nicht mit einer Art kaltem Tee aus Kräutern und Wurzeln.
 

Dann begann sie, mit einem absichtsvollen Hüftschwung, ihr Wickelkleid zu lösen. Darunter war sie nackt und ihr Körper so makellos wie Nefut es sich nur hätte erträumen können. Und er spürte, wie eine ungewohnte Hitze in ihm aufstieg und seine Erregung fast schmerzhaft zunahm. Er mußte sein Oberteil ablegen, so warm war ihm geworden.
 

Schelschér nahm den mit roter Tinte getränkten Pinsel zur Hand und begann damit, einige fremdartige Schriftzeichen zwischen Bauchnabel und enthaarter Scham auf ihren Leib zu schreiben, das letzte Zeichen quer über den Spalt, der zu ihrem Innersten führte. Die Farbe trocknete rasch auf ihrer warmen Haut.
 

"Diese Zeichen sind ein Weihspruch an Hawat?" fragte Nefut, der sich zurückhalten mußte, um die Zeichen nicht mit dem Finger nachzufahren. Statt dessen löste er das Band seiner Hose.
 

Schelschér nickte. "Ich bitte damit die Göttin, unser Opfer wohlwollend anzunehmen."
 

Nefut hatte einen kurzen Moment zu kämpfen, um sich aus seiner Hose zu befreien, dann streckte er die Hand nach Schelschér aus. "Wollen wir der Göttin dann mit der gebotenen Ehrfurcht opfern?"
 

*
 

Nefut gab sich hin, ging ganz auf in der Vereinigung und erkannte die Göttin. Dann nahm er an, daß er Schelschér liebte.
 

* * *
 



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