Zum Inhalt der Seite

Bis dass der Tod uns findet

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die weiße Feder

„Wo ist er hin? Er war doch gerade noch da und jetzt …“

 

Die Stimme von Nathans Freund fiel hinter ihm zurück, während Ezra Stufe um Stufe dem Ausgang entgegenstrebte. An einem anderen Tag hätte er sich vielleicht über die verblüffte Reaktion amüsiert. Es warwirklich erstaunlich, wie leicht sich die menschlichen Sinne täuschen ließen. Vermutlich lag in dieser Tatsache auch die Legende begründet, dass Vampire kein Spiegelbild hätten, und einige andere Dinge. Aber heute lag kein Triumph darin, seine Fähigkeiten auf diese Weise zu nutzen. Heute kam er sich vor wie ein Dieb, der sich heimlich davon schlich, weil er nicht erwünscht war.

 

Kühle Nachtluft empfing ihn. Er schmeckte den Regen, die Gerüche der Straße, der Menschen und ganz besonders dieses einen, den er gerade noch bei sich gehabt hatte. Die Eindrücke wurden dichter, je näher er dem Auto kam. Eine stetig steigende Präsenz, die ihren Höhepunkt erreichte, als er zurück auf den Fahrersitz glitt. Überwältigt schloss er für einen Moment die Augen. Alles hier drinnen, die Luft, die Bezüge der Polster, ja selbst das weiche Leder unter seinen Fingern waren durchtränkt von diesem unvergleichlichen Gefühl. Es war, als könne er Nathan erneut neben sich spüren. Sein Lachen hören. Die feinen Schwingungen wahrnehmen, die von ihm ausgingen, wie Tropfen auf klarem Kristall.

 

Eine eigenwillige Mischung aus Anziehung und Instinkt ließ ihn tiefer einatmen. Dabei wusste er, was er tun sollte. Er musste hier weg. Schnell. Bevor noch jemand auf die Idee kam, ihm zu folgen. Und doch blieb Ezra sitzen. Er konzentrierte sich und lauschte. Auf all die feinen Geräusche, das Wispern des Windes, das Rauschen der Reifen auf regennasser Fahrbahn und die vielen, vielen Leben, die um ihn herum pulsierten und flackerten. Und da war er; da war Nathan. Ezra wusste es, bevor er sich ganz auf diesen gleichmäßigen Puls, das leise Atmen und diese wunderbare, immer leicht erstaunt klingende Stimme eingestellt hatte. Was er sagte, konnte Ezra nicht verstehen, aber das war auch nicht wichtig. Der Kontakt würde ohnehin gleich wieder abreißen. Doch für diesen einen flüchtigen, kostbaren Augenblick war es so, als stände er noch einmal vor ihm. Als könnte er ihn berühren. Ohne Angst, ohne Reue. Einfach nur bei ihm sein. Ganz nah.

 

Mit einem tiefen Atemzug kam Ezra wieder zurück. Die Nachwirkung der abklingenden Verbindung hallte immer noch in ihm nach. Schwindende Töne eines triumphalen Konzertakkords. Doch da war mehr. Unsichtbare Augen, die sich auf ihn legten von irgendwo weiter oben. Er musste nicht hinsehen um zu wissen, dass Nathan ihn gerade beobachtete. Er spürte es. Prickeln auf seiner Haut.

 

Ich sollte gehen.

 

Mechanisch griff er nach dem Zündschlüssel. Alles an ihm weigerte sich. Strebte zurück in die Nähe dessen, dem er sich nie hätte nähern dürfen.

 

Es war ein Fehler.
 

Was genau er damit meinte, wusste er nicht. Vermutlich schloss es alles mit ein, was Nathan betraf. Er hätte von Anfang an im Verborgenen bleiben sollen, statt sich ihm zu zeigen. Einfach abwarten, ob die Ghule auftauchten, und wenn nicht, wieder in den Schatten verschwinden. So wie er es immer getan hatte. Aber irgendetwas hatte ihn hervorgelockt. Hatte ihn angezogen wie die sprichwörtliche Motte das Licht.

 

Mit dem Unterschied, dass das Licht in der Regel für die Motte gefährlich ist und nicht umgekehrt.

 

Mit einer entschlossenen Bewegung startete er den Wagen. Er ließ das Fahrzeug rollen, als hätte er keine Eile, während er dem langsam schwindenden Echo von Nathans Herzschlag lauschte. Es wurde leiser und immer leiser, bis es schließlich im Rauschen der nächtlichen Großstadt verschwand. Erst dann und erst, als er um die Ecke gebogen war, gab Ezra mehr Gas und wandte seine Gedanken dem zu, was vor ihm lag.

 

 

Die Straße, in der Nathan wohnte, kam in Sichtweite. Der weiße Lieferwagen direkt vor der Haustür ließ Ezra wissen, dass der Aufräumtrupp bereits vor Ort war und sich darum kümmerte, die Wohnung wieder in ihren Ursprungszustand zu versetzen. Am Ende der Nacht würde niemand mehr wissen, dass hier etwas vorgefallen war. Selbst die Möbel würden bis dahin ersetzt, die Teppiche ausgetauscht und die Wände frisch gestrichen sein. Wenn sie fertig waren, würde wahrscheinlich nicht einmal mehr Nathan einen Unterschied erkennen.

 

Er wollte gerade wieder beschleunigen, als er etwas sah, das er nicht erwartet hatte. Ein auffälliger, cremefarbener Rolls Royce parkte mitten zwischen all den modernen Karosserien. Es hätte natürlich ein Zufall sein können, dass ausgerechnet hier so ein seltener Oldtimer zu finden war, aber nach der Entwicklung des heutigen Abends glaubte Ezra nicht recht daran. Zumal eine andere Erklärung sehr viel mehr Sinn ergab.

 

Aber was will er hier?

 

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, gab es wohl nur eine Möglichkeit. Mit einem Seufzen suchte Ezra nach einer Parklücke.

 

 

Schon von Weitem konnte er die Arbeiten der Handwerker hören. Es wurde geputzt, geschrubbt, geschraubt, gehämmert, gebohrt. Es war erstaunlich, dass keiner der Nachbarn sich über den Lärm beschwerte. Andererseits wusste er, wer bei dieser Sache die Finger im Spiel hatte, und so war es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass der Flur bis auf eine einzige Person leer war.

 
 

Darnelle stand am Ende des Ganges gegen eine Fensterbank gelehnt und las in einem Buch. Als Ezra näherkam, blickte er auf. Ein Lächeln entblößte seine Eckzähne.

 

„Ah! Sieh an, wen der Wind hereingetragen hat. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Du warst nicht erreichbar.“
 

Er hielt Ezras Handy hoch und wackelte vielsagend damit, bevor er es ihm ohne Vorwarnung zuwarf. Ezra fing es auf und steckte es ein, ohne auf das Display zu sehen.
 

„Was willst du hier?“, fragte er im vollen Bewusstsein, dass sein Ton unangemessen frostig war. Immerhin half Darnelle ihm hier gerade mächtig aus der Patsche. Sein Bruder lächelte.
 

„Das sagte ich doch bereits. Ich wollte mal nach dem Rechten sehen. Aber stell dir meine Überraschung vor, als ich hier ankam und niemanden vorfand. Dich nicht und auch sonst niemanden. Nur ein paar kopflose Ghule. Wie eigenartig.“
 

Darnelles Lächeln dauerte an, aber Ezra konnte die Spitzen darin erkennen. Gifttriefende Widerhaken, die nur darauf warteten, sich in sein Fleisch zu bohren. Aber warum? Was bezweckte sein Bruder damit?
 

„Ich kann dir nicht folgen?“, meinte er daher und wandte sich der Wohnung zu. Er war kaum zwei Schritte weit gekommen, als Darnelles Stimme ihn bereits wieder einfing.

 

„Nicht?“, fragte er in seinem Rücken und klang dabei, als wäre er ehrlich erstaunt. „Dabei hatte ich dich immer für den Intelligenteren von uns beidem gehalten. Ich rede natürlich von diesem Menschen. Wie hieß er doch gleich? Tom, Dick, Harry? Du hast es mir bestimmt gesagt, aber ich habe es wieder vergessen.“

 

Ezra schloss die Augen. Ihm war klar, dass er jeden Zentimeter, den er Darnelle nachgab, teuer bezahlen würde. Aber ihm nicht entgegenzukommen, würde noch mehr kosten. So war es schon immer gewesen zwischen ihnen und nicht nur deswegen hatte er sich so gut nie dazu durchringen können, Darnelle die Stirn zu bieten. Mit einem Seufzen drehte er sich wieder zu ihm herum.
 

„Sein Name ist Nathan.“
 

Sein Bruder kräuselte amüsiert die Lippen.
 

„Nathan, so so. Dann kennt ihr euch gut?“

„Wie kommst du darauf?“
 

Das Kräuseln wurde zu einem Grinsen.

 

„Nun, immerhin hat er dich, wie es scheint, hereingebeten. Und er lebt noch. Recht erstaunlich, wie ich finde, wenn man die Ereignisse des Abends bedenkt. Außerdem hast du einen nicht unerheblichen Umweg auf dich genommen, um ihm nach dieser Sache auf dem Friedhof noch einen Besuch abzustatten. Und das, obwohl ich auf dich gewartet habe. Mit einem Geschenk. Du erinnerst dich?“

 

Ezra schwieg. Darnelle zu sagen, warum er Nathan aufgesucht hatte, kam nicht in Frage. Aber irgendeine Erklärung musste er liefern. Die Maske blieb an ihrem Platz.
 

„Ich wollte nur sichergehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist.“

„Du meinst, ob sich der Köder noch in der Falle befindet.“

„Genau das.“

 

Ein leises Lachen drang aus Darnelles Mund. Ezra spürte seine Blicke wie Nadelstiche.
 

„Wenn er nicht so stümperhaft wäre, würde mich dein Versuch, diesen Menschen in Schutz zu nehmen, ja fast amüsieren. Aber ich bin neugierig. Was hat dich dazu veranlasst, dir ausgerechnet ihn auszusuchen. Wo du doch jeden haben könntest. Jede dieser Maden müsste sich deinem Befehl beugen und dir zu Willen sein. Tun, was immer du verlangst. Warum also ausgerechnet dieser hier?“

 

Ezra presste die Kiefer aufeinander. Er wollte seinem Bruder entgegenschleudern, dass das hier etwas anderes war. Dass er Nathan nicht beeinflusst hatte. Dass es dessen freie Entscheidung gewesen war, zu Ezra zu kommen und sich ihm zu öffnen. Wenigstens ein Stück weit. Dass ihn diese Tatsache gleichzeitig faszinierte und beunruhigte. Dass er zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie Unsicherheit spürte. Oder überhaupt etwas. Seit damals. Seit er sein Herz verschlossen hatte. Dass Nathan etwas in ihm ansprach, das er für tot gehalten hatte.

 

Dafür gab es keine Erklärung. Nichts, was er in Worte hätte fassen können. Es war einfach da und Ezra erzitterte in Ehrfurcht, wenn er daran dachte. Gleichzeitig lähmte ihn die Angst, das, was immer es war, mit dem nächsten unbedachten Atemzug wieder zum Erlöschen zu bringen. Er kam sich dumm vor. Plump. Ungenügend. Und trotzdem wollte er sich nie wieder anders fühlen.

 

Noch einmal stieg die Erinnerung in ihm hoch. Dieses Gefühl, das er hatte, wenn Nathan in seiner Nähe war. Es war wie … nach Hause kommen. Aber er durfte sich diesem Gefühl jetzt nicht hingeben. Er musste sich konzentrieren. Besonders angesichts der Unkontrollierbarkeit der Situation. Also wischte Ezra all das Weiche und Schöne beiseite und hob den Kopf hoch in die Luft. Ein schmales Lächeln zierte seine Lippen.
 

„Deine Begeisterung für Klatsch und Tratsch in allen Ehren, aber sollte dich nicht viel mehr interessieren, was ich über die Ghule herausgefunden habe?“

 

Darnelles Mundwinkel zuckten. Ezra wich seinem Blick nicht aus. Er musste sich behaupten, wenn er nicht lahm und blutend aus dieser Begegnung hervorgehen wollte.

 

Das amüsierte Zucken wurde zu einem Lächeln.
 

„Na schön, mein Lieber“, meinte sein Bruder jovial und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. „Dann erhelle mich. Was hast du entdeckt?“
 

Ezra trat einen Schritt näher. Seine Augen fixierten Darnelle genau.

 

„Der dritte Ghul – die Ghula, die entkommen ist – war ein Donor. Ich habe das Zeichen an ihrem Handgelenk gesehen. Eine Markierung vom 'Darkroom'. Das heißt, derjenige, der hinter all dem steckt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit einer deiner Kunden.“

 

Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Die Luft schien sich aufzuladen, doch dieses Mal war es Darnelle, der unter Strom stand. Der Schwanz der Raubkatze zuckte.
 

„Bist du dir sicher?“, fragte er mit einem eigenartigen Unterton. „Immerhin ist sie geflohen. Es könnte auch …“

 

„Es besteht kein Zweifel.“

 

Ein Starren. Stummes Duell. Darnelles Miene war aus Stein, aber Ezra wich nicht zurück. Schließlich lachte sein Bruder, sein Körper entspannte sich.
 

„Ha, jetzt hätte ich dir fast geglaubt. Ja wirklich. Mit der Nummer solltest du auftreten. Die ist gut.“
 

Er betrachtete Ezra mit einem wohlgefälligen Grinsen. Alles an ihm wirkte vollkommen gelassen. Erza konnte es nicht glauben.
 

„Das ist kein Scherz“, bekräftigte er. „Sie muss dort gewesen sein.“

 

„Oh, sicher.“

 

Noch immer nahm Darnelle ihn nicht ernst. Ezra richtete sich auf.
 

„Wenn sie dort war, muss es Aufnahmen von ihr geben. Und Zeugen. Mit wem sie sprach, wen sie traf, wer von ihr getrunken hat. Möglicherweise finden wir dort einen Hinweis auf die Identität ihres Meisters. Er könnte sie im Club kennengelernt haben.“

 

Darnelle sah immer noch amüsiert aus. Er lächelte.

 

„Das ist unwahrscheinlich.“

„Woher willst du das wissen?“

 

Darnelle seufzte, als hätte Ezra gerade etwas sehr Dummes gesagt.
 

„Weil ich in dem Fall davon wüsste. Und ich wüsste auch, wenn einer meiner Donoren verschwunden wäre. Immerhin passe ich gut darauf auf, dass sie keine Dummheiten machen. Immerhin steht auch mein guter Ruf auf dem Spiel, wenn ich auf einmal verseuchte oder minderwertige Ware anbieten würde.“

 

Ezra musterte seinen Bruder.

 

„Ich will die Aufnahmen sehen“, sagte er. Darnelle legte den Kopf schief.
 

„Nein.“

 

Das Wort zuckte wie ein Peitschenhieb durch den Raum. Ezra atmete tief ein.
 

„Was soll das heißen?“, fragte er mühsam beherrscht. Darnelle schmunzelte.
 

„Das heißt, dass du die Videos nicht sehen kannst.“

„Und warum nicht?“

„Weil sie gelöscht wurden.“
 

Ezra glaubte, sich verhört zu haben. Seine Augen wurden größer.

 

„Was? Warum? Wann?“

 

Darnelle entblößte einen seiner Eckzähne. Er griff in seine Hosentasche, zog ein Handy heraus, klappte es auf und wählte ohne hinzusehen. Den Blick immer noch auf Ezra gerichtet sprach er mit dem unsichtbaren Rezeptor am anderen Ende der Leitung.
 

„Ich bin es. Sei doch so gut und lösch all unsere Überwachungsvideos. Ja? Ich danke dir. Bye.“

 

Er legte auf und verzog die Lippen zu einem süffisanten Grinsen.
 

„Ups.“

 

Ezra erstarrte. In seinem Inneren tobte ein Sturm. Der Wunsch, sich auf Darnelle zu stürzen und ihn durch die nächste Wand zu prügeln. Ihn für diese unglaubliche Frechheit bezahlen zu lassen. Ihn leiden zu sehen. Doch er tat nichts von alldem. Er stand nur da und sah seinen Bruder mit unbewegtem Gesicht an.
 

„Was sollte das?“
 

Darnelle hob eine seiner rotblonden Augenbrauen.
 

„Was meinst du?“

 

Ein Grollen stieg Ezras Kehle empor. Immer noch versuchte er den Impuls, seinem Bruder die Kehle rauszureißen, unter Kontrolle zu bekommen. Seine Hand ballte sich zur Faust. Für einen Moment glitten Darnelles Augen in die Richtung der Gefahr, dann breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
 

„Ach du meinst, warum ich dir nicht einfach so Zugang zu vertraulichen Informationen gebe? Weil sie eben genau das sind. Vertrauliche Informationen. Mein Geschäft lebt von der Anonymität. Wenn ich dich jetzt einfach dort herumschnüffeln lassen würde, würden mir womöglich scharenweise die Kunden weglaufen. Und du weißt, was das bedeutet.“
 

Ezra knurrte.
 

„Natürlich weiß ich das. Es würde bedeuten, dass sich so einige deiner noblen Gäste vor dem Rat verantworten müssten. Aber deswegen können wir denjenigen, der die Ghule erschafft, doch nicht ungestraft davonkommen lassen. Er bedroht unsere Sicherheit.“

 

Darnelle schnaubte belustigt.
 

„Ach, ist das so? Oder bedroht er lediglich unsere Gefangenschaft. Den Zwang, sich im Dunkeln verstecken zu müssen. Zu verheimlichen, was wir sind. Wer wir sind.“

 

Darnelles Stimme wurde leiser. Ein Flüstern, das Ezras Nervenenden zum Vibrieren brachte. Schlangenhaut auf trockenem Sand. Er wisperte.
 

„Stell es dir vor, Bruder. Eine Welt, in der wir das Sagen haben. In der niemand uns beschränkt, vielleicht nicht einmal mehr die Sonne. In der wir alles haben können, was wir wollen. Tun können, was wir wollen. Lieben können, wen wir wollen. Würde dir so eine Welt nicht gefallen?“
 

Ezra fühlte ein Zittern durch seinen Körper laufen. Er wusste, worauf Darnelle anspielte. Aber er würde der Versuchung nicht nachgeben. Niemals.
 

„Damit kommst du nicht durch.“

 

Seine Worte waren fest, als wäre er von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt. Darnelle lachte leicht.
 

„Ach nein?“, fragte er lächelnd. „Dann verrate mir, wer mich aufhalten sollte.“
 

„Ich“, stieß Ezra hervor. „Ich werde das nicht zulassen. Ich gehe zu Aemilius und …“

 

„Aemilius“, unterbrach Darnelle ihn sofort, „sollte besser nichts von dieser Unterredung erfahren. Andernfalls würde es ihn sicher interessieren, dass dein kleiner Freund immer noch am Leben ist. Entgegen seiner Anweisung, wenn ich mich recht erinnere. Du willst doch nicht riskieren, dass er sich der Sache selbst annimmt, oder?“

 

Ezra starrte seinen Bruder an. Unfähig sich zu bewegen oder irgendwie anders zu reagieren, sah er zu, wie Darnelle sich erhob und langsam auf ihn zukam. Kurz vor ihm blieb er stehen. In seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz.
 

„Glaub mir, Bruder. Es liegt nicht in meiner Absicht, dir Schaden zuzufügen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das du glücklich wirst. Etwas, dass du dir im Moment aus mir unerfindlichen Gründen versagst. Du suchst etwas, aber du findest es nicht. Nicht in unserer Welt. Aber der Zugang zu ihrer Welt ist dir versperrt. Lass uns diese Grenzen gemeinsam einreißen. Damit wir endlich frei sein können.“
 

Die Frage, was für Darnelle dabei heraussprang, lag Ezra auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Stattdessen griff er nach dem Buch, das sein Bruder ihm entgegenhielt.
 

„Hier“, sagte Darnelle und sah ihm dabei tief in die Augen. „Nimm es an dich. Ich habe es mir von diesem … Nathan, richtig? … ausgeliehen. Ich bin sicher, er möchte es gern zurückhaben.“

 

Mit einem letzten Lächeln und einer flüchtigen Berührung, die fast schon zärtlich wirkte, ließ Darnelle ihn stehen und ging, leise summend, den Gang hinunter. Ezra sah ihm nach, bis er im Lift verschwunden war. Danach blickte er auf das Buch in seinen Händen hinab. Es hatte einen abgegriffenen Einband aus rotem Leinen. Goldene, verschnörkelte Buchstaben auf der Vorderseite verrieten ihm, dass es sich um eine Sammlung von Gedichten handelte. Als er es aufschlug, fiel etwas zwischen den Seiten hervor. Eine weiße Feder. Ezra erstarrte.

 

Die weiße Feder, ein Symbol der Feigheit, überreicht all jenen, die sich weigern, sich in den Dienst von Krone und Vaterland zu stellen. Es soll sie kennzeichnen als das, was sie sind.

 

Er erinnerte sich an einen seiner Kameraden, der angegeben hatte, eine solche Feder von seiner Freundin erhalten zu haben. Um sich ihr zu beweisen, war er der Armee beigetreten. Sie hatten sich niemals wiedergesehen.

 

Langsam bückte Ezra sich nach der Feder, hob sie auf und drehte sie zwischen seinen Fingern. War es jetzt an ihm, eine Seite zu wählen? Sich in die Schlacht zu stürzen, um nicht als feige zu gelten?

 

Immer noch in Gedanken schlug er die Seite in dem Buch auf, in der die Feder gelegen hatte. Es war ein Gedicht von Sara Teasdale. Er kannte es. Elisabeth hatte es ihm ein vorgetragen und gesagt, dass es sie tief berührte. Danach hatte sie ihn angesehen. Lange angesehen und er hatte ihre Hand genommen und sie geküsst.

 

I am not yours not lost in you,

not lost, although I long to be

Lost as a candle lit at noon,

Lost as a snowflake in the sea.

 

Er las die Worte und es war, als würde er noch einmal ihre Stimme hören. Es war verrückt und gleichzeitig schob sich ein anderes, ein neues Gesicht in seine Gedanken. Es war jünger, männlicher, mit wirren, dunklen Haaren und frechen, grünen Augen. Ein schmaler Mund, der niemals stillzustehen schien und ab und an dieses spitzbübische, jungenhafte Lächeln zeigte, das Ezra so sehr mochte. Es erinnerte ihn an unbeschwerte Sommer und Dinge, die noch weiter zurücklagen als der Schmerz.

 

Du bist verrückt.

 

Selbst wenn da etwas zwischen ihnen war, und selbst wenn Nathan dieses Etwas vielleicht erwiderte, war der Zeitpunkt doch denkbar ungünstig. Da waren diese Ghule, die es ganz offensichtlich darauf abgesehen hatten, Nathan zu töten. Andernfalls hätte wohl eine Falle auf dem Friedhof – Ezra war sich inzwischen sicher, dass die Nachricht an ihn fingiert worden war – sehr viel eher zum Erfolg geführt. Mit dem Moment der Überraschung auf seiner Seite, war es ihm zwar nicht schwergefallen, die Ghule auszuschalten, aber unter anderen Voraussetzungen hätte die Sache durchaus anders ausgehen können. Aber das war nicht geschehen. Stattdessen hatten sie ihn nur aus dem Weg geschafft, um an Nathan heranzukommen. Außerdem hatte die Ghula sich ihm nicht gestellt, sondern sofort die Flucht ergriffen, als er sich ihr genähert hatte. All das sprach dafür, dass er nicht das Ziel des Angriffs gewesen war. Die alles entscheidende Frage war jedoch, warum das so war und wer dahintersteckte. Und wie derjenige es geschafft hatte, Ezra so einfach auf die falsche Fährte zu locken.

 

Die Assoziationen, die ihm dazu kamen, gefielen ihm nicht. Darnelle hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er der Meinung war, dass die Vampirgesellschaft eine Modernisierung benötigte. Zwar widersprach er Aemilius noch nicht öffentlich, aber Ezra wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht mehr allzu weit davon entfernt war. Trotzdem hätte Ezra nie gedacht, dass er so weit gehen würde, den Unbekannten aktiv zu unterstützen, selbst wenn sich ihre Ziele ähneln mochten. Ein Irrtum, wie er jetzt erkannte. Aber warum?

 

Weiß er vielleicht, wer hinter all dem steckt. Oder hat er selbst …?

 

Ezra schüttelte den Kopf. Die Vorstellung war ungeheuerlich. Darnelle war ein Rebell. Das Enfant terrible dieser Stadt und dabei so charmant und geschickt, dass ihn nie irgendjemand ernsthaft anging. Weil er wusste, was die Leute wollten. Und weil er es ihnen beschaffte. Auch unter der Hand und selbst dann, wenn es die Gesetze eigentlich nicht erlaubten. Bisher war Ezra davon ausgegangen, dass die Obrigen davon mehr oder weniger wussten und ihn gewähren ließen, weil er harmlos war. Aber was, wenn sie sich alle getäuscht hatten? Was, wenn Darnelle derjenige war, der die Stadt ins Chaos stürzen wollte?

 

Nein, das glaube ich nicht. Darnelle würde mir das niemals antun. Es muss noch jemanden geben, der die Fäden in der Hand hält. Aber wer? Und wie spüre ich ihn auf?

 

Ihm war klar, dass sein Bruder ihm gerade Hand- und Fußfesseln angelegt hatte. Wenn er weiter in die Richtung der Clubs ermittelte, würde er Nathan in Gefahr bringen. Darnelle hatte nicht geblufft, als er angedroht hatte, ihn ans Messer zu liefern. Aber wenn er sich an Aemilius oder einen der anderen Ratsmitglieder wandte, würde er diesen Prozess nur noch beschleunigen. Natürlich blieb immer noch die Möglichkeit, Nathan zu opfern. Zu riskieren, dass er und einige weitere Menschen aus seinem Umfeld ausgelöscht wurden, damit die dunkle Gesellschaft weiter unbehelligt existieren konnte.

 

Oder ich schließe mich Darnelle an.
 

Diese Möglichkeit war jedoch ebenfalls nicht ohne Risiko, denn Darnelle hatte deutlich gemacht, dass er vorhatte, aus den Schatten zu treten. Was, wenn er sich verschätzt hatte. Wenn ihnen die Menschen doch überlegen waren. Mit Sicherheit würde dieser Weg Opfer erfordern, es würde Krieg geben. Rebellion. Einen Umsturz des Machtgefüges. Vielleicht sogar weltweit. Aber wenn Ezra Glück hatte und es klug anstellte, konnte er sich und diejenigen, die ihm wichtig waren, vielleicht retten.
 

Noch einmal sah er auf das Buch hinab. Die Gedichtzeilen, die von so viel unerfüllter Sehnsucht sprachen.

 

Was hätte sie getan?

 

Ezra kannte die Antwort. Ihm war klar, welche Seite Elisabeth gewählt hätte, doch er war sich nicht sicher, ob er das auch konnte.

 

Ich muss nachdenken.
 

An einem Ort, weit weg von hier. Einem Ort, den er lange nicht besucht hatte. Er wusste nicht, ob es klug war, dorthin zurückzukehren, aber er wusste, dass es derjenige war, an den sein Herz ihn zog.

 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  TaniTardis
2022-05-24T04:16:25+00:00 24.05.2022 06:16
Sehr interessant und spannend, ich glaube Darnelle plant was sehr großes...und Ezra muß sich nun entscheiden welchen Weg er gehen will. Es wird nicht einfach für den Armen vor allem wenn es noch um Nathans leben geht und seine Gefühle für ihn die langsam zum Vorschein kommen. Bin sehr gespannt auf weiter...glg
Antwort von:  Maginisha
24.05.2022 14:58
Hey TaniTardis!

Es deutet tatsächlich einiges darauf hin, dass Darnelle mehr weiß, als er zugibt. Und die Entscheidung, wie es jetzt weitergehen soll, beneidet Ezra wohl niemand. Mal sehen, wie es weitergeht.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2022-05-23T08:03:13+00:00 23.05.2022 10:03
Na, da hat mich mein Gefühl bezüglich Darnelle wohl nicht getrogen. Ezras Gefühle für Nathan scheinen auf alle Fälle schnell immer stärker zu werden. Die Entscheidung, die der Arme vor sich hat, ist wirklich schwer. Er tut mir da schon etwas leid ... Es gibt in diesem Fall wohl keine 'richtige' oder 'falsche' Entscheidung ... ich bin gespannt was er tun wird. Und wann er und Nathan sich wiedersehen werden.
Antwort von:  Maginisha
23.05.2022 15:13
HEy chaos-kao!

Darnelle schien ja tatsächlich schon von Anfang an nicht so ganz koscher zu sein. Und jetzt das. Unnett würde ich sagen. Ebenso wie die Entscheidung, die vor ihm steht. Aber wie soll man das entscheiden? Wir werden sehen ...

Aber da die Geschichte noch nicht zu Ende ist und Ezra ja versprochen hat, nochmal vorbeizukommen, wird es da mit Sicherheit nochmal ein Wiedersehen geben. Oder nicht? ;D

Grinsende Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2022-05-22T14:00:42+00:00 22.05.2022 16:00
Hey Mag,

Ich mag Ezra <3
Er scheint wirklich etwas für unseren Nathan zu empfinden und endlich aus seinem Gefühlsschlaf zu erwachen.
Darnelle ist eine linke Bazille. Den mochte ich von Anfang an nicht. Bin gespannt welche Entscheidungen getroffen werden.

Deine FF scheint richtig politisch und voller Intrigen zu werden. I love it. xDD

Wo geht Ezra nun hin? Ein wichtiger Ort aus seiner Vergangenheit, vielleicht sein Geburtsort oder an das Grab von Elisabeth?

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
23.05.2022 15:10
Hey Ryosae!

Mit der Antipathie für Darnelle stehst du nicht alleine. :D Aber jetzt hat er Ezra erst einmal in eine schwere Bredouille gebracht. Wie er sich wohl entscheiden wird?

Zu deiner Frage mal eine spoilerreiche Antwort: Ja. :D

Zauberhafte Grüße
Mag


Zurück