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Bis dass der Tod uns findet

von

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Die bessere Wahl

Nathan war zu spät. Davon zeugten nicht nur die ungefähr 27 Nachrichten, die er von Marvin bekommen hatte, sondern auch der Zeiger der Bahnhofsuhr, der sich mit jeder Sekunde weiter nach vorne schob. Er hätte längst da sein sollen. Bestimmt eine Stunde schon. Aber er hatte gezögert. Zu lange gezögert.
 

Als die Bahn endlich kam, atmete Nathan auf. Er stieg ein, ließ sich auf einen der Sitze fallen und beobachtete die Türen, die sich mit einem Zischen wieder schlossen. Vor dem Fenster setzte sich die Landschaft in Bewegung. Nathan schloss die Augen.
 

Es ist besser so, sagte er sich bereits zum hundertsten Mal an diesem Tag. Einem Tag, den er mit Arbeiten verbracht hatte. Vollgestopft mit dem Gestalten von Buchseiten, dem Überarbeiten eines gesamten Rezepts. Mit dem Schießen neuer Fotos und dem Versuch, das Konzept noch einmal völlig zu ändern, bis ihm aufgefallen war, dass ihm dazu schlicht die Zeit fehlte. Anschließend hatte er sich dem Schreiben eines Vorworts gewidmet, das sich nicht anhörte, als wäre es von einem Fünftklässler verfasst worden. All das hatte er getan, um dadurch in seinem Kopf keinen Platz mehr für Zweifel zu lassen. Für Was-wäre-Wenns. Und trotzdem hatte er sich mit Beginn der Dämmerung immer wieder dabei erwischt, wie er zum Fenster blickte. Wie er innehielt um zu lauschen, ob sich auf dem Dach etwas tat. Wie er gewartet hatte, dass Ezra auftauchte, um ihn davon abzuhalten, zu diesem Date zu gehen. Aber es war nichts passiert. Er war nicht gekommen.
 

Das mit ihm ist ohnehin nicht mehr als eine fixe Idee. Eine Ausrede. Damit du dich nicht mit anderen Männern beschäftigen muss. Mit der Möglichkeit, wieder jemand in dein Leben zu lassen. Ihn zu wählen ist feige.
 

Nathan wusste, dass es stimmte. Trotzdem war da dieses Gefühl, zurückblicken zu müssen. Nachzusehen, ob nicht doch …
 

Nein. Du hörst jetzt damit auf und konzentrierst dich auf das, was vor dir liegt.
 

Das Restaurant, in dem sie verabredet waren, lag direkt in der Innenstadt. Eine gute Ecke. Edel. Teuer. Nathan ahnte es bereits, als er die Eingangstür durchschritt. Das ganze Ambiente wollte bezahlt werden. Als er jedoch den Gastraum betrat, vergaß er, was er hatte sagen wollen. Oder denken. Er staunte.
 

Über den Köpfen der Gäste schwebte ein Meer von Lichtern. Unzählige, warm schimmernde Glühbirnen hingen an langen, goldbraun umwirkten Leitungen direkt von der Decke. Es war, als habe man eine Horde Glühwürmchen auf den Raum losgelassen. Gut strukturierte Glühwürmchen, wie Nathan auf den zweiten Blick bemerkte, denn die Lampen waren in festen Dreierreihen angeordnet. Ihr Schein traf auf grob gemauerte Säulen, hölzerne Böden, genietete Decken und große, mit Leder bespannte Rahmen, die überlappend wie Fischschuppen die prominenteste Wand gegenüber der Bar bedeckten. Nathan wusste, dass er sich bei diesem Anblick hätte unwohl fühlen müssen, doch es war unmöglich. Alles in diesem Raum war warm und anheimelnd mit einem Hauch Eleganz, ein bisschen Rustikalität und einer guten Portion urbanen Chics, der ihn sogleich gefangen nahm. Es gefiel ihm hier. Es gefiel ihm außerordentlich.
 

„Darf ich Sie zum Tisch begleiten?“
 

Die junge Bedienung mit der weißen Bluse und der enganliegenden, schwarzen Weste lächelte ihn an. Ihren Namen hatte Nathan bereits wieder vergessen. Irgendwas mit S. Sandra? Simone? Susan? Nathan wusste es nicht. Immer noch vollkommen gebannt folgte er einfach ihrem wippenden Pferdeschwanz, der ihn zu einem Tisch am anderen Ende des Raumes führte. Kaum, dass sie in Sichtweite waren, sprang einer der dort Sitzenden auf.
 

„Nathan!“
 

Bevor Nathan wusste, wie ihm geschah, wurde er bereits in eine Umarmung gezogen. Eine Wolke von Eau de Toilette hüllte ihn ein. Es war viel, aber nicht unangenehm. Nur etwas benebelnd. Gleich darauf ließ Jomar ihn wieder los.
 

„Wie schön, dass du kommen konntest.“
 

Seine Augen leuchteten.
 

„Ich hab doch gesagt, dass er kommt.“
 

Marvin thronte zufrieden grinsend vor einem Teller mit Shrimps und anderem Meeresgetier. Neben ihm in der Ecke saß Felipe, der sich mit der Serviette den Mund abwischte, bevor er sich erhob und Nathan die Hand hinstreckte.
 

„Schön, dass du da bist“, sagte auch er und Nathan wurde bewusst, wie groß Felipe tatsächlich war. Beeindruckend und auch ein wenig einschüchternd. Seine Hand war riesig und drohte Nathans fast zu zerquetschen.
 

Ob er wohl überall so ausgestattet ist, schoss es Nathan durch den Kopf und er musste sich sehr beherrschen, den Blick nicht tiefer gleiten zu lassen.
 

„Soll ich dir deinen Mantel abnehmen?“
 

Jomar machte Anstalten, Nathan beim Ausziehen zu helfen. Eilig wollte er sich zurückziehen, aber Jomar ließ nicht locker.
 

„Keine Sorge, ich mache das. Setz dich doch.“
 

Jomar strahlte ihn an. Er wirkte aufmerksam. Hilfsbereit. Freundlich.
 

Lass dich darauf ein.
 

„Na gut. Hier, bitte.“
 

Nathan schlüpfte aus dem Mantel und hielt ihn Jomar hin. Der nahm das Kleidungsstück entgegen und eilte damit in Richtung Garderobe, die Nathan noch gar nicht bemerkt hatte. Es gab hier so viel zu entdecken.
 

„Komm, steh nicht rum. Setz dich“, erinnerte Marvin ihn. Mit einem leicht verlegenen Lächeln nahm Nathan Platz.
 

„Das Restaurant ist toll“, sagte er mit einem bewundernden Blick auf die vielen Details. Marvins Grinsen wurde breiter.
 

„Jomar hat es ausgesucht. Er hat wohl gehofft, dass es dir gefallen würde.“
 

Das Funkeln in Marvins Augen und der wissende Ausdruck in Felipes Gesicht, den sein Bart nicht im Mindesten kaschierte, ließen Nathan wissen, was gespielt wurde. Er sollte ganz offensichtlich verkuppelt werden.
 

Sie meinen es gut und Jomar ist … nett, versuchte er sich zu sagen und so seine aufkommende Panik niederzukämpfen. Es ist nur ein Essen. Und Kino. Kein Grund, kalte Füße zu kriegen.
 

Jomar kam zurück an den Tisch. Er lächelte spitzbübisch.
 

„Und? Wie heißt der Glückliche, der dich so lange aufgehalten hat?“
 

Für einen Augenblick glaubte Nathan sich ertappt. Hatte Marvin den anderen etwas von Ezra erzählt? Und wenn ja, wie viel? Das schlechte Gewissen wollte ihn überfallen wie ein wütender Tiger.
 

Doch dann verstand er, dass es ein Scherz gewesen war. Ein unschuldiger Witz. Marvin hatte dichtgehalten. Nathans Geheimnis war sicher.
 

„Sein Name ist Robert“, erwiderte er bemüht fröhlich und versuchte sämtliche Gedanken an seinen nächtlichen Besucher beiseite zu drängen. „Er erwartet doch tatsächlich, dass ich auch am Wochenende arbeite. Ein echter Sklaventreiber, aber was soll ich machen? Er ist nun mal mein Boss-Boss.“
 

Erlöstes Lachen erfüllte die Luft. Nathan atmete innerlich auf. Er wusste nicht, ob Jomar die Frage absichtlich zweideutig gestellt hatte, um herauszufinden, ob es da noch jemanden in seinem Leben gab. Diesbezüglich hatte Marvin ihn doch sicher bereits aufgeklärt. Oder hatte er sich da ebenfalls in Schweigen gehüllt? Es sah Marvin nicht ähnlich, aber andererseits wusste er vermutlich, dass es Nathan unangenehm war, wenn er hinter seinem Rücken zu viel über ihn tratschte. Nicht, dass ihn das nach einigen Margaritas noch aufgehalten hätte, aber jetzt, zu diesem Zeitpunkt, war Marvin dazu viel zu nüchtern.
 

Genau wie ich.
 

Plötzlich wünschte Nathan sich, dass er pünktlich gewesen wäre. Schon allein, um den einleitenden Drink intus zu haben. Ein wenig Alkohol würde die Sache definitiv leichter machen.
 

Susan – Nathan war sich inzwischen sicher, dass das ihr Name war – kam zurück an den Tisch. In der Hand hielt sie eine ledergebundene Speisekarte. Lächelnd reichte sie sie Nathan.
 

„Haben Sie schon einen Getränkewunsch?“
 

Bevor Nathan antworten konnte, mischte sich Marvin ein.
 

„Du solltest den Bee Sting probieren. Ingwer und Honig. Genau das Richtige bei diesem Wetter.“
 

Nathan stockte. Er war sich sicher, dass Marvin es nicht wissen konnte, aber er aß keinen Honig. Nur wollte er das nicht so direkt sagen.
 

„Für mich nur ein Ginger Ale, danke sehr“, meinte er daher lächelnd. „Vielleicht komme ich später noch auf das Angebot zurück.“
 

„Sehr gern“, antwortete Susan und verschwand, um das Gewünschte zu holen. Nathan rettete sich, indem er die Karte aufschlug und vorgab, sie zu studieren. Die anderen am Tisch griffen wieder nach ihrem Besteck. Zu Marvins Shrimps gesellten sich ein ziemlich großes Steak auf Felipes Teller sowie etwas, das Nathan als Entenbrust in Thymian-Soße identifizierte. Das Restaurant musste definitiv gut sein. Und teuer, so wie er gedacht hatte. Die Preise hinter den Gerichten ließen ihn ein wenig mit den Ohren schlackern. Zudem war die Auswahl an Dingen, die neben Gemüse nicht noch Butter oder Käse oder beides enthielten, sehr begrenzt. Zum Glück erspähte er eine Pilzpfanne, die frei von solchen Dingen zu sein schien. Es sei denn natürlich, sie wurde ebenfalls in Butter gebraten. Er seufzte innerlich.
 

Du wirst komisch wirken. Und lächerlich. Und es wird wieder eine vollkommen unnötige Diskussion über Essgewohnheiten geben. So wie jedes Mal.
 

Susan kam mit seinem Getränk zurück. Die anderen hatten ihr Gespräch wieder aufgenommen. Nathan hörte nur mit halben Ohr zu. Er suchte nach einer Möglichkeit, Susan unauffällig zu fragen, ob die Pilzpfanne tierische Produkte enthielt. Als sie ihren Block zückte, um seine Bestellung aufzunehmen, beugte er sich ein wenig zu ihr herüber.
 

„Ich wüsste gerne, ob … also ob die Pilze in Pflanzenfett gebraten werden.“
 

Er warf ihr einen beschwörenden Blick zu. Sie lächelte.
 

„Wir bereiten das Gericht gerne vegan zu. Kein Problem. Wobei ich persönlich das Maitake-Risotto empfehlen würde. Die Tagliatelle mit Steinpilzen sind ebenfalls sehr lecker. All das gibt es selbstverständlich auch milchproduktfrei.“
 

Nathan hätte beinahe gelacht. Dass es so einfach sein würde, hatte er nicht gedacht.
 

„Dann die Tagliatelle, bitte.“

„Sehr wohl.“
 

Nathans Erleichterung musste ihm anzusehen gewesen sein. Als Susan gegangen war, um seine Bestellung weiterzugeben, trafen ihn interessierte Blicke. Er straffte sich innerlich.
 

„Ich esse kein Fleisch“, sagte er so selbstbewusst, wie es ihm möglich war. „Aber lasst euch davon nicht aufhalten. Es ist ganz allein meine persönliche Entscheidung.“
 

Innerlich betete Nathan, dass das Gespräch jetzt nicht ausartete. Dass keine Diskussion entstand, keine Nachfragen kamen. Kein „Aber warum das denn nicht?“ oder ein abfälliges „Bist du etwa Veganer?“ oder irgendwelche Anspielungen auf schwindende Manneskraft aufgrund von Proteinmangel und andere krude Theorien. Er war sich nicht sicher, ob er sich dann mit einer Gegendarstellung würde zurückhalten können. Zum Glück rettete ihn Susan, indem sie auftauchte und etwas vor ihm abstellte, das wie eine Mokkatasse ohne Henkel aussah. Darin befand sich eine dickliche, rote Flüssigkeit mit einem Spritzer Balsamico.
 

„Gazpacho“, erklärte sie. „Ein kleiner Gruß aus der Küche. Ich bringe gleich frisches Brot, wenn es aus dem Ofen kommt. Dauert nur noch einen Augenblick.“
 

Damit schwebte sie weiter und ließ Nathan mit seiner Suppe zurück. Er verschob das Gesicht zu einem Lächeln.
 

„Tja, dann hätten wir das wohl geklärt“, verkündete er in möglichst lockerem Ton, griff nach der Schale und probierte. Die Suppe war unglaublich gut abgeschmeckt und hatte einen Hauch Schärfe sowie eine ausgeglichene Säure. Der Koch wusste definitiv, was er tat.
 

„Die ist lecker, oder?“
 

Jomars dunkler Blick taxierte Nathan fragend. Nathan konnte das nur notdürftig verborgene Feuer darin sehen. Die Leidenschaft. Das sonnige Gemüt, das ihm Wärme versprach. Geborgenheit. Ganz anders als diese dunklen, blauen Seen, deren Kälte ihn frösteln ließ und die bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen.
 

Ich muss aufhören an ihn zu denken.
 

„Sie ist fantastisch“, sagte er daher schnell und nahm gleich noch einen Schluck aus der kleinen Tasse. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie so gut ist, wäre ich früher gekommen, um einen ganzen Teller zu essen.
 

Die Falten auf Jomars Stirn verschwanden. Er lächelte leicht.
 

„Ich hätte mich auch gefreut, wenn du früher gekommen wärst, aber Arbeit geht nun einmal vor.“
 

Nathan sagte nichts, doch ihm war klar, dass er Jomar schon wieder vor den Kopf gestoßen hatte. Genau wie beim letzten Mal.
 

Das hat er nicht verdient.
 

„Es tut mir wirklich leid, dass ich so spät war. Ein Kochbuch zu schreiben ist schwieriger, als man annehmen sollte.“
 

Für einen Augenblick wurde die Stille am Tisch fast greifbar. Nicht einmal das Besteckklappern und die Gespräche, die von den anderen Tischen zu ihnen herüberdrangen, konnten daran etwas ändern.
 

„Ein Kochbuch?“, fragte Felipe. „Marvin sagte, du wärst Autor.“
 

Nathan lachte ein wenig nervös.
 

„Nun ja, das bin ich ja auch. Oder ich versuche, es zu werden. Nur halt nicht für Romane, sondern für Kochbücher.“
 

Felipe blinzelte. Offenbar war ihm noch nie die Idee gekommen, dass es auch Leute geben musste, die solche Bücher schrieben. Er wälzte den Gedanken sichtbar ein paar Mal in seinem Kopf hin und her, bis er entschied, dass es in Ordnung war.
 

„Tja, irgendwer muss den Job ja machen, sag ich immer.“
 

Er lachte dröhnend und die anderen fielen mit ein. Susan brachte einen kleinen Holzkasten, in dem zwei duftende, fluffige Brötchen und eine Scheibe dunkleres Krustenbrot lagen. Nathan nahm sich eines der Brötchen. Es war tatsächlich noch warm.
 

„Wo wir gerade bei Arbeit sind“, sagte er und schob sich einen Bissen in den Mund. „Was macht ihr beide eigentlich beruflich. Marvin hat noch gar nichts erzählt.“
 

Felipe, der inzwischen seinen Steak den Garaus gemacht hatte, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Die rötliche Flüssigkeit mit der Limettenscheibe deutete auf irgendein Mischgetränk hin.
 

„Ich bin Rettungswagenfahrer“, erklärte er. „Soll heißen, ich darf in dieser Stadt überall parken, wo ich nur will.“
 

Wieder lachten alle über den Scherz.
 

„Und du?“, fragte Nathan und drehte sich zu Jomar um. Der lächelte und schlug die Augen nieder.
 

„Ich arbeite in der Wäscherei des Midtown Medical Centers.“

„Dann kennt ihr euch von der Arbeit?“
 

Susan tauchte mit Nathans Pastagericht auf. Während sie servierte, tauschten Jomar und Felipe eigenartige Blicke. So eigenartig, dass Marvin nachfragte, was los sei.
 

„Na ja“, gab Jomar gedehnt zurück. „Die Geschichte ist vielleicht nicht unbedingt eine, die man beim Essen erzählen sollte?“
 

„Ach nein?“, hakte Marvin nach. „Warum nicht?“
 

„Weil …“ Jomar zögerte. Er warf einen Blick auf Nathan, der als Einziger noch vor einem vollen Teller saß.
 

„Weil mich ein Patient von oben bis unten vollgekotzt hatte, als wir uns das erste Mal trafen“, schoss Felipe gnadenlos ab. „Ich hab gestunken wie ein Abflussrohr und die Suppe lief mir aus allen …“
 

„Danke!“, Nathan hob abwehrend die Hände. „Ich kann es mir vorstellen. Nicht notwendig, dass du es beschreibst.“
 

Jomar grinste entschuldigend.
 

„Sorry. Ich sagte ja, die Geschichte ist nicht ganz ohne. Nach der Aktion brauchte Felipe zumindest eine neue Uniform. Tja und als er dann angefangen hat, sich einfach vor mir auszuziehen …“
 

Er sprach nicht weiter, sondern machte nur ein vielsagendes Gesicht. Marvins Augenbrauen schossen nach oben.
 

„Hattet ihr etwa mal was miteinander?“
 

Felipe guckte erst entsetzt, dann lachte er laut und herzhaft.
 

„Nein, wo denkst du hin! Hungerhaken wie Jomar sind so gar nicht mein Typ. Aber die Blicke, die er mir zugeworfen hat, waren äußerst eindeutig. So sind wir ins Gespräch bekommen und naja … Nun sind wir hier.“
 

Nathan wickelte einige Nudeln um seine Gabel. Felipe und Jomar schienen ein gutes Gespann zu sein. Ehrlich. Zuverlässig. Zwei hart arbeitende Typen, die abseits des Rampenlichts dafür sorgten, dass Dinge funktionierten. Helden des Alltags. Während er und Marvin sich selten die Finger schmutzig machten. Ob das eine gute Kombination war?
 

„Wie sind deine Nudeln?“
 

Nathan schreckte hoch. Jomar hatte sich ihm zugewandt. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil Marvin und Felipe eine Runde verliebten Blicke austauschten. Nathan hätte keine Kontaktlinsen gebraucht um zu erkennen, dass Marvin bis über beide Ohren verschossen war. Und er?
 

„Sie sind gut“, antwortete er und sah auf seinen Teller hinab. Wahrscheinlich würde er die Portion nicht mehr schaffen, bevor sie losmussten. In einer halben Stunde begann das Kino.
 

„Möchtest du probieren?“
 

Nathan sah Jomar fragend an. Der schien überrascht, aber nicht abgeneigt. Er rückte ein wenig näher an Nathan heran.
 

„Ja, gerne.“
 

Nathan überlegte nicht lange. Er bereitete ein neues Nudelpaket vor, spießte noch ein Stück Steinpilz darauf und hielt Jomar die Gabel hin. Der wandte seinen Blick nur kurz ab, um sie in seinen Mund zu balancieren, bevor er Nathan wieder direkt in die Augen sah. Er kaute und nickte beifällig.
 

„Das ist wirklich gut. Hätte ich gar nicht gedacht.“
 

Nathan schluckte. Jomars Parfüm hüllte ihn ein. Er roch gut. Sauber, gepflegt. Seine Wangen zierte ein leichter Schatten, der ihn noch männlicher wirken ließ. Nathan konnte sich vorstellen, wie es war, von ihm geküsst zu werden. Auf die Lippen und anderswo. Der Gedanke löste ein Kribbeln aus, das von seinem Bauch langsam nach unten wanderte. Es war lange her, dass er mit jemandem das Bett geteilt hatte.
 

„Ich könnte mal was für dich kochen“, sagte er, ohne darüber nachzudenken. Jomars Mundwinkel hoben sich leicht.
 

„Das wäre toll? Bei dir zu Hause?“

„Klar, warum nicht?“
 

Als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte, begann er zu stottern.
 

„Also nicht, dass du was Glamouröses erwartest. Meine Wohnung ist nicht sehr groß und die Küche ist winzig und das Schlafzimmer …“
 

Jomar lächelte.
 

„Immer noch besser als bei mir. Ich lebe mit zwei Typen zusammen, die ihre Haare überall rumliegen lassen, die Milch direkt aus dem Kanister trinken und davon ausgehen, dass der Müll irgendwann von selbst die Treppe hinunterlaufen wird. Also wenn eine kleine Küche dein einziges Problem ist …“
 

Nathan konnte nicht anders. Er musste lachen.
 

„Ist es wirklich so schlimm?“

„Eigentlich noch schlimmer, aber ich wollte dich nicht verschrecken.“
 

Jomar grinste und auf einmal machte es Nathan nichts mehr aus, dass er so nahe gekommen war. Jomar war einer von den Guten. Er würde ihm nicht wehtun.
 

Nathan ließ zu, dass Jomar den Arm um seine Stuhllehne legte, bevor er sich wieder zu Felipe und Marvin herumdrehte. Das hier würde ein wunderbarer Abend werden und er würde ihn genießen.
 


 

Der Friedhof lag dunkel und verlassen da. Kahle Bäume streckten ihre Äste in den Himmel und gelbgrünes, noch vom Winter gezeichnetes Gras umgab die Grabsteine, die rechts und links des Weges verstreut lagen. Wie Statuen. Marmordenkmäler für die, die nicht mehr waren. Einige groß und imposant, andere klein und unscheinbar. Einzeln, in Paaren oder in ganzen Gruppen bedeckten sie nahezu jede freie Fläche des Parks, der sich über mehrere hundert Hektar erstreckte. Eine unendliche Menge von Gräbern und doch nur ein kleiner Teil derer, die in dieser Stadt gestorben waren. Ezra wusste es. Er hatte die anderen Stätten gesehen.
 

Vollkommen lautlos bewegte er sich durch den steinernen Wald aus ewigen Ruhestätten. Im Schatten eines rötlich schimmernden Obelisken blieb er stehen und sah sich um. Dies war unübersehbar der ältere Teil des Friedhofs. Viele der Gräber trugen Jahreszahlen nahe der vorletzten Jahrhundertwende. Tief gedrückte, immergrüne Gewächse beschatteten die Wege und Efeu rankte an bereits unkenntlich gewordenen Inschriften empor. Noch einmal rief er sich die Informationen ins Gedächtnis, die ihm Darnelle oder Aemilius geschickt haben mussten. Sie führten ihn hierher, aber die Umgebung überraschte ihn.
 

Hier gibt es doch nichts für die Ghule zu holen.
 

Ein leises Geräusch ließ Ezra herumfahren. Was war das gewesen? Ein Tier? Ein Windstoß? Oder doch etwas anderes. Unablässig sah er sich um, doch er konnte nichts erkennen, dass das eigenartige Scharren, das er gehört hatte, hätte verursachen können. Bis er es noch einmal hörte.
 

Es kam von dort.
 

Entschlossen stieß sich Ezra von dem Obelisken ab und machte sich auf den Weg, um den Ursprung des verdächtigen Lauts zu finden.
 

Verborgen unter tiefhängenden Ästen und halb verdeckt von den knorrigen Stämmen einiger Tannen lag ein Grabmal. Ein Mausoleum, wie es die wohlhabenderen Familien hatten. Üppig verzierte, gotische Türme ragten neben dem Eingang in die Höhe und eine zu ewigem Schmerz in Stein gebannte Jungfrau beschatteten den Eingang mit den Falten ihres Gewands. Die Tür jedoch, gefertigt aus rissig gewordenem Holz, stand einen Spalt breit offen. Der metallene Riegel, der die beiden Türflügel zusammenhalten sollte, war zerbrochen.
 

Vorsichtig schob sich Ezra näher. Im Inneren der Gruft war es noch dunkler als ohnehin schon. Lauernde Schatten, die sich zu einer festen, bedrohlichen Masse zusammenballten. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was sich hinter der Tür befand. Er wusste nur, dass er es herausfinden würde.
 

Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Eingang. Von drinnen drang kein Laut an sein Ohr. Nicht einmal Mäuse oder Käfer konnte er vernehmen. Es war vollkommen still.
 

Mit einem tiefen Einatmen schlüpfte er hinein.
 

Im Inneren des Grabes war es kühl und dunkel. Feuchte, eiskalte Luft drang in seine Lungen. Der Geruch von Moder und Stein lag in der Luft. Und von Toten. Uralten Toten.
 

Ezra sah sofort, dass einige der Kammern, die rechts und links die Wände bildeten, geöffnet worden waren. Der zentimeterdicke Granit, der die Überreste der hier Liegenden seit hunderten von Jahren geschützt hatte, war zerbrochen. Es sah aus, als hätte jemand die Grabplatten mit einem Hammer oder einem anderen, schweren Gegenstand zertrümmert. Der Boden war bedeckt mit scharfkantigen Felssplittern. Dürre, vom Alter und der Zeit gezeichnete Knochen lagen dazwischen verstreut wie Abfall.
 

Langsam stieg Ezra die abgetretenen Stufen hinunter, die zum Boden der Gruft führten. Er suchte nach Spuren. Hinweisen, dass es tatsächlich Ghule gewesen waren, die die Gräber geplündert hatten, aber er fand keine.
 

Wie auch? Sie hätten Fleisch gesucht, keine vertrockneten Gebeine.
 

Nachdenklich hob er den Schädel auf, der bis zum Fuß der kleinen Treppe gerollt war. Der Größe nach zu urteilen, musste er einem Mann gehört haben. Hohl und ausdruckslos starrten die leeren Augenhöhlen ihn an. An den grünlich schimmernden Knochen des Hinterkopfes klebte noch ein ledriger Überrest dessen, was wohl einmal sein rechtes Ohr und Teile seiner Kopfhaut gewesen sein mussten. Es war kaum vorstellbar, dass dies hier einmal ein lebender, atmender Mensch gewesen war.
 

Und doch muss es so gewesen sein.
 

Die Vorstellung brachte etwas in Ezra zum Klingen. Eine Erinnerung, die er nicht haben wollte. Eilig sperrte er sie weg und warf den Schädel gleich hinterher. Sein Kommen war sinnlos gewesen.
 

„Was machen Sie hier?“
 

Ezra wirbelte herum. Mit einem Sprung war er bei dem Mann mit der Friedhofsuniform und schlug ihm die Taschenlampe aus der Hand. Sie polterte die Treppe hinunter und erlosch. Finsternis flutete das Grab. Ezra nutzte die Gelegenheit und brachte seinen Gegner schnell und effizient unter Kontrolle.
 

„Halt still“, knurrte er und spürte, wie die Gegenwehr des Mannes, der gerade noch heftig gegen seine Umklammerung angekämpft hatte, augenblicklich erlahmte. Zitternd und schwer atmend stand er da, während Ezra den Arm um seinen Hals gelegt hatte. Erbarmungslos schnürte er ihm die Luft ab.
 

„Was tust du hier?“, fragte er grollend. Der Mann keuchte.
 

„Ich habe … Geräusche gehört“, stieß er hervor. „Ich dachte, es wären Kinder. Jugendliche, die hier eine Mutprobe veranstalten. Ich wollte sie verjagen.“
 

Ezra wusste, dass der Mann glaubte, die Wahrheit zu sagen. Und doch passte es nicht zusammen. Es war ein zu großer Zufall, dass er ausgerechnet jetzt hier vorbeikam. Das schmeckte ihm nicht.
 

„Wer hat dich hergeschickt?“

„Niemand.“
 

Ezra drückte noch einmal fester zu. Ein schneller Ruck hätte das Leben des Mannes beenden können. Er wäre nicht der Erste gewesen, den Ezra auf diese Weise aus dem Leben brachte.
 

„Wer hat dich hergeschickt?“, presste er zwischen den gebleckten Fangzähnen hervor. Er roch die Angst, die von dem Mann ausging. Das Adrenalin, das aus seinen Poren drang. Er musste irgendwas um die 50 sein, leicht übergewichtig, die Haare in beginnendem Grau. Er mochte ein Vater sein, ein Großvater vielleicht. Einer, der an den Wochenende mit seinen Enkeln spielte, sie auf seinen Knie reiten ließ und sich lachend von ihnen die größten Lügenmärchen auftischen ließ darüber, wer ihn am liebsten hatte.
 

Oder er ist ein verbitterter, alter Mann, der außer einem stocktauben Hund keinerlei Familie hat.
 

Ezra wusste, dass vermutlich nichts davon stimmte. Und doch lag es im Bereich des Möglichen. Dieser Mann hatte vielleicht Familie, Freunde. Verwandte, die ihn vermissen würden. Menschen, die um ihn trauerten.
 

Unsinn! Er ist ein Zeuge. Du musst ihn loswerden.
 

Ohne noch weiter zu zögern, biss Ezra zu.
 

Als Susan die Rechnung gebracht hatte, zückte Felipe ganz selbstverständlich seine Brieftasche.
 

„Ich bezahle“, verkündete er und warf einen Blick zu Marvin. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dich einladen zu lassen?“
 

Marvin gab einen gespielt entrüsteten Laut von sich.
 

„Ah, du sollst doch nicht immer so den Macho raushängen lassen. Ich hab gesagt, wir teilen uns die Rechnung.“

„Ich will dich aber einladen. Wenigstens heute.“

„Na gut. Aber dafür zahle ich die Verpflegung im Kino.“
 

Felipe erklärte sich damit einverstanden und Marvin warf Nathan einen unauffälligen „Ist er nicht hinreißend“-Blick zu. Nathan antwortete mit einem schmalen Lächeln. Er konnte sehen, was Marvin an Felipe fand. Nur hatte er selbst gerade ein ganz anderes Problem.
 

„Soll ich den Rest übernehmen?“, fragte er an Jomar gewandt. Der schüttelte sofort den Kopf.
 

„Kommt gar nicht in Frage. Ich habe das Restaurant ausgesucht, ich bezahle.“

„Aber …“

„Kein Aber. Ich bezahle!“
 

Nathan lag immer noch Protest auf der Zunge. Ihm war klar, dass er vermutlich fast das Doppelte von dem verdiente, was Jomar am Ende des Monats nach Hause brachte. Es fühlte sich falsch an, sich aushalten zu lassen. Das hatte er einmal getan und es würde ihm nicht wieder passieren. Trotzdem war ihm klar, dass er Jomar brüskieren würde, wenn er seine Einladung ablehnte. Insbesondere wenn er darauf hinwies, dass sein Gehalt besser war.
 

„Na schön“, sagte er und schenkte Jomar ein Lächeln. „Aber dafür bestehe ich darauf, dass ich das nächste Mal dran bin.“
 

Jomars Augen blitzten auf.
 

„Dann haben wir jetzt schon zwei Verabredungen. Eine in einem Restaurant und eine bei dir zu Hause.“
 

Nathans Lächeln wurde nicht kleiner. Im Gegenteil.
 

„Ich freue mich darauf“, antwortete er und versuchte die Vorstellung zu verdrängen, was Jomar wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass auf Nathans Fensterbrett …
 

Ich werde Ezra sagen, dass er gehen muss, beschloss er und ließ sich von Jomar in seinen eilig herbei geschafften Mantel helfen.
 


 

Der uniformierte Körper lag auf dem Boden zwischen Steinen und Knochen. Ezra sah auf ihn herab. Er konnte den Herzschlag des Mannes hören, der mit jedem Mal, da er Blut durch den Körper pumpte, schwächer wurde. Leiser. Unwichtiger. Eins mit dem Rauschen des Regens, der wieder eingesetzt hatte.
 

Du hast ihn verschont.
 

Ezra wusste nicht, warum er es getan hatte. Aus Mitgefühl? Wohl kaum. Er hatte so etwas nicht. Nicht mehr. Diese Regung hatte er abgelegt an jenem Tag, an dem er Elisabeth verloren hatte. Immerhin waren es Menschen gewesen, die sie ihm genommen hatten.
 

Der Wachmann regte sich. Es war nur ein Zucken. Eine Bewegung, die ankündigte, dass er demnächst erwachen würde. Oder sterben. Obwohl Ezra nicht so viel getrunken hatte, dass es lebensbedrohlich war. Und doch … Es war kalt, dunkel, windig. Und er war nicht mehr der Jüngste. Es war möglich, dass er es nicht schaffte.
 

Wäre es nicht barmherzig, sein Leiden zu beenden?
 

Die Frage hallte in Ezras Kopf wieder. Nur zu gut wusste er, wie sich der Mann dort im Staub jetzt fühlte. Er selbst war einmal an seiner Stelle gewesen und Elisabeth hatte über ihm gekniet, das wunderschöne Gesicht blass, die Wangen gerötet vor Zorn.
 

„Was hast du getan?“, hatte sie geschrien. „Er war noch nicht so weit.“
 

Darnelle hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
 

„Ich hatte Hunger“, war seine lapidare Antwort gewesen. „Was regst du dich so auf? Wir finden einen neuen.“
 

„Ich will aber keinen neuen. Ich will diesen hier.“
 

Elisabeth hatte gefaucht wie eine wütende Katze. Ezra hatte Angst vor ihr gehabt. Vor ihr, vor Darnelle und vor der Schwärze, die langsam aber sicher nach ihm gegriffen hatte. Immer tiefer war er gesunken, immer weiter abgedriftet in das Nichts zwischen den Welten.
 

„Es gäbe eine Möglichkeit.“

„Welche?“

„Ich könnte ihn trinken lassen.“
 

Stille war diesem Vorschlag gefolgt. Ezra hatte gespürt, wie Elisabeths Hände sich fester um seine geschlossen hatten. Als wolle sie ihn festhalten. Ganz fest.
 

Ich werde es tun.“
 

Ihr Ton hatte keinen Widerspruch geduldet. Sie war fest entschlossen gewesen. Darnelle hatte nicht opponiert.
 

„Soll ich dir helfen?“

„Nein. Geh Aemilius holen. Du hast für heute genug getan.“
 

Ezra hatte das Klappen der Tür gehört. Darnelles Schritte auf der Treppe. Dann waren sie allein gewesen. Eine Hand, die die seine hielt. Finger, die über sein Gesicht strichen. Ganz sacht.
 

„Du wirst nicht sterben“, hatte sie geflüstert. „Und wenn, werde ich dich in meine Dienste nehmen. Du wirst sehen, es wird alles gut.“
 

Und Ezra hatte die Augen geöffnet. Er hatte gesehen, wie sie auf ihn herabgeblickt hatte. Wie ein Engel war sie ihm vorgekommen. Ein Engel, herabgestiegen um ihn zu retten. Schon wieder.
 

„Ich … liebe … dich.“
 

Elisabeth hatte gelächelt.
 

„Ich dich auch.“
 

Ezra schloss gequält die Augen. Die Erinnerungen waren stark. Schmerzhaft. Drei Tage hatte er damals gekämpft. Drei Tage gefangen zwischen Leben und Tod; nicht bereit zu gehen und doch zu schwach, um sich zu erheben. Und dann war er erwacht. Neu geboren mit einem Körper, der niemals alterte, einem Geist, der die Jahrhunderte überdauerte, und einem Hunger, der nie gestillt werden konnte. Einem Hunger nach Blut.
 

Es hätte auch anders ausgehen können.
 

Sein Blick fokussierte sich wieder auf den Mann am Boden. Vor nicht einmal zwei Wochen hätte es keinen Zweifel daran gegeben, was er zu tun hatte. Der Parkwächter hatte ihn gesehen. Er konnte identifizieren. Ein Zeuge, der beseitigt werden musste. So wie beim letzten Mal. Und doch zögerte Ezra. Warum zögerte er?
 

Sein Telefon klingelte. Er hob ab, ohne hinzusehen.
 

„Ja?“

„Ezra, mein Lieber, wo bist du?“
 

Musik mischte sich mit Darnelles Stimme. Gespräche, Gelächter und das Klirren von Gläsern. Offenbar war er in einem der Clubs. Es schien viel los zu sein.
 

„Auf einem Friedhof“, gab Ezra zurück. „Ich habe einen Tipp bekommen und bin ihm nachgegangen.“
 

Wieder bewegte sich der Wachmann.
 

„Und wie lange brauchst du noch?“
 

Die Frage überraschte Ezra.
 

„Möchtest du nicht wissen, ob ich etwas entdeckt habe?“

„Wenn du das hättest, hättest du angerufen.“
 

Ezra musste zugeben, dass da etwas dran war.
 

„Und? Hast du?“

„Was?“

„Etwas gefunden?“
 

Der bewusstlose Wachmann hatte angefangen zu stöhnen. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen. Durst. Vor allem großen Durst. So war es für Ezra immer gewesen, wenn die anderen von ihm getrunken hatten. Damals, als auch er noch ein Mensch gewesen war.
 

„Nein. Es war eine Sackgasse.“
 

Darnelle machte ein Geräusch, das wohl seine Anteilnahme ausdrücken sollte.
 

„Dann komm her“, meinte er. „Ich habe dir einen Leckerbissen aufbewahrt, der dir gefallen wird. Jung, männlich, genau dein Typ. Er bettelt geradezu danach, von dir gefickt zu werden.“
 

Ezra schluckte. Wie leicht wäre es gewesen, seinem Bruder zu sagen, was er getan hatte. Dass es eine neue Leiche gab, die er entsorgen musste. Einen weiteren Körper, für den es einen Platz zu finden galt. Darnelle hatte die besten Beziehungen.
 

„Du bist zu gut zu mir.“

„Dann kann ich bald mit dir rechnen?“
 

Ezra sah zu dem Wachmann. Sein Gesicht war unbewegt, aber tief im Inneren hatte er eine Entscheidung getroffen.
 

„Ich komme. Ich muss nur noch etwas erledigen.“



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