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Herzensstücke

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Hierbei handelt es sich um einen Eintrag für die Adventskalender-Kreativaufgabe 2021 zum Thema Kekse / Weihnachtsgebäck.

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Ungestüm rüttelte der Wind an den Scheiben unseres dimm beleuchteten Ladens. Gerade hell genug, dass unser Mensch hinter der Kasse die Buchstaben auf dem Tagesblatt entziffern konnte, drang kaum genug Licht nach draußen, um ein paar Blicke auf sich zu ziehen. Wir mussten sparen, das wurde dauernd gesagt. Überhaupt war das ein Satz, den ich nicht nur einmal gehört hatte. Von den anderen Regalen glänzten goldene Bonbonpapiere, leuchteten grell gefärbte Gummitiere und lockten süße Schokoladenkreationen. Zuckersoldaten bewachten ihre peniblen Prinzessinnen, doch die einzige Gefahr war kein böses Tier oder ein Schurke aus dem Schatten, sondern Staub. Wir mussten sparen, genau wie alle Menschen, die mit sehnsüchtigem Blick hereinkamen und nichts weiter daließen als ihre Melancholie. Nie klingelte die Kasse, und dabei standen draußen bereits die Tannenbäumchen im Topf, mit altem Lametta behangen.
 

Wie gerne wollte ich jemanden mit nach draußen begleiten, der für mich seine Sparsamkeit vergaß. Der mich ansah und in die Hand nahm, als wäre ich nicht eine von dreißig gleich aussehenden Dosen in diesem Regal, das mich seit Wochen erdrückte. Nicht sichtbar natürlich, wir standen brav in Reih und Glied, nach Farben und Größen sortiert, und warteten. Bis jetzt hatte ich schon längst vergessen, dass mein Inneres das Besondere war, denn das sah schließlich niemand – wenn überhaupt jemand das zerfallene Holzbrett musterte, auf dem ich abgestellt worden war. Neben der Kasse, wo die Menschen nur vorbeihuschten, als schämten sie sich dafür, überhaupt einen Blick in den Laden geworfen zu haben, wo sie sich ohnehin nichts leisten konnten. Oder wollten.
 

Es war spät geworden. Der Wind kündigte mit einem schadenfrohen Pfeifen in den Fugen an, dass dieser Tag wie jeder andere enden würde, nämlich mit einem schweren Seufzen unseres Menschen und dem Klappern der metallenen Schlüssel. Gerade erhob sich die Gestalt hinter dem Tresen und klappte die Zeitung zu, als die Tür erschrocken quietschend aufschwang.

Nicht nur brachte der kleine Mensch einen Schwall kalte Schneeluft mit sich, sondern auch Wärme. Kaum mehr als ein Funken, doch füllte sein Blick den großen Raum voller vergebener Hoffnung mit einer Zuversicht, die mich packte. Ich spannte mich an, den Deckel gerade, mein blau-silbernes Muster straff über mein Blech gezogen. Diesmal war etwas anders, ich wusste es genau. Als der suchende Blick mich streifte, knirschte ich vor Aufregung. Los, sieh mich an! Noch einmal! Die Augen glitten weiter, doch dann eilte der Junge auf mein Regal zu und schwupp! Die kalten Handschuhe griffen mich und hoben mich vom Brett, alles drehte sich. Seine Finger strichen kratzig über mein Motiv, während ich hinter seinen Wimpern die Welt entdeckte. Meine neue Welt, so, wie ich gerade die seine war. Wir gehörten zueinander. Funkelnd ging in den braunen Augen ein Licht auf, das nur ich sehen konnte, das mich mit einer Wärme erfüllte, die ich noch nie gekannt hatte. Ich wusste nicht, was ich ihm dafür jemals geben sollte. Mein Inneres war das Besondere – aber es kam mir angesichts dieses puren Wunders so… fade vor. Dieser Junge sah mich an, als könnte ich ihn komplettieren, doch zu bieten hatte ich nur Gebäck in einem Blechmantel. Drei Sorten sogar, aber kein Zimtstern, kein Kakaoplätzchen und kein Vanilletaler der Welt konnten diesen Moment aufwiegen. Siebenhundert Gramm, und doch fühlte ich mich leerer und voller als je zuvor. Riesengroß, winzig klein, und genauso mürbe wie mein Inhalt.
 

Als ich aus meiner Starre erwachte, hörte ich die schwere Tür hinter uns einrasten, das läutende Glöckchen hinter uns schwinden lassend. Eisig umspielte mich eine Schneewehe nach der anderen, auch wenn mein Mensch – mein Mensch! – mich fest umschlungen in den Armen hielt. Kalt war mir ohnehin nicht, denn in mir hüpfte alles vor heißer Aufregung im Takt der zweibeinigen Schritte. Das Draußen zog an mir vorbei, unklare Stimmen, Rauschen, Knirschen – und auf einmal war es wieder warm.
 

Stimmengewirr kündigte sich an und ehe ich mich versah, setzte mich mein Mensch auf eine ebene Unterlage. Ein Tisch, wie ich erkannte – aber keiner, wie ich ihn je gesehen hatte. Dieser hier war glatt, nicht, weil er künstlich bearbeitet worden war, sondern seine unebene, hügelige, makellose Oberfläche daher hatte, jeden Tag der Mittelpunkt dieser Menschen zu sein. Ein Platz, an dem altes Porzellan herumgeschoben, verbeulte Töpfe auf zersprungenen Tabletts gesetzt und Papier beschrieben wurde. Viele Paare Hände, große und kleine, hatten die Kanten abgewetzt, die blanke Platte spiegelte die einsame Kerze neben mir und strahlte. Ich strahlte zurück und blickte in die Runde Gesichter, die auf mich herabschauten. Vor einem Augenblick war ich noch ein überflüssiges Objekt unter zig seiner Art gewesen, doch hier stand ich im Mittelpunkt. Ich wusste absolut nicht, wie ich damit umgehen sollte, außer bereitwillig meinen Deckel von mir zu schieben und die emsigen Hände mein Inneres herausholen zu lassen.
 

Jedes Stück wurde hochgehalten, als wäre es eine Trophäe, etwas Einmaliges – dabei hatte ich doch nichts in mir außer alten Teig. Ich freute mich, dass ich ihnen ein ehrliches Lachen in ihre Gesichter zaubern konnte, doch innerlich zog sich mir das Blech zusammen. Ich fühlte mich wie ein Betrüger. Einer, der das genommen hatte, was ein Anderer gemacht hatte, und es als sein Eigenes weggab. Die Finger, die mich liebevoll wieder schlossen, interessierte das nicht. Sanft entrissen sie mich den anderen Händen und platzierten mich auf einem hohen Schrank.
 

Hier war es zwar staubig, aber es war ein warmer Staub, der Film von Anwesenheit und Geborgenheit, der zeigte, dass es wichtigere Dinge gab als Flusen. Ich schaute hinab auf die sich zerstreuenden Menschen, wie sie den Tisch räumten und neue Dinge hinstellten. Das hier wurde mein Platz für Jahre, die ich mittlerweile nicht mehr zählen kann. Egal, wie lange es her ist, an diese erste Öffnung kann ich mich lebhaft erinnern.
 

Als junge Dose hatte ich mich gefragt, wieso sich meine Mitbringsel beim ersten Öffnen so fade angefühlt hatten. Heute weiß ich es. Ich habe mein Blau schon längst verloren, meine einst glatte Hülle hat mehr Buckel als der Tisch damals und meinen Deckel kann ich nur noch mithilfe eines Küchengummis halten – aber das, was ich in mir trage, ist jetzt ein echter Schatz. Wenn ich damals schon gedacht hatte, dass mein Inhalt meine einzige Besonderheit war, obwohl er nur aus fremden Teigstücken bestand, kann ich heute ernsthaft sagen, dass ich in mir ein Herz habe.
 

Nicht nur eines natürlich, viele kleine Plätzchen, manche tatsächlich herzförmig - andere in krummen, schiefen, wundervollen Umrissen. Bestückt mit einer wilden Mischung aus Schokolade, Zuckerguss und Gewürz, ist ein Jedes anders und einzigartig. Und in jedem davon steckt nicht nur Butter, Mehl und Zucker, sondern etwas, das ich lange nicht begriffen habe: Aufmerksamkeit. Wenn Kekse entstehen, ist das etwas Fantastisches. Berge aus Zutaten, emsige Hände, hunderte Schaffensschritte; Formen werden gepresst, geschichtet, geschmückt – und jedes dieser kleinen Backwerke hat einmal einen Blick ganz eingenommen, wie ich damals. Jedes Plätzchen hat seinen Platz in mir verdient, weil wir die gleiche Erfahrung teilen. Einmal etwas Besonderes sein, der Mittelpunkt einer ganzen Handlung, und wenn es nur ein paar Handgriffe sind.
 

Jedes Jahr, wenn ich die Kekse entgegennehme, bringen sie diesen Moment ganz frisch mit – nach wie vor hüpft es in mir, sobald ich es spüre. Es wärmt und strahlt und hält mich ziemlich sicher jung. Ich tue noch immer nichts lieber, als diese kleinen Funken zurückzugeben. Wenn die Zeit gekommen ist, öffne ich wieder meinen Deckel und überreiche einen kleinen Augenblick Aufmerksamkeit, denn auch Menschen können das fühlen, was die Gebäcke und ich über die Jahre schätzen gelernt haben.
 

Hier, nimm dir einen Stern, ich glaube, du kannst ihn brauchen. Eine Pause, in der du innehalten kannst und vielleicht, wenn du dich ganz konzentrierst, spüren kannst, wie viel Zuneigung ein winziger Moment echtes Interesse geben kann. Mit diesen Lichtblicken hast du nie gespart. Ich habe sie für dich aufbewahrt, du hast sie mir geschenkt. Danke, dass du an mich denkst.



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